Der südschleswigsche Wählerverband in Schleswig-Holstein aus Perspektive des liberalen Multikulturalismus


Hausarbeit (Hauptseminar), 2021

29 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abstract

1. Einführung: Beschreibung des Phänomens

2. Der Südschleswigsche Wählerverband in Schleswig-Holstein
2.1 Entstehung, Entwicklung und Wahlergebnisse des SSW
2.2 Klassische Milieus, kulturelle Aktivitäten und inhaltliche Ausrichtung des SSW
2.3 Verfassungsrechtliche Sonderstellung des SSW

3. Perspektive des liberalen Multikulturalismus
3.1 Kymlickas Appell für Gewährleistung von gruppenspezifischen Minderheitenrechten aus kommunitaristischer Sicht
3.2 Waldrons Kritik an Gewährleistung von Minderheitenrechten aus kosmopolitischer Sicht

4. Gruppenspezifische Minderheitenrechte für den SSW aus der Perspektive des liberalen Multikulturalismus

5. Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Abstract

Diese Arbeit behandelt den Südschleswigschen Wählerverband (SSW) in Schleswig-Holstein aus der Perspektive des liberalen Multikulturalismus. Ausgehend von den Fragen, aus welchen Gründen der SSW gruppenspezifische Minderheitenrechte genießt und ob diese – aus der Perspektive des liberalen Multikulturalismus – gerechtfertigt sind, wird deutlich, dass der SSW die politische Vertretung der dänischen Minderheit in Schleswig und der nationalen Friesen einnimmt und auf Grundlage der Bonn-Kopenhagener-Erklärung von 1955, dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, sowie der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein Sonderrechte genießt, indem er bei Landtags- und Bundestagswahlen von der Fünf-Prozent-Hürde ausgenommen ist. Aus liberaler multikulturalistischer Perspektive wird argumentiert, dass der SSW kommunitaristischer Natur ist und – nach Kymlicka – eine gesellschaftliche Kultur aufweist, was die Gewährleistung von gruppenspezifischen Minderheitenrechten rechtfertigt.

Vorbemerkung zum Sprachgebrauch:

In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Alle Personen- und Funktionsbezeichnungen in dieser Arbeit gelten für weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten in gleicher Weise, soweit es für die Aussage erforderlich ist.

1. Einführung: Beschreibung des Phänomens

Als sich in der Nacht des 22.Februar 2005 bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein ein äußerst knapper Vorsprung für eine – vom Südschleswigschen Wählerverband tolerierte – Fortsetzung der Regierungskoalition aus SPD und Bündnis90/Die Grünen anbahnte, kam es zu medialer und politischer Aufmerksamkeit, auch auf bundespolitischer Ebene (Holtmann 2015: 616). Wie im Jahr 2012, nahm der SSW dadurch die Rolle eines Vetospielers (Tsebelis 2002) ein, was zu erheblichen verfassungsrechtlichen Grundsatzfragen führte. Der SSW ist als politische Vertretung der dänischen Minderheit und der nationalen Friesen von der Fünf-Prozent-Hürde bei Wahlen zum Landtag und zum Bundestag befreit, wodurch er praktisch gruppenspezifische Minderheitenrechte in Anspruch nimmt, die vom Staat konkret gewährleistet werden. Somit stellt sich die aus vergleichender politikwissenschaftlicher, wie auch aus liberaler multikulturalistischer Sicht relevante Frage: Aus welchen Gründen genießt der SSW gruppenspezifische Minderheitenrechte und sind diese – aus der Perspektive des liberalen Multikulturalismus – gerechtfertigt? Die These lautet, dass die Sonderrechte für den SSW auf den Grundlagen der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, sowie auf internationalen Abkommen beruhen, dass der SSW kommunitaristischer Natur ist und eine gesellschaftliche („ societal “) Kultur nach Kymlicka aufweist: Es gibt eine gemeinsame Geschichte und Sprache des Stammes, er teilt ein gemeinsames Vokabular von Traditionen und Konventionen, denen ein umfassendes Angebot von sozialen Praktiken und Konventionen unterliegt. Jedoch liegt eher eine kulturell-gesinnungsethische Eingrenzung als eine völkerrechtlich-territoriale vor, da das Streben nach einem eigenen Bundesland Schleswig scheiterte.

