Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Schillers Ansprüche als Autor und Philosoph
2. Schillers Programm
2.1 Über die ästhetische Erziehung des Menschen
2.2 Schillers Ziele im Verbrecher aus verlorener Ehre
3 Umsetzung seiner Vorsätze im Verbrecher aus verlorener Ehre
4 Fazit: Schiller wurde seinen Ansprüchen gerecht
5 Literaturverzeichnis
1. Schillers Ansprüche als Autor und Philosoph
Christoph Friedrich Schiller gilt als einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller weltweit. Besonders zeichnete ihn sein Interesse für die Politik und Philosophie aus. Mit letzterer beschäftigte er sich vor allem ab dem Jahr 1790, wobei er sich primär für Kants Auffassung über die Ästhetik interessierte und als Ergebnis die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen entstanden, in welchem er seine philosophischen Ansichten und die Ziele, welche ein Künstler mit seinem Werk seiner Ansicht nach verfolgen soll, beschreibt.
Doch schon vor Schillers intensivem Kant-Studiums sah sich Schiller dazu verpflichtet, seine Leser durch die Literatur zur Freiheit und Vervollkommnung zu führen und damit die Menschheit verbessern zu wollen (vgl. Berghahn, 2018, S. 202 ff.). Deshalb thematisierte er in seinen Werken favorisiert politisch und gesellschaftlich relevante Themen, wie die Auflehnung gegenüber Autoritäten und Gesetzmäßigkeiten. Dieses Motiv griff er das erste Mal in seinem Drama Die Räuber auf und nutzte es auch für sein später verfasstes Werk Der Verbrecher aus verlorener Ehre, welches erstmals 1786 anonym in der von Schiller herausgegebenen Zeitschrift Thalia erschien. Als Vorlage dienten ihm reale Räuberbanden, um die damaligen Spannungen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft auf eine künstlerische Art und Weise darzustellen (vgl. May, 2016, 42 f.).
Um darzustellen, dass sich Schiller nicht erst während dem Verfassen seiner Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen damit beschäftigte, welche Intensionen ein Autor mit seinem Werk verfolgen sollte und wie eine Vervollkommnung des Individuums erlangt werden kann, sondern schon von Beginn an höhere Absichten durch seine verfassten Werke zu erreichen versuchte, soll sich diese Arbeit zunächst der Frage widmen, welches Programm Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen verfolgt. Dieses soll dann in Verbindung mit seinem Anliegen, welches er im Vorwort seiner Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre äußert, gebracht und Gemeinsamkeiten festgestellt werden. Im Anschluss daran soll die Arbeit eigen, wie Schiller seine Vorsätze sowohl inhaltlich als auch sprachlich umsetzt. Zuletzt folgt ein Fazit, welches die Ergebnisse der Arbeit zusammenfasst.
2. Schillers Programm
Nachdem Schiller von dem Herzog von Schleswig-Holstein-Augustenburg und dem Grafen Ernst Heinrich Schimmelmann 1791 ein dreijähriges Stipendium erhielt, widmete sich der zu dieser Zeit kränkliche Autor der Philosophie Kants und dessen Aussage, dass es keinen objektiven Begriff des Schönens gäbe. Schiller wollte dies widerlegen und stellte die Behauptung auf, dass die Freiheit nur durch Schönheit erreicht werden könne (vgl. Berghahn, 2018, S. 203 ff.). Wie dies laut Schiller gelingen kann und welche Ziele er deshalb verfolgte, hielt er in seiner theoretischen Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) fest.
2.1 Über die ästhetische Erziehung des Menschen
Schillers oberstes Ziel war, die Menschen durch seine Werke ästhetisch zu erziehen, damit sie zum „bloß möglichen Ideal der Gesellschaft“ (3. Brief) gelangen können. Dieses wird allerdings nur erreicht, wenn der Notstaat (Staatsform, welche sich aus der Notwendigkeit des Zusammenlebens ergibt) zum Naturstaat (Zwangsgesellschaft, in welcher Machtinteressen, Gewalt und das Recht des Stärkeren dominiert) und als Vervollkommnung zum Vernunftsstaat (Staatsform, die durch Recht und Ordnung gekennzeichnet ist) umgewandelt wird (vgl. 3. Brief).
