Relationen von Raum und Figur im postapokalyptischen Roman "Die Arbeit der Nacht" von Thomas Glavinic


Thèse de Master, 2021

57 Pages


Extrait


Inhalt

1. Einleitung

2. Von apokalyptischen Texten der Antike zum postapokalyptischen Narrativ gegenwärtiger Literatur – eine Skizze

3. Theorie: Merkmale postapokalyptischer Texte
3.1. Postapokalyptische Motive in Die Arbeit der Nacht

4. Methodik: Raumtheorie
4.1. Raumsemantik nach Jurij M. Lotman
4.2. Nicht-Orte nach Marc Augè

5. Raumtheoretische Analyse von Die Arbeit der Nacht
5.1. Nicht-Orte als Inszenierung von Isolation
5.1.1. Transiträume: Funktionalität im leeren Raum
5.1.2. Erinnerungsräume: Das Gedächtnis des Raumes
5.2. Raumaneignung durch Schrift
5.3. Grenzüberschreitungen nach Jurij M. Lotman
5.3.1. Die mediale Erweiterung des Raumes: Das Unerfahrbare erfahrbar machen
5.3.2. Die Reise nach England: Das Vertraute und das Fremde
5.3.3. Der Suizid als letzte Grenze

6. Fazit

7. Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Ein Mann Mitte Dreißig tritt eines Morgens aus seiner Wiener Wohnung hinaus auf die Straße und stellt fest, dass er allein ist. Eine verlassene Stadt offenbart sich

ihm – Menschen und Tiere sind über Nacht verschwunden. Nach mehreren Versuchen, die Situation zu sondieren, muss er einsehen, dass die Abwesenheit allen Lebens sich nicht auf Wien beschränkt. Österreichische Städte, europäische Nachbarländer, England: Nirgends eine Spur von Leben.

Dies ist die Ausgangssituation in Thomas Glavinics 2006 erschienenen Roman Die Arbeit der Nacht.1 Die Motivik erinnert an postapokalyptische Narrative, die in Deutschland ab den 1950er Jahren vermehrt in Literatur und Film auftreten. Angefangen mit Arno Schmidts Schwarze Spiegel (1951)2 und Marlen Haushofers Die Wand (1963)3 konzentrieren sich die postapokalyptischen Texte auf eine*n Protagonisten*in oder eine kleine Gruppe Menschen, die nach einer Katastrophe in einer Welt ohne Zivilisation verbleibt.

Während in Die Wand im Laufe der Handlung ein Mann in das Revier der Protagonistin eindringt und eines ihrer Tiere angreift, und die Hauptfigur in Schwarze Spiegel auf eine Frau trifft, mit der sie temporär eine Beziehung eingeht, ist Glavinics Protagonist Jonas bis zum Ende allein. Dieser Umstand ist eine Besonderheit in der postapokalyptischen Narrativik. Ohne eine Erklärung für das Verschwinden der Menschen und Tiere abzuliefern, wird der Roman zu einem abstrakten Gedankenexperiment, das die existenzielle Frage aufwirft, was Menschsein ausmacht. In vollkommener Einsamkeit verliert Jonas zunehmend den Verstand und entwickelt einen Verfolgungswahn. Am Ende bleibt für ihn nur noch der Suizid. Ohne ein Gegenüber, in dem er sich spiegeln kann, ist sein Dasein sinnlos.

Nach Krah ist die apokalyptische Katastrophe immer eng mit Räumen und Grenzen verknüpft; der Weltuntergang wirkt „entgrenzend“4, wodurch Räume und Grenzen nicht nur eine topographische Relevanz im Text einnehmen, sondern die Erzählung auch auf der semantischen Ebene strukturieren. Sie bilden, so Krah, die Rahmenbedingungen für das Weiterleben der Figuren in der Welt nach der Katastrophe.5

In Die Arbeit der Nacht lässt sich dieses Phänomen gut beobachten. Nicht nur auf Jonas selbst hat das Verschwinden der Menschheit Auswirkungen, zugleich verändern sich auch die Räume, durch die er sich bewegt. Glavinic verankert seine Erzählung durch detaillierte, topographische Angaben wie Straßennamen, Richtungs- und Standortangaben und Autobahnbezeichnungen in einer Welt mit hohem Realitätsgehalt. Das Fehlen von Subjekten in dieser Welt verfremdet den Raum jedoch drastisch – jegliche soziale Grenzen sind nicht mehr existent. Verschlossene Türen, Alarmanlagen und auch Landesgrenzen verlieren ihre Bedeutung ohne das soziale Gefüge, das ihnen erst die Notwendigkeit verleiht. In der Folge verliert Jonas zunehmend die Kontrolle über den Raum. Eine wichtige Handlungsmotivation der Figur ist, diese Kontrolle zurückzugewinnen: „Er hatte das Gefühl, um jeden Meter kämpfen, sich jeden Ort, an den er kam, mühsam aneignen zu müssen.“ (AdN, S. 102)

Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts – beginnend mit Michel Foucault, der 1967 den Begriff der ‚Heterotopie‘ einführte, um zu zeigen, dass soziale Strukturen und Gesellschaftsordnungen verräumlicht werden können und umgekehrt diese Ordnungen bestimmte Räume bedingen6 – wird Raum in der Kulturtheorie vor allem als eine soziale Konstruktion aufgefasst.7 Die Abwendung der interdisziplinären Forschung vom Raum als unveränderliche, geographische Gegebenheit hin zu einem kulturell aufgeladenen, dynamischen Konstrukt, in das sich soziale und symbolische Praktiken einschreiben, wird, seit Edward Soja den Begriff begründet hat, unter ‚spatial turn‘ zusammengefasst.8 Anknüpfend daran gehen literaturwissenschaftliche Raumkonzepte davon aus, dass Räume nur durch sich darin bewegende oder wahrnehmende Subjekte denkbar sind. Räumlichkeit im literarischen Text geht also über die bloße Beschreibung hinaus, indem Handlungen und Wahrnehmungen von Individuen, die sich im Raum bewegen, den Raum in abstrakterer Form konstituieren.9

Im Zuge des spatial turns richtet sich der Blick in der Kulturwissenschaft zunehmend auch auf Räume als Träger und Vergegenständlichung von Geschichte. Die Geschichte besetzt den physischen Raum und lädt ihn mit Bedeutung auf. Er wird von Menschen konstruiert, gestaltet und genutzt und damit zu einer greifbaren Manifestation menschlichen Lebens.10 Diese Differenzierung muss bei der Betrachtung des erzählten Raumes in Die Arbeit der Nacht mit einbezogen werden, denn sie beeinflusst die Raumnarration in dem Roman.

Wenn das singuläre Subjekt der Theorie nach das absolute Minimum der Gegebenheiten ist, die es braucht, um überhaupt einen denkbaren Raum zu erschaffen, kann der Raum in Die Arbeit der Nacht nicht mehr als soziale (d. h. intersubjektive) Konstruktion gedacht werden. Gleichzeitig beinhaltet er jedoch noch die Spuren und Zeichen sozialen Lebens. Der Raum wird also nur noch durch zwei Elemente konstituiert: Erstens durch Jonas als sich im Raum bewegendes, wahrnehmendes Subjekt, und zweitens durch die Geschichte, die in den Raum eingeschrieben ist. Die Geschichte wird so zu einem subjektiven Bedeutungskomplex, der nur noch von der Figur wahrgenommen werden kann.

Hier setzt die These der nachfolgenden Arbeit an. Raum und Romanfigur sind durch die Isolation so eng miteinander verflochten, dass die räumliche Ordnung beim Fortschreiten der Handlung zunehmend destabilisiert wird und eine Analogie zu Jonas’ innerlichem Verfall bildet. Es braucht also den verlassenen Raum, um Jonas’ intensive Selbstkonfrontation, die letztlich zum psychischen Verfall führt, zu inszenieren. Umgekehrt braucht es die isolierte Figur, um den Raum als Bedeutungsträger zu literarisieren.

Der Frage, wie die Wechselbeziehung zwischen Romanfigur und Raum erzählerisch gestaltet ist, soll im Folgenden nachgegangen werden.

In Kapitel 2 soll zunächst eine literaturhistorische Übersicht über die apokalyptische und postapokalyptische Literatur gegeben werden. Diese wird, bei der biblischen Johannes-Offenbarung ansetzend, zeigen, wie das apokalyptische Moment in der Literatur sich ab dem 20. Jahrhundert von einer auf die ganzheitliche Erlösung ausgerichteten Lesart verschoben hat auf das postapokalyptische Narrativ, in dem der Weltuntergang endgültig ist und keine Erlösung mehr bietet.11 Die im apokalyptischen Narrativ zentrale, dualistische Einteilung in ein ‚Vorher – Nachher’ ist von dieser Verschiebung ebenfalls beeinflusst und soll an dieser Stelle ebenfalls erläutert werden. In Kapitel 3 findet eine Vertiefung der Merkmale postapokalyptischer Erzählstrukturen statt, wodurch anschließend in Kapitel 3.1 eine Erarbeitung der postapokalyptischen Motive in Die Arbeit der Nacht erfolgen kann. In diesem Zuge soll auch geklärt werden, inwieweit die Verschiebung des apokalyptischen Moments die Erzählstruktur beeinflusst.

