Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Selbstgesteuertes Lernen
2.1.1 Selbstregulation
2.2 Kooperatives Lernen
2.2.1 S*S als Lernhelfer*innen
2.3 Diagnostik von kooperativem und selbstgesteuertem Lernen
3. Anwendung auf die Textvignette
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
6. Anhang: Textvignette
1. Einleitung
„Das Konzept der individuellen Förderung ist mit dem PISA-Schock nun seit knapp 20 Jahren vermehrt Gegenstand von bildungspolitischen und pädagogischen Diskussionen“ (Fischer/Fischer-Ontrup/Schuster, 2020, S. 138). Durch die wachsende Heterogenität von Schulklassen und den unterschiedlichen Voraussetzungen der Schüler*innen (S*S) sei es erforderlich, die Lernangebote an den Bedürfnissen der einzelnen S*S auszurichten und die Lernprozesse weitgehend individualisiert zu organisieren (vgl. Lipowsky/Lotz, 2015, S. 155). Dies entspricht nach der Definition der UNESCO auch der Maßgabe von Inklusion, die fordert, dass allen Menschen die gleichen Möglichkeiten auf eine Teilhabe an qualitativ hochwertiger Bildung unabhängig von besonderen Lernbedürfnissen, Geschlecht sowie sozialen und ökonomischen Voraussetzungen offenstehen (vgl. Bylinski, 2015, S. 8).
Zudem wird eine zunehmende Selbststeuerung von Lernprozessen durch die Lernenden erforderlich. Individuelles Lernen müsse durch gemeinsames und gegenseitig unterstützendes Lernen in Gruppen ergänzt werden. Zu einer neuen Lehr- und Lernkultur gehöre daher laut dem Arbeitsstab Forum Bildung neben individueller Förderung auch vor allem die soziale Einbindung des Lernens (vgl. Arbeitsstab Forum Bildung, 2001, S. 7). Damit individuelle Förderung auch wirksam wird, ist darüber hinaus eine entsprechende Diagnostik von großer Bedeutung. Im Zuge derer erfolgt eine Beurteilung persönlicher För- derbedarfe durch die kontinuierliche Feststellung der persönlichen Lernausgangslagen. Die Diagnostik ist dabei an die Förderung gekoppelt, die für die systematische Umsetzung der passgenauen Lernangebote sorgt (vgl. Fischer/Fischer-Ontrup/Schuster, 2020, S. 138). Mit diesem Themenbereich haben sich bereits viele Wissenschaftler beschäftigt. So sind besonders die Schriften Silke Traubs zur kooperativen Gestaltung von Unterricht und zum individualisierten Lernen anzuführen (vgl. Traub, 2004, 2012, 2013). Zusammen mit Klaus Konrad hat Traub sich zudem damit beschäftigt, wie selbstgesteuertes Lernen (sgL) in Unterricht und Bildungspläne integriert werden kann (vgl. Konrad/Traub, 2013). Dieter Euler und Günter Pätzold haben darüber hinaus Erkenntnisse zur Förderung selbstgesteuerten und kooperativen Lernens (kL) in der beruflichen Erstausbildung, die sich im Rahmen des Modellversuchsprogramms SKOLA ergaben, in einem Band zum Abschlussbericht des Programmträgers umfassend zusammengestellt (vgl. Euler/Pätzold, 2010).
In Anbetracht dessen soll sich diese Hausarbeit mit der Frage beschäftigen, inwiefern die geforderte Selbststeuerung von Lernprozessen durch die S*S mit der sozialen Einbindung zusammengebracht werden kann. Für Letzteres soll sich vornehmlich mit dem kL als Erscheinungsform beschäftigt werden. Im folgenden zweiten Hauptkapitel werden hierfür zunächst die theoretischen Grundlagen geschaffen. Im ersten Unterkapitel wird das Prinzip des sgL vorgestellt und hierbei in einem weiteren Unterkapitel insbesondere das Konzept der Selbstregulation als dessen Prozessmerkmal erläutert. Anschließend wird das kL definiert. In einem dazugehörigen Unterkapitel wird darüber hinaus auf das in diesem Kontext wichtige Thema „Schüler als Lernhelfer*innen“ eingegangen, da dies für die vorliegende Fallvignette von Bedeutung ist. Im folgenden Kapitel soll dann aufgezeigt werden, wie die Diagnostik kL und sgL gestaltet ist. Im dritten Hauptkapitel folgt anschließend die Anwendung der theoretischen Erkenntnisse auf die Fallvignette, die von vier Studentinnen als Gruppenarbeit erstellt wurde. Diese stellt eine konstruierte Unterrichtssituation dar, die überwiegend Situationen beinhaltet, die von selbigen während der Schulpraktika oder in eigenen Schulzeiten erlebt und beobachtet worden sind. Der Ablauf der Stunde und einzelne Elemente wie der Wortlaut der Lehrkraft bspw. sind jedoch ausgedacht und entsprechen keiner realen Eins-zu-eins-Situation. Im letzten Hauptkapitel erfolgt eine Zusammenfassung der Erkenntnisse in Form eines Fazits.
