Zur Geschichte der Schrift


Plan d'enseignement, 2003

37 Pages


Extrait


Einleitung

Lagen die Wurzeln in Alteuropa?

Abbildung 1

Einige Schriftzeichen der Vincˇa-Kultur (ca. 5300 3500 vdZ)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2

Einige Schriftzeichen der kretischen Linear A-Schrift

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wichtigstes Werkzeug der Schrift- darstellung ist heute der Computer. Um Tastatur und mouse eines benutzer- freundlichen Systems bedienen zu kn- nen, bedarf es nur einer kurzen Unterwei- sung. Eine Flle von Schriften steht zur Verfgung, und es macht wenig M he, die Buchstabenformen zu stauchen oder zu dehnen, sie ineinander zu schieben oder sie mit Effekten zu versehen. Kin- derleicht ist es geworden, Schrift anzu- wenden. Was einst nur hochqualifizierten Fachleuten vorbehalten war, praktizieren heute auch Laien. Laien verfgen ber Schrift, ohne zu wissen, da sie es mit einem der kostbarsten Kulturgter der Menschheit zu tun haben. So sehen wir uns einer Flut von Druckerzeugnissen und anderen Schriftanwendungen gegenber, deren sthetische Unkultur offensichtlich ist. Dieser Niveauverlust hat eine bemer- kenswerte Parallele in der 2. Hlfte des

19. Jahrhunderts, als neue technische Mglichkeiten sthetisches Reglement sprengten und eine Flle schwchlichen und charakterlosen Wildwuchses hervor- brachten.

Hildegard Korger:

Schrift und Schreiben

im Unterricht. Leipzig, 1999

Seit dem 1. August 1998 gibt es den ber 500 Jahre alten Beruf des Schrift- setzers offiziell nicht mehr. Angesichts der technologischen Entwicklung er- schien es dem Zentralen Fachausschu, der vom Bundesverband Druck und der Industrie-Gewerkschaft Medien getragen wird, sinnvoll, diesen Berufszweig in dem neuen Berufsbild Mediengestalter aufgehen zu lassen. Verschiedene Un- klarheiten haften diesem bis heute an, so z.B. die Frage nach der Dauer der Ausbildung oder die fehlende Klarheit der Lerninhalte; doch dies soll nicht Thema dieser Einfhrung sein. Hier geht es vielmehr um den Einsatz von Schrift. Tausende von Fonts sind heute auf eine einzige CD-ROM gebrannt, von Unzial- schriften, gotischen Schriften, Schreib- schriften der Renaissance bis hin zu den Experimentalschriften der Gegenwart ist so ziemlich alles vertreten, und was dem Gestalter am Bildschirm zur Verfgung steht, wird dann auch hemmungslos an- gewandt. Da werden hufig abenteuer- liche Schriftmischungen vorgenommen, Headlines aus der Fraktur im Versalsatz produziert und die Frage, ob die ausge- whlte Schrift eigentlich zum Inhalt des Textes pat, scheint ein Relikt aus der Vergangenheit zu sein.

Woraus resultiert diese offensichtli- che Unkenntnis? Doch wohl auch aus dem Nichtwissen um den Ursprung und die Herkunft jener Schrift, die uns tag- tglich umgibt und mit der wir allzu hufig respektlos umgehen.

Haben unsere Professoren, Ausbilder und Berufsschullehrer in den zurcklie- genden Jahren zuviel Technik und zu wenig Theorie vermittelt, oder sind die Defizite bereits den allgemeinbildenden Schulen anzulasten? Wie auch immer: Schrift bleibt auch im Zeitalter des Internet und des Database publishing unser wichtigster Informationstrger, sie bleibt, wie Hildegard Korger sehr richtig bemerkt, eines der kostbarsten Kulturgter der Menschheit. Grund ge- nug also, sich mit den Wurzeln unserer Lateinischen Schrift zu befassen.

Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft gestalten. Also, auf in die Vergangenheit, genauer gesagt, in das 6. Jahrtausend vor der Zeitwende.

Noch vor wenigen Jahren galt es als unbestritten, da das lteste Schriftsy- stem der Welt vor etwa 5000 Jahren von den Sumerern im Zweistromland (Meso- potamien) entwickelt wurde und sich dann von dort in die anderen Hochkultu- ren des Altertums verbreitete. So haben es Generationen von Gutenberg-Jngern in der Schule gelernt, so kann man es auch in den Lexika nachlesen. In den letz- ten Jahren hat diese These der Mono- genese 1 der Schrift allerdings erhebliche Kratzer bekommen. Seit den Verffentli- chungen der litauischen Archologin M. Gimbutas in den siebziger und achtziger Jahren wissen wir von einer noch lte- ren, vor-indogermanischen europischen Schrift. Die sogenannte Vincˇa-Kultur2 be- siedelte bereits im 6. Jahrtausend vdZ den Balkanraum zwischen Adria und Karpa- ten, zwischen dem heutigen Ungarn und dem nrdlichen Griechenland. Die hier bei Ausgrabungen gefundenen Zeugnisse ei- ner frhen europischen Sakralschrift ha- ben Wissenschaftler zu der Annahme ge- bracht, da aus ihr die kretische Linear A-Schrift entstanden ist. Harald Haar- mann hat in seinem empfehlenswerten Werk Universalgeschichte der Schrift auf die Wahrscheinlichkeit einer frhen Wan- derung der Vincˇa-Kultur in den gischen Raum hingewiesen. Fldes-Papp hatte be- reits 1966 in seinem Werk V om F elsbild zum Alphabet auf die, wie er es nannte, Kretisch e Hypoth ese bei der Entwicklung des Konsonantenalphabets hingewiesen, freilich ohne Kenntnis der erst spter ge- machten Entdeckungen der Archologen.

Die Hypothese der alteuropischen Wurzeln unserer Schrift ist unter den Wis- senschaftlern nicht unumstritten. Darf sie deshalb unerwhnt bleiben? Wohl kaum. Wer sich bisher im Besitz der allgemein- gltigen Antworten auf die vielfltigen Fragen der Schriftgeschichte whnte, dem drften angesichts der modernen For- schungsergebnisse doch erhebliche Zwei- fel kommen. Festzuhalten bleibt eine wichtige Tatsache: Immerhin zwei Jahr- tausende liegen zwischen den ltesten Zeugnissen der Alteuropischen Schrift und den ersten Aufzeichnungen der Su- merer in Mesopotamien.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

gyptischen Hieroglyphen gilt heute als sehr wahrscheinlich. Mit ziemlicher Si- cherheit hat man damals auch schon mit Matrizen die Schriftzeichen in den wei- chen Ton eingedrckt, der anschlieend an der Sonne getrocknet wurde.

Abbildung 3

Der Diskus von Phaistos (17. Jahrhundert vdZ)

Bereits die alten Griechen und Rmer stritten ber den Ursprung des Alphabets. Der Geograph Strabo nannte das iberische Volk der Turdetanier; diese htten eine ber 6000 Jahre alte Schrift besessen. Heute drfen wir annehmen, da diese iberische Schrift nichts anderes als ein Auslufer des phnikischen Konsonanten- alphabets war. Platon dagegen hielt die gypter fr die Schpfer des Alphabets. Der Rmer Plinius der Jngere nannte die Assyrer, whrend der Historiker Tacitus der gyptischen Hypothese den Vorzug gab. Der Grieche Diodor schrieb, nicht die Phniker htten das Alphabet erfunden, sondern sie htten lediglich eine aus Kreta stammende Schrift bernommen und ver- ndert. Sicher ist, da bei den bereits im Altertum lebhaften Handelsbeziehungen im Mittelmeerraum, ein Schriftsystem nicht isoliert bleiben konnte. Gerade den seefahrenden Phnikern ist die kretische Linearschrift sicherlich nicht unbekannt geblieben. Insofern darf man Kreta wohl die Funktion einer Drehscheibe bei der Verbreitung der Schrift zuschreiben.