Im ersten Teil wird die Partei des SSW behandelt, indem zunächst die historische Entstehung und bisherige Entwicklung, sowie die Wahlergebnisse der Partei dargestellt werden. Danach werden die klassischen Milieus, die kulturellen Aktivitäten und die inhaltliche Ausrichtung des SSW erläutert, um danach seine wahl- und verfassungsrechtliche Sonderstellung zu analysieren. Im zweiten Teil soll die Perspektive des liberalen Multikulturalismus eröffnet werden, indem zwei entscheidende Denker und deren Argumente dieser Richtung beschrieben werden sollen. Zuerst erfolgt die Beschreibung von Kymlickas Argumenten pro Gewährleistung von gruppenspezifischen Minderheitenrechten aus kommunitaristischer Perspektive, um danach die entgegengesetzte kosmopolitische Argumentation von Waldron aufzumachen, der den liberalen Multikulturalismus und entsprechende Minderheitenrechte kritisiert. Anschließend wird der vorliegende Fall des SSW in die Debatte über gruppenspezifische Minderheitenrechte aus der Perspektive dieser beiden Denkrichtungen eingebettet, und versucht, die Fragestellung entsprechend zu beantworten.

Vorweg bleibt festzuhalten, dass die Arbeit sich lediglich auf zwei Denker des liberalen Multikulturalismus konzentriert: Kymlicka als Befürworter von spezifischen Rechten und Waldron als Kritiker dessen.

2. Der Südschleswigsche Wählerverband in Schleswig-Holstein

2.1 Entstehung, Entwicklung und Wahlergebnisse des SSW

Der südschleswigsche Wählerverband versteht sich als politische Vertretung der dänischen und friesischen Bevölkerung – genauer formuliert der ‚nationalen Friesen‘ - im Landesteil Süd-Schleswig (Piehler & Duggen 2002: 303; Niedermayer 2013: 655). In Deutschland gibt es insgesamt nur vier staatlich anerkannte nationale bzw. ethnische Minderheiten: Sorben, Dänen, Friesen und die deutschen Sinti und Roma (Oppelland 2020). Nach Oppelland (2020) zeichnen diese sich dadurch aus, dass sie alle deutsche Staatsbürger sind, sich aber durch Sprache, Kultur und Geschichte, also durch eine eigene nationale Identität unterscheiden. Der SSW stellt als parlamentarische Dauervertretung einer nationalen Minderheit, nämlich der dänischen und national-friesischen Bevölkerung im Landesteil Schleswig, im deutschen Parteiensystem eine regionale Besonderheit mit hoher Kontinuität dar (Holtmann 2005: 617 & 618). Die „Nationalfriesen“ entstanden nach Dietsche (2018: 496) dadurch, dass nach dem Ersten Weltkrieg ein Teil sich nicht mehr als deutscher Stamm, sondern als eigenständige Volksgruppe definierte. Die Entstehung und die historischen Hintergründe des Stammes reichen weit zurück: Südschleswig ist der südliche Teil des ehemaligen dänischen Herzogtums Schleswig, das 1867 – nach dem Krieg zwischen Preußen und Österreich auf der einen und dem Königreich Dänemark auf der anderen Seite – zusammen mit den Herzogtümern Holstein und Lauenburg als Provinz Schleswig-Holstein Preußen einverleibt wurde (Piehler & Duggen 2002: 303). Nach Schultz (2012: 189) gibt es seit 1864 im Landesteil Südschleswig die dort ansässige dänische Minderheit. Nach Dietsche (2018: 496) wies Schleswig lange eine deutsche und dänische Bevölkerung auf. Nach dem ersten Weltkrieg fand im Jahr 1920 eine Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit des ehemaligen Herzogtums statt, mit dem Ergebnis, dass im nördlichen Teil des Abstimmungsgebietes eine große Mehrheit für eine Eingliederung nach Dänemark, im südlichen Teil eine Mehrheit für den Verbleib im damaligen Deutschen Reich votierte. Dieses Abstimmungsergebnis führte zur Ziehung der heutigen deutsch-dänischen Grenze und somit zur Bildung einer deutschen Minderheit nördlich und einer dänischen Minderheit südlich der Grenze (Piehler & Duggen 2002: 303). Nach Dietsche (2018: 496) leben in Südschleswig etwa 50.000 Dänen, vor allem im Raum Flensburg, und etwa 12.000 Friesen an der nordfriesischen Nordseeküste. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Bildung des Bundeslands Schleswig-Holstein erhielt die vom „Südschleswigschen Verein“ (SSV, stehend für „Sydlesvig Forening“ (SSF)), dem Dachverband der dänischen Minderheit, erhobene Forderung nach einem Anschluss Südschleswigs an Dänemark großen Zulauf, doch wurde von der dänischen Regierung abgelehnt (Niedermayer 2013: 655 & 656; Schultz 2012: 189).

