Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Das Wunderhündchen Petitcreiu
2.1. Der Hund in der mittelalterlichen Vorstellungswelt
2.2. Petitcreius Herkunft und optische Wirkung
2.3. Die heilbringende Kraft Petitcreius
2.4. Funktion der Petitcreiu-Episode
3. Der weiße Hirsch der Minnegrotte
3.1. Der Hirsch in der mittelalterlichen Vorstellungswelt
3.2. Die äußere Erscheinung des Hirsches
3.3. Funktion und Symbolik des weißen Hirsches
7. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Obwohl Tiere im europäischen Mittelalter primär als Nahrungsmittelquelle, Arbeitskräfte, Rohstofflieferanten, Transport- und Fortbewegungsmittel dienten und sich eine emotionelle Bindung an Tiere nur gelegentlich nachweisen lässt,1 wird das Tier „in maßgeblichen mittelalterlichen Diskursen (Religion und Wissenschaft, Jagdalltag und Wappenwesen, Literatur und Kunst) zum Medium der Erkenntnis und Vergegenwärtigung der Strukturierung und Ordnung sowie der Deutung und Bewältigung von Welt“2. Damit räumt das Mittelalter dem Tier einen Stellenwert ein wie kaum eine andere Epoche. Als Symbolträger sind Tiere nicht nur aus der bildenden Kunst, sondern auch aus der Literatur des Mittelalters nicht wegzudenken. Tiere sind Protagonisten in zahlreichen volkssprachlichen Fabeln und Tierepen, nehmen auch in Hagiographien, Gründungslegenden, Reiseberichten und höfischen Romanen einen wichtigen Platz ein und sind eine für die Deutung der Texte unverzichtbare Metapher. Sowohl geistliche als auch weltliche Autoren schöpften ihr Wissen über den Symbolgehalt von Tieren nicht nur aus der Bibel, in der Tiere häufig in Metaphern und Gleichnissen vorkommen, sondern vor allem aus dem Physiologus, einem ursprünglich in griechischer Sprache verfassten Naturkundebuch, das im 5. Jahrhundert erstmals ins Lateinische und im 11./12. Jahrhundert auch in die Volkssprache übersetzt wurde und neben der Bibel als das meistgelesene Werk des Mittelalters gilt. Doch auch Bestiarien und naturgeschichtliche Abhandlungen, wie die Physica Hildegards von Bingen, prägten die mittelalterliche Vorstellung von Tieren entscheidend. In all diesen Tierdarstellungen zeigt sich, dass „in der mittelalterlichen Konzeption des Tieres Mythisch-Fabulöses und Faktisches untrennbar verbunden sind“3.
Obwohl Gottfried von Straßburg, was die Verwendung von Tiermetaphern anbelangt, sparsamer ist als Wolfram von Eschenbach, in dessen Parzival 80 verschiedene, meist metaphorisch verwendete Tierarten vertreten sind,4 kommt den Tieren in Gottfrieds Tristan eine bedeutsame Rolle zu. Zwei Tieren, die im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehen sollen und an besonders exponierter Stelle im Text erscheinen, widmet Gottfried eine sehr ausführliche Beschreibung - dem Wunderhündchen Petitcreiu sowie einem weißen Hirsch.
Besonders auffallend ist, dass sowohl Petitcreiu als auch der weiße Hirsch ganz plötzlich in die Textwelt eintreten, dann sehr detailliert beschrieben werden, was auf eine herausgehobene Funktionalität schließen ließe, aber dennoch sehr schnell wieder vollkommen aus dem Text verschwinden und fortan keine Erwähnung mehr finden. Es scheint, die beiden Tiere hätten mit ihrem einmaligen und verhältnismäßig kurzen Eintreten in die Handlung ihre Mission erfüllt. Hinzu kommt, dass die Petitcreiu-Episode episch nicht erforderlich wäre und den Handlungsverlauf eher stört.5 Es stellt sich deshalb die Frage, worin die Mission der beiden Tiere besteht, welcher Stellenwert ihnen in Gottfrieds Romanfragment zukommt und inwiefern sie, trotz ihres recht kurzen und einmaligen Erscheinens, als wichtige Funktions- und Bedeutungsträger innerhalb des Textes gesehen werden können.
