Pathologisierung und Medikalisierung der Schüchternheit

Die Pathologisierung psychischer Krisen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2019

16 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Schüchternheit - Die Entdeckung und Bekämpfung einer >> Volkskrankheit<< (Peter Wehling ,2016)

1. Einleitung:

„Schüchternheit - Die Entdeckung und Bekämpfung einer >>Volkskrankheit<<“ f zit. Wehling,2016, 495) ist ein von Peter Wehlings verfasster Beitrag, der im Jahr 2016 im „Handbuch Therapeutisierung und Soziale Arbeit, Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit“ veröffentlicht wurde.

Wehling, der Philosophie, Politikwissenschaft und Geschichte studiert hat, doziert nun seit 2001 Soziologie an der Universität Augsburg. Was seine Arbeitsgebiete betrifft, so beschäftigt er sich mit einer Vielzahl an Thematiken, wie beispielsweise der Gesellschaftstheorie und der Medizintheorie, die auch für diese Arbeit relevant sind (vgl. Universität Augsburg,2015). In der hier bearbeiteten Arbeit Wehlings geht es zusammengefasst um den Wandel der alltäglichen Schüchternheit und der behandlungsbedürftigen Sozialphobie, wobei näher auf die gesellschaftlichen Einflüsse dieser Pathologisierung eingegangen wird. Dabei hinterfragt er diese Aspekte kritisch und lest die Leserschaft an, dies ebenfalls zu tun.

Zu Beginn wird die Geschichte der Schüchternheit näher erläutert, also wie diese von einer eigentlich normierten Verhaltensweise zu einem Problem wurde, welches inzwischen als Vorbote für eine psychische Krankheit dient. Diesen Wandel werde ich im zweiten Kapitel anhand eines Problematisierungsprozesses näher erläutern.

Anschließend möchte ich näher auf den DSM-III bis V eingehen, welche die Sozialphobie erstmals als selbständige psychische Störung aufzeigten.

Als letzten Punkt möchte ich noch einmal auf den Einfluss verschiedener Ratgeber­Bücher eingehen, um zu verdeutlichen, wie diese den Diskurs beeinflussen.

Um die Ausarbeitung abzuschließen gehe ich zunächst auf Wehlings eigenes Fazit ein, um dann in Kapitel 6 selbst1 noch einmal Stellung zum Thema zu nehmen.

(Zur besseren Lesbarkeit dieser Arbeit wurde nur die männliche Schreibweise der Begriffe verwendet. Bei Personenbezügen sind jedoch immer alle Geschlechter und Personen miteinbezogen. Diese sollen in diesem Kontext weder benachteiligt, noch diskriminiert werden.)

2. Die Schüchternheit im gesellschaftlichen Problematisierungsprozess

Schüchternheit wurde nicht immer als Problem, geschweige denn als Krankheit angesehen, daher beginnt die Karriere des Problematisierungsprozesses und somit der Wandel zum Vorboten einer anerkannten psychischen Störung erst gegen Mitte der 1970er Jahre. Wie es zu dieser plötzlichen Dramatisierung kam und welche gesellschaftlichen Umbrüche zu dieser beitrugen, wird in Wehlings erstem Kapitel „ Die Entdeckung einer neuen >>Volkskrankheit<<“ (vgl. Wehling,2016, 497) näher erläutert.

Zurückhaltendes Verhalten wurde in der westlichen Kultur bis in die 1970er Jahre je nach Geschlechteridentifikation auf zwei unterschiedliche Arten betrachtet. Während es für Frauen eine typische, sowie angemessene Verhaltensweise war, die ihre hierarchische Rolle unter den Männern verdeutlichte, war es bei Männern eine gewisse typische Distanziertheit und Verschlossenheit, die in diesem Fall auf die hierarchische Rolle über den Frauen deutlich machen sollte. Ein weiterer Unterschied war der, dass dieses Verhalten bei Frauen als Schüchternheit bezeichnet wurde, bei Männern hingegen nicht als solche angesehen wurde und schlicht und ergreifend zurückhaltendes Verhalten darstellte. Dies kam daher, da Schüchternheit eine rein weibliche Eigenschaft war (vgl. Wehling,2016, 497).

Da dies von der Gesellschaft festgelegte Charaktereigenschaften waren, bestand zum damaligen Zeitpunkt kein Grund diese Gefühle und Verhaltensweisen zu hinterfragen, geschweige denn ein anerkanntes Problem daraus zu machen, so fiel die Berichterstattung bis dahin äußerst gering aus2. So gab es im Zeitraum zwischen 1896 und 1970 lediglich vier Fachpublikationen in medizinischen, sowie psychologischen Fachzeitschriften, die sich mit Schüchternheit beschäftigten (vgl. McDaniel,2003, 3f., vgl. Wehling,2016, 498).

