Politische Einstellungen von Jugendlichen. Die Einflüsse von Desintegrationserfahrungen in einer Schülerpopulation


Diplomarbeit, 2006

163 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG

2. THEORIE
2.1 Gegenstand der Untersuchung
2.2 Demokratische und undemokratische Einstellungen
2.2.1 Demokratische Prozedere
2.2.2 Problematische Erscheinungen im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der Demokratie
2.2.3 Die Legitimation der Demokratie
2.3 Extremismus
2.3.1 Linksextremismus
2.3.2 Rechtsextremismus
2.4 Erklärungsansätze für den Rechtsextremismus
2.4.1 Persönlichkeitstheorien
2.4.1.1 Theorie des autoritären Charakters von Adorno
2.4.1.2 Theorie der autoritären Persönlichkeit von Altemeyer.
2.4.1.3 Theorie des autoritären Charakters von Oesterreich
2.4.1.4 Die Dogmatismustheorie von Rokeach
2.5 Sozialpsychologische Theorien Theorie der sozialen Identität von Tajfel und die Theorie des realistischen Gruppenkonflikts von Sherif
2.5.1 Eigengruppenfavorisierung und Fremdgruppenabwertung
2.5.2 Soziale Kategorisierung und soziale Gruppen
2.5.3 Soziale Akzentuierung
2.5.4 Der realistische Gruppenkonflikt
2.5.5 Minimal Group Paradigma
2.5.6 Soziale Identität
2.5.7 Sozialer Vergleich und positive Distinktheit
2.6 Tajfels Theorie der sozialen Identität und Heitmeyers Desintegrationstheorem
2.7 Heitmeyers Theorie der sozialen Desintegration
2.7.1 Desorganisation und Desorientierung
2.7.1.1 Desorganisation
2.7.1.2 Desorientierung
2.7.2 Die komplexen Formen der Desintegration
2.7.3 Die subjektiven Folgen der Desintegration
2.7.4 Kritik an Heitmeyers Desintegrationstheorem und Antworten auf diese Kritik
2.8 Situative Einflüsse auf politische Einstellungen
2.9 Vorurteile
2.9.1 Begriffsbildung
2.9.2 Ursachen von ethnischen Vorurteilen
2.10 Theoretische Fundierung der Hypothesen
2.10.1 Zu Ursachen und Folgen der Desintegration unter besonderer Berücksichtigung der gemeinschaftlichen Dimension (Familie, Schule, Milieu etc.)
2.10.2 Desintegrationserfahrungen und rechtsextremistische Einstellungen.
2.10.3 Desintegrationserfahrungen und Ethnozentrismus
2.10.4 Desintegrationserfahrungen und materieller Intergruppenkonflikt
2.10.5 Desintegrationserfahrung und Konventionalismus
2.10.6 Desintegrationserfahrung und autoritäre Reaktion
2.10.7 Desintegrationserfahrung und Rassismus

3. METHODE
3.1 Datenerhebung
3.2 Operationalisierung
3.2.1 Die Konstruktion der abhängigen Variablen
3.2.1.1 Operationalisierung rechtsextremistischer Einstellungsmuster
3.2.1.2 Operationalisierung des Ethnozentrismus
3.2.1.3 Operationalisierung des materiellen Gruppenkonflikts
3.2.1.4 Operationalisierung des kulturellen Gruppenkonflikts
3.2.1.5 Operationalisierung des Autoritarismus
3.2.1.6 Operationalisierung des Rassismus
3.2.2. Einlassungen zur Methode der Operationalisierung der abhängigen Variablen
3.3 Die Konstruktion der unabhängigen Variablen
3.3.1 Aspekt der Tiefe der Desintegrationserfahrungen
3.3.2 Aspekt der Breite der Desintegrationserfahrungen
3.3.2.1. Desintegration im Bereich Schule sowie als Antizipation hinsichtlich der Berufsausbildung
3.3.2.2 Desintegration in der Familie
3.3.2.3 Erfahrene Gewalt in Schule und Freizeitbereich
3.4 Bildung von Gruppen
3.5 Stichproben
3.5.1 Beschreibung der Stichproben
3.5.2 Beurteilung der Stichproben
3.6 Statistische Hypothesen
3.7 Testplanung