In Kapitel 4, das sich der Vorstellung der Methode widmet, erfolgt eine kurze Übersicht über raumtheoretische Überlegungen in der Erzähltheorie. Geklärt werden soll, welche Möglichkeiten eine raumtheoretische Untersuchung bietet und wie diese aussehen kann. Dafür werden die Ausführungen von Martínez und Scheffel12 herangezogen und durch Ansätze von Nünning13 und Hallet und Neumann14 ergänzt.

Anschließend wird in Kapitel 4.1 die Raumtheorie Jurij M. Lotmans vorgestellt, die in der späteren Analyse als Instrumentarium dienen soll.15 Lotman geht davon aus, dass der Raum als semantisches Feld gedacht werden kann, dass sich in mindestens zwei distinkte Teilräume untergliedern lässt, deren Grenze nicht überschritten werden kann. Geschieht dies doch, liegt im Text ein Sujet, ein Ereignis, vor. Das Sujet bildet für Lotman die Grundstruktur eines narrativen Textes, ohne Sujet gibt es keine Handlung. Die Teilung des semantischen Feldes entsteht, indem den Teilräumen Oppositionen zugeordnet werden können, die dann weiter abstrahiert werden. So lassen sich aus der räumlichen Ordnung nicht-räumliche Relationen ableiten, wie z.B. die Struktur, der im Text erzählten Gesellschaft.16

Lotmans schematisches Raummodell wird um einige Aspekte von Lotmans Ausführungen zur ‚Semiosphäre‘ ergänzt werden. Hier dynamisiert er sein Raumkonzept und geht davon aus, dass das semantische Feld in mehr als zwei Teilräume aufgegliedert werden kann.17 Anhand von Lotmans Theorie soll im Analyseteil nachgezeichnet werden, wie die semantisierten Räume den Roman strukturieren und inwiefern Jonas’ Bewegungen im Raum mit seiner inneren Entwicklung zusammenhängen.

Ergänzend zu Lotmans semantischem Ansatz wird in Kapitel 4.2 mit Marc Augés Konzept der ‚Nicht-Orte‘18 eine andere Perspektive auf Raum vorgestellt, die ebenfalls als Instrumentarium für den Analyseteil genutzt werden soll: Augé grenzt den Raum vom Ort ab. Raum begreift er als allgemeine Einheit, während der Ort eine Geschichte und eine Identität besitzt. Ein Nicht-Ort ist, im Gegensatz zum Ort, ein identitätsloser Raum, der funktionale Notwendigkeiten einer Gesellschaft wie Geburt, Tod und bestimmte Freizeitaktivitäten auslagert. Hierzu zählen z.B. Krankenhäuser, Hotels, Freizeitparks und sogenannte „Transiträume19, wie Autobahnen und Flughäfen.

Anhand der vorgestellten Theorien von Lotman und Augé soll schließlich in Kapitel 4 Glavinics Roman Die Arbeit der Nacht im Hinblick auf die These analysiert werden. Durch die beiden unterschiedlichen Analyseansätze sollen die zwei Ebenen, auf denen der Raum im Roman funktioniert, herausgearbeitet werden: Augès Ansatz bezieht sich auf den konkreten, diegetischen Raum,20 der in seiner Verlassenheit bestimmte Wahrnehmungen und Verhaltensweisen bei Jonas hervorruft. Lotmans Raummodell soll zeigen, wie der abstrakte Raum eine semantische Deutungsebene abbildet. Die Untersuchung durch Augès Ansatz kann dabei als Vorarbeit zu der Analyse mit Lotmans Theorie verstanden werden, da der konkrete, topographische Raum für die Analyse der Teilräume ebenfalls relevant ist.