Diese Sichtweise änderte sich jedoch gegen 1977 schlagartig, als Philip G. Zimbardo einen der ersten erfolgreichen Ratgeber veröffentlichte - „Shyness: What It Is - What to Do About It “ (zit. Zimbardo,1977, zit. nach Wehling,2016, 498). Der amerikanische Psychologe hatte in diesem Rahmen bereits zuvor eine Studie an der Stanford- University und deren Studierenden durchgeführt. Hierbei nennt Wehling lediglich, dass Männer sowie Frauen beteiligt waren, jedoch aber nicht wie viele Studierende und auch sonst sind diesbezüglich keine näheren Informationen zu finden. Dies und der Aspekt, dass die Befragten sich nur basierend auf selbsteingeschätzten >>weichen<< Kriterien identifizierten macht die Aussage, dass sich bereits 40 Prozent der teilnehmenden als schüchtern bezeichneten, meiner Meinung nicht allzu aussagekräftig. Doch spätestens Zimbardos Aussage Schüchternheit sei ein „heimtückisches persönliches Problem“ mit „epidemischen Ausmaßen“ (vgl. Zimbardo,1994, 20, vgl. nach Wehling,2016, 498), soll deutlich machen, dass es sich hierbei nicht mehr um eine alltägliche Lappalie handelt - es wird erstmals von Schüchternheit als Volkskrankheit gesprochen. Somit steigt die allgemeine Berichterstattung zwischen den Jahren 1971 und 1980, was man auf Zimbardos Erfolg zurückführen könnte, so erscheinen in dieser Zeit mit 38 Büchern und Artikeln bereits deutlich mehr Fachpublikationen mit dem Thema Schüchternheit als in den Jahren zuvor (vgl. McDaniel,2003, 3f., vgl. Wehling, ebd.).

Dabei stellt das Jahr 1977 ebenfalls den Zeitraum dar, indem Zimbardo mit weiteren Psychologen die sogenannte „Shyness Clinic“ gründete (vgl. Wehling,2016, 506), auf die im vierten Kapitel näher eingegangen wird. Diese Institutionalisierung könnte man daher erneut als Auslöser dafür ansehen, dass im Zeitraum von 1981 und 1990 eine Anzahl von 212 Fachpublikationen erschienen (vgl. McDaniel,2003, 3f., vgl. Wehling,2016, 498). Es scheint beinahe so als wäre die Berichterstattung damit zu diesem Zeitpunkt an ihren Höhepunkt gelangt, da in den fünf Jahren danach nur noch 106 Artikel und Bücher zur Schüchternheit erschienen, was recht drastisch erscheint, wenn man bedenkt, dass es vor 1991 doppelt so viele Publikationen waren.

Doch dieser erste Eindruck scheint zu täuschen, so sind dies zwar die einzigen Publikationen zum Thema Schüchternheit, es werden jedoch dafür ganze 337 Artikel verfasst, die sich mit der Sozialphobie beschäftigen (vgl. ebd.).

Hierbei macht Wehling erneut darauf aufmerksam, dass diese zwar unter verschiedenen Themen verfasst wurden, jedoch fast identische Symptome aufweisen (vgl. Wehling,2016, 498).

Zusammenfassend lässt sich also ein deutlicher Wandel gegen Ende der 1970er Jahre beobachten, der nicht nur die gesellschaftliche, sondern auch die wissenschaftliche und medizinische Bewertung der Schüchternheit beeinflusst.

2.1 Der Problemcharakter der Schüchternheit

In diesem Teil soll differenziert werden zwischen der Problematik wie sich Schüchternheit diagnostiziert werden soll und was dies bedeutet und der Frage was Schüchternheit überhaupt problematisch macht.

Die Problematik der Identifikation lässt sich hierbei ganz einfach auf einen Faktor zurückführen, so wird sich hier auf einen der Vielzähligen Ratgeber bezogen, der aussagt, dass es schon ausreicht sich selbst als schüchtern einzuschätzen (vgl. Carducci,2000, 21, vgl. Wehling,2016, 498). Wenn dies als Diagnose ausreichen würden, wären also bereits mindestens 50 Prozent der Amerikaner und sogar 40 bis 60 Prozent der allgemeinen Weltbevölkerung betroffen (vgl. Henderson,2014, 10, vgl.