4. ERGEBNISSE
4.1 Statistische Analysen zur Stichprobenstruktur
4.2 Zusammenfassende Betrachtungen struktureller Merkmale der Stichprobe
4.3 Deskriptive Übersicht über grundlegende Ergebnisse
4.4 Statistische Hypothesenprüfung
4.4.1 Ergebnisse der Hypothesenprüfung PH 1.
4.4.2 Ergebnisse der Hypothesenprüfung PH 2.
4.4.3 Ergebnisse der Hypothesenprüfung PH 3.
4.4.4 Ergebnisse der Hypothesenprüfung PH 4.
4.4.5 Ergebnisse der Hypothesenprüfung PH 5.
4.4.6 Ergebnisse der Hypothesenprüfung PH 6.
4.5 Zusätzliche Ergebnisabsicherung

5. DISKUSSION UND ZUSAMMENFASSUNG
5.1 Zusammenhang von Desintegrationserfahrung und rechtsextremistischen Einstellungen
5.2 Zusammenhang von Desintegrationserfahrung und Ethnozentrismus
5.3 Zusammenhang von Desintegrationserfahrung und Intergruppenkonflikte um knappe Ressourcen
5.4 Zusammenhang von Desintegrationserfahrungen und Konventionalismus.
5.5 Zusammenhang von Desintegrationserfahrung und Autoritarismus
5.6 Zusammenhang von Desintegrationserfahrung und Rassismus

6. Möglichkeiten zur Schaffung einer wirksamen Gegenkultur zum antipluralistischen und antidemokratischen Rechtsextremismus
6.1 Gesellschaftliche Bedingungen, die einen Einfluss auf die Herausbildung demokratischen bzw. undemokratischer Einstellungen haben
6.2 Autoritärer Kollektivismus versus Autonomie und Mündigkeit
6.3 Milgramexperiment: Was ist mündiges und was ist unmündiges Verhalten?.

7. Diskussion methodischer und statistischer Probleme
7.1 Probleme bei der Operationalisierung der abhängigen Variablen.
7.2 Probleme bei der Operationalisierung der unabhängigen Variablen.
7.3 Probleme mit der Stichprobenstruktur

8. LITERATURVERZEICHNIS

ANHANG

1. Einleitung

Seit dem Zusammenbruch des autoritären politischen Systems in der DDR kann in Ostdeutschland ein rasches Anwachsen von Fremdenfeindlichkeit beobachtet werden. Viele Studien liefern hierfür empirische Belege.

Obwohl der Anteil an Ausländern in den neuen d.h. den ostdeutschen Bundesländern erheblich niedriger ist, als in der alten Bundesrepublik, ist gerade dort Fremdenfeindlichkeit und rechtsextremistische Gewalt in deutlich höherem Maße festzustellen.

Statistiken des Bundesministeriums für Inneres aus dem Jahre 2004 weisen in dieselbe Richtung. Die Spitze einer Rangliste aller Bundesländer bilden dabei vorwiegend ostdeutsche Länder, angeführt von Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Während es in Brandenburg im Jahre 2004 zu 4 rechtsextremistischen Gewalttaten auf 100000 Einwohnern kam, waren es, bezogen auf die gleiche Einwohnerzahl in Sachsen-Anhalt, 3 derartige Gewalttaten. Im Saarland, in Nordrhein- Westfalen, Baden- Württemberg, Hamburg, Rheinland- Pfalz, Bayern und Hessen hingegen, lag die Rate im gleichen Zeitraum und auf 100000 Einwohner bezogen, nur etwa bei 0,2 bis 0,6 rechtsextremistischen Straftaten.