Um diese Fragen zu beantworten, soll zunächst gezeigt werden, wie die Tierarten Hund und Hirsch allgemein in der zeitgenössischen mittelalterlichen Lebens- und Vorstellungswelt betrachtet und welche allegorischen und symbolischen Bedeutungen ihnen zugeschrieben wurden. Im Mittelpunkt von Gottfrieds von Straßburg Tristan steht die Liebesbeziehung von Tristan und Isolde, die trotz ihres ehebrecherischen Charakters zum Ideal erhoben wird. Deshalb soll versucht werden, zu zeigen, inwiefern das Wunderhündchen und der weiße Hirsch als Symbole für das von Gottfried entworfene Minneideal
gesehen werden können und ob sie in Bezug zu dem im Fokus stehenden Liebespaar stehen. Bevor die Funktion der beiden Tiere vor dem Hintergrund des Gesamtkontexts näher beleuchtet wird, ist es zunächst jedoch notwendig, sowohl Petitcreiu als auch den vremeden hirz (17293)6 genauer zu betrachten und zu analysieren, wie diese beiden Tiere von Gottfried eingeführt und beschrieben werden und welche besonderen Eigenschaften sie auszeichnen.
2. Das Wunderhündchen Petitcreiu
2.1. Der Hund in der mittelalterlichen Vorstellungswelt
Der Hund ist, wie die meisten Tiere in der Tiersymbolik des Mittelalters, ein sehr ambivalentes Tier und Träger sowohl positiver als auch negativer Bedeutungen und Eigenschaften. Während der Hund in der Bibel meist negativ konnotiert und als verachtenswertes und unreines Tier betrachtet wird, gilt er gleichzeitig bereits seit der Antike als zuverlässiger Begleiter, Helfer sowie Retter des Menschen und ist Zeichen und Symbol für vorbildliche Treue.7 Auch Hildegard von Bingen betont in ihrer Physica die Treue des Hundes und dessen besondere Nähe zum Menschen.8 Außerdem beschreibt sie die heilende Wirkung der Zunge des Hundes, denn die Wärme, die in der Zunge ist, bringt Gesundheit für Wunden und Geschwüre, wenn er sie mit der Wärme seiner Zunge berührt 9. Auch in der keltischen Tradition werden dem Hund Heilkräfte zugeschrieben.10 In der keltischen Kunst erscheint er in bildlichen Darstellungen auch häufig als Begleiter keltischer, insbesondere weiblicher Gottheiten.11 Im Physiologus findet sich jedoch kein eigenes Kapitel über den Hund.
2.2. Petitcreius Herkunft und optische Wirkung
Nach der Gottesurteils- und vor der Minnegrotten-Episode kommt es zu einer ersten, wenn auch nur vorübergehenden Trennung von Tristan und Isolde. Als Pilger verkleidet verhilft Tristan seiner Geliebten dazu, vor einem Gottesgericht einen zweideutigen Eid schwören zu können, um sich vom Vorwurf des Ehebruchs zu rehabilitieren. Doch ohne den Verlauf des Gottesurteils abzuwarten, verlässt Tristan den Hof König Markes und macht sich auf den Weg zu Herzog Gilan nach Swales. Gilan, dem die Traurigkeit und die trüben Gedanken seines Gastes nicht verborgen bleiben, zeigt Tristan sein farbenprächtiges Hündchen Petitcreiu, ein Wunderwesen uz Avalun, der feinen lant (15808). Dass es sich bei Petitcreiu um keinen gewöhnlichen Hund handeln kann, zeigt sich bereits daran, wie er von Gilan präsentiert wird:
ein purper edel unde rich, vremede unde wunderlich al nach des tisches maze breit wart vür in uf den tisch geleit, ein hundelin dar uf getragen. (15801-15805)
Das Ritual, mit dem das kostbare Purpurtuch auf dem Tisch ausgebreitet wird, und das erste Erscheinen Petitcreius erinnern an die Präsentation eines sakralen Gegenstandes.12 Diese „pseudo-liturgische Weihe“13 erklärt sich durch die Herkunft des Hündchens, denn Petitcreiu ist, wie Gottfried selbst vom Hörensagen weiß (15806), ein Tier mythischer Abstammung, das Gilan durch liebe und durch minne (15810) von einer Göttin aus dem Feenland Avalon erhalten hat, womit das Hündchen bereits durch seine Herkunft „als Symbol der Minne klar eingeführt“14 wird. Indem der Erzähler Avalon als Petitcreius Herkunftsort angibt, verweist er nicht nur auf den Bereich des Wunderbaren, sondern auch auf die aus der keltischen Tradition stammenden und dem zeitgenössischen Publikum sicherlich bekannten Eigenschaften des Hundes, der häufig als Begleiter keltischer Gottheiten in Erscheinung tritt und dem heilende Kräfte zugeschrieben werden.15
