Unheimliche Orte. Eine Topografie-Analyse von "Der Sandmann" von E. T. A. Hoffmann


Hausarbeit, 2016

21 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Analyse

3 Fazit

4 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Das Leben beginnt gut, es beginnt umschlossen, umhegt, ganz warm im Schoße des Hauses.“1

„Dunkle Ahnungen eines grässlichen mir drohenden Geschicks breiten sich wie schwarze Wolkenschatten über mich aus, undurchdringlich jedem freundlichem Sonnenstrahl.“2

Dass Hoffmanns „Der Sandmann“ psychoanalytische Analyseperspektiven und -verfahren nahezu magnetisch anzieht, liegt auf der Hand. Mit seiner Theorie über das Unheimliche eröffnete Sigmund Freud zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute vielen Literaturwissenschaftlern eine äußerst fruchtbare Sicht auf diese Geschichte. Freuds große Innovation dabei war die Fokussierung der Augen, die seiner Meinung nach den Ursprung des Unheimlichen im Sandmann bildeten. Im Gegensatz zu früheren, beziehungsweise anderen Sandmann-Rezipienten, die vor allem die Automaten-Thematik in den Blick nahmen, betont der psychoanalytische Ansatz, dass das Bekannte und seit der Kindheit Vertraute unheimliche Gefühle auslösen könne. So spräche „Der Sandmann“ die Kastrationsangst (Augenangst) aus der ödipalen Phase der kindlichen Entwicklung an. Nathanaels Erlebnisse wecken demnach bestimmte Erinnerungen, die in seinem Unterbewusstsein vergraben waren und lösen die scheinbar unverständlichen Unsicherheits-, Angst- und Unheimlichkeitsgefühle in ihm aus.3

Die Atmosphäre der Unsicherheit, der Schwebezustände und des daraus resultierenden Unheimlichen ist dem Sandmann nicht abzusprechen. Ist es möglich, den Auslöser dieser Atmosphäre auch durch einen anderen Zugang als den psychoanalytischen zu finden? In dieser Arbeit sollen dafür die Topografien des Werkes untersucht und auf ihren 'Beitrag zur Unheimlichkeit' hin geprüft werden. Das Ziel ist dann keineswegs die Infragestellung und Herabwürdigung der anderen Herangehensweise, sondern vielmehr aufzuzeigen, wie komplex und vielschichtig Hoffmann den Sandmann gestaltet hat. Dabei müssen psychoanalytische und topografische Erkenntnisgewinne nicht nebeneinanderstehen, sondern sie beeinflussen und ergänzen sich wechselseitig zu einer differenzierteren Sicht.

Warum soll nun gerade eine topografische Analyse des Sandmanns so gewinnbringend sein? Besonders in topografischen Phänomenen drückt sich das (Selbst-) Verständnis der Entstehungszeit des Werkes aus. Gesellschaftliche, soziale und ökonomische Veränderungen spiegeln sich deutlich in der Art und Weise, wie die Menschen des 18. und 19. Jahrhunderts (miteinander) wohnen. Das Wohnen erfährt im 18. Jahrhundert eine deutliche Aufwertung und bekommt als eigenen Zufluchtsort das Haus der Kleinfamilie. Durch die Trennung von Arbeitsort und Wohnort und die Auflösung des Großen Hauses entsteht ein völlig neues Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit. Im Bürgertum begonnen, ziehen die Normen des bürgerlichen Lebens nach und nach auch in Wohnhäuser anderer gesellschaftlicher Schichten ein. Als Ausdruck dieses neuen Selbstverständnisses wird Wohnen in, dies belegt auch die große Zahl der Veröffentlichungen zum Thema Wohnen in der Zeit4. Die neu geschaffenen Intimitätsräume für die bürgerliche Familie und Individuen sowie der Wohntrend wecken unter anderem das Interesse von Literatur, es „zeigt sich das Gestaltungspotential in der literarischen Umsetzung des Wohnens, nicht nur hinsichtlich der Konstruktion einer Verbindung von Psyche und Wohnraum. Wohnen in der Literatur kann vielmehr die Brüche im Wohnen inszenieren und ästhetisch funktionalisieren“5. Dieses Zurückgeworfensein auf sich selbst entspricht, wie unten erläutert, auch der literarischen Entwicklung hin zur Romantik.

Auch „Der Sandmann“ verweist verschiedentlich auf Merkmale des 'neuen' bürgerlichen Wohnens. So sehen die Kinder ihren Vater nur zum Mittagessen und abends, da er sonst „mit seinem Dienst viel beschäftigt“6 ist. Womöglich ist der Vater ein Beamter, der in der Mittagspause aus dem Büro nach Hause kommt. Die Trennung von Arbeits- und Privatleben scheint hier bereits vollzogen, genauso wie die Trennung von Familie und Gesinde. Die Sehnsucht nach einem friedlichen Leben auf dem Land, um der städtischen Entfremdung zu entkommen7, wird ebenfalls geäußert und am Schluss gelebt.

Da die Handlung im Sandmann vorwiegend in Innenräumen angelegt ist, sollte die Betonung des Wohnens als topografisches Phänomen für diese Arbeit zunächst ausreichen (die Schlussszene wird ja lediglich in Verbindung mit dem Fensterblick analysiert).

Ausgehend von Bachelards „Poetik des Raumes“, der besonders die Schutzfunktion des Hauses betont, soll die nachfolgende topografische Analyse die schwarzromantische Umdeutung dieses Ansatzes aufzeigen.

