Das Fotogramm als Medium der Abstraktion in der Klassischen Moderne


Thèse de Master, 2021

99 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Forschungsfrage
1.2. Forschungsstand
1.3. Mediale Klärung

2. Wege zum Fotogramm
2.1. Kontaktkopie
2.2. cliché verre
2.3. Luminogramm
2.4. Röntgenbilder
2.5. Manipulationen direkt am Bildträger
2.6. Chemigramm
2.7. Digitales Fotogramm
2.8. Zusammenfassung der Fertigungsvarianten
2.9. Historische Wurzeln und Anwendung

3. Wege zur Abstraktion
3.1. Romantik
3.2. Japonismus
3.3. Der fotografische Diskurs im 19. Jahrhundert
3.4. Futurismus
3.5. Alvin Langdon Coburn

4. Fotogrammatische Positionen
4.1. Das Fotogramm im Dadaismus
4.2. Das Fotogramm im Surrealismus
4.3. Die Abstraktion im Dadaismus und Surrealismus
4.4. László Moholy-Nagy

5. Abschluss
5.1. Resümee
5.2. Ausblick

6. Quellenverzeichnis
6.1. Bildnachweis
6.2. Literatur

1. Einleitung

1.1. Forschungsfrage

Das Fotogramm ist ein sonderbares Verfahren zum Erzeugen von Bildern. Es ist trivial, festzustellen, dass seine Geschichte untrennbar mit der der Fotografie verknüpft ist. Weitaus weniger trivial ist die Frage, ob sie ein Teil der Fotografie selbst ist. Viele der älteren Fotografiehistoriker wie Beaumont Newhall verneinen dies; von anderen Autoren wird es auf eine Vorform reduziert, ohne auf seine zeitgenössische Bedeutung einzugehen. Siegfried Kracauer bezeichnete es als eine besondere Spielart der grafischen Künste, nicht aber als Fotografie im strengen Sinne. Es liege im Niemandsland zwischen Reproduktion und freier Komposition. 1 In einem von Peter Weibel und Tim Otto Roth organisierten Symposion wird es als „medialer outlaw“ vorgestellt.2 Floris Neusüss spricht von „Tarnbezeichnungen“, hinter denen sich das Fotogramm seit dem 19. Jahrhundert verberge.3 Faktum ist, dass es sich immer noch der eindeutigen Klassifikation entzieht. Das Problem, wie das Fotogramm rubriziert werden soll, wird hier nicht zu lösen sein; wir lassen es offen. Seine eigentümliche Phänomenologie und sein Gebrauch in der bildenden Kunst erheben es jedenfalls über den Status einer unbedeutenden technischen Variante und legitimieren es als eigenständiges Medium. Im 19. Jahrhundert diente es vornehmlich der wissenschaftlichen Dokumentation, obwohl es auch damals bereits fallweise künstlerisch eingesetzt wurde. Mit der vorletzten Jahrhundertwende begann die erste Latenzzeit, es geriet für mehr als 20 Jahre fast in Vergessenheit; nur im Repertoire einiger Amateurfotografen es blieb für skurrile Effekte erhalten. Um 1920 begann sein fulminantes Comeback in neuer Gestalt; es wurde gleich von mehreren Künstlern unabhängig voneinander wiederentdeckt und spielte bis nach dem zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle im Diskurs über das Neue Sehen. Mit dem Tod von László Moholy-Nagy im Jahr 1946 begann die zweite Latenzzeit. Auch hier tritt kein vollkommenes Vergessen ein, aber seine Anwendung geht bis Ende der 1970er fast auf null zurück. Dann ereignet sich die zweite Renaissance. Heute gibt es einen breiten Strom an differenzierten Positionen bis hin zum digitalen Fotogramm. Seit dem Jahr 1990 haben es hervorragende Ausstellungen in Kunstinstitutionen wie dem Centre Georges Pompidou wieder in das Scheinwerferlicht gerückt. Eine Recherche in den Ausgaben der Zeitschrift Kunstforum von Band 111 bis Band 270 zeigt 181 Einträge, die meisten davon Ausstellungsrezensionen. Peter Weibel sieht „das Schicksal der Fotografie im Digitalen Zeitalter als Postkameraphotographie nicht zuletzt vorweggenommen durch das Photogramm.“4

Die hier vorliegende Arbeit widmet sich dem Verhältnis von Fotogramm und Abstraktion in der sogenannten Klassischen Moderne, also dem Zeitraum vom Untergang der Belle Époque bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Abstraktion in der Bildenden Kunst und im Besonderen in der Fotografie erlebt ihren endgültigen Aufschwung wenige Jahre vor dem Fotogramm. Es liegt die Vermutung nahe, für Abstraktionen sei die Technik des Fotogramms besonders geeignet, trotz seiner Verwendung für akribisch realistische Naturkopien im 19. Jahrhundert. Die Forschungsfrage lautet, wie sich die Beziehung zu den Strömungen der Klassischen Moderne und ihren Ansprüchen an Abstraktion gestaltete. Dazu werden in der ersten Hälfte der Arbeit in getrennten Abschnitten die Wege zum Fotogramm und die Wege zur Abstraktion ausgeleuchtet. In bestimmten Konstellationen kommt es dann zu einer Verbindung dieser Historien. Die zweite Hälfte ist künstlerischen Positionen und dem Resümee gewidmet. Dort wird zu zeigen sein, wie die Verwendung des Fotogramms programmatisch begründet wurde und wie es in praktischen Bildbeispielen realisiert wurde. Was die vorliegende Studie nicht leisten kann, ist ein flächendeckender Überblick; dazu ist das Feld zu ausgedehnt. Vielmehr wird versucht, die wirkmächtigen Linien herauszuarbeiten und die Disposition des Fotogramms als Agens der Abstraktion zu analysieren.

Eine Nebenhypothese, die sich auftut, fußt auf der auffälligen Ähnlichkeit des historischen Umfeldes beider Neuauflagen des Fotogramms. Die erste ereignete sich zu einem Zeitpunkt, als nach der Erfindung der Kleinbildkamera mit Rollfilm auf Zelluloid in den 1910er die Fotografie schnell zu einem Massenmedium wurde. George Eastman warb mit dem Werbespruch: „You Press the Button, We Do the Rest“. Fotogeschäfte schossen aus dem Boden, der Kunde konnte die volle Kamera dorthin bringen, einige Tage später erhielt er die fertigen Bilder und den neu befüllten Apparat zurück. In Europa griff Voigtländer den Ball auf und erzeugte technisch ausgereifte Produkte zu erschwinglichen Preisen für den Verbraucher. 1921 wurde in Braunschweig Rollei gegründet; ebenfalls 1921 kommt Eastman-Kodak nach Deutschland. Es ist bemerkenswert, dass genau in jener Epoche, als die Kameratechnik große Fortschritt machte und die Möglichkeit des fotografischen Ausdrucks erstaunlich erweitert wurde, Künstler auf eine Technologie aus dem vergangenen Jahrhundert zurückgriffen. Warum wird plötzlich die elaborierte Verschluss- und Linsentechnik verworfen zugunsten eines archaischen und mühseligen Verfahrens? Die Fotogrammtechnik wäre auch vorher zur Nutzung bereit gelegen, warum wird sie gerade zu diesem Zeitpunkt interessant? Das Ende der zweiten Latenzzeit fällt mit der Einführung des Computers als bildgenerierendes Medium zusammen. Bereits Ende 1970er werden die ersten Exemplare einer konkreten Fotografie digital erstellt, wenig später kommen die ersten Digitalkameras und der Vorläufer von Photoshop auf den Markt.

Die naheliegende Frage lautet, wenn wir einer Idee Adornos folgen, ob die Inflation technischer Möglichkeiten und die damit einhergehende Vereinnahmung durch eine Kulturindustrie, die beiden Epochen auf ihre Art bestimmte, nicht ein ähnliches Begehren nach Reduktion und Abstraktion zur Folge hatte, wie sie im Fotogramm zu finden sei? Es handelt sich dabei, wie gesagt, um eine Nebenhypothese, deren Beantwortung über den gestellten Zeitraum hinausreicht. Aber vielleicht ergibt sich aus dem Material auch darauf eine Antwort.