Anhand Augés Ansatz wird in Kapitel 4.1 untersucht, wie sich die Abwesenheit von Menschen und damit einhergehender sozialer Interaktion auf den diegetischen Raum und die Nicht-Orte, deren Funktion durch die Gesellschaft bestimmt ist bzw. war, auswirkt, und wie Jonas auf diese Veränderungen reagiert. Hierzu sollen verschiedene Nicht-Orte im Roman identifiziert und im Hinblick auf die erzählerische Gestaltung und den Bezug zu der Figur untersucht werden. Mit einbezogen und in Beziehung zu den analysierten Szenen gesetzt werden Überlegungen zum Raum als Träger von Geschichte.

Anschließend wird in Kapitel 4.2 ein genauerer Blick auf Jonas‘Versuch, sich den entfremdeten Raum mittels Schrift anzueignen, gerichtet. Der Aspekt der Raumaneignung eröffnet die Perspektive auf die Globalstruktur des Textes. Ein wichtiges Handlungselement des Romans ist Jonas’Versuch, den Raum mittels Kameras zu kontrollieren. Hier knüpft der zweite Teil der Analyse an, der sich auf Lotmans Raumsemantik stützt.

In Kapitel 4.3. wird dargelegt, wie zwei klassifikatorische Grenzen die Romanhandlung strukturieren. Als erste Grenze ist der Übergang zwischen dem realen und dem medialen Raum zu verstehen, der sich durch das Aufstellen der Kameras ergibt. Die zweite Grenze ist Jonas’ Durchquerung des Eurotunnels, um nach England zu gelangen, wo seine Freundin Marie sich zuletzt aufgehalten hat. Die Oppositionspaare, die den so entstehenden Teilräumen zugeordnet werden können, werden herausgearbeitet und semantisiert. Einzelne Aspekte sollen dann genauer untersucht werden, um zu verstehen, wie der diegetische Raum und der semantische Raum in Relation zu dem Protagonisten inszeniert ist.

Wenngleich faktisch am Ende des Romans mit dem Suizid noch eine dritte Grenze überschritten wird, erfüllt diese die Kriterien einer klassifikatorischen Grenzüberschreitung nach Lotman nicht. Da sich hier dennoch räumliche und semantische Perspektiven andeuten, werden diese als letzter Teil der Analyse skizziert.

Abschließend werden die Erkenntnisse im Fazit noch einmal in Bezug zu der These und der Fragestellung gesetzt. Ob tatsächlich eine Wechselbeziehung zwischen der Figur Jonas und dem Raum besteht, und das vorhandene Raumkonzept analog zu Jonas immer instabiler wird, soll schließlich geklärt werden.

2. Von apokalyptischen Texten der Antike zum postapokalyptischen Narrativ gegenwärtiger Literatur – eine Skizze

Die neutestamentarische Offenbarung des Johannes als letztes Buch der Bibel bildet, wenngleich ähnliche Motive in antiken jüdischen Texten bereits vorher auftauchten und als Einfluss gelten können,21 den Grundstein für den christlichen Apokalypse-Begriff und das moderne Verständnis der Apokalypse, das sich in den letzten Jahrhunderten immer mehr von den theologischen Ursprüngen gelöst hat.22

Das Buch wird auf etwa 95 n. Chr. datiert. Das im ersten Satz verwendete Wort apokalypsis (gr. Offenbarung, Enthüllung)23 wurde mithin zum Oberbegriff einer Gattung theologischer Texte, die sich inhaltlich und formal an der Offenbarung orientieren.24 Grimm konkretisiert, apokalyptische Texte stellten „eine sich in fortschreitender Auflösung befindliche, unaufhaltsam auf den Untergang, die Katastrophe zusteuernde Ordnung“25 vor.

Die metaphorische Bildgewalt des Bibeltextes führte dazu, dass die Apokalypse zu einem Leitmotiv in Kunst und Literatur wurde.26 Während der Text lange Zeit nur im theologischen Kontext rezipiert wurde, rückt heute die ästhetische bzw. literaturwissenschaftliche Bedeutung in den Vordergrund. Gutzen ordnet die literarische Form der Offenbarung als „einen Prosatext in Briefform“ ein, der „[…] 22 Kapitel unterschiedlicher Länge – zwischen 8 und 29 Verse – umfaßt“.27