Die Briten erteilten dem SSV für die erste Landtagswahl 1947 eine zeitlich begrenzte Teilnahmegenehmigung nur unter der Auflage, nicht für eine Grenzrevision zu agieren, sich auf kulturelle Belange zu beschränken und die politischen Aktivitäten einer neu zu gründenden Partei zu überlassen (Niedermayer 2013: 656; Dietsche 2018: 497). Somit wurde am 25.Juni 1948 der SSW gegründet, derer sich die ‚nationalen Friesen‘ anschlossen (Niedermayer 2013: 656). Nach Dietsche (2018: 497) blieb die Bindung an den SSV jedoch eng, die Vorstände von SSW und SSF waren per Satzung verflochten, indem der SSF-Vorsitzende der stellvertretende SSW-Vorsitzende war, und umgekehrt; diese tagten stets zusammen und legten eine gemeinsame Linie fest, was bis 1968 so blieb. Das erste Parteiprogramm von 1948 definierte den SSW in der Präambel nicht als Partei der dänischen Minderheit, sondern vielmehr als „Heimatverband aller Bevölkerungskreise in Südschleswig“ (Dietsche 2018: 502).

Zwar setzte die CDU-geführte Landesregierung 1951 durch, dass die Sperrklausel im Wahlsystem von 5 auf 7,5 Prozent heraufgesetzt wurde, doch konnte sich der SSW vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich gegen die Erhöhung zur Wehr setzen (Niedermayer 2013: 656). In der Folgezeit verringerte sich der Zuspruch für den SSW, da die Schaffung eines eigenen Bundeslandes Südschleswig keine Chance mehr hatte und sich die sozialen Spannungen im Land verkleinerten. Die Minderheitenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Schleswig-Holstein sowie das Selbstverständnis der dänischen Minderheit in Südschleswig basieren international-politisch auf den sogenannten Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955, die – analog für die deutsche Minderheit in Dänemark – unter anderem garantieren, dass „Däne sei wer will“ und „dies von den Behörden nicht nachgeprüft werden darf“ (Schultz 2012: 189). Konkret fanden im Vorfeld der deutschen NATO-Aufnahme geführten deutsch-dänische Verhandlungen statt, in denen wesentliche Forderungen der dänischen Minderheit nach kultureller Selbstbestimmung erfüllt wurden, für Südschleswig ein eigenes dänisches Schulwesen garantiert und die politische Vertretung der dänischen Minderheit von den Hürden des schleswig-holsteinischen Wahlrechts befreit wurde (Fünfprozenthürde, Unterschriftenquorum und Mindestwahlergebnis für die öffentliche Parteienfinanzierung) (Niedermayer 2013: 656). Außerdem wirkte der erste SSW-Bundestagsabgeordnete, Hermann Clausen, als Mitglied im Wahlrechtsausschuss daran mit, dass es für Parteien nationaler Minderheiten eine Ausnahme von der ab 1953 geltenden Fünf-Prozent-Klausel geben konnte (Dietsche 2018: 497).