Kreta und Zypern

Das lteste auf Kreta nachzuweisen- de Schriftsystem, eine Bilderschrift, wird auf etwa 2000 vdZ datiert. Sie ist auf wenigen Tonstreifen und Siegeln erhal- ten geblieben. Ihre Herkunft aus den

Italenischen Archologen gelang 1908 im minoischen Palast von Phaistos (Sd- Kreta) ein herausragender Fund eine flache, runde Tonscheibe mit ca. 16 cm Durchmesser, beidseitig mit Bildzeichen bedeckt, wurde der Vergangenheit entris- sen. Dieser sog. Diskus von Phaistos ent- stand im 17. Jahrhundert vdZ. Lange Zeit hielten die Wissenschaftler ihn fr einen Import aus Kleinasien oder aus Nordafri- ka. Nach einem weiteren Fund auf Kreta, der hnliche Schriftzeichen enthlt, gilt seine kretische Identitt inzwischen als gesichert. Auch gehen die Wissenschaft- ler nunmehr davon aus, da es sich bei den Schriftzeichen um eine linkslufig ge- schriebene Silbenschrift handelt, ledig- lich ihr bildhafter Charakter erinnert noch an die kretischen Hieroglyphen. Diese Zeichen wren dann die direkte Vorstufe zu den linearen Schriften, deren Frhform man freilich bereits parallel zu den Hie- roglyphen verwendete.

Sir Arthur Evans, dem Ausgrber des Palastes von Knossos, verdanken wir die Funde der kretischen Linear A- und Line- ar B-Schrift. Linear A entwickelte sich hchstwahrscheinlich aus der Hierogly- phenschrift und wurde fr die minoische Sprache verwendet. Linear A ist bis heu- te nicht entziffert. Wir wissen auch nicht, was etwa im 15. Jahrhundert vdZ zum Un- tergang der minoischen Kultur gefhrt hat; die Wissenschaftler halten eine gro- e Naturkatastrophe ebenso fr mglich wie eine Invasion vom griechischen Fest- land.

Auf Zypern war whrend der Bronze- zeit, im 2. Jahrtausend vdZ, eine Schrift in Gebrauch, die mit der minoischen Li- near A offensichtlich verwandt ist. Sie wird als Kyprisch-Minoisch e oder alt- kyprisch e Schrift bezeichnet. Die gefun- denen Tontafeln wurden im Gegensatz zu den kretischen Funden gebrannt und nicht in der Sonne getrocknet. Die alt- kyprische Schrift ist bis heute unent- ziffert. Ab dem 1. Jahrtausend vdZ wur- de auf Zypern fr die griechische Spra- che die sog. klassisch e zyprisch e Schrift verwendet, die bei der Entzifferung der Linear B durch den Briten Michael Ventris (19221956) eine Schlsselrolle spielen sollte.

Als Sir Arthur Evans 1941 starb, hat- te er mit der Entzifferung der kretischen

Linear B kaum Fortschritte gemacht und war bis zuletzt davon berzeugt, da die minoische Sprache unmglich ein frhes Griechisch sein konnte.