Der Text richtet sich nach einer Einleitung in sieben Sendschreiben an sieben Gemeinden in Kleinasien, in denen der Ich-Erzähler den Adressaten ihre Sünden vor Augen führt und sie anruft, Buße zu tun.28 Daran schließt die detaillierte Schilderung einer Vision an, in der die Menschheit von Plagen und Kriegen heimgesucht wird und ein Kampf zwischen Gut und Böse entbrennt. Ein Lamm öffnet das Buch mit den sieben Siegeln, wonach die Vorboten, die vier apokalyptischen Reiter, erscheinen. Sieben Engel mit sieben Posaunen treten auf, welche Leid und weitere Plagen ankündigen.29 Die Schilderungen von Feuer, Krieg, Erdbeben, Tod, Heuschrecken und bizarre, das Böse verkörpernde Monster zeichnen das Bild einer allumfassenden Katastrophe. Es folgt das Weltgericht.30 Die sieben Schalen des Zorns Gottes übergießen die Erde, wodurch ein Großteil der Menschen stirbt und das Tausendjährige Reich errichtet wird. Nachdem Himmel und Erde schließlich vernichtet sind, wird über die übrigen Toten gerichtet - die Sünder werden in den „feurigen Pfuhl“31 geworfen, die Auserwählten erlöst. Die Erlösung32 zeigt sich dann in der neuen Welt Gottes, in der es weder Tod noch Leid gibt und Gott unter den Menschen lebt:

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen […] und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein […].33

Vondung macht als wichtigstes Merkmal apokalyptischer Texte die dualistische Struktur aus, die sie prägt. Es wird scharf unterschieden zwischen der alten und der neuen Welt. Während der alten Welt das Böse sowie Schmerz und Chaos zugeordnet ist, herrscht in der neuen Welt die Erlösung von allem Leid, Gerechtigkeit und ewiges Leben.34 Die Darstellung der jeweiligen Seiten ist kompromisslos, „Zwischentöne“35 gibt es nicht. Vielköpfige Monster, Drachen und andere Dämonen werden dem Jesus verkörpernden Lamm antithetisch gegenübergestellt. Das neue, aus Gold und Kristall erbaute Jerusalem ist eine Welt der Fülle, die im starken Gegensatz zu der defizitären alten Welt steht.36 Sprachlich drückt sich diese Kompromisslosigkeit in der Verwendung des erhabenen Stils aus.

Ausgangspunkt apokalyptischer Denkströmungen waren gesellschaftliche Umbrüche, die oft mit existenziellen Krisen einer (Glaubens-)Gemeinschaft einhergingen.37 Sie fungierten als Deutungsschlüssel für das Zeitgeschehen und gaben diesem einen Sinn.38 Alpers konstatiert, bis heute häuften sich Weltuntergangsvisionen immer dann, wenn das System besonders gefährdet sei. Im religiösen Kontext würden sie als Werkzeug benutzt, wenn Menschen sich vom Glauben abwendeten.39 Betrachtet man den geschichtlichen Kontext der Johannes-Offenbarung, scheint dies zuzutreffen: So sollte die Offenbarung weniger als wörtlich zu nehmende Zukunftsvorhersage verstanden werden denn als Warnung und Aufforderung an die christlichen Gemeinden Kleinasiens, sich dem heidnischen römischen Reich unter Domitian gegenüber zu positionieren und abzugrenzen.40

Auch im frühen Mittelalter ist zu beobachten, dass apokalyptische Texte als Werkzeug genutzt wurden, um das kirchliche System zu stabilisieren. Obgleich apokalyptische Texte wie die Johannes-Offenbarung in der urchristlichen Kirche umstritten waren, fand sich die apokalyptische Motivik vom Jüngsten Gericht und den damit einhergehenden Bildern von Himmel und Hölle in der religiösen Vorstellungswelt des Frühmittelalters wieder. Ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. verschoben sich die apokalyptischen Deutungen von der Gemeinschaft auf das Verhalten des Individuums. Die Kirche hatte so ein Mittel zur Hand, das Betragen des Einzelnen zu lenken und ihren Machtfortbestand zu sichern. Zahlreiche religiöse Texte adaptierten Form und Inhalt der Apokalyptik, um eine fromme, christliche Lebensweise zu lehren, so etwa Hildegard von Bingens visionäre Schriften im 12. Jahrhundert.41 Der auf etwa 678 n. Chr. datierte Text Visio Baronti, der auf den Heiligen Franke Barontus zurückgeführt wird, bedient sich der apokalyptischen Vorstellungen vom Kampf von Gut und Böse, und des Gerichts, das die Toten nach den Taten ihres Lebens beurteilt und die Sünder in die Hölle, die Guten ins Paradies geleitet.42 Die bildgewaltigen, grausamen Schilderungen der Hölle werden insbesondere als Abschreckung vor der Abkehr eines kirchentreuen Lebens gedient haben.