1.2. Forschungsstand

Wenn die Forschung auf historische Dokumente angewiesen ist, geht ihr die Rezeption zeitlich voraus. Dies ist im vorliegenden Fall von besonderer Bedeutung, denn die Geschichte der Fotografie ist auch die ihrer Anerkennung als Kunstform. Innerhalb des Faches nimmt das Fotogramm dabei eine extreme Position an der Peripherie ein. Bis in die 1980er, so erzählte Johannes Faber, der eine der ersten Galerien für Fotografie in Österreich eröffnete, einmal bei einer Vernissage, konnte man in den USA Originalprints von Ansel Adams für wenige Dollar am Flohmarkt erstehen. Dabei war die Lage dort besser als hier, weil es durch eine durchgehende Tradition von Fotoausstellungen im Museum of Modern Art eine gewisse Kultur der Wertschätzung gab, die in Europa erst in viele Jahre später Fuß fassen sollte.

Peter Weibel berichtet im Kunstforum 209 davon, dass seiner Recherche nach nur 10% der Kunstwerke aus der Vergangenheit aufbewahrt werden.5 Was ist mit dem Rest, den 90%, die draußen bleiben? Folgen wir der Rezeptionsästhetik eines Wolfgang Iser, so wird ein Kunstwerk erst durch seine Wahrnehmung real. Man könnte auch sagen, was nicht aufgehoben wurde (im Kontext des Kunst: gesammelt wurde), hat, phänomenologisch gesehen, als Kunstwerk nie existiert. Beim Nachdenken über das Thema fiel mir auch auf, dass im Lateinischen sammeln und lesen gleichermaßen lego heißen. Man sieht das im Deutschen auch an Begriffen wie aus-lesen und erlesen. Aschenputtel bittet die Tauben, beim mühsamen Verlesen der Linsen zu helfen: „die schlechten ins Kröpfchen, die guten ins Töpfchen“. Wenn wir sammeln semiotisch als lesen von Zeichen begreifen, so wird es zu einer Generierung von Bewusstseinswirklichkeit: Der Lector liest als Collector der Welt die Vergangenheit vor. Auch Marcel Duchamp äußert sich in einem Interview mit der BBC 1959 in diese Richtung, wenn er meint:

„Ich habe eine bestimmte Theorie – ich nenne es Theorie, obwohl ich unrecht haben kann-, daß ein Kunstwerk erst existiert, wenn der Betrachter es angeschaut hat. Bis dahin ist es nur etwas, das zwar gemacht wurde, das aber verschwinden könnte, und niemand wüsste davon. Aber der Betrachter weiht es, indem er sagt: ‚Das ist gut, wir behalten es‘, und in diesem Fall wird der Betrachter zur Nachwelt.“6

Der Forschungstand in Sachen Fotogramm ist also mehr als andernorts durch zeitgeistige Wahrnehmungsfilter determiniert, dies gilt es festzuhalten. Der Forscher ist der Kontingenz der Überlieferung noch mehr ausgeliefert als üblich. Ohne die Entscheidung eines Redakteurs von Vanity Fair, dem Fotogramm 1921 eine ganze Seite zu widmen oder die von Beaumont Newhall 1937, eine Ausstellung im Museum of Modern Art zu kuratieren, wäre die Geschichte anders verlaufen.

Wie so oft, spielt bei der Sichtbarkeit aber auch das Geschlecht eine zentrale Rolle: Im 19. Jahrhundert stand, nachdem es für die Wissenschaft seinen Nutzen verlor, das Fotogramm im Rufe eines Zeitvertreibs für höhere Töchter. Katharina Steidl spricht davon, dass über die zur Herstellung von Fotogrammen verwendeten Objekte eine abgesonderte „Kunst von Frauen“ entsteht und „ein geschlechtsspezifisch kodierter Wertekanon deutlich wird.“ der „die mediale wie historiografische Einordnung des Fotogramms maßgeblich bestimmte.“7

In vielen kanonbildenden Werken der Geschichte der Fotografie wird das Fotogramm als Sonderfall nur kurz gestreift. Auch in den am häufigsten zitierten Reflexionen des kunsttheoretischen mainstreams von Walter Benjamin, Roland Barthes über Rosalind Krauss bis Susan Sontag wurde auf das Fotogramm entweder völlig vergessen oder es nur in Fußnoten erwähnt. Die Vagheit der Zuordnung bedingt eine Lücke in der Forschung, die sich erst allmählich schließt. Wir müssen davon ausgehen, dass viele experimentelle Fotogramme von Künstlern nicht erhalten sind und dass wir von ihnen niemals Kenntnis erhalten werden. Die scharfe Ablehnung jeder Art von Fotografie, die sich als kreative Kunst gerierte und nicht ein klares (straightes), sachliches Abbild der Wirklichkeit lieferte, egal ob durch Kritiker oder durch Fotografen selbst, egal ob in den USA durch Edward Weston oder in Europa durch Albert Renger-Patzsch, entwertete die Produktion von Fotogrammen als Attitüde und drängte sie an den Rand. Die nachfolgende große Popularität der Fotoreportage mit Agenturen wie Magnum tat ein Übriges, so dass Geoffrey Batchen 2016 in den „Emanations: The Art of the Cameraless Photograph“, feststellen musste, dass eine Geschichte des Fotogramms immer noch fehlt. Batchen führt dies nicht zuletzt auf das bei einflussreichen Kuratoren wie John Szarkowski auch 1989 noch bestehendem Vorurteil zurück, dass eine Fotografie ohne Kamera undenkbar sei und Fotogramme den Stellenwert von Vorstudien hätten.8

Das Defizit wurde im Zusammenhang mit der neuen Attraktivität der Fotogramme in der Postmoderne, die zufällig mit dem Ende der großen Fotostrecken in den Bildmagazinen zusammenfiel, im vollen Ausmaß sichtbar und zeigt die Dringlichkeit einer Beforschung. Die lange Pause, die sich in den Jahreszahlen der wissenschaftlichen Publikationen gut widerspiegelt, wurde erstmals durch einen damals wenig beachteten (Erscheinungsort war Ostberlin), nachträglich aber wegweisenden Artikel von Roland März 1982 unterbrochen. Nach einer Zusammenfassung der Fotogeschichte inklusive der Erwähnung der bekannten historischen Fotogramm-Klassiker fordert März am Ende seines Beitrages:

„Je mehr wir uns der Gegenwart nähern, umso zufälliger müssen diese wenigen Beispiele des Fotogramms erscheinen. Sind sie überhaupt repräsentativ? – Eine Frage, die kaum schlüssig zu beantworten ist, solange die Geschichte und Theorie des Fotogramms noch nicht geschrieben sind und auch der Überblick über das zeitgenössische Fotogramm nahezu gänzlich fehlt.“9

In den Anmerkungen dokumentiert der Autor die (fehlenden) Historiographie des Fotogramms und inkludiert einen Verweis auf die Ankündigung einer Geschichte des Fotogramms durch einen gewissen Robert W. Coke (New Jersey) aus dem Jahr 1969, die aber nie erschienen ist.10

Das wissenschaftliche Fundament, auf dem die vorliegende Arbeit aufbaut, basiert demgemäß auf keiner durchgehenden Chronik der Dokumentation und Forschung. Die neue postmoderne Popularität des Fotogramms wurde durch eine Reihe von Ausstellungen ausgelöst, die selbst durch die Wiederentdeckung der Methode durch bestimmte Fotografen initiiert wurden. Es liegen deshalb seit den 2000-er Jahren eine Reihe von aufwändig gestalteten Katalogen mit Beiträgen von Kunsthistorikern vor, die nicht alle als wissenschaftliche Aufsätze gedacht sind, aber einen Ausgangspunkt für die Recherche darstellen, wie der von Martin Barnes.11 Unbedingt zu erwähnen ist hier, obwohl bereits 1995 verfasst, die Ausstellung „László Moholy-Nagy: Fotogramme 1922 -1943“ im Centre Georges Pompidou und nachfolgend im Museum Folkwang und die damit verbundene Publikation.