Wehling,2016, 498). Wegen dieser enormen Zahl stellt Wehling daher die Frage auf, ob die Medizin diese offensichtlich weit verbreitete Krankheit bisher einfach übersehen hat oder ob sie nicht viel eher daraus entstanden ist, dass die Medizin neue Einsatzfelder für sich gewinnen wollte (vgl. Wehling,2016, 498). An dieser Stelle geht er auf Patricia McDaniels bereits erwähnte Ergebnisse ein, die belegen sollen, dass das literarische Interesse seit dem Jahre 1971 immer weiter gestiegen ist.

Was die Schüchternheit an sich problematisch macht, wird ebenfalls immer wieder in Ratgeber-Büchern thematisiert, auf die im vierten Kapitel näher eingegangen werden. Dabei geht es darum, dass zwar angeblich viele Menschen von diesem Problem betroffen sind, es sich aber bei jedem Individuum anders darstellt und somit auch die Behandlung variieren muss (vgl. Wehling,2016, 499). Eine Behandlung sei jedoch wichtig, so verursacht diese deviante Verhaltensweise Misserfolge im Privaten- und Berufsleben.

Hierbei wird erneut zwischen den Geschlechtern differenziert, so wird Schüchternheit nun zwar auch bei Frauen als problematisch angesehen, im Text jedoch nur im Bezug zu deren Dating-Leben dargestellt. Und auch die Bewertung der Männer verändert sich drastisch, so wird deren >>zurückhaltendes Verhalten<< nun auch als Schüchternheit angesehen, wobei vor allem sie von den Schäden dieses Verhaltens betroffen sind (vgl. ebd.). Es wird zur Verdeutlichung ein Zitat Hendersons hinzugezogen, der aussagt, dass schüchterne Männer wesentlich später heiraten und Kinder bekommen, die Ehen eher instabil sind und in ihrer Karriere weniger erreichen (vgl. Henderson,2001, 1522, vgl. Wehling,2016, 499). Doch dies wirft natürlich die Frage auf, wie es zu dieser neuen problematischen Wahrnehmung kommt.

2.2 Motive des Wandels

Mit dieser Frage beschäftigt sich daher dieses Unterkapitel und zeigt die drei Faktoren auf, die diesen gesellschaftlichen Wandel verursacht haben.

Der erste genannte gesellschaftliche Umschwung, der ebenfalls Einfluss auf die Schüchternheit nahm, war die Frauenbewegung. Diese begann in den späten 1960er Jahren normative Geschlechterrollen und Klischees zu hinterfragen, zu denen auch die „natürliche Schüchternheit der Frau“ (zit. Wehling,2016, 497) zählte. Der Autor stellt dabei die Vermutung auf, dass erst ab dem Zeitpunkt als dieses Verhalten durch die Frauenbewegung kritisiert wurde und nicht mehr als typisch weibliche Verhaltensweise gelten durfte, Schüchternheit bei Männern ein Problem darstellte (vgl. Wehling,2016, 499).

Als zweiten Faktor, der in den 1970er Jahren beginnt, nennt Wehling die zu dieser Zeit verstärkt auftretende mediale Selbstdarstellung, sowie den „neuen Geist des Kapitalismus“ (vgl. Boltanski/ Chiapello,2003, vgl. Wehling,2016, 500).

Selbstbewusstsein und Unternehmergeist stellten nun einen wichtigen wirtschaftlichen Aspekt dar, da diese über die beruflichen Chancen des Individuums entschieden. Ratgeber-Bücher dieser Zeit machen daher erneut darauf aufmerksam, wie katastrophal diese daraus entstehenden beruflichen Misserfolge seien und nennen dies ein „totales Desaster (zit. McDaniel,2003, 92, vgl. Wehling,2016, 500).

Der letzte genannte Faktor bezieht sich auf einen gesellschaftlichen, sowie medizinischen Wandel, so entstehen zu dieser Zeit nicht nur mehr Berufsfelder, sondern auch Institutionen im psychologischen Bereich. Dieses nun vergrößerte Angebot, wirkte sich daher auch auf die Nachfrage aus, wodurch immer mehr Menschen bereit sind Hilfe zu beanspruchen, obwohl es sich bei ihnen um (nicht behandlungsbedürftige) alltägliche Probleme handelte (vgl. ebd.).