Dem Architekten Michael Ventris, der bereits als 15 jhriger Evans kennenge- lernt hatte, gelang 1953, untersttzt von John Chadwick, der Nachweis, da die Linear B-Tafeln in einem archaischen Grie- chisch beschriftet wurden. Linear B-Fun- de gab es nicht nur auf Kreta, sondern auch auf dem griechischen Festland (Pylos 1939, Mykene 1950, Theben 1964 und Tiryns 1966). Die Minoer und Mykener ha- ben also bereits Jahrhunderte vor Homer griechisch gesprochen. Andrew Robinson schreibt in seinem Werk Die Geschichte der Schrift: Dies ist nicht das Griechisch Homers, geschweige denn das klassische Griechisch des Euripides so wie das moderne Deutsch nicht das Deutsch Grim- melshausens ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4

Tontafel mit Linear B,1940 von Arthur Evans verffentlicht

Das phnikische Konsonantenalphabet

Die Phniker (oder Phnizier) waren wohl die grten Hndler und Entdecker der Antike. Sie bereisten und erforschten den gesamten Mittelmeerraum und grn- deten Kolonien. Ihr Vorsto bis zu den Kanarischen Inseln gilt heute als wahr- scheinlich, manche Wissenschaftler hal- ten sogar eine Umsegelung Afrikas fr mglich. Die Phniker haben der Nach- welt ein Konsonantenalphabet mit 22 Buchstaben hinterlassen, von dem wir heute wissen, da sich aus ihm die frh- griechische Schrift entwickelt hat. Die phnikische Schrift gehrt zum nord- semitischen Schriftenkreis, dem auer- dem die kanaanische und die aram- ische Schrift zuzurechnen sind. ber die Herkunft des phnikischen Konsonan- tenalphabets wissen wir wenig, kretische Einflsse knnen ebenso wenig ausge- schlossen werden, wie gyptische oder sinaitische3. Vielleicht kam Diodor tat- schlich der Wahrheit sehr nahe, als er schrieb, die Phniker htten lediglich eine aus Kreta stammende Schrift bernom- men und verndert.

Als ltestes Zeugnis der phnikischen Schrift gilt das sog. Abdo-Fragment, ver- mutlich aus dem 17. oder 16. Jahrhun- dert vdZ. (Abbildung 5). Eine eingeritzte Inschrift am Tempel zu Abu Simbel zeigt uns die frhe bergangsform zur mittel- phnikischen Schrift, die etwa ab dem 7. Jahrhundert verwendet wurde (Abbildung 6). Die Karthargische (punische) Schrift ist eine weitere Entwicklungsstufe, bei der die Worte bereits durch Zwischenrume getrennt wurden (Abbildung 7).

Die Karthagische (punische) Form wurde ab etwa 300 vdZ bis zur Zerst- rung Karthagos durch die Rmer im Jah- re 146 vdZ verwendet. Die neu-punische Schrift hielt sich bis in das dritte Jahr- hundert.

Albert Kapr bemerkte, da die ent- scheidenden Schritte in der Entwicklungs- geschichte der Schrift immer dann getan wurden, wenn ein Volk das schriftliche Ausdrucksmittel eines anderen Volkes bernahm4. Genau dies taten nun die al- ten Griechen mit dem phnikischen Kon- sonantenalphabet.

Abbildung 5 Altphnikische Schrift

(Ausschnitt aus dem Abdo-Fragment)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6 Mittelphnikische Schrift

(Inschrift am Abu-Simbel-Tempel)

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Abbildung 7

Karthagische (punische) Schrift (Inschrift aus Gozo/Malta)

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Abbildung 8 Neupunische Schrift

(Inschrift aus dem algerischen Gelma)

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Abbildung 9

Felsinschrift in archaischem Griechisch (7. Jahrhundert vdZ)

Griechenland Die berragenden kulturellen Leistun- gen der Griechen fr die Zivilisation kn- nen gar nicht genug betont werden. Auf den Gebieten der Philosophie, der Medi- zin, der Architektur und der Kunst ha- ben sie Werte fr die Ewigkeit hinterlas- sen. Ihnen verdanken wir u. a. die demo- kratische Staatsform. Athen stieg zur fh- renden Handelsnation des Mittelmeerrau- mes auf und bernahm die Schlsselrolle bei der Weiterentwicklung der Schrift.