Ruth Horak fasste 2002 ein Symposium mit dem Titel: Rethinking photography I + II: Narration und neue Reduktion in der Fotografie mit zwei Ausstellungen im Forum Stadtpark, Graz und am ISCP in New York in einem Sammelband als Herausgeberin und Autorin zusammen. Peter Weibel leitete im April 2006 ein Symposium mit dem Titel: Das Photogramm. Licht, Spur und Schatten am ZKM in Karlsruhe. In Österreich wurden 2006 unabhängig voneinander zwei Fotogrammausstellungen in Salzburg und Wien konzipiert. Im Rupertinum unter dem Titel: „kamera los. das fotogramm“12 und im Rahmen des Monats der Fotografie in der Künstlerhausgalerie unter dem Titel: „Fotogramme>now.“13. Die beiden Veranstaltungen sind die ersten überhaupt, die sich in Österreich dem Thema widmen. Gabriele Hofer spricht in der Zeitschrift Eikon14 von einem Revival des Fotogramms. In den beiden umfangreichen Begleitkatalogen wird die gegenwärtige Position des Mediums reflektiert.

Umfangreichere Literatur zum Fotogramm ist im deutschen als auch im angelsächsischen Raum aber ansonsten immer noch rar; das meiste findet sich am Rande von Beiträgen zu anderen Themen und in älteren Sammelbänden. Zu erwähnen sind hier die Arbeiten von Herbert Molderings, Andreas Haus und die Werke, bei denen Gottfried Jäger als Autor oder als Herausgeber fungierte, fast alle aber noch im vorigen Jahrhundert publiziert. Der Mangel an weitergefasstem universitärerem Forschungsinteresse zeigt sich im Überblick deutlich. In allerletzter Zeit tauchen jedoch vermehrt Dissertationen auf. Einbezogen wurden hier die erwähnte Katharina Steidl und die Doktorarbeiten von Alexandra Käss, Tim Otto Roth, Jelena Stojković und Dominic Mario Klinger. Die Arbeiten von Roth und Stojković haben internationale Anerkennung gefunden. Katharina Steidl wurde der Preis der österreichischen Akademie der Wissenschaften verliehen. Sie behandelt die Medialitätsgeschichte des Fotogramms im 19. Jahrhundert; für das 20. Jahrhundert liegt kein vergleichbares Opus vor. Einen besonderen Stellenwert für die Epochen der Moderne und Postmoderne nimmt das Buch: Das Fotogramm in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Die andere Seite der Bilder – Fotografie ohne Kamera von Floris M. Neusüss unter Mitarbeit von Renate Heyne ein. Neusüss war selbst ein gewichtiger Fotogrammkünstler, der mit seinen Nudogrammen wegweisende Werke geschaffen hat. Die beiden haben für das 20. Jahrhundert die derzeit immer noch umfangreichste Sammlung kompiliert und kommentiert; sie ist aber mit dem Erscheinungsdatum 1990 auch schon 31 Jahre alt. Das Buch wurde im Zuge einer großen Ausstellung im Kunsthaus Zürich, vom 31.3. – 27.5.1990, und im Musée d’Art Moderne de la Ville in Paris, im März 1991, veröffentlicht. Katharina Steidl kritisiert aber an dem Werk zu Recht, dass es eher ein Künstlerbuch sei als ein kunsthistorisches Unterfangen. Auswahl und Darstellung der Werke seien manchmal subjektiv gefärbt; Quellenangaben fehlen häufig. Dennoch ist das Werk, auch wenn es nicht gänzlich sine ira et studio geschrieben ist, eine wichtige Quelle.

Beim Fotogramm existiert gewöhnlich ein Unikat, auch wenn manche Künstler wie Man Ray davon wieder Fotografien anfertigten, die sie veröffentlichten. Andere hingegen, wie Christian Schad betrachteten die Arbeiten als Einzelstücke und kopierten sie nicht. Was den Zugang zu Originalen betrifft, der für die historische Forschung wichtig wäre, so ist anzumerken, dass von den Fotogrammen der ersten Generation nur sehr wenige Unikate überlebt haben; sowohl der Großteil der Genfer Serie von Christian Schad als auch viele der Originale von Man Rays Arbeiten von 1922 sind verloren. Das gleiche gilt auch für viele spätere Unikate, die einerseits nicht den gleichen Stellenwert wie Malereien hatten, andererseits auch schwieriger zu archivieren waren als ihre Kopie auf Negativfilm.

1.3. Mediale Klärung

Was ein Fotogramm ausmacht, ist nur auf den ersten Blick eine einfache Frage. Abgesehen davon, dass das Wort ein Homonym ist, dem in der Vermessungstechnik (Fotogrammetrie) und in der Filmindustrie (für einen Kader) verschiedene Bedeutungen zukommen, umfasst der Begriff zweierlei: die diversen Methoden der Fertigung als auch die damit hergestellten Bilder. Der Rückgriff auf die technische Genese ist Teil einer ikonographischen Definition. Wenn man von Fotogrammen spricht, geht es nicht nur darum, was dargestellt ist und was es bedeutet, sondern auch, wie es gemacht ist, also um die Fabrikation. Diesen Fokus auf die technischen Aspekte teilt das Fotogramm mit der Fotografie, wo seit Beginn an die technischen Möglichkeiten diskutiert werden. In gewisser Weise steht die Medialität des Fotogramms im Zentrum der vorliegenden Arbeit; eine Überschrift wie Die Medialität des Fotogramms im Kontext der Klassischen Moderne wäre ebenso gut möglich gewesen.

Im Abschnitt Wege zum Fotogramm werden daher zwei Aufgaben angegangen: Zu Beginn wird geklärt, was unter Fotogramm gemeint ist. Der Begriff umfasst je nach Autor ein unterschiedliches Repertoire an Herstellungsverfahren und damit auch unterschiedliche Bildkategorien. Anhand eines Überblicks an Fertigungsvarianten und der Gegenüberstellung von Argumenten wird eine sprachliche Definition erarbeitet.

Gleichzeitig werden nicht nur die Geschichte des Fotogramms, sondern auch die technisch bedingten Eigenschaften des Mediums, die in eine charakteristische Ästhetik münden, dargelegt. Gerade bei der Auswahl des Fotogramms als Medium stand immer auch seine Technizität im Mittelpunkt.

2. Wege zum Fotogramm

2.1. Kontaktkopie

Die erste technische Anleitung für ein Fotogramm, die uns bekannt ist, stammt vom amerikanischen Portraitfotografen George Rockwood. In der an Laien adressierten Broschüre „How to Make a Photograph Without a Camera“ (ca. 1871) beschreibt er, wie man Kontaktkopien von gepressten Pflanzen zu erzeugt.15

Die Idee, Gegenstände einzufärben, auf einen Untergrund zu drücken und so einen Abdruck zu erhalten, ist jedoch viel älter. Einige Autoren, die im Fotogramm den Archetypus der Spur ausmachen, sehen den Beginn dieser Praxis in der Höhlenmalerei; so sind zum Beispiel in der Chauvet-Höhle in Südfrankreich deutlich Handabdrücke auszumachen, die vor 32.000 bis 35.000 Jahren entstanden.16 Mit Beginn der Neuzeit wurden Pflanzen auf Papier gepresst, um mit eigener oder zugefügter Farbe einen Naturselbstdruck zu erhalten. Dieser Stempel oder Abklatsch zeichnet sich durch große Detailtreue aus. Zum einen diente dies der Unterhaltung, zum anderen zu wissenschaftlichen, aber auch rituellen Zwecken.17 Dass Objekte ihre Umrisse und auch ihre Binnenstruktur bei entsprechender Behandlung quasi von selbst auf einen Träger abgeben, ist als Acheiropoieta, nicht von Menschenhand geschaffene Bilder bekannt und wurde vermutlich immer schon, aber bekanntermaßen seit dem byzantinischen Frühmittelalter religiös konnotiert. Die eigentliche Geburtsstunde des Fotogramms kann mit der Projektion eines Schattens auf eine lichtempfindliche Schicht datiert werden und liegt weit vor dem Frühjahr 1839. In den Geschichtsbüchern der Fotografie werden unterschiedliche Versionen genannt. Folgt man Martin Barnes (2018), so bemerkte der arabische Alchemist Jabir ibn Hayan schon im 8. Jahrhundert, dass Silbernitrat im Licht verdunkelt. Seine Entdeckung blieb aber folgenlos. Bemerkenswert ist ein anderes Verfahren, nämlich aus dem Obstbau: Es handelt sich um eine Hypothese, die bereits im 19. Jahrhundert geäußert wurde, aber in der Fotografiegeschichte bis vor kurzem keinen Eingang fand. Dass infolge der Abdeckung der Schale eines Apfels oder Pfirsichs, zum Beispiel durch ein zurechtgeschnittenes Blatt, nach einigen Tagen eine Farbveränderung eintritt, die sogar dauerhaft sichtbar bleibt, muss der Natur sehr bald abgeschaut worden sein. Der französische Pharmakologe Jean-François Couverchel berichtete 1839 über eine alte Technik, wie mittels Textil- oder Tierdarmschablonen Zeichen auf die Fruchthaut, hier Pfirsiche, gedruckt werden können.18 1901 wird das Thema erneut in einem landwirtschaftlichen Kontext, nämlich in einem Beitrag mit dem Titel Photographie pomologique erwähnt. Der Berliner Braubiologe Paul Lindner ging 1920 der Vermutung, dass es sich um eine sehr alte Praxis handelt, ebenso nach, wie 1937 der polnische Experimentalfilmer Stefan Themerson, der in seinem kurzen Essay „The uniqueness of photograms“ die Überzeugung äußert: „Fotogramme sind so alt wie die Welt.“ Es ist Tim Otto Roth zu verdanken, diese Spur wieder ans Tageslicht geholt zu haben.19