Wenn im Folgenden die ungewöhnliche Farbgebung und Beschaffenheit von Petitcreius Fell beschrieben wird, zeigt sich erneut, dass er kein gewöhnlicher Hund sein kann, denn sein Fell, das sich wie Seide anfühlt, schimmert so farbenprächtig und vielfarbig, dass es vollkommen unmöglich ist, seine eigentliche Farbe zu bestimmen (15818-15837). Da niemand, sei er noch so wise (15815), in der Lage ist sine schoene und sin art (15816) angemessen zu beschreiben, greift Gottfried hier zunächst auf den Unsagbarkeitstopos zurück (15811-15817), versucht aber in den folgenden 30 Versen dennoch, einen Eindruck von der Farbwirkung des Hundefells zu vermitteln (15818-15837). Er bemüht sich, jeder Körperpartie des Hundes eine eindeutig identifizierbare Farbe zuzuordnen, kapituliert jedoch erneut, da sich aufgrund der Vielfarbigkeit keine eigentliche Farbe ausmachen lässt, die Farbtöne vielmehr ineinander verschwimmen, sobald man den Blickwinkel ändert und das Hündchen wider den Strich betrachtet (15838-15844). Petitcreiu wird zu so zu einer „Sensation des Lichts, die nur in den verschiedenen Phasen der Lichtbrechung, in der regenbogenfarbigen Ausfächerung festgehalten werden kann, um wiederum in die Farblosigkeit des ungeteilten Strahls, ins ungebrochene Weiß zurückzutreten“16. Diese irrebaere (15843) Fellfarbe des Hundes löst beim Betrachter Verwunderung; Verwirrung und Verstörung aus. Damit ist die verstörende und überwältigende Farbpracht Petitcreius, ebenso wie die ehebrecherische Liebe zwischen Tristan und Isolde, als „Zeichen eines Angriffs auf die Harmonie innerhalb des höfischen Systems“17 zu sehen.
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1 Vgl. Dinzelbacher, Peter: Mittelalter. In: Ders. (Hrsg.): Mensch und Tier in der Geschichte Europas. Stuttgart 2000 (Kröners Taschenausgabe 342), S. 287.
2 Obermaier, Sabine: Tiere und Fabelwesen im Mittelalter. Einführung und Überblick. In: Ders. (Hrsg.): Tiere und Fabelwesen im Mittelalter. Berlin [u.a.] 2009, S. 2.
3 Lewis, Gertrud Jaron: Das Tier und seine dichterische Funktion in Erec, Iwein, Parzival und Tristan. Bern / Frankfurt a. M. 1974 (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur 11), S. 10.
4
5 Vgl. Dinzelbacher, Peter: Mittelalter, S. 232; Lewis, Gertrud Jaron: Das Tier und seine dichterische Funktion, S. 143.
6 Vgl. Glogau, Dirk R.: Untersuchungen zu einer konstruktivistischen Mediävistik. Tiere und Pflanzen im „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg und im „Nibelungenlied“. Essen 1993, S. 131.
7 Zitiert wird nach Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar versehen und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. 3 Bde. Stuttgart 1980 (RUB 4471-4473).
8 Vgl. Gloga u , Dirk R.: Untersuchungen zu einer konstruktivistischen Mediävistik, S 125-126.
9 Vgl. Hildegard von Bingen: Heilkraft der Natur - "Physica". Das Buch von dem inneren Wesen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe. Übersetzt von Marie-Louise Portmann. 2. Aufl. Stein a. Rh. 2005, S. 448449.
10 Ebd. S. 449.
11 Vgl. Hammer, Andreas: Tradierung und Transformation. Mythische Erzählelemente im „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg und im „Iwein“ Hartmanns von Aue. Stuttgart 2007, S. 134.
6
12 Vgl. Glogau, Dirk R.: Untersuchungen zu einer konstruktivistischen Mediävistik, S. 128.
13 Vgl. Gnädinger, Louise: Hiudan und Petitcreiu. Gestalt und Figur des Hundes in der mittelalterlichen Tristandichtung. Zürich [u.a.] 1971, S. 30-31.
14 Ebd. S. 31.
15 Hahn, Ingrid: Raum und Landschaft in Gottfrieds Tristan. Ein Beitrag zur Werkdeutung. München 1963 (Medium Aevum 3), S. 91.
16 Vgl. Hammer, Andreas: Tradierung und Transformation, S. 134-135.
17 Gnädinger, Louise: Hiudan und Petitcreiu, S. 34.