Dies halte ich, was die Pathologisierung betrifft, noch heute für einen ausschlag­gebenden Faktor und ein wirkliches Problem. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass ich bereits des Öfteren Menschen begegnet bin, die ein vermeintliches (psychisches-) Problem erst seit wenigen Tagen hatten, es manchmal sogar selbst als kurzes Unwohlsein bezeichneten, aber dennoch sofort medizinische Hilfe in Anspruch nehmen wollten. Natürlich trifft dies nicht auf alle Patienten zu, da es auch die Gegenseite gibt, die monatelang unter ihrem Problem leiden, doch dies erschien mir nicht die Regel zu sein. Dabei soll natürlich niemandem abgesprochen werden Hilfe zu beanspruchen, da Gefühle subjektiv sind, doch dies stellt dennoch ein Problem für die Medizin dar.

So ist es also kein Wunder, dass die Schüchternheit zum einen ein >>plötzlich<< aufgetretenes Problem darstellt und zum anderen vermehrt als „ Problem der mentalen Gesundheit“ (vgl. McDaniel,2003, 2ff, 17f., zit. Wehling,2016, 500) oder allgemein als Krankheit angesehen wird.

Schüchternheit wird nun einer biologischen Ursache zugeschrieben, so soll sie die „Folge eines individuellen mentalen Defizits“ (zit. Wehling,2016, 500) sein, die zudem eine bereits genetisch festgelegte Charaktereigenschaft des betroffenen Individuums sein kann. Die Wahrnehmung über Schüchternheit wird insofern verschoben, dass sie nicht mehr als Verhalten angesehen wird, dass durch eine soziale Interaktion hervorgerufen wird, sondern als würde das betroffene Individuum dieses bereits an den Tag legen und es mit in eine soziale Situation einbringen (vgl. ebd.).

Aus diesem Grund geht Wehling näher auf diese Eigenschaft ein und tut dies mittels eines Beispiels aus Bandelows „Buch für Schüchterne“, bei dem ein Mann seine Ängste schildert, die er in einer Begegnung mit seinem Chef schildert (vgl. Bandelow,2007, 15, vgl. Wehling,2016, 500).

Er zieht abschließend den Vergleich und stellt dadurch die Frage, ob diese Angst tatsächlich eine Charaktereigenschaft (wie bei Bandelow) ist oder doch eher ein persönliches Problem (wie bei Zimbardo). Als dritte Möglichkeit zieht er zudem in Betracht, ob diese Erklärungen nicht beide abwegig sind und diese Gefühle nicht einfach situationsbedingt sind und daher teilweise berechtigt (vgl. ebd.).

Doch eben diese dritte Variante wird kaum noch in Betracht gezogen.

3. Die Pathologisierung und Medikalisierung der Schüchternheit

In Wehlings drittem Kapitel „Von der Schüchternheit zur Sozialen Angststörung: die zweite Stufe der Pathologisierung“ (vgl. Wehling,2016, 501) geht es um die Grenzverwischung zwischen „alltäglicher, situativer Schüchternheit und einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung“ (zit. ebd.). Da es dabei um zwei Themenbereiche geht, die Pathologisierung durch die Diagnostic Statistic Manuals und die Medikalisierung, werde ich dies zur besseren Übersicht in zwei Unterkapitel untergliedern.

3.1 Die Diagnosekriterien des DSM

In diesem Teil wird ebenfalls die Verwischung der Grenzen zwischen situationsbedingter Schüchternheit und anhaltender psychischen Störung näher thematisiert, da die Diagnostic Statistic Manuals3 diese ebenfalls beeinflusst haben.

Entstanden ist diese Entgrenzung im Jahre 1980, so wurde dort erstmals die Sozialphobie, die mittlerweile überwiegend als Soziale Angststörung betitelt wird, im DSM-III aufgenommen und somit als psychiatrisches Problem anerkannt (vgl. Wehling,2016, 501).

Zunächst wird auf die im DSM-III benannten Symptome eingegangen, so soll beim betroffenen Individuum ein Angstgefühl entstehen, wenn dieses sich in öffentlichen Situationen befindet, in der andere sie prüfend mustern können. Da auch der Wunsch dieser Situation zu entgehen besteht und dies ebenfalls bei Schüchternheit vorkommen kann, macht der Autor hier auf die erste unklare Grenze zwischen Sozialphobie und Schüchternheit aufmerksam (vgl. ebd.).

Diese Grenze wurde dabei jedoch im Verlauf immer weiter verwischt, so reicht es in der 1987 erschienenen Neuauflage, dem DSM-III-R bereits aus, wenn der Betroffene befürchtet in der Öffentlichkeit etwas zu tun, dass von seinem Umfeld als peinlich angesehen wird und dadurch erniedrigt zu werden (vgl. Wehling, 2016, 501).