Wir bewegen uns bei diesen Vorläufern im Bereich der frühen Drucktechnik, was aber nicht ausschließt, dass dieser Vorgang von Unbekannten künstlerisch schon vor Jahrhunderten genutzt wurde. Die Unterscheidung von Kunst und Nichtkunst wird uns noch weiter beschäftigen, denn seit den ersten Berichten wird das Fotogramm von Statements begleitet, die darin ausschließlich eine Reproduktionstechnik sehen.

Auch wenn keine Notiz darüber erhalten (oder bekannt) ist, ist es wahrscheinlich, dass des geschilderten Prozesses, wenn er bei Obst funktioniert, auch auf Kleidung und Pergament angewandt wurde. Beim Gerben, Bleichen, Färben und Trocknen, das unter Einsatz von Sonnenlicht geschieht, ist die Anwendung eines Hellschattendruck sehr einfach. Wie weit er systematisch (zum Beispiel in Klöstern) auch ornamental angewandt wurde, müsste in den entsprechenden Fachrichtungen nachrecherchiert werden; die Fotohistorie jedenfalls schweigt darüber. Ich vermute, dass hier noch einiges im Verborgenen liegt; Entdeckungen wären jedenfalls in die Geschichte des Fotogramms einzutragen. Der Prozess einer bewussten, gestaltenden Schattenprojektion auf eine lichtsensible Oberfläche wäre hier im vollen Sinne des Wortes erfüllt. Diese biogenen Drucktechniken hatten einen Vorzug, den andere Verfahren lange vermissen ließen: eine relative Beständigkeit. Die gilt auch für die menschliche Haut, die von sich aus fotoempfindlich ist, eine Eigenschaft, die durch medizinische Salben noch gesteigert werden kann. Ob fotogrammatische Techniken in der Körperkunst im Sinne temporärer Tattoos jemals umgesetzt wurden, ist unbekannt, aber ebenfalls wahrscheinlich.

2.2. cliché verre

Diese Technik, auch Glasklischeedruck genannt, ist verwandt mit der Kontaktkopie und der Radierung. In eine mit Druckerschwärze, Kollodium oder einem ähnlichen Medium geschwärzte Glasplatte ritzt der Künstler mit einer Nadel eine Zeichnung. Dieses Negativ wird dann auf einen beschichteten Bildträger gelegt und belichtet. Die Technik war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr beliebt, da die Platten für die Arbeit en pleinair viele Vorteile bot. Sie waren leicht zu transportieren, unkompliziert und vor allem schnell zu bearbeiten; am Ende konnte man mehrere Kopien anfertigen.

2.3. Luminogramm

In dieser Variante wird kein Objekt zwischen Licht und Papier platziert, stattdessen wird die Lichtquelle selbst bewegt, d.h. der Lichtstrahl wird durch kein schattenwerfendes Medium außer Linsen und Spiegel gestaltet. Durch das Ändern der Entfernung in Verbindung mit Bündelung und Reflexionen entsteht eine Lichtspur; eine reine Interaktion der Photonen mit der aufzeichnenden Materie. Die Formen und die Hell-Dunkel-Effekte sind schwer vorherzusagen, Zufall und performativer Aspekt spielen eine große Rolle. Eine Sonderform ist das Kameraluminogramm, auch light-painting genannt, bei dem der Lichteffekt mit einer Kamera aufgenommen wird. Ein bekanntes Beispiel sind die Fotografien, die Pablo Picasso 1949 in Zusammenarbeit des Life-Fotografen Gjon Mili mit einer Taschenlampe in die Luft gezeichnet hat.

2.4. Röntgenbilder

Als Wilhelm Conrad Röntgen 1895 die nach ihm benannte Strahlung entdeckte, war dies zuerst einmal ein physikalisches Ereignis. Was man hier eigentlich sah, war nicht klar und regte zu Spekulationen an. Gewiss, die sogenannte Kathodenstrahlung war bereits seit 1869 bekannt. Was man für ihre Hervorbringung benötigte, war eine halbwegs vakuumierte Glasröhre, eine Kathode und Anode. Sobald die Kathode unter Hochspannung gesetzt wird, emittierte sie, wie man heute weiß, Elektronen, die von der Anode aufgefangen werden. Befindet sich dazwischen eine bestimmte Art von Gas, so wird dieses angeregt und beginnt zu fluoreszieren (das Prinzip der Leuchtstoffröhre). Genauso gut wusste man seit 1880, dass diese bekannte Kathodenstrahlung Fotopapier schwarz färbt. Was Röntgen jedoch beobachtete, war aber etwas vollkommen Neues: Obwohl er die Röhre mit Metall umhüllte, zeigte der außen aufgestellte Leuchtschirm trotz dieser Isolation zu seiner Überraschung Lichtreaktionen. Wie man heute weiß, schlagen die Elektronen in das Kathodenmaterial ein und werden dort abgebremst; die durch die Bremsung freigewordenen Energie verschwindet nicht einfach, sondern wird zu 99% in Wärme und zu 1% in harte elektromagnetische Strahlung umgewandelt, die auch durch Metall geht. Dass die Lichterscheinung auf der Mattscheibe durch Strahlen herrührt, vermutete schon Röntgen, weil sie beim Durchdringen der Materie, wenn man feste Objekte dazwischen hielt, Schattenbilder erzeugte. Diese waren gestochen scharf, aber die Strahlen folgten nicht den Gesetzten der bekannten Lichtwellen, denn sie wurden von Linsen nicht gebrochen. Es konnte sich, so wurde argumentiert, daher nicht um Licht handeln; außerdem waren sie unsichtbar, und Dunkelheit kann nicht Licht sein, wie ein anderer Zeitgenosse anmerkte.