Die griechische Geschichte von etwa 1200 700 vdZ wird von den Historikern allgemein als dunkle Periode bezeichnet, was aber lediglich besagt, da wir fast keine Kenntnisse ber die Ereignisse die- ses Zeitraums besitzen. Etwas Licht in das Dunkel werfen immerhin die Dichtungen Homers. Aber gerade in dieser Periode ent- standen die ersten frhgriechischen Al- phabete, die aus der phnikischen Schrift entlehnt waren und der griechischen Sprache angepat wurden. Kretische bzw. zyprische Einflsse drften hierbei eben- falls eine Rolle gespielt haben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

ber mehrere Jahrhunderte gab es verschieden Schreibweisen in den griechi- schen Regionen, wohl eine Folge des aus- gedehnten Siedlungsgebietes der Grie- chen. Die Wissenschaft unterscheidet drei Gruppen der frh-griechischen Schrift:

a) Die archaischen Alphabete der dorischen Inseln (Kreta, Thera, Milos)
b) Die stlichen Alphabete (Attika, Aegina, Kleinasien, Korinth etc.)
c) Die westlichen Alphabete(Thessalien, Lakonien, Botien, Arkadien,

Euba etc.)

In erstere Gruppe gehrt die vier- zeilige Felsinschrift aus Thera, die etwa im 7. Jahrhundert vdZ entstanden ist. Der Text besteht aus fnf Namen und ist furchenwendig (bustrophedon) geschrie- ben, d. h. erste und vierte Zeile sind links- lufig, zweite und dritte Zeile rechtslu- fig zu lesen (Abbildung 9).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 11 Inschrift des Damonon (5. Jahrhundert vdZ)

Eines der ltesten uns erhalten ge- bliebenen griechischen Schriftdenkmler ist die sog. Dipylonkanne aus dem Athen des 8. Jahrhunderts vdZ, deren Inschrift in die zweite Gruppe einzuordnen ist. Die linkslufige Beschriftung lautet in deut- scher bersetzung: W er nun von den Tn- zern am anmutigsten tanzt, der soll dies erhalten. Offensichtlich war die Dipy- lonkanne als Siegespreis gedacht (Abbil- dung 10).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 11 zeigt ein Beispiel aus der dritten Gruppe es handelt sich um eine rechtslufige Inschrift aus dem 5. Jahrhundert vdZ nach dem westlichen (lakonischen) Alphabet.

Abbildung 10

Inschrift der Dipylonkanne (8. Jahrhundert vdZ)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 12 Griechische Capitalis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Dorische Inschrift aus Kreta)

Abbildung 13

Griechische Capitalis mit Serifen (Unzialcharakter)

Seit etwa 500 vdZ hat sich die rechts- lufige Schreibrichtung in ganz Griechen- land durchgesetzt, die unterschiedlichen regionalen Alphabete wichen aber erst rund hundert Jahre spter dem klassi- schen griechischen Alphabet.

Dieses war eine Linearkomposition auf fast quadratischer Grundflche. Durch die geometrischen Grundformen Strich, Kreis, Dreieck und Rechteck lassen sich die ver- schieden Buchstaben sehr gut voneinan- der unterscheiden. Die Griechische Ca- pitalis ist eine Monumentalschrift, deren strenger Schnurcharakter sofort ins Auge fllt (Abbildung 12). Erst spter, parallel zur rmischen Capitalis monumentalis, entwickelte sie Serifen; ein sehr schnes Beispiel liefert uns der in einer Klner Kirche gefundene Grabstein aus dem 1. Jahrhundert (Abbildung 13).

Der Verwendung von Papyrus oder Per- gament als Schrifttrger schulden wir die Entwicklung der Griechischen Majuskel. Sie wurde mit der Rohrfeder, aber auch mit dem Pinsel geschrieben, wirkt da- durch flssiger und durch den Verzicht auf den strengen geometrischen Aufbau auch sehr viel lebendiger als die in Stein gehauenen Schriftzeichen der Capitalis.