In all der Zeit war der SSW nur zwischen 1954 und 1958 nicht im Landtag vertreten (Oppelland 2020). Bei den ersten Kommunalwahlen im Oktober 1946 entfielen ein Drittel der Stimmen auf die „Unabhängigen SSV-Kandidaten“ (Dietsche 2018: 496). In Flensburg, wo mit der pro-dänischen SPD-Abspaltung - Sozialdemokratische Partei Flensburgs (FPS) - kurzzeitig eine südschleswigsche Regionalpartei kandidierte, stellte das dänische Lager sogar 32 von 39 Ratsmandaten sowie den Oberbürgermeister (Dietsche 2018: 496). Bei der ersten Landtagswahl in Schleswig-Holstein 1947 erreichte der damalige SSV einen Anteil von 9,3 Prozent der im ganzen Land abgegebenen Stimmen und damit sechs Sitze im Landtag. In Südschleswig wurde ein Stimmenanteil von 14 Prozent erreicht, was in absoluten Zahlen 60.367 Stimmen bedeutete und im Landesteil Südschleswig 33,5 Prozent der Stimmen (Niedermayer 2013: 656; Dietsche 2018: 496). Betrachtet man nur die einheimische Bevölkerung, betrug der Stimmenanteil in Südschleswig sogar 55,1 Prozent (Dietsche 2018: 496). Nach Gründung der Partei SSW nahm dieser zum ersten Mal im Jahr 1950 an einer Landtagswahl teil. Dort errang er 5,5 Prozent der Stimmen und damit vier Landtagssitze. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 gab es noch keine bundesweite Fünfprozenthürde und der SSW erreichte mit 5,4 Prozent der Stimmen in Schleswig-Holstein und 0,3 Prozent bundesweit ein Bundestagsmandat (Niedermayer 2013: 656). Dies gewann der spätere Parteivorsitzende Hermann Clausen, der für Konrad Adenauer als ersten Bundeskanzler stimmte (Dietsche 2018: 497).