Tim Otto Roth hat in seiner Arbeit „Körper. Projektion. Bild.“20 den Epochenbruch akribisch nachrecherchiert; er weist darauf hin, dass aus der Entdeckung zwei Diskurse entsprangen, ein wissenschaftlicher und ein ästhetischer. Ob die neuen Strahlen nur von akademischem Interesse seien, ob man irgendeinen Nutzen daraus ziehen konnte und ob sie vielleicht medizinisch verwertbar waren, blieb zunächst unklar. In vielfältigen Experimenten wurde buchstäblich jeder greifbare Gegenstand einer Durchleuchtung unterzogen. Das Verfahren war auf Jahrmärkten, in Varietés und Faschingsveranstaltungen ein Fixpunkt. Das Hineinsehen in ein fest verschlossenes Gefäß, das Sehen durch Türen war magisch, der Blick in den lebenden menschlichen Körper ein alter Traum der Wissenschaft; es könnte eine Umwälzung in der Diagnostik bedeuten, das war einigen Ärzten bewusst. Aber viele zweifelten an der Praktikabilität der Methode, da der Aufwand groß war und wenn man die Projektion auf dem Leuchtschirm verfolgte, kaum Details zu erkennen waren; diese lieferten nur die Aufzeichnungen auf den fotografischen Platten. Der Diskurs war daher zuerst ein ikonographischer. Im Jahr 1896 waren Röntgenstrahlen das bestimmende Gesprächsthema unter Fotografen, was nachvollziehbar ist, weil der Effekt am besten auf Fotoplatten zu beobachten war. In den Fachzeitschriften war es nicht nur in Europa, sondern global präsent. In der „Photographischen Rundschau“ wird notiert:

„Fast ein Drittel des Inhalts der photographischen Zeitschriften der ganzen Welt sind z.Z. der Besprechung der Röntgenschen Entdeckung gewidmet; die Sitzungsberichte ziemlich aller photographischen Vereine behandeln diesen Gegenstand.“21

Es ist uns heute wenig bewusst, dass mit ihnen schlagartig ein neues visuelles Paradigma in die Welt gesetzt wurde, ein neuer Standard des Sehens, eine neue Ordnung der Sichtbarkeit. Es bedarf für einen modernen Menschen einer gewissen Anstrengung, sich eine Welt ohne Transparenz vorzustellen. Nach dem Lichtpausverfahren in der Botanik und später in der Technik im 19. Jahrhundert war und ist auch heute noch der mit Abstand häufigste Einsatz der kameralosen Fotografie in der Radiologie zu finden. Moholy-Nagy verwendet eigene und fremde Röntgenfotos, wie er sie nennt, im künstlerischen Kontext und stellt klar: „Eine Röntgenfotografie ist auch ein Fotogramm, ein ohne Kamera entstandenes Abbild eines Gegenstandes.“22 Ein interessanter Nebenaspekt betrifft die Anerkennung des fotografischen Bildes als Beweis in Gerichtsverfahren, der durch das Röntgenbild gebahnt wurde, das als wahres und unmittelbares Abbild rezipiert wurde. In den USA wurde das Röntgenbild bei Prozessen nach Unfällen oder ärztlicher Kunstfehler noch vor der Fotografie bei Gericht als Evidenz zugelassen. Man sprach dem Fotogramm, das Knochenbrüche deutlich erkennbar darstellte, mehr Seriosität zu als der Kamerafotografie, die für Manipulationen mehr Einfallstore zu bieten schien.23

Das Lesen eines durch Strahlung geformten Bildes ist dabei nicht einfach, die immanenten Eigenschaften des Mediums erfüllen nicht unseren Seherwartungen. Das radiologische Foto bietet eine scheinbare Plastizität und Tiefe; es werden nicht nur Umrisse, sondern auch die Binnenstrukturen festgehalten. Scheinbar deshalb, weil ihre Anordnung nicht einer Zentralperspektive folgt, sondern anderen Gesetzen. Der Schatten der dreidimensionalen Vorlage wird in feinen Abstufungen neu visuell chiffriert. Dabei aber nicht in Abhängigkeit von der räumlichen Position der Bildteile, sondern von ihrer Dichte: vorne ist also nicht zwangsläufig vorne und dahinter nicht dahinter. Außerdem verzerrt die Nähe des Objektes zur Strahlenquelle ähnlich wie eine Weitwinkelaufnahme die Geometrie. Es handelt sich um das eigentümliche Beispiel eines nicht diskreten, analogen Codes in der Fotografie.

2.5. Manipulationen direkt am Bildträger

Unmittelbar den Bildträger zu bearbeiten gelingt unter anderem durch mechanische und thermische Interventionen. Zufall und Geste spielen dabei eine zentrale Rolle. An erster Stelle ist hier Raoul Ubac zu nennen, der die Brûlage erfand, die thermische Beeinflussung und teilweise Zerstörung eines Negativs, das somit zu einem cliché verre wird.

Ähnliche Vorgangsweisen finden sich in der Fotogeschichte immer wieder. Als zeitgenössisches Beispiel seien die Schussbilder des Oberösterreichers Walter Ebenhofer genannt, der einen Stapel unbelichteten Fotopapiers mit einer Pistolenkugel durchschoss, so partiell dem Licht aussetzte und damit die Materialität des Bildträgers hervorhob.

2.6. Chemigramm

Das Chemigramm ist untrennbar mit dem Namen und Lebenswerk von Pierre Cordier verbunden. Dabei werden bei vollem Tageslicht auf Fotopapier chemischen Stoffen aufgetragen. Die Leinwand wird, so sagt Cordier selbst, dabei durch das Fotopapier ersetzt; es entsteht ein chemisches Gemälde. Die hybride Technik eröffnete einen neuen visuellen Raum. Die Anfänge des Chemigramm sind im Umfeld der Subjektiven Fotografie von Otto Steinert zu verorten, der Cordier ermutigte und untersetzte. Die weitere Entwicklung ist mit dem New Bauhaus und Aaron Siskind verbunden. Chemigramme sind heute fester Bestandteil der kameralosen Fotografie; Cordiers Werke finden sich u.a. im Museum of Modern Art.

2.7. Digitales Fotogramm

Beim digitalen Fotogramm werden die Effekte, die für die Dunkelkammer typisch sind, durch ein Computerprogramm nachgeahmt.

2.8. Zusammenfassung der Fertigungsvarianten

Zu Beginn der 1920er war die Fotografie schon soweit ausgereift, dass dem Fotogramm kein technischer Neuerungswert zukam. Die von Paul Lindner 1920 in der Photographischen Bibliothek veröffentlichten detaillierte Hinweise zur Herstellung und Anwendung von Fotogrammen inkl. eines Rückblickes auf das 19. Jahrhundert waren schon einige Jahre zuvor in diversen deutschsprachigen Amateurmagazinen ventiliert worden.24 Davon und vom Gebrauch im 19. Jahrhundert wussten die vermeintlichen Neuentdecker Schad, Ray und Moholy-Nagy jedoch nichts. Für Schad und Moholy-Nagy war die Fotografie überhaupt Neuland und Ray war zu weit weg und der deutschen Sprache zudem nicht mächtig. Zudem unterscheidet sich der neue Gebrauch der Technik konzeptuell und in Produktion fundamental; es geht nun nicht mehr um die maximale Abbildungstreue. Es werden nicht mehr nur flache, folienartige Objekte aufgelegt, sondern dreidimensionale Gegenstände, die u. U. auch bewegt werden.

„Praktisch läßt sich diese Möglichkeit folgendermaßen verwerten: man läßt das Licht durch Objekte mit verschiedenen Brechungskoeffizienten auf einen Schirm (fotografische Platte, lichtempfindliches Papier) fallen oder es durch verschiedene Vorrichtungen von seinem ursprünglichen Weg ablenken; bestimmte Teile des Schirmes mit Schatten decken usw.“25

Der deutsche Kunsthistoriker Franz Roh, er studierte bei Adolph Goldschmidt und war bei Wölfflin in München Assistent, trat in den 1920er in intensiven Kontakt zu Persönlichkeiten im Umfeld der Bauhausbewegung u.a. zu Lucia und László Moholy-Nagy. Sein 1929 erschienener Band „foto-auge. Oeil et photo. Photo-Eye. 76 Fotos der Zeit“ gehörte zu den wichtigsten progressiven Fotobüchern. Er schildert darin (nach Bauhausart in Kleinbuchstaben) eloquent Technik und Anmutung des Fotogramms.