Das Aufkommen des Humanismus ab dem 15. Jahrhundert führte einerseits zu einer Abkehr von apokalyptischem Gedankengut unter Intellektuellen, andererseits zu einer Häufung apokalyptischer Strömungen unter der einfachen Bevölkerung. Grund dafür war auch hier wieder das krisenbehaftete Zeitgeschehen, das geprägt war von Hungersnöten, Krieg und wiederkehrenden Pestepidemien. In theologischen und naturphilosophischen Werken wie z.B. von Paracelsus (1493-1541) und Nostradamus (1503-1566) häuften sich Spekulationen über den baldigen Weltuntergang.43

In der Romantik finden sich schließlich erste apokalyptische Texte, die den Weltuntergang als absolute Vernichtung ohne Erlösung darstellen.44 Erstmals deutet sich hier die moderne Auslegung des Apokalypse-Begriffs an, der das heilsgeschichtliche Narrativ nach und nach durch einen endgültigen Weltuntergang ohne Neuanfang ersetzt.45 Der von Vondung in den Achtzigern eingeführte Begriff der ‚kupierten Apokalypse‘ , im zeitgeschichtlichen Kontext seiner Veröffentlichung auf den gefürchteten Atomkrieg bezogen, meint diesen Wandel in der Apokalyptik.46

Zwar wurden apokalyptische Strömungen mit dem Fortschreiten der Aufklärung und dem schwindenden Einfluss der Kirche ab dem 18. Jahrhundert weiter verdrängt.47 Zugleich schien es jedoch das Bedürfnis zu geben, die Offenbarung des Johannes weiter zu verarbeiten. Der gesellschaftliche Wandel eröffnete hierfür die Möglichkeit einer experimentelleren Herangehensweise.48

In der in seinem Roman Siebenkäs 49 von 1796 enthaltenen Rede des todten [sic!] Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei schildert Jean Paul einen apokalyptischen Alptraum. Zwar werden auch hier wieder die gängigen Motive des Erdbebens und monströser Wesen (hier: Basilisken50 ) verwendet, doch nachdem die Toten auferstanden sind, müssen sie feststellen, dass es keinen Gott gibt, der über sie richtet und sie erlöst:51 „[S]o erwacht er [der Tote] in stürmischem Chaos, in der ewigen Mitternacht – und es kommt kein Morgen und keine sanfte heilende Hand und kein unendlicher Vater!“52

Im Jahr 1816, das auch als ‚Jahr ohne Sommer‘ bekannt ist, da es durch den Ausbruch des Vulkans Tambora auf der ganzen Welt zu drastischen Klimaveränderungen kam, verfasste George Gordon Byron das Gedicht Darkness, in dem er, inspiriert von der gegenwärtigen Situation, das plötzliche Erlöschen der Sonne als Katastrophenszenario imaginiert.53

Morn came, and went - and came and brought no day

And men forgot their passions in the dread

Of this their desolation; and all hearts

Were chill’d into a selfish prayer for light[.]54

Die Verrohung der Menschen und die Auflösung der sozialen Ordnung werden als Folge des Katastrophenzustands dargestellt. Eva Horn analysiert, das Gedicht betrachte den Menschen nicht mehr als Geschöpf Gottes, sondern als soziales Wesen.55

Einen anderen Ansatz, an dem ebenfalls eine Veränderung in der Rezeption apokalyptischen Denkens abzulesen ist, verfolgt Heinrich von Kleist wenige Jahre früher in Das Erdbeben in Chili (1807): Die biblischen Motive des Sünders und des Erdbebens nutzt er hier, um die apokalyptische Deutung des Zeitgeschehens aus zwei verschiedenen Perspektiven anzubieten: Während die zum Tode verurteilten Sünder glauben, das Erdbeben sei von Gott zu ihrer Erlösung geschickt worden, meinen die Überlebenden des Erdbebens in dem Unglück ein Zeichen des nahenden Weltuntergangs zu erkennen, der nur durch den Tod der beiden Sünder noch abgewendet werden kann.56 Die biblische Apokalyptik wird so vorgeführt und ihre Gültigkeit in Zweifel gestellt.57

Als letzter, endgültiger Schritt zur Säkularisierung der apokalyptischen Vorstellungswelt schlug sich das veränderte Welt- und Menschenbild auch in der Theologie nieder, wo die biblischen Visionen des Weltendes vermehrt distanziert betrachtet und als veraltet wahrgenommen wurden.58