Im 3. Jahrhundert vdZ entwickelte sich aus der Majuskel die Griechische Unziale, eine mit der Rohrfeder geschrie- bene Grobuchstabenschrift, parallel hier- zu taucht die griechische Kursive auf, eine flchtig mit dem Metallgriffel in Wachs geritzte Gebrauchsschrift. Sie ist der Vorlufer der Griechischen Minuskel, einer Kleinbuchstabenschrift mit meist stark betonten Ober- und Unterlngen. Diese griechische Minuskel (Abbildung 14) kommt den heute verwendeten griechi- schen Kleinbuchstaben bereits sehr nahe.

Fr fnf Schriftgruppen ist die grie- chische Schrift als Ursprung anzusehen:

1. fr die kleinasiatische Gruppe der phrygischen, der lykischen, der lydischen und der karischen Schrift. Die genannten Schriften stehen dem griechischen Vorbild so nahe, da sie als direkte Ableger bezeichnet werden knnen.
2. fr die slawischen Schriften (glagolitische und kyrillische Schrift).
3. fr die koptische Schrift.
4. fr die armenische und georgische Schrift.
5. fr die italische Gruppe (etruskische Schrift und deren Ableger sowie die lateinische Schrift).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 14

Griechische Minuskel aus dem Jahre 916

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Abbildung 15

Etruskische Lapidarschrift (5. Jahrhundert vdZ)

Die Schrift der Etrusker

Zu Beginn des 1. Jahrtausends vdZ waren die Etrusker, von den Griechen Tyrrhenoi genannt, die Herrscher im nrd- lichen Italien. Schenkt man dem griechi- schen Historiker Herodot Glauben, dann stammen sie ursprnglich aus dem klein- asiatischen Lydien. Die etruskische Spra- che gibt den Wissenschaftlern noch heu- te groe Rtsel auf, whrend die griechi- sche Abstammung ihrer Schrift offensicht- lich ist (Abbildung 15).

Selbst der Fund zweisprachiger Gold- tfelchen (phnikisch-etruskisch) in Pyr- gi, westlich von Rom, vermochte das Rt- sel der etruskischen Sprache nicht zu l- sen. Die Wissenschaftler verdanken die- ser Entdeckung lediglich die Bedeutung des etruskischen Wortes ci (fr drei)!

Halten wir fest: Die Etrusker bernah- men das griechische Alphabet in vern- derter Form, ber die Etrusker schlie- lich gelangte es zu den altitalienischen Volksgruppen und entwickelte sich dann zum lateinischen Alphabet.

Nach der Unterwerfung der Etrusker durch die Rmer erlosch etwa zum Be- ginn unserer Zeitrechnung sowohl die etruskische Schrift, wie auch die Sprache. Das etruskische Alphabet wurde von ei- nigen altitalienischen Volksgruppen ber- nommen. Das umbrische und oskische Al- phabet entstanden im 5. oder 6. Jahrhun- dert vdZ.

Alpine Schriften

Die interessantesten Varianten des etruskischen Alphabets entstanden aller- dings im letzten Jahrhundert vdZ im Alpenraum; wir bezeichnen sie heute als alpin e Schriften. Die Forschung billigte ih- nen lange Zeit nur die Rolle als ein toter Zweig der Schriftgeschichte zu. Diese These gilt heute als falsch, es darf sogar angenommen werden, da die alpinen Schriften bei der Entstehung der Germa- nischen Runen eine Schlsselrolle gespielt haben (Abbildungen 16 und 17) auch hierber streiten allerdings die Gelehrten.