Das aus dem DJI- Jugendsurvey (1995) stammende Item „Ich bin gegen eine Diktatur aber eine starke Hand müsste mal wieder Ordnung in unseren Staat bringen“ wurde von 27% westdeutscher, jedoch von 41 % ostdeutscher Jugendlicher zustimmend beantwortet. Eine Antwortverteilung, die auf eine stärkere Tendenz zur Akzeptanz autoritärer Macht unter ostdeutschen im Gegensatz zu westdeutschen Jugendlichen hindeutet.

Ferner zeigen die ALLBUS- Daten von 1996 und 1998, dass der Nationalstolz, ostdeutscher Jugendlicher größer ist, als der, westdeutscher Jugendlicher. Auch in Bezug auf fremdenfeindliche Einstellungen ergibt sich aus dem DJI- Jugendservey aus den Jahren 1992 und 1997 ein deutlich höheres Niveau für die Jugendlichen Ostdeutschlands.

Wenn man sich nach Gründen dafür fragt, warum Fremdenfeindlichkeit, rechtsextremistische Gewalt bzw. autoritäre Einstellungen, sich viel stärker in den neuen Bundesländern zeigen als in den alten, dann kann hier ein geschichtlich-soziologischer Rückblick auf die gesellschaftlichen Strukturen der DDR und auf den mit ihrem Untergang verbundenen Werte- und Strukturwandel, auf Antworten verweisen.

Durch den Zusammenbruch der realsozialistischen Fürsorgediktatur lösten sich in Ostdeutschland schlagartig viele Zugehörigkeiten auf. Oft waren zuvor ganze Familien generationsübergreifend Angehörige ein und desselben Betriebes, der gleichzeitig bei entsprechender Größe auch außerbetriebliche Aufgaben der Organisation des täglichen Lebens der Menschen mit übernahm. So gab es etwa u.a. Betriebskindergärten und –krippen, Betriebssportgemeinschaften und Kulturgruppen, sowie betriebseigne Ferienheime und Betriebsferienlager für die Kinde der Betriebszugehörigen.

Schulhort als Form der Betreuung von Schülern nach dem Unterricht, kostenlose Arbeitsgemeinschaften zur Ausübung interessenspezifischer Aktivitäten sowie Junge Pioniere und FDJ als Kinder- und Jugendorganisationen waren von hoher – teils repressiv durchgesetzter – ideologisch gewollter Integrationskraft.

Der Vereinigungsprozess beider deutscher Staaten führte zum Wegbrechen, der für die DDR typischen Standardbiografien, die in der Regel über Kinderkrippe, Kindergarten, Schul- und Berufsausbildung hinweg, in eine bis zum Rentenalter andauernden Zugehörigkeit zu ein und demselben Betrieb mündete.

Wer bereit war, sich den repressiven politischen Vorgaben der Einheitspartei bzw. ihrer Sicherheitsorgane zu beugen, ihnen zumindest öffentlich nicht zu widersprechen, konnte, wenn auch nicht immer, ein nach eigenen Wünschen verlaufendes, jedoch risikoarmes Leben führen, dessen Grundlage nicht auf Prinzipien der leistungsbezogenen zwischenmenschlichen Konkurrenz beruhte, sondern das mit vielerlei engen, prägenden und langwierigen Zugehörigkeiten z.B. zu einem Arbeitskollektiv oder einer Hausgemeinschaft verbunden war. Grundsätzlich muss im Bezug hierauf, betont werden, dass all diese stark integrierenden Institutionen, erheblich ideologisiert waren und auf die Vereinheitlichung von Norm- und Wertsystemen zielten, welche als Voraussetzung der zwangsweise durchzusetzenden marxistischen Utopie galten.

Unberücksichtigt darf hierbei jedoch auch nicht bleiben, dass sich die Integrationsmedien in der DDR keineswegs, trotz ihrer gezielten einheitspolitischen Ausrichtung, auch tatsächlich immer als Instrumente der politischen Erziehung erwiesen. Vielmehr hatten politische Rituale in manchen Bereichen des Lebens z.B. in Arbeitskollektiven einen nur sehr formalen Charakter, wurden nicht ernst genommen oder als lästiges kleines Übel ertragen, während gute zwischenmenschliche Beziehungen den tatsächlichen Kern solcher Zugehörigkeiten ausmachten.