Ein weiteres Diagnosekriterium soll zudem noch der Stress darstellen, der durch das Wissen erzeugt wird, die eignen Gefühle wären irrational und übertrieben (vgl. Wikia,2019), was jedoch später entfernt wurde (vgl. Wehling,2016, 501).

Im Jahr 1994 erschienenen DSM-IV, hat sich die Definition in der Hinsicht geändert, dass die Angst nun nicht mehr als irrational eingeschätzt wird und Betroffene der Situation nicht unbedingt vermeiden wollen (vgl. ebd.).

Worauf Wehling jedoch nicht näher eingeht, was meiner Meinung nach jedoch dennoch nennenswert für die Pathologisierung ist sind folgende Aspekte:

Zum einen werden nun auch erstmals spezifische Symptome bei Kindern und Jugendlichen aufgeführt, da diese anderen Kriterien aufweisen müssen wie Erwachsene, so wird beispielsweise von Personen unter 18 Jahren vorausgesetzt, dass sie diese Angstgefühle bereits seit mindestens sechs Monaten empfinden, da sie erst dann betroffen sind. Bei Erwachsenen gab es diese zeitliche Vorgabe zu diesem Zeitpunkt noch nicht, weshalb sie selbst einschätzen mussten inwiefern sie ein Problem haben (vgl. Wikia,2019). Eine weitere Erneuerung ist die, dass in der vierten Ausgabe erstmals vorausgesetzt wird, dass die Gefühle und Verhaltensweisen des Betroffenen seinen Alltag in akademischer/ beruflicher, sozialen Sicht und in seinen Beziehungen beeinflussen muss (vgl. ebd.), was noch eine Rolle im vierten Kapitel spielen wird.

In dem im Jahre 2013 erschienen DSM-V lässt sich jedoch eine soweit unveränderte Symptomliste finden, so zitiert Peter Wehling die an den DSM-IV angelehnten Kriterien, das Individuum würde durch die prüfenden Blicke seiner Umgebung Angst bis hin zur Panik empfinden, weil diese ihn negativ bewerten könnten (vgl. Wehling,2016, 501f.).

Meiner Meinung nach lässt sich dies auch wieder hinterfragen, denn so stellt es für mich kein Kriterium für eine Sozialphobie dar, wenn jemand in einer gewissen Situation ein unwohles Gefühl dabei bekommt, wenn er vielen Menschen ausgesetzt wird, die ihn verurteilen könnten. Vermutlich war jeder einmal in einer solchen Situation, bei Wehling wird hier ein öffentlicher Vortrag als Beispiel aufgeführt (vgl. ebd.) ist aber trotz der dort empfundenen Angst nicht automatisch sozialphobisch.

[...]


1 Auch während der Wiedergabe des Artikels von Wehling werde ich immer wieder kurz Stellung beziehen. Um diese von den eigentlichen Aussagen abzugrenzen, sind eigene Gedanken in kursiv und zusätzliche Informationen aus anderen Quellen in kursiv und mit (vgl.) dargestellt

2 Peter Wehling geht auf diese Berichterstattungen erst auf Seite 498 ein. Zur besseren Übersichtlichkeit des Problematisierungsprozesses werde ich sie jedoch bereits hier einbringen.

3 Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders ( zu Deutsch: diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen) wird seit 1952 von der Amerikanischenpsychiatrischen Gesellschaft (APA) herausgegeben und dient als Leitfaden der Psychiatrie. Dieser soll für einheitliche Definitionen und Diagnosekriterien weltweit sorgen.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Pathologisierung und Medikalisierung der Schüchternheit
Untertitel
Die Pathologisierung psychischer Krisen
Note
1,7
Autor
Jahr
2019
Seiten
16
Katalognummer
V1152626
ISBN (eBook)
9783346546739
ISBN (Buch)
9783346546746
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Medikalisierung, Pathologisierung, Schüchternheit, Sozial Phobie, Psychische Krisen, DSM, ICD, Volkskrankheit, Medizinische Diagnostik, Diagnosierung, Psychische Erkrankung, Phobien, Diagnostik, Entwicklung, Seelische Gesundheit, Psychische Gesundheit, Soziale Arbeit, Sozialarbeiter*innen, Diagnosekriterien, Peter Wehling, DSM Kriterien
Arbeit zitieren
Samira Kluge (Autor:in), 2019, Pathologisierung und Medikalisierung der Schüchternheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1152626

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