Allerdings ist die Umwandlung vom Naturstaat in den Vernunftsstaat problematisch, da dadurch der sinnliche Mensch (und damit das natürliche Individuum), wie er nur im Naturstaat existiert, zerstört werden würde zugunsten des moralischen Menschen.
Der sinnliche Mensch handelt nur zur Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse, wohingegen die Entscheidungen eines moralischen Menschen nach dem Prinzip der Vernunft getroffen werden. Allerdings kann niemandem eine moralische Kultur aufgezwungen werden. Außerdem raubt der Vernunftsstaat dem Menschen seine Sinnlichkeit, die allerdings erhalten bleiben soll. Um diese vollständige Vernichtung einer Staatskultur bedingt durch die Dominanz der anderen zu verhindern ist es laut Schiller unumgänglich, den sinnlichen und den moralischen Menschen zu vereinen. Dies gelingt durch die Ästhetik, die eine von beiden Staatsformen unabhängige Stütze darstellt und somit in der Lage ist, den harmonischen Menschen auszubilden, der den „sinnliche[n] Mensch […] zum moralischen veredel[t]“ und den moralischen Menschen lehrt, die Natur zu achten (vgl. Berghahn, 2018, S. 217).
Allein die Ästhetik schafft diese Veredelung des Menschen und damit die Schaffung einer idealen Staatsform, dem „Staat der Freyheit“, weshalb Schiller ihr eine große Bedeutung zuspricht (vgl. 1.-4. Brief).
Die erste Aufgabe der Ästhetik besteht schlussfolgernd darin, durch eine höhere Kunst das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ins Gleichgewicht zu bringen, damit diese eins werden können (in Form des harmonischen Menschen) und der „Staat der Freyheit“ (4. Brief) entstehen kann (Totalität des Charakters). In diesem wird der Staat das Individuum nicht für die Allgemeinheit unterdrücken und gleichzeitig das Individuum nicht aus bloßem Egoismus handeln. Als Vorbild dient Schiller das alte Griechenland, welches sich in einem Zustand der Ganzheitlichkeit befand (vgl. 4.-7. Brief).
Die zweite, wichtige Aufgabe besteht darin, die Entwicklung des Empfindungsvermögens zu fördern. Dies ist für Schiller die einzige Möglichkeit, nicht nur rational aufgeklärt zu werden, sondern auch selbstbestimmt handeln zu können und den bisher noch fehlenden Mut aufzubringen, ein autonomer Mensch werden (vgl. 8. Brief). Schiller verweist hier auf die Philosophie Kants und den Grundsatz sapere aude (Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen), der als Leitspruch der Aufklärung gilt. Der Leser soll somit durch seine Werke ein Gespür dafür bekommen, welche Handlungen richtig und welche falsch sind und dieses Wissen darüber auf das eigene Lebensumfeld übertragen. Nur wem dies gelingt, gilt nach Schiller als freier Mensch, der eigenständige, selbstbestimmte Entscheidungen treffen kann.
Damit verbunden ist die Ausbildung von moralischer Handlungsfähigkeit. Der Mensch soll dazu erzogen werden, vernünftig und moralisch vertretbar handeln zu können (vgl. 5.-6. Brief). Diese Kompetenz möchte Schiller durch seine Werke anbahnen, indem er Geschichten über moralische (Fehl)-entscheidungen schreibt und damit seine Leser zum Nachdenken und Reflektieren über diese anzuregen versucht.
Im Verbrecher aus verlorener Ehre gelingt ihm das beispielsweise, indem er die Hauptperson Wolf aus einer (finanziellen und persönlichen) Notsituation heraus Verbrechen begehen lässt, die von der Gesellschaft nicht toleriert werden. Aufgrund der präzisen Beschreibung Wolfs Lebensgeschichte und seiner Gedanken bringt der Leser jedoch (im Gegensatz zu der im Werk beschriebenen Gesellschaft und dem Justizsystem) ein gewisses Verständnis für dessen Straftaten auf und empfindet die gesetzesmäßige Bestrafung Wolfs als ungerecht. Somit sorgt Schiller dafür, dass der Rezipient die Werte, die im Werk das Verhalten des gesellschaftlichen Justizsystems regulieren, anzweifelt und eigene ethisch vertretbare Normen entwickelt (bezogen auf Wolf: vor der Verurteilung eines Menschen dessen Beweggründe erfassen und diese in der Strafentscheidung berücksichtigen).