Mit der deutschen Einheit brachen all diese integrierenden Formen des Zusammenlebens weg, teils aus marktwirtschaftlichen Erwägungen, teils unter dem berechtigten bzw. unberechtigten Verdacht, sie seien Instrumente einer Diktatur gewesen. Die DDR war für die Ostdeutschen eine überschaubare, berechenbare Welt. Jeder kannte die Befugnisse, Tabus sowie die Konsequenzen, die mit der Verletzung der autoritären Normen verbunden waren. Die expliziten und impliziten Spielregeln, für gesellschaftlichen Erfolg bzw. für ein grundlegendes Scheitern, aber auch die, für ein unproblematisches, unbehelligtes Leben, waren stets im öffentlichen Bewusstsein.

Die Schließung vieler Betriebe aus Rentabilitätsgründen, bzw. der Abbau, deren auf die Gesellschaft ausgerichteten Aktivitäten, auch der Zerfall der Kinder- und Jugendorganisationen sowie der Rückgang von Möglichkeiten fast kostenloser Kinderbetreuung, führten dazu, dass Ostdeutsche, oft zum ersten Mal in ihrem Leben mit existentiellen Sorgen beschäftigt waren, während ringsum die Möglichkeiten einer Integration ins gesellschaftliche und ins Arbeitsleben rapide zurück gingen, sowie neue natürlichere Integrationsmedien noch nicht gewachsen bzw. etabliert waren.

Menschen, die vom Anbeginn ihres bewussten Lebens ihre gesicherten Lebenswege, bereits in wesentlichen Teilen antizipieren konnten, waren plötzlich mit einem Werte- und Normenpluralismus konfrontiert, der irritierend, oft auch an ethisch fragwürdigen Maßstäben orientiert, irreführend wirkte. So galten z.B. Mittel und Methoden westdeutschen Geschäftsgebarens plötzlich als Normalität, die nach den Rechtsvorstellungen vieler Ostdeutscher und auch aus der Perspektive guter zwischenmenschlicher Beziehungen als Betrug bzw. als Täuschung und somit unakzeptabel erschienen.

Sich nun in hochkomplexen und in vielen Bereichen unüberschaubaren Strukturen und Verhältnissen zurechtzufinden, die neue Erfahrung der Arbeitslosigkeit oder die der Bedrohung durch mögliche Arbeitslosigkeit führte zu Verunsicherung und Angst.

Unter den Bedingungen der Marktwirtschaft, der Fülle an Konsumtionsmöglichkeiten sowie der zunehmenden Entsolidarisierung durch Konkurrenz haben sich die menschlichen Beziehungen gravierend verändert. Statusbedrohung, Konsumtions- und Konkurrenzdruck wirken zersetzend selbst auf Familien und deren Beziehungen, und nehmen so Einfluss auf das Leben und die Einstellungen von Kinder und Jugendlichen.

Arbeitslosenraten von 20%, Rekordzahlen von Insolvenzen und eine starke Konkurrenz der Arbeitnehmer um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes und ihres gesellschaftlichen Status kennzeichnen die Lage der ostdeutschen Länder schon seit vielen Jahren. Die meisten Menschen, die in der DDR per se als integriert gelten konnten, sahen sich somit nach der politischen Wende im Rennen um den Erhalt der Statusbeziehungen zu ihrer sozialen Umwelt an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Einstmals gängige Beziehungen über soziale Schichten und Klassen hinweg, ermöglicht durch gleichmacherische Arbeitsvergütung, zerbrachen an einer Verschärfung sozialer Klassenunterschiede. Mit der Arbeitslosigkeit, auch der Konkurrenz am Arbeitsplatz hielt die Vereinzelung Einzug in die schmuckenlosen Plattenbausiedlungen, die in den 70er Jahren noch als Wohnkomfort gefeiert, zu Gettos für jene wurden, die den Sprung ins neue Gesellschaftssystem nicht geschafft hatten. Viele der einstmals in gesellschaftliche Prozesse fast erdrückend eingebundenen Ostdeutschen fanden sich urplötzlich in einer Art Zugehörigkeitsvakuum wieder.