Die Loslösung von der Kirche bewirkte einen Einzug apokalyptischer Ideen in die Politik. Tilly stellt in Karl Marx’ (1818-1883) in der im Kommunistischen Manifest dargelegten Geschichtsphilosophie eine

deterministische Geschichtsdeutung, die nach dem apokalyptisch-eschatologisch geprägten Muster ‚Defizienz - Umsturz - Fülle‘ zu einer Veränderung der Welt, zu einem totalen Zusammenbruch der bestehenden Verhältnisse und schließlich zu einer (diesseitigen) erlösenden Heilszeit führen sollte, nämlich der klassenlosen Gesellschaft […]59

fest. Die von ihm imaginierte neue Welt bezeichnet Marx als das „Reich der Freiheit“,60 während er alles Vorhergewesene als defizient abwertet. Die dualistische Einteilung in den Mangelzustand ‚Vorher‘ und einen Zustand der Fülle ‚Nachher‘ ist, so hat sich bereits gezeigt, generisch für die Apokalyptik.61

Zahlreiche apokalyptische Deutungen brachten die beiden Weltkriege Anfang des 20. Jahrhunderts hervor.62 Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 deutete sich eine weitere Veränderung der apokalyptischen Geschichtsrezeption an, die ihren vorläufigen Höhepunkt mit dem Abwurf der Atombomben 1945 über Japan fand. Erstmals kam die Idee auf, dass der Weltuntergang keinesfalls ein biblisches Ereignis oder eine Naturkatastrophe darstellt, sondern stattdessen durch den Menschen selbst verursacht ist.63

In Ernst Tollers Drama Die Wandlung 64 wird dem Ersten Weltkrieg eine Vision gegenübergestellt, in der auf den zerstörten Festen der Gesellschaft eine neue Welt aufgebaut wird.65 Das Kriegsgeschehen ist hierbei das defizitäre ‚Vorher‘, in dem die Soldaten zu bloßen Teilen einer Tötungsmaschinerie entmenschlicht werden.66

Dass Tollers Apokalypse nichts Göttliches an sich hat, wird deutlich, indem die Kriegsopfer ihren Zweifel an Gott direkt adressieren: „Pfarrer: Den Heiland bring ich euch […]/ Er gibt euch Heilung, gibt euch Liebe. Die Krüppel: ist Er so mächtig, warum liess [sic!] Ers zu?“67 Das paradiesische ‚Nachher‘ entwirft der Protagonist Friedrich in einer Rede während einer Volksversammlung, in der er Gier verurteilt und an den Glauben der Menschen an sich selbst und einander appelliert.68 Durch Werte wie Bescheidenheit, Geduld und Liebe soll „kein Elend mehr, nicht Krieg, nicht Hass“69 herrschen. Neben dem Dualismus zwischen der alten und neuen Welt sieht Vondung insbesondere in dem ekstatischen Charakter der Zukunftsvision eine Parallele zur Johannes-Offenbarung.70

Während Toller noch eine erlösende Zukunft in Aussicht stellt, überwiegt in anderen Texten, die den Ersten Weltkrieg behandeln, wie z.B. Remarques Im Westen nichts Neues (1928) die Hoffnungslosigkeit nach dem Krieg.

[...]


1 Glavinic (2019): Die Arbeit der Nacht. Künftig zitiert in runden Klammern im Fließtext mit der Sigle ‚AdN‘ und Seitenangabe.

2 Schmidt (2006): Schwarze Spiegel.

3 Haushofer (2004): Die Wand.

4 Vgl. Krah (2004): Weltuntergangsszenarien und Zukunftsentwürfe, S. 12.

5 Vgl. Krah (2004): Weltuntergangsszenarien und Zukunftsentwürfe, S. 12.

6 Foucault (2013): Die Heterotopien, S. 7 ff.

7 Vgl. Hallet/Neumann (2009): Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung, S. 13.

8 Ebd., S. 11.

9 Vgl. ebd., S. 20.

10 Vgl. Assmann (2009): Geschichte findet Stadt, S. 13 ff.

11 Vgl. Vondung (1988): Die Apokalypse in Deutschland, S. 12 f.

12 Martínez, Scheffel (2016): Einführung in die Erzähltheorie.

13 Nünning (2009): Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung.

14 Hallet, Neumann (2009): Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung.

15 Lotman, (1973): Die Struktur des künstlerischen Textes.

16 Martínez, Scheffel (2016): Einführung in die Erzähltheorie, S. 162.

17 Lotman (2010): Die Innenwelt des Denkens.

18 Augé (1994): Orte und Nicht-Orte.

19 Augé (1994): Orte und Nicht-Orte, S. 110.

20 nach Martínez, Scheffel (2019): Einführung in die Erzähltheorie, S. 155 ff.