Dieses Ziel steht in engem Verhältnis zu einer weiteren Intention Schillers: Er möchte sowohl das Gefühls-, als auch Vernunftsvermögen des Individuums entfalten, um den Menschen empfänglich für die Welt zu machen, dessen Vielfalt erkennen und seine Talente frei entfalten zu können, um letztendlich selbstständig zu werden und ein freies Wesen mit eigenem Charakter zu werden. Voraussetzung dafür sind die Entwicklung eines Empfindungsvermögens und eines moralisch vertretbaren Wertekanons.
Dies entspricht der Verwirklichung von Schillers Persönlichkeitsideal, welches flexibel, prinzipiell, anpassungsfähig und emanzipiert, tolerant und gleichzeitig streng ist. In ihm sind die beiden aufeinander bezogenen Triebe Stofftrieb (Die Welt der Menschen Untertan machen) und Formtrieb (Verständnis für die Welt entwickeln) vereint und nicht länger Antonyme, die sich gegenseitig dominieren wollen.
Um die beiden Triebe voneinander abgrenzen zu können, nenne ich hier ein Beispiel:
Der Stofftrieb beschreibt Erwartungen an die Welt, welche man durch das eigene Handeln versucht zu erreichen (z.B.: Die Erwartung, Hilfe von Mitmenschen in Notsituationen zu erhalten wird durch das eigene Verhalten realisiert) und kann der sinnlichen Welt zugeordnet werden, da er alles Innere für die Außenwelt sichtbar macht (vgl. 12.-13. Brief)
Allerdings ist es nicht immer richtig, die eigenen Erwartungen über gesellschaftliche Erwartungen zu stellen (z.B.: Inakzeptanz gegenüber aller Glaubensrichtungen, welche nicht der eigenen entsprechen). Wird dagegen versucht, Verständnis für andere Weltansichten aufzubringen, wird der Formtrieb realisiert, da das Handeln von der Vernunft geleitet wird (vgl. 12-13. Brief).
Um die Triebe zu vereinen und damit dem Persönlichkeitsideal Schillers gerecht zu werden, bedarf es die Schönheit, welche „sinnliche Erscheinung und geistige Form zugleich“ (Berghahn, 2018, S. 231) ist. Nur sie allein ermöglicht es dem Menschen, die eben genannten Antonyme zu verschmelzen und den bisher noch unvollkommenen Menschen zur Vollendung zu führen.
Allerdings kann das Individuum diese menschliche Vollkommenheit und damit die Harmonie mit der eigenen Persönlichkeit nur im „spielerischen Umgang mit dem Schönen“ (Berghahn, 2018, S.231) erfahren. Denn nur hier „ist der Mensch frei von den Bedürfnissen des materiellen Daseins und vom Zwang des Gesetzes“ (Berghahn, 2018, S. 231). Deshalb spielt die Kunst für die ästhetische Erziehung des Menschen eine wichtige Rolle. Dies ist die letzte, wichtige Aufgabe der Ästhetik.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass Schiller folgende Hauptziele verfolgt:
- Totalität des Charakters
- Harmonie mit der eigenen Persönlichkeit und
- moralische Handlungsfähigkeit
Diese können jedoch nur durch die schöne Kunst hergestellt werden. Denn nur sie ist gegen die Rücksichtslosigkeit des Menschen immun und kann den Menschen bei der Veredelung des Charakters helfen. Diese schöne Kunst (ästhetische Kultur) wird vom Künstler (Maler, Autor, etc.) für die Menschheit bewahrt und soll durch ihn den Menschen wiedergebracht werden, um den Staat der Freiheit zu erreichen.
Aufgrund dessen misst Schiller besonders Künstlern (und somit auch sich selbst als Autor) und dessen Werken eine hohe Bedeutung bei. Dies ist ebenfalls der Grund, weshalb seine eigenen Geschichten nicht bloßen Unterhaltungszwecken dienen, sondern die Leser weiterbilden und in ihrer Entwicklung zum vollendeten Menschen fördern sollen (vgl. 9. Brief).