Der Soziologe Heitmeyer (1997/2000) sieht in der Konkurrenz den Motor der Auflösung des Sozialen. Angesichts hoher Arbeitslosenzahlen und struktureller Unterentwicklung ist der Kampf um einen Arbeitsplatz insbesondere im Osten unseres Landes mehr noch als anderswo durch einen massiven Anpassungs- und Konkurrenzdruck geprägt. Traditionelle Integrationsformen, die das Leben der Menschen über Jahrzehnte mitbestimmten, wurden ersatzlos amputiert. Lebenserfahrungen und –planungen verloren ihre Gültigkeit. Vorgefertigte, in ihrer Vielfalt eingeschränkte Orientierungen, die planmäßig auf bestimmte Ziele ausgerichtet waren und die ein lebenslang nicht an Tragfähigkeit verloren hätten, waren plötzlich bedeutungslos. An ihre Stelle trat ein, durch die neuen gesellschaftlichen Bedingungen zur Eigeninitiative gezwungener, sein Verhalten selbstorganisierender, selbstkoordinierender Mensch, der sich seinen Lebenslauf selbst zusammenzubasteln hatte, wobei nicht immer klar ist, welcher Weg einzuschlagen ist, welche Orientierung den schnellen gesellschaftlichen Wandel übersteht. Die Risiken wachsen somit. Scheitern im Konkurrenzkampf um immer weniger Arbeitsstellen und Ausbildungsplätze gehört längst in den Erfahrungsbereich vieler auch junger Menschen, und das in besonderer Schärfe im Osten.

Stark betroffen sind hierbei v.a. Menschen die gering qualifiziert, damit leicht ersetzbar und austauschbar sind. Sie sehen ihren an sich schon niedrigen Status gefährdet, haben Angst von billigeren Arbeitnehmern aus dem Ausland verdrängt zu werden. Hierin mag sein Grund dafür zu sehen sein dass sich unter diesen gering qualifizierten Beschäftigten ein besonders hoher Anteil an fremdenfeindlichen Personen ausmachen lässt.

Langzeitarbeitslose hingegen, die nichts mehr zu verlieren haben, und damit nicht mehr den Verlustängsten und den Konkurrenz-, Mobilitäts- und Flexibilitätszwängen ausgeliefert sind sehen in Migranten und ausländischen Saisonarbeitern möglicherweise weniger eine Bedrohung des eigenen Status und zeigen damit vielleicht auch weniger Fremdenfeindlichkeit.

2. Theorie

2.1 Gegenstand der Untersuchung

In dieser Arbeit soll der Einfluss der sozialen Umwelt auf die Herausbildung demokratischer bzw. undemokratischer Einstellungen von Jugendlichen untersucht werden. Hierfür sind zunächst die allgemeinen sozialen Prozesse, die in die Lebensbereiche der Jugendlichen hineinwirken, aufzuklären und diejenigen konkreten Bedingungen zu nennen, die das politische Denken und Handeln Jugendlicher beeinflussen.

Die in der Gesellschaft stark zunehmenden konfliktreichen Konkurrenzvorgänge sowie die damit verbundenen sozialen Auflösungs- und Ausgrenzungsprozesse, die immer tiefer in die Lebensbereiche der Jugendlichen, das heißt, in Familie, Milieu, Schule und Ausbildungsbetrieb eindringen, werden auf der Grundlage der Theorie der sozialen Desintegration (Anhut/Heitmeyer 2002) interpretiert. Das Anliegen dieser Arbeit ist die Beantwortung der Frage, ob sich in Abhängigkeit von der Stärke individueller Desintegrationserfahrungen der Jugendlichen, Einflüsse auf politische Einstellungen nachweisen lassen.