„allein durch begegnung gewisser gegenstände mit lichtempfindlichem papier, indem sie länger oder kürzer aufliegen, näher oder entfernter gehalten, scharf oder matt mit künstlichen lichtquellen bestrahlt werden, ergeben sich luminaristische schemata, die den gegenstand derart anders färben, zeichnen, modellieren, dass er seinen körper verliert, nur noch als schimmernde fremdwelt und als abstraktion erscheint. dabei kann man vom schneeigsten weiss über tausend graustufen ins tiefste schwarz hinuntersteigen, transparenteste tonstufen erreichen, durch überschneidungen und konvergenzen optische scheinräume hervorrufen, die gut fernste fernen wie plastische nähe suggerieren. wie in jedem menschlichem zuordnungssystem ist es zunächst beim herstellungsprozess schwierig, hier die wirkungen der objekte berechnen zu können, doch bekommt man allmählich gefühl dafür.“26

Es gibt ohne Zweifel ein Dispositiv des Fotogramms. Was aber zur Disposition steht, welche Fertigungsformen ein Fotogramm genau inkludiert, darüber mangelt es an Konsens in Fototheorie. In der Literatur finden sich verschiedenen Zugänge. Für eine sehr enge Auslegung steht Susan Laxton. In der „Encyclopaedia of Twentieth-Century Photography“ definiert sie: „The direct contact between the material object and the surface of representation is the defining feature of photograms.“27 Explizit genannt und ausgeschlossen werden alle anderen möglichen Techniken. Weiter gefasste Definitionen vertreten Gottfried Jäger28, der sich nach Moholy-Nagy richtet und Luminogramme einschließt und Floris Neusüss, für den Fotogramme alle Fotografien ohne Linse sind, inklusive das Chemigramm29.

Auf der Suche nach einer sachgerechten Definition wird sichtbar, dass die Grenze von erschaffen zu kopieren, von Kunst zu Nichtkunst fließend ist. Das betrifft vor allem die beiden ersten Verfahren: die Kontaktkopie (Lichtpause) und das cliché verre. Ginge es um die Fotografie im Allgemeinen, hätten wir kein Problem, denn diese inkludiert auch die Nicht-Kunst. Aber ein Fotogramm im modernen Sinn ist nur eine solches, wenn es den Anspruch erfüllt, ein eigenes Medium zu sein, also keine simple Fotokopie ist; der Kunstbegriff ist ihm inhärent. Wir müssen daher die Frage nach der Kunstwertigkeit einbeziehen. Andernfalls wäre jede medizinische Röntgenaufnahme ein Fotogramm, was zwar rein technisch richtig ist, aber wohl kaum dem Gebrauch des Begriffs entspricht. Nicht zufällig wurde auch dem cliché verre vorgehalten, eine reine Kopiertechnik zu sein. Der moderne Kunstbegriff stellt auf die Beteiligung des Menschen am Erschaffen oder an der Auswahl des Werks ab. Natürliche Phänomene sind keine Kunst, sie werden es erst nach einer menschlichen Intervention; durch Umgestaltung oder Reframing. Auf das cliché verre umgelegt, muss untersucht werden, ob die Verfahren eine gestaltende Veränderung erzwingen oder zumindest ermöglichen. Was die Kontaktkopie betrifft, so zeigte Katharina Steidl, dass es sich bei den wissenschaftlichen Bebilderungen und Illustrationen nicht oder besser: nicht nur um simples Ab- und Nachbilden von Objekten handelt. Die Kunstwertigkeit wird u.a. durch das Arrangieren und Komponieren der Pflanzenteile und das spielerische Herausarbeiten von Strukturen und Mustern offenbar.30

Die Erfindung des cliché verres geht nach dem Fotohistoriker Helmut Gernsheim auf die Londoner Reproduktionstechniker James Tibbits Wilmore, Frederic James Havell und seinen Bruder William Havell zurück. Diese experimentierten 1839 mit neuen Wegen der Druckgraphik. Andere Quellen sehen in Fox Henry Talbot den Erfinder, als er 1834 in Genf einen befreundeten Maler ersuchte, eine Negativvorlage auf eine Glasplatte zu ritzen, von der er dann Kontaktkopien zog. Unbestritten scheint, das Wort und Technik in den 1860er im Umfeld des Impressionismus populär wurden. Die Landschaftsmaler in Barbizon, einem Ort im Wald von Fontainebleau in Frankreich, verwendeten die Glasplatten aus praktischen Gründen für die Arbeit im Freien. Jenen Autoren, die im cliché verre eine reine Kopiertechnik sehen, wird von der anderen Seite entgegengehalten, dass die Herstellung der Abzüge hohes technisches Können erfordert, um Blätter zu erhalten, die weder zu hell noch zu dunkel sind. Dabei wurde häufig ein impressionistischer Effekt oder ein sfumato dazugefügt.31

Die Definition des Fotogramms, die für diese Arbeit angenommen und die meines Erachtens der Fotohistorie am ehestens gerecht wird und auch auf Moholy-Nagy zurückgeht, ist die Rückbesinnung auf sein Wort von der „Fixierung eines Licht-Schatten-Spieles“32 auf einen Bildträger. Die Verwendung von Licht und Bildträger sind dabei die unverzichtbaren Elemente. Aber ob das Objekt, das den Schatten wirft, direkt am Papier aufliegt oder mit etwas Abstand darüber gehalten wird, spielt meines Erachtens keine Rolle und ist auch nicht sinnvoll zu differenzieren, weil auch Teile größerer Objekte einen Abstand zur Oberfläche aufweisen. Ob sie nun das Fotopapier berühren oder nicht, ist eine Unterscheidung, die wenig Relevanz besitzt. Gleiches gilt für die Frage, wie groß das Objekt ist; Lichtquelle und Objekt modulieren den Effekt, es ist dabei unerheblich, wie sehr die Abschattungen in der Quantität variieren. Das Luminogramm ist ein Fotogramm, denn auch der Einsatz von einer bewegten Lichtquelle in verschiedener Entfernung ohne schattenwerfenden Gegenstand hat eine Modulation unterschiedlicher Helligkeitswerte zur Folge. Genauso verhält es sich mit transparenten Objekten, wie Folien, geätztes Glas und Ähnliches. Die Art des Objektes, das den Schatten wirft, ist unerheblich. Wir zählen also die Kontaktkopien, das cliché verre und die Röntgenbilder dazu, sofern sie nicht nur mechanische Kopien darstellen. Nicht eingeschlossen ist hingegen das Chemigramm, das zwar zur kameralosen Fotografie gezählt wird, aber auch von Cordier nicht als Fotogramm betrachtet wird. Das Digitale Fotogramm ist eine Computergrafik, die wie ein Fotogramm aussieht, aber die Anmutung eben nur simuliert, sich aber in der Herstellung unterscheidet.

In Sinne einer Vereinfachung der Sprache kam in den letzten Jahrzehnten der Terminus „Kameralose Fotografie“ in Anwendung, der nicht so eng und ist als Synonym angesehen wurde, obwohl er genaugenommen Fotogramm als Teilmenge enthält. Dieser Gebrauch wird der Fotogeschichte nicht gerecht: Fotogramm meint - nicht nur retrospektiv - eine Kategorie von sehr spezifischen Kunstwerken. Wenn es als Ausdruck verschwinden würde, wäre dies einen Verlust an differenzierter Sprache.

2.9. Historische Wurzeln und Anwendung

Der Mediziner Johann Heinrich Schulze vergaß 1717 eine Flasche mit Scheidewasser (Salpetersäure) auf dem Fensterbrett und dieses verfärbte sich. Er fand durch eine Reihe gezielter Experimente heraus, dass der Grund nicht die Wärme, sondern die Lichteinstrahlung war. Er hatte das Scheidewasser bereits benutzt, deshalb enthielt es Silbersalze und nur diese waren für den Effekt verantwortlich. Mit ausgeschnittenen Buchstabenschablonen, die er auf die Flasche klebte, gelang es ihm, kurze Texte auf das Silbernitrat zu übertragen, die einige Zeit sichtbar blieben. Er publizierte seine Entdeckung 1719 in der Bibliotheca Novissima Oberservationum ac Recensionum; bekannter war dann der Nachdruck 1727 in den Acta physico-medica der Leopoldina. Die Engländerin Elizabeth Fulhame unternahm um 1779 Färbeversuche mit Stoffen, die in Silbernitrat getränkt waren und daher Lichtmuster aufnahmen, Thomas Wedgwood griff um 1800 diese Idee auf und übertrug die Schattenmuster nicht nur auf Stoffe, sondern auch auf Leder, Glas und Papier. Die Effekte hatten ein Ablaufdatum von nur wenigen Minuten, weil das Fixiersalz noch nicht entdeckt war. Die Brüder Claude und Nicéphore Niépce arbeiteten ab 1816 ebenfalls zuerst mit Silbersalzen, gingen aber dann zu einer Form von lichtempfindlichem Asphalt (Bitumen) über, der nicht fixiert werden musste. Die Verwendung dieses Kollodiums ermöglichte es Nicéphore Niépce im Jahre 1822 die allererste lichtbeständige Kontaktkopie zu verfertigen – vier Jahre vor seinem berühmten Bild aus dem Arbeitszimmer in Saint-Loup-de-Varennes, das allgemein als der Beginn der Fotografie angesehen wird. Er nahm dazu einen alten Kupferstich von Papst Pius VII und tränkte das Papier in flüssiges Wachs. Solcherart transparent geworden, legte er es auf eine mit dem Bitumen bestrichene Zinnplatte. Nachdem sie etwa acht Stunden den Sonnenstrahlen ausgesetzt war, härtete die Schicht an den exponierten Stellen genug aus; die weicheren Partien wurden mit warmem Wasser ausgewaschen, der Rest musste nicht mehr fixiert werden. Folgt man Geoffrey Batchen, der sich wiederum auf eine Publikation Robert Hunt von 1844 stützt, so gelangten sieben dieser ersten Serie von Fotogrammen 1827 nach London, darunter das berühmte Portrait des Kardinals Amboise, als Nicéphore Niépce dort seinen Bruder besuchte.