Bei der Landtagswahl 1954 verfehlte die Partei mit 3,5 Prozent die Fünfprozenthürde, sodass sie nicht mehr im Landtag vertreten war und die politische Arbeit auf die kommunale Ebene konzentrierte (Niedermayer 2013: 656). Auf der Bundesebene galt schon seit der zweiten Bundestagswahl 1953, dass alle Parteien nationaler Minderheiten von der 5-Prozent-Sperrklausel befreit waren, doch konnte der SSW bei den drei Bundestagswahlen 1953, 1957 und 1961 mit Ergebnissen von 0,1 – 0,2 Prozent die ‚natürliche Hürde‘, so viele Stimmen gewinnen zu müssen, dass ihm nach dem verwendeten Berechnungsverfahren ein Sitz zustand, nicht überschreiten und begrub in der Folgezeit seine bundespolitischen Ambitionen (Niedermayer 2013: 657). Zwischen 1961 und 2017 (einschließlich) hat der SSW an keiner Bundestagswahl mehr teilgenommen (Dietsche 2018: 498). Bei der Landtagswahl 1958 erhielt der SSW 2,8 Prozent der Stimmen und zwei Sitze im Landtag. Von 1962 bis 1992 war er mit Wahlergebnissen zwischen 1,3 und 2,3 Prozent mit nur einem Sitz im Landtag vertreten (Niedermayer 2013: 657). Bei den beiden Wahlen 1988 und 1992 konnte die Partei leichte Stimmengewinne erzielen und 1996 mit 2,5 Prozent erstmals wieder zwei Landtagssitze erreichen (Niedermayer 2013: 657). Bei der Landtagswahl am 27.Februar 2000 trat der SSW erstmals landesweit an, wodurch er aufgrund des geänderten Wahlrechts mit der Zweitstimme jetzt auch im holsteinischen Wahlgebiet gewählt werden konnte, wo er anders als im Norden des Landes keine Direktkandidaten aufstellte (Holtmann 2005: 618). Bei dieser Landtagswahl erreichte der SSW mit 4,1 Prozent drei Mandate – und somit das beste Ergebnis seit 1950 -, in Südschleswig wurde gar ein Stimmenanteil von 14 Prozent erreicht, was in absoluten Zahlen 60.367 Stimmen bedeutete (Piehler & Duggen 2002: 304; Niedermayer 2013: 657; Dietsche 2018: 499; Holtmann 2005: 618). Bei der Landtagswahl 2005 fiel der SSW wieder auf zwei Sitze zurück und erreichte nur 3,6 Prozent der Stimmen (Niedermayer 2013: 657; Dietsche 2018: 499). Dabei erzielte der SSW in Schleswig mit 8,4 Prozent etwa viermal so viele Stimmen wie im südlichen Landesteil Holstein (2,1 Prozent). In Flensburg-Stadt kam er auf 15,2 Prozent, in Flensburg-Land auf 12,4 Prozent (Holtmann 2005: 619). Da weder SPD mit Bündnis90/Die Grünen, noch CDU mit FDP über eine Mehrheit im Landtag verfügten, fungierte der SSW als Vetospieler (Tsebelis 2002), mit dem Ergebnis, dass 2005 SPD, Bündnis90/Die Grünen und der SSW eine Tolerierungsvereinbarung unterzeichneten. Jedoch scheiterte dieses Vorhaben genauso schnell, da Ministerpräsidentin Heide Simonis in allen vier Wahlgängen keine Mehrheit auf sich vereinigen konnte und stattdessen eine Große Koalition unter CDU-Führung zustande kam (Dietsche 2018: 499 & 500). Im Zuge der Landtagswahl 2009 löste eine CDU/FDP-Regierung die gescheiterte Große Koalition ab, bei der sich der SSW von 3,6 auf 4,3 Prozent verbesserte und gar vier Mandate errang (Dietsche 2018: 500).

In seinem Urteil vom 30.August 2010 stellte das Landesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit des Landeswahlgesetzes fest, was eine vorgezogene Neuwahl 2012 zur Folge hatte, bei der der SSW erstmals auch in einzelnen Regionen von Holstein um Stimmen warb (Niedermayer 2013: 657; Horst 2012: 528). Bei dieser Landtagswahl stand der SSW erstmals für einen möglichen Eintritt in eine Regierung als Koalitionspartner von SPD und Bündnis90/Die Grünen zur Verfügung und legte seinen Schwerpunkt auf die Bildungs-, Sozial- und Minderheitenpolitik (Horst 2012: 531). Die beiden Parteien verfehlten zwar mit 32 Sitzen die absolute Mehrheit, doch dem SSW kam mit seinen drei Sitzen und 4,6 Prozent tatsächlich die Rolle eines Vetospielers (Tsebelis 2002) zu. Somit wurde am 12.Juni 2012 Torsten Albig als Ministerpräsident einer Koalition aus SPD, Bündnis90/Die Grünen und SSW gewählt, die 2017 von einer CDU-geführten Landesregierung aus CDU, FDP und Bündnis90/Die Grünen abgewählt wurde (Niedermayer 2013: 659; Dietsche 2018: 500; Horst 2012: 531 & 538). Der SSW erreichte im nördlichen Landesteil Schleswig fast elf Prozent und wurde gar drittstärkste Partei in den Wahlkreisen Flensburg, Flensburg-Land, Schleswig-Nord und Südtondern, wohingegen er im Landesteil Holstein nur knapp drei Prozent erreichte (Horst 2012: 536 & 537). Horst (2012: 539) bezeichnete diese Koalition wegen der inhaltlichen Nähe der involvierten Parteien als „minimal range“ bzw. als „minimal connected winning coalition.“1 SSW-Fraktionschefin Anke Spoorendonk entschloss sich, als Ministerin für Justiz, Europa und Kultur in das Kabinett einzutreten; ihr wurde ein Staatssekretär zugeordnet (Horst 2012: 540).