Dafür wird zum Einen das Ausmaß an Desintegrationserfahrungen der Jugendlichen gemessen und zum anderen nach Zusammenhängen zwischen der Stärke der Ausprägung an Desintegrationserfahrungen und der Stärke der Ausprägungen undemokratischen politischen Einstellungen gesucht.

Heitmeyer geht davon aus, dass Desintegrationserfahrungen zu Vereinzelung, Verunsicherung und Ohnmacht führen, in deren Folge bei einem Teil der Jugendlichen sich rechtsextremistische Orientierungen einstellen.

Zur Erklärung komplexer Einstellungs- und Reaktionsmuster, die sich bei rechtsextremistischen Individuen zeigen, werden in dieser Arbeit persönlichkeits- und sozialpsychologische Theorien herangezogen.

Die Theorie der autoritären Persönlichkeit von Oesterreich (1993) untersucht mit der autoritären Reaktion einen psychologischen Basisprozess, der immer dann wirksam wird, wenn sich die Menschen in einer bedrohlichen Situation allein nicht mehr helfen können. Unter welchen Voraussetzungen sich dann eine autoritäre Persönlichkeit entwickeln kann, die stets bei Verunsicherung autoritär reagiert und an Autoritäten klammert, von denen sie Hilfe und Schutz erwarten, wird im theoretischen Teil dieser Arbeit näher erörtert.

Die Theorie des realistischen Gruppenkonflikts von Sherif (1951/61) sowie die Theorie der sozialen Identität von Tajfel und Turner (1982) bieten Erklärungsmuster für Eigengruppenfavorisierung, Fremdgruppenabwertung und soziale Vorurteile und zeigen hierbei die psychologischen Basisprozesse auf, die unter bestimmten äußeren Umständen, welche an anderer Stelle in dieser Arbeit beschrieben werden, übersteigerten Nationalismus bewirken können, sowie menschenverachtende Fremdgruppen-Diskriminierung, bis hin zu fremdenfeindlicher Gewalt. Auch die mit diesen Basisprozessen erklärbare Entstehung starrer ethnischer Vorurteile, die durch widersprechende Erfahrung nicht zu erschüttern sind und die in den rechtsextremistischen Jugendsubkulturen das Denken und Verhalten der Zugehörigen bestimmen, wird im Theorieteil dieser Arbeit näher behandelt.

Für die Bildung der Hypothesen und für die Begründung und Erklärung der Zusammenhänge zwischen Desintegration und politischen Einstellungen wird zum einen auf Erkenntnisse über psychologische Basisprozesse und zum anderen auf Resultate der Bielefelder Rechtsextremismus-Studie (Heitmeyer, 1992/93), der ALLBUS-Daten (1994, 96, 98), des DJI-Jugendsurvey (!995), der empirischen Analysen des GMF-Survey 2004, der Untersuchungen von Mansel, Endrikat und Hüpping (2005) und der Ergebnisse von Endrikat (2005) sowie auf weitere Arbeiten zu dieser Thematik zurückgegriffen.

Im abschließenden Teil dieser Arbeit werden externe und interne Faktoren genannt, deren Wirksamkeit für die Entwicklung und Festigung einer demokratischen Einstellung förderlich sind. Mit der Aufdeckung der Bedingungen, die die Herausbildung rechtsextremistischer, antipluralistischer und autoritaristischer Einstellungen begünstigen, können wir Einsichten gewinnen, die für die Entwicklung wirksamer demokratischer Gegenstrategien notwendig vorausgesetzt werden müssen.

2.2. Demokratische und undemokratische Einstellungen.

2.2.1 Demokratische Prozedere

Wenn diese Arbeit sich mit politischen Einstellungen auseinandersetzen will, ist es unerlässlich, sich der Frage zu widmen, welche Kategorien politischer Orientierungen hierfür Relevanz besitzen.