Die schwarze Romantik Ende des 18. Jahrhunderts kam auf als eine ästhetische Form und Realisation, die sich durchaus mit den düsternen Seiten und Schatten der menschlichen Natur ebenso verbindet wie mit den Verdüsterungen des Seins, die wiederum häufig der Vorstellungskraft des /der Menschen entspringen, wobei eine regionale und zeitliche Entgrenzung solchen Ausdrucks und Vorstellens die Bedingung von möglichen Individualisierungen sein kann.8

Plakativ formuliert kehrt die schwarze Romantik die Attribute und Vorstellungen der blauen, beziehungsweise hellen Romantik um. Genauer betrachtet bilden die beiden jedoch keinen Gegensatz zueinander, sondern einen zur Klassik. Das Mimesiskonzept wird zugunsten der Phantastik vernachlässigt, die Imagination erfährt eine starke Aufwertung.9 Die schwarzromantische Literatur, deren Ursprung in der englischen Gothic Novel liegt, arbeitet vor allem mit transgressiven Momenten. Bedrohliche Unsicherheits- und Schwebezustände in der äußeren und inneren Welt eines Protagonisten, wie auch im Sandmann, werden kreiert und zeigen sich oft im Traum oder in Selbstversunkenheit. Was Imagination und was Realität ist, bleibt dem Leser meistens ein nicht vollkommen aufzuschlüsselndes Rätsel und lässt so viel Raum für Interpretation. Diese Betonung der beängstigenden Imagination macht die schwarze Romantik so zugänglich und fruchtbar für psychoanalytische Zugänge.

In der folgenden Analyse, die den Hauptteil dieser Arbeit bildet, werden zunächst die zwei zentralen Topografien, das Elternhaus und das Fenster (der Fensterblick), thematisiert. Der zweite Teil der Analyse beschäftigt sich mit der Verknüpfung verschiedener Topografien, beziehungsweise ihrer Ideen über Raum und Zeit hinweg. Diese Spiegelungen oder Wiederholungen finden sich im Auftreten von Coppelius und Coppola, in den verschiedenen Laboratorien und in der Gegenüberstellung von Fensterblick und dem abschließenden Turmblick Nathanaels. Im Hauptteil und im abschließenden Fazit werden die Leistungen des psychoanalytischen und des topografischen Ansatzes miteinander verglichen und verknüpft. Der Schluss geht außerdem ein auf die Verbindung von (schwarzer) Romantik und den zeitgenössischen Wohndiskursen.

2 Analyse

2.1 Bedrohliches Elternhaus

„Denn das Haus ist unser Winkel der Welt. Es ist – man hat es oft gesagt – unser erstes All.“10 In der „Poetik des Raumes“ zeichnet Bachelard das Elternhaus als den Ort der ursprünglichen Erfahrung von Schutz, Geborgenheit und Sicherheit, dessen Qualitäten sich für immer in uns einprägen. Es zieht sichere Grenzlinien zwischen der feindlichen Welt und der familiären Wärme. Das Elternhaus vermittelt uns ein Gefühl und eine Vorstellung davon, was zu unserer Idee, zu unserem Traum vom Haus dazugehört und was lieber draußen bleiben soll. Dabei ist ein Haus in sich kein homogener Ort, sondern setzt sich aus verschiedenen Räumen und Gegenständen mit je unterschiedlichen Funktionen und Aussagen für das Wohnen und Leben zusammen.11 Allerdings wiederholt sich bis in das kleinste Kästchen und bis in den letzten Winkel hinein das Verlangen nach Intimität, die Möglichkeit des Verbergens vor einer Außenwelt: „jeder Winkel in einem Haus […] wo man sich gern verkriecht, sich in sich selbst zusammenzieht, ist für die Einbildungskraft eine Einsamkeit, der Keim eines Zimmers, der Keim eines Hauses.“12 Das Haus der Kindheit, als erster Zufluchtsort, erlaubt dem Kind die Freiheit der Träumerei. In den verschiedenen Räumen kann es seiner Imagination freien Lauf lassen und schafft somit für die Zukunft Erinnerungsorte, die den Denker und den Dichter vereinen.

[...]


1 Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. 7. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2003, S. 33.

2 Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann. Husum: Hamburger Lesehefte Verlag 2015 (=Hamburger Lesehefte Bd. 147) S. 5.

3 Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche. Bremen: Europäischer Literaturverlag 2012.

4 Vgl. Wichard, Norbert: Erzähltes Wohnen. Literarische Fortschreibungen eines Diskurskomplexes im bürgerlichen Zeitalter. Bielefeld: transcript Verlag 2012, S. 19ff.

5 Ebd., S. 27.

6 Hoffmann: Der Sandmann, S. 6.

7 Wichard: Erzähltes Wohnen, S. 20.

8 Klein, Jürgen: Schwarze Romantik. Studien zur englischen Literatur im europäischen Kontext. Frankfurt a.M.: Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften 2005 (=Britannia. Texts in English Bd. 14), S. 10.

9 Vgl. Braungart, Georg; Fricke, Harald et al.: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3, Hg.v. Jan-Dirk Müller, de Gruyter: Berlin, New York 2003, S. 326.

10 Bachelard: Poetik des Raumes, S. 31.

11 Vgl. Ebd., S. 30ff, 38f.

12 Ebd. S. 144.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Unheimliche Orte. Eine Topografie-Analyse von "Der Sandmann" von E. T. A. Hoffmann
Hochschule
Universität Paderborn
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
21
Katalognummer
V1152269
ISBN (eBook)
9783346540447
ISBN (Buch)
9783346540454
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Literatur der schwarzen Romantik, E.T.A. Hoffmann
Arbeit zitieren
Anna Wolters (Autor:in), 2016, Unheimliche Orte. Eine Topografie-Analyse von "Der Sandmann" von E. T. A. Hoffmann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1152269

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