1834 wendete sich das Blatt wieder zugunsten der Silbersalze, als es Henry Fox Talbot mit ihrer Hilfe gelang, seine Kontaktkopien von Pflanzenmuster haltbar zu machen. Er weitete das Prinzip der „photogenic drawings“ auf Bilder aus, die auf die Rückwand einer camera obscura fielen. Aber in der Box waren wegen der geringen Lichtstärke nur sehr kleine und kaum sichtbare Produkte zu erzeugen. Enttäuscht gab er die Beschäftigung mit fotografischen Experimenten 1835 auf und widmete sich der Altertumsforschung.

In Frankreich hatte sich inzwischen der Maler Jacques Mandé Daguerre, der mit Bildern für Schaukästen, sogenannten Dioramen, viel Geld verdiente, mit der Erfindung von Niépce vertraut gemacht. Er benutzte die camera obscura bereits seit längerem für Vorlagen. An einer Technik, die, wie von Niépce bisher verwendet, nur Kontaktkopien schaffen konnte, hatte er kein Interesse. Er wollte das Projektionsbild auf der Kastenrückwand selbst festhalten. Gemeinsam mit Niépce verbesserte er ab 1829 kontinuierlich die Vorgangsweise. Nach acht Jahren gelang der Durchbruch zu lichtstarken und haltbaren Abbildern. Am 7. Januar 1839 wurde das Ergebnis in der Académie des Sciences vorgestellt. Der französische Staat kaufte die Erfindung auf und stellte in einem öffentlichen Akt das Patent der Menschheit kostenfrei zu Verfügung; Daguerre und der Sohn von Niépce (er selbst war bereits verstorben) erhielten lebenslange Renten. Die sogenannte Daguerreotypie war von Beginn an ein kommerzieller Erfolg und setzte global einen hohen Standard. Die versilberten Kupferplatten waren Direktpositive ohne Negativ, also Unikate. Diese waren in der Herstellung nicht nur aufwändig, sondern auch wegen der Quecksilber- und Zyankalidämpfe ausgesprochen gesundheitsschädlich, liefert aber nuancierte Bilder in hoher Auflösung. Die ursprüngliche Technik der Kontaktkopie wurde von Daguerre nicht mehr weiterverfolgt.

Fox Henry Talbot, durch die Präsentation in der Académie des Sciences, die sich auch in England schnell herumsprach, aufgeschreckt, sammelte hastig seine photogenic drawings für eine Präsentation bei der Royal Institution in London am 25. Jänner 1839; erst einige Wochen später reichte er die technischen Erklärungen nach. Er erkannte nun die Bedeutung seiner Erfindung und widmete ihr erneut seine ganze Arbeitskraft. Er brachte es fertig, die Lichtempfindlichkeit seiner Papierbeschichtungen so zu steigern und durch ihre chemische Nachbehandlung die Belichtungszeit soweit zu senken, dass sie auch in der camera obscura annehmbare Resultate lieferten; er ließ seine Erfindung 1841 als „Kalotypie“ patentieren. Da es sich um einen Bildträger aus Papier handelte, den man, wie schon Niépce zeigte, durch heißes Wachs transparent machen konnte, war es zum Negativ und zur Vervielfältigung nicht mehr weit.

Als die Veröffentlichungen in Frankreich und England weltweit bekannt wurde, zeigte sich, dass die Idee an mehreren Orten gleichzeitig verfolgt wurde. Es scheint, wie erst 150 Jahre später endgültig klar wurde, dass der in Brasilien lebende Abenteurer Hercule Florence noch vor Daguerre und Talbot das Problem der Haltbarkeit gelöst hatte. 1832 konnte er Bilder aus seiner camera obscura, die er nach der Technik von Wedgwood herstellte, fixieren. In seiner im gleichen Jahr im Eigenverlag erschienen Schrift Livre d’Annotations et de Premier Matériaux nannte er die Bilder „photographia“. Sie wurden 1977 vom russischen Fotografen Boris Kossoy einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Marxistische Fototheoretiker wie Douglas Crimp vertreten den Standpunkt, die Fotografie müsse über ihren sozialen Gebrauch definiert werden. Es gebe kein davon unabhängiges Substrat des Mediums, es generiere sein Wesen aus der Funktion, die ihm in der jeweiligen Gesellschaft zukomme. Ihre Erscheinungsform inklusive ihrer Technik folge diesen Zwecken. Mit anderen Worten: Die Fotografie ist eine soziale Konstruktion. Nicht die technische Innovation treibt die Entwicklung, diese folgt vielmehr selbst den Bedürfnissen. Durch diese soziologische Betrachtungsweise erzielt man gerade beim Fotogramm einige erhellende Resultate, war doch sein Einsatz im 19. Jahrhundert ein grundsätzlich anderer als im darauffolgenden. Er war auf einen rein naturwissenschaftlichen, dokumentarischen und kommerziellen Gebrauch ausgerichtet, auf Abbildungen in bisher undenkbarer Detailtreue, verbunden mit Effizienzsteigerung in der Herstellung. Im Gegensatz zur herkömmlichen Handskizze war der Aufwand für ein ganzes Arrangement von Farnen beim Fotogramm nicht höher als bei einer einzelnen Pflanze. Es war eine Fortsetzung der Zeichnung mit besseren Mitteln. Das galt natürlich in gleicher Weise für die Fotografie, die aber bald mehr Einsatzmöglichkeiten fand und sich in einigen Zweigen von der reinen Mimesis emanzipierte. Im Piktorialismus werden schon in den 1860er erste abstrahierende Tendenzen sichtbar. Das Fotogramm hingegen - hier zeigt sich seine mediale Eigenständigkeit - blieb davon unberührt.

In ihrem technischen Aspekt ist die Entdeckung des Fotogramms Teil der industriellen Revolution, in seiner Ästhetik bleibt es jedoch vorläufig strikt vormodern; mit dem Untergang der Vormoderne zur Jahrhundertwende gerät es für einige Jahrzehnte fast in Vergessenheit. Für seine Rückkehr gilt der Satz: „form follows function“. Seine neue Erscheinungsform ist ganz von seinem anderen sozialen Gebrauch determiniert. Selten sind Vormoderne und Moderne in einem Medium durch einen so eindeutigen Bruch unterscheidbar.

An dieser Stelle trennen sich die Entwicklungslinien von Kamerafotografie und Fotogramm. Talbots Entdeckung hatte den Vorteil des Negativs und folgte damit der Logik der rationellen Fertigung. Freilich reichten gerade wegen dieses Zwischenschrittes seine Kalotypien in der Qualität niemals an die Unikate von Daguerre heran. Es brauchte noch mehr als 20 Jahre bis diese von anderen, besseren Negativverfahren überholt wurde.