Der demokratische Grundkonsens unserer Gesellschaft ermöglicht es, Kompromisse zwischen sozialen Gruppen auszuhandeln und erlaubt es somit, gesellschaftliche Interessenkonflikte gewaltfrei zu lösen. Grundlage hierfür ist die mögliche Partizipation eines jeden Bürgers am Prozess der politischen Willensbildung,

Gesellschaftliches Handeln wird hierbei vor allem dadurch ermöglicht, dass sich der Einzelne, gesellschaftlichen Interessengruppen anschließt, deren verbindende Grundlage bestimmte Wert- und Zielvorstellungen sind, die er selbst teilt. Auf der Basis von Grundwerten und -rechten kommt es zur Meinungsbildung bzw. Entscheidungsfindung in Bezug auf aktuelle soziale Gestaltungserfordernisse, woran das einzelne Individuum nach demokratischen Regeln teilhaben d.h. eigene Positionen vertreten und dafür argumentativ Mehrheiten zu bekommen versuchen kann. Auf diese Art entstehen gruppenspezifische Meinungen, Vorstellungen und Standpunkte für die politische Gestaltung der Gesellschaft, die zunächst öffentlich diskutiert, sich schließlich im allseits konsensual akzeptierten demokratischen Wettbewerb mit den Konzeptionen anderer sozialer Gruppen um Mehrheiten bewähren müssen. Die demokratische Wahl bezieht an dieser Stelle nochmals auch die Menschen mit in den demokratischen Prozess ein, die nicht direkt an der Erarbeitung gesellschaftlicher Problemlösungsalternativen teilhaben, jedoch entsprechend ihrer Grundüberzeugungen ihrem Willen für die eine oder andere Art politischer Gestaltung Ausdruck verleihen können.

Die beschriebenen Formen der Teilhabe kennzeichnen dabei vor allem die Partizipation an der gesellschaftlichen Gestaltung durch Parteien, die mit ihren politischen Entwürfen die Entwicklung der gesamten Gesellschaft im Auge haben.

Problemspezifischer treten Gewerkschaften bzw. Vereine und Verbände in Erscheinung. Auch sie können sich in den öffentlichen Diskurs über die Gestaltung der Gesellschaft mit einbringen, Demonstrationen oder Streiks organisieren, Publikationen veröffentlichen um die Interessen und Argumente ihrer Mitglieder ins öffentliche Bewusstsein zu rücken oder wie im Falle gewerkschaftlich organisierter Arbeitskämpfe die Interessen von Arbeitern und Unternehmen auf friedlichem Wege ausbalancieren.

Der Grund für die ausführliche Darstellung der Möglichkeiten zur Teilhabe an politischen Prozessen, liegt darin, das hier verdeutlicht werden soll, wie ein selbstbestimmtes Leben auf der Grundlage eigner Überzeugungen und unter Berücksichtigung gleicher Rechte anderer, in einer so hochkomplexen Gesellschaft, wie der unseren, möglich wird. Dass insbesondere dieses Menschenrecht auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung eine fundamentale Rechtfertigung der Demokratie darstellt und dass alle antidemokratischen Systeme damit illegitim sind, soll später noch näher betrachtet werden.

2.2.2 Problematische Erscheinungen im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der Demokratie

Extremisten stellen dieses bewährte Prinzip des Interessenausgleichs in Frage.