2. Theoretische Grundlagen
Die Globalisierung sorgt für enorme Wandlungsprozesse, besonders auch im Hinblick auf die Berufsbildung. Neben Fachkompetenzen sind zunehmend auch Selbstlernkompetenzen und Teamfähigkeit für berufliches Handeln unerlässlich. In diesem Kapitel sollen daher nun die theoretischen Begrifflichkeiten des sgL und kL definiert werden. Dies bildet die Voraussetzung, um Ansätze zur Implementierung in den Unterricht aufzuzeigen, der diese Kompetenzen bisweilen noch zu wenig betont (vgl. Euler/Pätzold, 2010, S.1516).
2.1 Selbstgesteuertes Lernen
„Lebenslanges Lernen ist umso effektiver, je vielfältiger die Selbstlernkompetenzen sind.
Nachhaltiges Lernen ist selbstgesteuertes Lernen [...]“ (Siebert, 2009, S. 5).
Der Begriff des sgL ist in der einschlägigen Literatur nicht einheitlich definiert. Häufig wird der Begriff im gleichen Atemzug mit der Selbstregulation genannt, die jedoch in einem folgenden Unterkapitel hiervon abgegrenzt werden soll (vgl. Konrad, 2019, S. 26). Selbststeuerung beinhaltet im Unterschied zur Fremdsteuerung jene Einflüsse auf die Gestaltung des Lernens, die vom lernenden Individuum selbst ausgehen. Sie zeichnet sich demnach durch einen hohen Selbstbestimmungsanteil aus und wird daher auch als interne Steuerung bezeichnet (vgl. Konrad/Traub, 2013, S. 4-6).
In Anlehnung an Arbeiten von Zimmermann und Corno stellen Konrad und Traub folgende zentrale Merkmale sgL heraus: Die Lernenden beeinflussen in kognitiver bzw. metakognitiver, motivationaler und verhaltensbezogener Hinsicht den Lernprozess selbst aktiv. Während des Lernprozesses ist eine selbstbezogene Feedbackschleife wirksam und die Lernenden überwachen ständig ihre Lernaktivitäten. Sie reagieren auf dieses Feedback. Lernende motivieren sich selbst, was wiederum Auswirkungen darauf hat, aus welchen Gründen und mit welcher Intensität eine Person eine bestimmte selbststeuernde Maßnahme ergreift. Lernende steuern ihr Verhalten volitional. Hierzu gehört insbesondere, dass sie über Mechanismen der Motivations- und/oder Emotionskontrolle ihre Lernabsichten vor konkurrierenden Einflüssen schützen können (vgl. Konrad/Traub, 2013, S. 8). Zusammengefasst ergibt sich daraus die folgende Definition: „Selbstgesteuertes Lernen ist eine Form des Lernens, bei der die Person in Abhängigkeit von der Art ihrer Lernmotivation selbstbestimmt eine oder mehrere Selbststeuerungsmaßnahmen (kognitiver, volitionaler oder verhaltensmäßiger Art) ergreift und den Fortgang des Lernprozesses selbst (metakognitiv) überwacht, reguliert und bewertet“ (Konrad/Traub, 2013, S. 8). SgL ist damit vor allem ein zielorientierter, aktiver und konstruktiver Prozess, der auf dem reflektierten und gesteuerten Zusammenspiel kognitiver und motivational-emotionaler Ressourcen einer Person beruht. Als Lernkonzept kann es träges Wissen vermeiden. Das sgL vereinigt in sich das individualisierte und kL (vgl. Traub, 2012, S. 42).