21 Tilly (2012): Kurze Geschichte der Apokalyptik, S. 17.

22 Vgl. ebd., S. 24 f.

23 Grimm, Faulstich, Kuon (1986): Apokalypse, S. 9.

24 Vgl. Tilly (2012): Kurze Geschichte der Apokalyptik, S. 17.

25 Grimm, Faulstich, Kuon (1986): Apokalypse, S. 9.

26 Ebd. S. 9.; S. 11 f.

27 Gutzen (1991): Zur Poesie der Offenbarung des Johannes, S. 38.

28 Johannes-Offenbarung 2-3.

29 Johannes-Offenbarung 8,7.

30 Johannes-Offenbarung 14,6-20,15.

31 Johannes-Offenbarung 20,14.

32 Johannes-Offenbarung 21,1-22,5.

33 Johannes-Offenbarung 21,1-4.

34 Vgl. Vondung (1988): Die Apokalypse in Deutschland, S. 22.

35 Ebd., S. 20.

36 Ebd., S. 46.

37 Vondung (1988): Die Apokalypse in Deutschland, S. 175.

38 Vgl. Tilly (2012): Kurze Geschichte der Apokalyptik, S. 22.

39 Alpers (1974): Weltuntergangsvisionen, S. 146.

40 Busse (2000): Weltuntergang als Erlebnis, S. 36.

41 Vgl. Tilly (2012): Kurze Geschichte der Apokalyptik, S. 22.

42 Vgl. Dinzelbacher, Peter (1989): Visio Baronti, S. 50 f.

43 Vgl. Tilly (2012): Kurze Geschichte der Apokalyptik, S. 23.

44 Horn (2012): Der Untergang als Experimentalraum, S. 33.

45 Ebd.

46 Vondung (1988): Die Apokalypse in Deutschland, S. 12.

47 vgl. Tilly (2012): Kurze Geschichte der Apokalyptik, S. 24.

48 Horn (2012): Der Untergang als Experimentalraum, S. 33.

49 Paul (1991): Siebenkäs.

50 Ebd., S. 53.

51 Horn (2012): Der Untergang als Experimentalraum, S. 33.

52 Paul (1991): Siebenkäs, S. 55.

53 Behringer (2015): Tambora und das Jahr ohne Sommer, S. 259 f.

54 Byron (1921): Darkness, S. 93 f.

55 Vgl. Horn (2012): Der Untergang als Experimentalraum, S. 33.

56 Vgl. von Kleist (2007): Das Erdbeben in Chili.

57 Vgl. Gutzen (1991): Zur Poesie der Offenbarung des Johannes, S. 15.

58 Vgl. Tilly : Kurze Geschichte der Apokalyptik, S. 24.

59 Ebd., S. 24.

60 Marx, Engels (1964): Das Kapital. S. 828.

61 Vgl. Vondung (1988): Die Apokalypse in Deutschland, S. 65 ff.

62 Vgl. ebd., S. 10.

63 Vgl. Horn (2014): Die Zukunft als Katastrophe, S. 77 ff.

64 Toller (1922): Die Wandlung.

65 Vgl. Vondung (1988): Die Apokalypse in Deutschland, S. 19 f.

66 Vgl. u.a. Toller (1922): Die Wandlung, S. 40.

67 Toller (1922): Die Wandlung, S. 44.

68 Vgl. ebd., S. 75 f.

69 Ebd., S. 77.

70 Vondung (1988): Die Apokalypse in Deutschland, S. 20 ff.

Fin de l'extrait de 57 pages

Résumé des informations

Titre
Relationen von Raum und Figur im postapokalyptischen Roman "Die Arbeit der Nacht" von Thomas Glavinic
Université
University of Cologne
Auteur
Année
2021
Pages
57
N° de catalogue
V1146703
ISBN (ebook)
9783346615459
ISBN (ebook)
9783346615459
ISBN (ebook)
9783346615459
ISBN (Livre)
9783346615466
Langue
allemand
Mots clés
relationen, raum, figur, roman, arbeit, nacht, thomas, glavinic
Citation du texte
Anika Hoffmanns (Auteur), 2021, Relationen von Raum und Figur im postapokalyptischen Roman "Die Arbeit der Nacht" von Thomas Glavinic, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1146703

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