Ein großer und wachsender Anteil der Bürger bezweifelt, dass die real existierenden Demokratien ihren grundlegenden Prinzipien, wie beispielsweise einer Chancengleichheit in Bezug auf die Teilhabe an der Macht gerecht werden, oder stellen deren Effizienz in Frage (Heitmeyer/Mansel 2003). Immer komplexer werdende, teils kaum mehr überschaubare gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse erschweren es dem Einzelnen zunehmend, das politische Geschehen nachzuvollziehen, so dass Politik oft als chaotischer Prozess erlebt wird, wobei es dem einfachen Bürger oft verborgen bleibt, ob alle Interessen vernünftig abgewogen wurden. Oft erweisen sich Problemlösungen, die in zähen langwierigen Verhandlungen als Kompromiss gefunden und allseits als Mittel gegen das Übel an der Wurzel akzeptiert galten, in ihrer Umsetzung als ineffizient. Zweifel an der real existierenden Demokratie, d.h. an der praktischen Umsetzung ihrer Prinzipien, aber auch an ihrer Reaktionsfähigkeit im Hinblick auf akute gesellschaftliche Probleme sind zumindest sachverhaltsbezogen immer wieder auch in den unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten zu finden. Die Auffassung, dass Einkommensstärkere ihren politischen Interessen mehr Gewicht verleihen können als Einkommensschwächere ist nicht selten ein Argument dafür, die Demokratie, so, wie sie sich real zeigt, in Frage zu stellen, ebenso wie das langwierige Ringen um Kompromisse bevor Politik Gestalt annehmen kann. Ernst zu nehmen ist die Kritik von Heitmeyer und Mansel (2003) an Prozessen der Demokratieentleerung, die dazu führen, dass letztendlich nur noch Demokratiefassaden übrigbleiben. Hingewiesen wird von ihnen auf Prozesse der Demokratieermäßigung durch die Übermacht der Wirtschaft, der Demokratieaushöhlung durch die Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte im Namen der Terrorismusbekämpfung, der Demokratiemissachtung durch korrupte Eliten und der Demokratiezweifel, die sich auf die Annahme mangelnder Kompetenz der politischen Expertokraten bezieht.

Hierin mögen sich unter anderem Gründe finden, dass rechts- wie linksextremistische Methoden auch in breiteren Bevölkerungsschichten Anklang finden und beispielsweise zu Wahlerfolgen extremistischer Parteien führen.

2.2.3 Die Legitimation der Demokratie

Nach Ludger Kühnhardt (1987) ist der Menschenrechtsbegriff der Demokratiekonzeption vorgelagert als ihr Fundament und Rechtfertigungsgrund.

Jedes antidemokratische System widerspricht diesem Grundsatz, weil es naturgemäß Interessen verschiedener sozialer Gruppen und Minderheiten unberücksichtigt lässt, sie von der politischen Gestaltungsmacht in einer Gesellschaft ausschließt.

Autoritäre Gesellschaftsformen verstoßen somit gegen das fundamentalste Menschenrecht, welches sich aus der Würde des Menschen ableitend, durch die Befugnis einer jeden Person, zur selbstbestimmten Gestaltung ihres Lebens auf der Grundlage eigener Überzeugungen sowie in der Verpflichtung der Berücksichtigung gleicher Rechte anderer Menschen äußert.

Eng verbunden mit dem Recht auf Selbstbestimmung sind individuelle Freiheitsrechte. Hierzu gehören das Recht auf Kritik an jeglicher Autorität und Macht, ferner die Freiheit der Forschung und der Publikation, die Möglichkeit zur freien Ausübung einer Religion, sowie das Recht zur politischer Mitbestimmung, darüber hinaus ist jeder berechtigt, Widerstand gegen Bevormundung und Nötigung zu leisten, sowie nicht zuletzt den Schutz auf Unversehrtheit von Leib und Leben zu beanspruchen.

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Ende der Leseprobe aus 163 Seiten

Details

Titel
Politische Einstellungen von Jugendlichen. Die Einflüsse von Desintegrationserfahrungen in einer Schülerpopulation
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Autor
Jahr
2006
Seiten
163
Katalognummer
V1152888
ISBN (eBook)
9783346546678
ISBN (Buch)
9783346546685
Sprache
Deutsch
Schlagworte
politische, einstellungen, jugendlichen, einflüsse, desintegrationverfahren, schülerpopulation
Arbeit zitieren
Tom Skibbe (Autor:in), 2006, Politische Einstellungen von Jugendlichen. Die Einflüsse von Desintegrationserfahrungen in einer Schülerpopulation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1152888

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