Aus dieser Diskussion lassen sich schließlich die Merkmale für den Unterricht ableiten. So dient als Prozessmerkmal des sgL die Selbstregulation, welche sich noch in Motivation, kognitive Lernstrategien, metakognitive Strategien sowie Reflexivität und Bewusstheit untergliedern lässt (vgl. Traub, 2012, S. 42-45). Diese wird im folgenden Unterkapitel eingehender betrachtet. Als leistungsbezogenes Merkmal ist der persönliche Lernerfolg anzusehen, der im schulischen Kontext von zentraler Bedeutung ist. Ein/e Ler- nende/r, der/die Lernstrategien besitzt und diese sinnvoll einsetzt, der/die motiviert ist und den Lernprozess reflexiv und bewusst beeinflussen kann, muss eigentlich auch zu einer besseren Leistung kommen. Entscheidend ist dabei, dass die Lernenden diesen Zusammenhang auch wahrnehmen und einschätzen können. Die Lernenden müssen sich also mit ihrem eigenen Lernprozess auseinandersetzen und ihre Lernergebnisse evaluieren, um in Bezug auf das Ergebnis ihr eigenes Vorgehen zu überdenken. Weiterhin ist als soziales Merkmal die Kooperation zu nennen, welche im Laufe der Arbeit noch weiter ausgeführt wird (vgl. Traub, 2013, S. 45-46).
SgL innerhalb des Lernprozesses bedeutet auch, dass Lernende einzelne Phasen selbst aktiv beeinflussen können. Diese Phasen oder auch Teiltätigkeiten sind die Lernorganisation (bspw. Lerntempo oder Lernpartner), die Lernkoordination (bspw. Berücksichtigung der Anforderungen in Beruf und Familie), das Lernen im engeren Sinne wie z. B. die Auswahl der Lerninhalte und die subjektive Interpretation der Lernsituation in der Form, dass die Lernenden sich als selbstständig im Lernprozess definieren. In der berufsschulischen Praxis ist jedoch nicht davon auszugehen, dass Lernende die Option haben, neben Entscheidungen zur Lernorganisation auch noch Lernziele auszuwählen, da insbesondere diese in hohem Maße durch curriculare Vorgaben in Rahmenlehrplan und Ausbildungsordnung mitbestimmt werden. Dies bietet wenig Raum für Selbststeuerung. Ein sgL im Rahmen von Unterricht bedeutet daher keineswegs, dass die Lernenden alle Phasen im Lernprozess selbstständig auswählen müssen; die Auswahl eines oder mehrerer Bestandteile genügt, um der Lernform des sgL Genüge zu tun. Die Nutzung fremd organisierter Lernangebote sowie von Unterstützung und Hilfe wird daher in diesem Verständnis nicht ausgeschlossen (vgl. Euler/Pätzold, 2010, S. 51-52).
2.1.1 Selbstregulation
Selbstregulation hebt auf die Mikroebene der Betrachtung sgL ab (vgl. Konrad/Traub, 2013, S. 6). „ Selbstreguliertes Lernen ist eine Form des Erwerbs von Wissen und Kompetenzen, bei der Lerner sich selbstständig und eigenmotiviert Ziele setzen sowie eigenständig Strategien auswählen, die zur Erreichung dieser Ziele führen und durch Bewertung von Erfolgen bezüglich der Reduzierung der Ist-Soll-Differenz Ziele und Aktivitäten im Hinblick auf eine Erreichung des Soll-Zustandes prozessbegleitend modifizieren und optimieren“ (Götz/Nett, 2017, S. 146). Diese Definition betont den Regulationsprozess in Form der Ist-Soll-Differenz stark. Zu deren Bewertung sind daher diagnostische Kompetenzen erforderlich wie auch Wissen und Fertigkeiten zur Reduzierung dieser Differenz bspw. in Form von Lernstrategien (vgl. Götz/Nett, 2017, S. 146-147).