2.2 Schillers Ziele im Verbrecher aus verlorener Ehre
Wie gerade deutlich geworden ist, verfolgte Friedrich Schiller mit seinen Werken hohe Ziele. Auch sein Werk Verbrecher aus verlorener Ehre schrieb es nicht zum Vergnügen, sondern aufgrund höherer Absichten, welche er in seiner Vorrede beschrieb und hier kurz zusammengefasst dargestellt werden.
Friedrich Schiller ist überzeugt, dass das menschliche Verhalten am besten dargestellt werden kann wenn Verbrechen geschehen, da sich hier „meist eine außerordentliche, Grenzen überschreitende Handlung mit einer starken inneren Bewegung verknüpft“ (Oschmann, 2009, S. 66).
Diese Verbindung von innerer Haltung und dem äußeren Geschehen will Schiller in seinem Werk nutzen, um nicht etwa eine einzigartige Kuriosität aufzudecken, sondern vielmehr um eine Handlung mit „anthropologischer Aussagekraft“ (Oschmann, 2009, S.66) aufzuzeigen. Er begründet seine Argumentation mit der Medizintechnik, die ihre größten Fortschritte vor allem bei Leichenöffnungen und bei der Arbeit in Krankenhäusern und psychiatrischen Kliniken gemacht haben. Um nun die Taten eines Verbrechers verstehen zu können, müssen (vergleichbar mit einer Leichenöffnung) dessen innersten Gedankengänge offengelegt werden, um humanitäres Verhalten zu beschreiben. Dies möchte der Autor am Beispiel des Leidenswegs der Hauptperson beschreiben. Allerdings soll der Leser nicht lediglich den Verbrecher und seine Taten präsentiert bekommen, sondern miterleben können, wie aus dem jungen, mehr oder weniger unschuldigen Mann Christian Wolf ein Räuber und schließlich ein Mörder werden konnte.
Außerdem will Schiller die Diskrepanz zwischen dem Leser und dem Helden bekämpfen, da aufgrund dieses vorhandenen Gaps das historische Subjekt auf den Leser befremdlich wirkt und kein Verständnis für dessen Handlungen aufkommen kann. Laut Schiller ist es deshalb notwendig, dass
(a) entweder der Leser warm wird mit dem Helden oder
(b) der Held wie der Leser erkaltet.
Da der Autor erstere Methode als Entmündigung des Lesers ansieht, soll in seinem Werk die zweite Variante zum Einsatz kommen. Somit wird deutlich, dass Schillers primäres Ziel die ästhetische Erziehung des Menschen ist, was seinem generellen Vorhaben, formuliert in den Briefen an den Prinzen Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, entspricht.
Außerdem erwartet er von seinen Lesern ein moralisches Urteil über den letzten Endes zum Tod verurteilten Christian Wolf, im Sinne eines Richterspruchs. Dafür appelliert er an das Gewissen der Rezipienten, welches durch die „nüchtern präsentierten empirischen Fakten“ (Lurske-Jaqui, 2011, S. 309) und die Darstellung der Entwicklungsgeschichte der Hauptperson ausgebildet werden soll. Dadurch wird der Leser zum kalten Beobachter, der das Geschehen aus der Entfernung verfolgt und unvoreingenommen eigene Schlussfolgerungen zieht.
Dies entspricht der zweiten, von Schiller formulierten Aufgabe der Ästhetik: Den Menschen zur moralischen Urteilsfähigkeit ausbilden, damit er selbst in der Lage ist, vernünftig und moralisch angemessen zu handeln.
Damit korreliert eine weitere Aufgabe der ästhetischen Erziehung Schillers: Das Empfindungsvermögen des Individuums ausbilden, durch welches der Mensch eigenständig und frei handeln kann. Der Rezipient soll somit durch Schillers Werk darin geschult werden, moralisch vertretbare von ethisch unakzeptablen Entscheidungen abgrenzen zu können und somit die Grundvoraussetzungen für eigene moralische Handlungen erlangen. Deshalb soll er das Verhalten von Christian Wolf sowie dessen Mitmenschen infrage stellen, ohne dass eine Identifikation und mit der Hauptperson einhergehen. Denn diese würde den objektiven Blick auf das Geschehen, welchen Schiller vom Leser fordert, um am Ende ein unabhängiges Urteil über den Ausgang der Geschichte zu bilden, trüben.
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