Die alpinen Schriften werden in drei Hauptgruppen gegliedert: die rtische Schrift aus dem Raum Bozen/Trient, die lepontische und venetische Schrift. Die rtische Sprache war wahrscheinlich eine Variante der etruskischen, allerdings mit keltischem Einschlag. Noch heute wird in einigen Tlern der Sdtiroler Dolomiten das Ladinisch, eine rtoromanische Spra- che gesprochen; in der Schweiz ist das

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Rtoromanisch als vierte Amtssprache anerkannt. Die cisalpinen Gallier verwen- deten die lepontische Schrift (interessant in diesem Zusammenhang: die transalpi- nen Gallier bernahmen das griechische Alphabet in unvernderter Form). Die Sprache der Veneter schlielich war eng dem Illyrischen verwandt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Runen

Abbildung 16

Einige alpine (rtische) Schriftzeichen aus dem Raum Bozen

Da im Absatz ber die Alpinen Schrif- ten die Runen erwhnt wurden, wollen wir kurz auf sie zu sprechen kommen und folgen dabei weiterhin der These, da die Alpinen Schriften ihre Entstehung ma- geblich beeinflut haben. Runenfunde wurden hauptschlich in Sdskandina- vien, Jtland, auf den Britischen Inseln und in Deutschland gemacht. Aber auch in Italien, Rumnien, Ruland, Ungarn, Griechenland und sogar auf Grnland wur- de man fndig. Die lteste bekannte Ru- nenalphabet stammt wohl aus dem 2. Jahrhundert und wird nach seinen ersten sechs Buchstaben Futhark genannt (th = ein Zeichen).

Im angelschsischen England wurden Runen und lateinische Schrift hufig ne- beneinander benutzt. Bekanntestes Bei- spiel ist ein Ring aus Lancashire (ca. 9. Jahrhundert). Sptestens nach der nor- mannischen Eroberung Englands im 11. Jahrhundert setzte sich dann in England die lateinische Schrift durch, die Runen verschwanden. Die Verwendung der Ru- nen kam im heutigen Deutschland bereits um etwa 700 auer Gebrauch, lediglich in Skandinavien wurden sie auch noch nach dem 11. Jahrhundert genutzt.

Abbildung 17

Einige alt- oder gemeingermanische Runenzeichen

Die Westgotische Schrift

Ebenfalls kurz erwhnt werden soll hier das Westgotische Alphabet. Die West- goten waren die ersten Germanen, die die christliche Religion annahmen. Ihrem Bischof Ulfilas wird die bersetzung der Bibel (oder zumindest von Teilen der Bi- bel) in die westgotische Sprache zuge- schrieben. Zu diesem Zweck entwickelte er eine neue Schrift. Dieses Alphabet ist dem griechischen entlehnt, enthlt aber auch Zeichen aus dem lateinischen und dem Runen-Alphabet (Abbildung 18). Die Westgotische Schrift ist nicht mit der sp- teren sog. gotischen Schrift zu verwech- seln und hat interessanterweise keinerlei Bedeutung fr die weitere Schriftent- wicklung gehabt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 18

Westgotische Schrift aus dem Codex argentus (um 500)

[...]


1 monogen = aus einer einmaligen Ursache entstanden

2 Die Vincˇa-Kultur hat ihren Namen nach dem serbischen Dorf Vincˇa bei Belgrad, Fundort einer groen, mehrschichtigen Siedlung.

3 Vergleiche hierzu Kapr, Albert: Schriftkunst. Anatomie und Schnheit der lateinischen Buchstaben. Verlag Saur. Mnchen, NewYork, London, Paris 1983

4 Kapr, Albert

Fin de l'extrait de 37 pages

Résumé des informations

Titre
Zur Geschichte der Schrift
Université
Braunschweig Academy of fine arts  (Werkstatt Satztechnik)
Cours
Werkstattkurs
Auteur
Année
2003
Pages
37
N° de catalogue
V11529
ISBN (ebook)
9783638176644
Taille d'un fichier
2897 KB
Langue
allemand
Annotations
Der Autor ist Dozent an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. 2,7 MB
Mots clés
Lateinische Schrift
Citation du texte
Bernhard Schnelle (Auteur), 2003, Zur Geschichte der Schrift, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11529

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