In allen verschiedenen Begriffsdefinitionen werden drei Komponenten selbstregulierten Lernens deutlich: Die kognitive Komponente betrifft die Informationsverarbeitung, das konzeptionelle und strategische Wissen sowie die Fähigkeit, entsprechende Lernstrategien anzuwenden. Die motivationale Komponente umfasst Aktivitäten, die der Initiierung wie bspw. die Selbstmotivierung und dem Aufrechterhalten (volitionale Steuerung) des Lernens dienen, sowie handlungsfördernde Attributionen von Erfolgen und Misserfolgen und die Überzeugung, wirksame Handlungen durchführen zu können (Selbstwirksamkeitsüberzeugung). Die metakognitive Komponente beinhaltet die Planung, Selbstbeobachtung, Reflexion und adaptive Anpassung des Lernverhaltens in Bezug auf das angestrebte Lernziel (vgl. Perels/Dörrenbächer-Ulrich u. a., 2020, S. 46).
Neben diesen drei Komponenten wird auch der Prozesscharakter des Lernens deutlich. Die Selbstregulation ist ein dynamischer und iterativer Prozess, da das Ergebnis einer vorhergehenden Lernhandlung Einfluss auf die Zielsetzung der folgenden hat. Ein solches Prozessmodell mit präaktionaler, aktionaler und postaktionaler Phase dient als Grundlage für Förderansätze. In der präaktionalen Phase finden Planungen als Vorbereitung des Lernprozesses statt. Ausgehend von den Bedingungen des Individuums wie Motivation und Emotionen und der Aufgabenstellung werden Ziele definiert und Strategien zu deren Umsetzung ausgewählt. Die Überzeugung des Individuums, die Aufgaben aus eigener Kraft bewältigen zu können (Selbstwirksamkeit) ist hierbei von großer Bedeutung. Die anschließende aktionale Phase entspricht der eigentlichen Lernhandlung. Hierin werden die ausgewählten Strategien umgesetzt und die Handlungen überwacht und kontrolliert. Man unterscheidet grob drei Arten von Lernstrategien, die kognitiven, metakognitiven und ressourcenbezogenen Lernstrategien. Unter erstere fallen Strategien zur Wiederholung, Elaboration und Organisation, sie dienen damit vor allem der Aufnahme, Speicherung und Verarbeitung von Informationen. Die metakognitiven Strategien sind diesen übergeordnet, zu ihnen gehören Strategien zur Planung, Überwachung und Kontrolle des Lernprozesses. Die Überwachung spielt hierbei eine besondere Rolle. Sie wird auch Self-Monotoring genannt. Während des gesamten Lernprozesses der aktionalen Phase beobachten S*S sich selbst, um ihr Lernverhalten ggf. zu regulieren. Allein hierdurch können positive Effekte auf das Lernverhalten erwartet werden. Bei den ressourcenbezogenen Strategien unterscheidet man zwischen internen und externen Strategien. Letztere beziehen sich auf die äußere Gestaltung der Lernumgebung in Form von Gestaltung des Lernplatzes bis hin zum kL mit Klassenkamerad*innen. Mit internen Ressourcen sind Aufmerksamkeit und Konzentration der S*S während des Lernens gemeint. Damit die S*S bei auftretenden Schwierigkeiten die Aufgabe nicht abbrechen und störende Gedanken ausschalten können, sind volitionale Komponenten, sogenannte Willensstrategien erforderlich. Gleiches gilt für den Umgang mit Störungen von außen wie bspw. durch lärmende Geschwister. In der postaktionalen Phase werden Handlungsergebnisse eingeschätzt und hieraus Konsequenzen für zukünftiges Handeln abgeleitet. Es erfolgt ein Soll-Ist-Vergleich, da die Ziele mit der erbrachten Leistung abgeglichen werden sowie eine Reflexion der Ergebnisursachen und des gesamten Handlungsverlaufes. Hierdurch wird unmittelbar der Planungsprozess in der präaktionalen Phase des folgenden Zyklus beeinflusst, sodass deutlich wird, dass Erfahrungen aus einer Lernphase Auswirkungen auf das Lernen einer folgenden Lernphase haben (vgl. Perels/Dörrenbächer-Ulrich u. a., 2020, S. 47-49, vgl. Hessisches Kultusministerium, 2011, S. 6-10).
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