Bei der Landtagswahl 2017 erlitt der SSW mit 3,3 Prozent einen Rückschlag und befindet sich seitdem in der Opposition (Dietsche 2018: 501). Außerdem stellte der SSW von 2010 bis 2016 mit Simon Faber den Oberbürgermeister in Flensburg (Dietsche 2018: 502; Oppelland 2020). Nach langem innerparteilichen Streit bezüglich des Mehrwerts einer Kandidatur für den Deutschen Bundestag, konnte der Parteivorsitzende Stefan Seidler nach der Bundestagswahl 2021 tatsächlich ein Mandat erringen, wodurch er der zweite SSW-Bundestagsabgeordnete seit 1949 ist (Huwendiek 2021; Oppelland 2020).

Insgesamt hält Dietsche (2018: 501) fest, dass der SSW seit den 1960er Jahren auf sinkende Stimmenzahlen aus dem schrumpfenden Umfeld der dänischen und friesischen Minderheit beschränkt blieb und dass ihm aufgrund der rückläufigen Wahlbeteiligung eine relativ konstante Stammwählerschaft bei prozentual steigender Stimmenanteile beschert wurde.

2.2 Klassische Milieus, kulturelle Aktivitäten und inhaltliche Ausrichtung des SSW

Die dänische Minderheit umfasst um die 50.000 Menschen deutscher Staatszugehörigkeit, aber dänischer Gesinnung (Schultz 2012: 189; Holtmann 2005: 619). Das Siedlungsgebiet dieser dänischen Minderheit ist der Landesteil Schleswig (Schultz 2012: 189). Die nordfriesische Volksgruppe in Schleswig-Holstein umfasst etwa 10.000 Personen (Holtmann 2005: 619). Heute ist der SSW mit 3600 Mitgliedern nach CDU und SPD die stärkste Partei in Schleswig-Holstein. Er beschränkt jedoch seine Präsenz und politische Tätigkeit auf den Landesteil Südschleswig, wo er in den drei Landkreisen (Nordfriesland, Rendsburg-Eckenförde, Schleswig-Flensburg) und der kreisfreien Stadt Flensburg vier Kreisverbände mit 103 Ortsverbänden unterhält (Dietsche 2018: 504; Oppelland 2020). Die SSW-Mitglieder im holsteinischen Landesteil sammeln sich in einer eher losen Arbeitsgruppe Holstein-Hamburg.

[...]


1 Für eine inhaltliche Beschreibung und Analyse des Koalitionsvertrags, siehe Horst 2012: 539ff.

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Der südschleswigsche Wählerverband in Schleswig-Holstein aus Perspektive des liberalen Multikulturalismus
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Kultureller Pluralismus und liberale Demokratie
Note
1,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
29
Katalognummer
V1150887
ISBN (eBook)
9783346537973
ISBN (Buch)
9783346537980
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Minderheiten, Minderheitenpolitik, Umgang mit nationalen Minderheiten, SSW, Schleswig-Holstein, liberaler Multikulturalismus
Arbeit zitieren
Christian Ramspeck (Autor:in), 2021, Der südschleswigsche Wählerverband in Schleswig-Holstein aus Perspektive des liberalen Multikulturalismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1150887

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