Wie aus Talbots über 100 Artikeln und den tausenden Briefen hervorgeht, wurde er nicht müde zu betonen, dass sich in der Fotografie die Natur quasi selbst zeichnet. In einem Brief an William Jerdan verleiht er dieser Naturphilosophie Ausdruck: Bei der herkömmlichen Zeichnung leite zwar die Natur das Auge des Künstlers „but the actual performance of the drawing must be his own.“ Im Gegensatz dazu geschehe bei der Fotografie der Akt von allein: “it is not the artist who makes the picture, but the picture which makes itself.“ Das sei ein Vorgang, der so in der Natur angelegt sei. „(...) if no such substance existed in rerum naturá, the notion of thus copying objects would be nothing more than a scientific dream.“33 Damit verankert Talbot seine Erfindung im Religiösen; sie wird vom menschengemachten Kunstwerk zur Acheiropoieta der Neuzeit. In der einige Jahre später erschienenen Werbeschrift „The Pencil of Nature“ wurde dieses Postulat zum Slogan erhoben und von den ersten Seiten an wiederholt: „They are impressed by Nature's hand“; „these natural images imprint themselves durably, and remain fixed upon the paper!„34 Damit war ein Marketingkonzeptes in die Welt gesetzt, das als Diktum der Objektivität und Glaubwürdigkeit der Fotografie bis zum Ende des 20. Jahrhunderts anhaften sollte.

Talbots ursprüngliche Kontaktkopie vereinte dabei aber eine Detailtreue, die, wie Abbildung 1 zeigt, der Daguerreotypie sogar überlegen war. Es lag also auf der Hand, dort wo der Zweck es erforderte, diese parallel zum Einsatz der Kamera weiter zu entwickeln. Er sandte einige von Stickereien und Spitzen anfertigte Fotogramme an die Glasgower Textilmagnaten mit dem Vorschlag, die Technik für die Erzeugung von Mustervorlagen in der Produktion zu verwenden.Zudem war er auch ein international renommierter Botaniker und fertigte selbst Abzüge von Pflanzenformen an.

[...]


1 Vgl. Kracauer , Siegfried: Theorie des Films: die Errettung der äußeren Wirklichkeit, hg. von Witte, Karsten, Frankfurt am Main 92015, S. 429–438.

2 Vlg. den Tagungsbericht in: „Das Photogramm. Licht, Spur und Schatten“ - Symposion am ZKM Karlsruhe, 8./ 9. April 2006. http://www.photogram.org/symposium/symposium.html abgerufen am 17.6.2020

3 Vgl. Neusüss, Floris Michael/ Heyne, Renate (Hgg.): Das Fotogramm in der Kunst des 20. Jahrhunderts, die andere Seite der Bilder: Fotografie ohne Kamera, Köln 1990, S. 9.

4 Vgl. Peter Weibel in der Einleitung zu „Das Photogramm. Licht, Spur und Schatten“ (2006)

5 Weibel, Peter: Die Allmacht der Sammler, in: Kunstforum International, Köln 2011, Band 209.

6 Stauffer, Serge (Hg.): Marcel Duchamp: Interviews und Statements, Stuttgart 1992, S. 81.

7 Steidl, Katharina: Am Rande der Fotografie: eine Medialitätsgeschichte des Fotogramms im 19. Jahrhundert, Berlin, Boston 2019. S. 17

8 Batchen, Geoffrey: Emanations: The Art of the Cameraless Photograph, New York 012016, S. 5.

9 März, Roland: Die Kunst der kameralosen Fotografie. in: Bildende Kunst, Bd. 30, Henschel Verlag, Berlin DDR 1982. S. 279–283. Hier S. 283

10 Eine Recherche bezüglich des genannten Autors zeitigt keine Erwähnung und auch ein Fotogrammbuch aus diesem Jahr oder danach in den USA gibt es nicht.

11 Vgl. Barnes, Martin: Cameraless Photography, New York, 012018

12 Neusüss, Floris / Zuckriegl, Margit (Hgg.): kamera los. das fotogramm, Ausst. Kat. Museum d. Moderne Salzburg Rupertinum, Salzburg 2006.

13 Nevole, Ingrid u. a. (Hgg.): Fotogramme > now, Ausst. Kat. Künstlerhaus Wien, Verlag Klinger, Passau 2006.

14 Hofer, Gabriele: Das Revival des Fotogramms, in: EIKON - Internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst 57 (2007), S. 76.

15 Rockwood, George: How to Make a Photograph Without a Camera. New York vmtl. 1871-1874. Zit. nach: Steidl, Katharina: Am Rande der Fotografie: eine Medialitätsgeschichte des Fotogramms im 19. Jahrhundert, Berlin ; Boston 2019.

16 Vgl. Barnes, Martin: Affinities. in: Cameraless Photography, New York, 012018. S. 194-198. Hier S.195.

17 maßgeblich für die Rezeption: die 1997 von Didi-Huberman am Centre Georges Pompidou kuratierte Ausstellung L’Empreinte, Ähnlichkeit und Berührung. Dumont, München 1999

18 Witkovsky, Matthew: Another History: On Photography and Abstraction, in: Artforum, New York März 2010, digital edition, keine Seitenangabe.

19 Themerson, Stefan: The uniqueness of photogramms, in: o. Hg.: The urge to create visions, Amsterdam 1983, S. 59 und Lindner, Paul: Photographie ohne Kamera, Berlin 1920 o. S. im Original. Beide zitiert nach: Roth, Tim Otto: Körper, Projektion, Bild: eine Kulturgeschichte der Schattenbilder, Paderborn 2015, S. 115.

20 Vgl. Roth ( 2015) S. 145-217

21 Müller, Hugo: Röntgen-Strahlen; in: Photographische Rundschau 1896, Heft 4, S. 117-121, Hier S. 117

22 ebd. S. 194

23 Vgl. Golan, Tal: Sichtbarkeit und Macht: Maschinen als Augenzeugen, in: Geimer, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit: Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1538), S. 171–211, Hier S. 185–191.

24 Lindner, Paul:. Photographie ohne Kamera. Berlin 1920 Zit. nach: Roth (2015) S. 115

25 Moholy-Nagy, László: Malerei, Fotografie, Film, München 21927 (Bauhausbücher, Erstauflage 1925), S. 30.

26 Roh, Franz/ Tschichold, Jan: Foto-Auge. oeil et photo. photo-eye. 76 Fotos der Zeit., Nachdruck der Edition Wedekind Stuttgart 1929, Tübingen 1973, S. 5-6.

27 Merjian, Ara H.: Anton Giulio Bragaglia, in: Warren, Lynne (Hg.): Encyclopedia of twentieth-century photography, Bd. 1, New York 2006, S. 157–159

28 Vgl. Jäger, Gottfried: Bildgebende Fotografie: Fotografik, Lichtgrafik, Lichtmalerei: Ursprünge, Konzepte und Spezifika einer Kunstform, Köln 1988 (DuMont Dokumente), S. 120,124.

29 Neusüss(1990) S. 11.

30 Steidl (2019). S. 17

31 Vgl.: Aubenas, Sylvie: Le cliché-verre, une œuvre et une technique photographique?, in: Deschamps, Stefanie (Hg.): Gravure ou photographie ? : Une curiosité artistique : le cliché-verre, Verlag Roubaix, Montreuil 12007, S. 21–27, S. Hier 22. zitiert nach: Roth (2015) S. 104

32 Moholy-Nagy (1927) S. 28

33 Talbot, Fox Henry: Brief vom 30.1.1839 von Talbot an William Jerdan. Doc.Nr. 3782. S. 2., in: University of Glasgow. The Talbot Correspondence Project. http://foxtalbot.dmu.ac.uk; abgerufen am 3.8.2020

34 Talbot, H. Fox: The Pencil of Nature, Longman, Brown, Green and Longmans, London 1844, S.2 und S.8.

Fin de l'extrait de 99 pages

Résumé des informations

Titre
Das Fotogramm als Medium der Abstraktion in der Klassischen Moderne
Note
1,0
Auteur
Année
2021
Pages
99
N° de catalogue
V1154331
ISBN (ebook)
9783346573162
ISBN (Livre)
9783346573179
Langue
allemand
Mots clés
Kunsttheorie, Fotogramm, Fotografie, Man Ray, Moholy-Nagy, Abstraktion, Klassische Moderne
Citation du texte
Peter Jonas (Auteur), 2021, Das Fotogramm als Medium der Abstraktion in der Klassischen Moderne, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1154331

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