Gewalterleben im Schulsport. Eine qualitative Analyse der Erfahrungen von Schülern


Masterarbeit, 2021

143 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Grundlegungen zum Gegenstandsbereich „Gewalt“
2.1 Begriffsbestimmung und Wortverwendung
2.2 Entstehungsbedingungen von Gewalt
2.2.1 Innerschulische Faktoren
2.2.2 Soziokulturelle Faktoren
2.2.3 Familiäre Faktoren
2.2.4 Individuelle Faktoren
2.3 Gewalt im Kontext Schule
2.3.1 Aktueller Forschungsstand zur Gewalt im Schulsport
2.3.2 Gewaltpotentiale des Sportunterrichts

3 Zur Anlage der Untersuchung von Gewalterleben im Schulsport
3.1 Qualitativer Zugang zum Forschungsgegenstand
3.2 Grundlegungen zur Erhebungsmethode
3.3 Erhebungssituation und -teilnehmer:innen
3.4 Auswertungsverfahren

4 Phänomene des Gewalterlebens im Schulsport
4.1 Gewalt durch eine Sportlehrkraft
4.1.1 Zwang zum Überschreiten von Leistungsgrenzen: „obwohl ich nicht mehr konnte“
4.1.2 Rassismus und Stigmatisierung: „es wurde immer der Türke fertiggemacht“
4.1.3 Erniedrigung,Bloßstellung,Bagatellisierung: „hat nur gesagt er soll sich nicht so anstellen“
4.1.4 Bewertungsmacht durch Notenvergabe: „gab dann eine sechs in der Benotung“
4.2 Gewalt durch Mitschüler:innen
4.2.1 Soziale Exklusion und Demütigung: „lauf schneller Schwabbel“
4.2.2 Körperlichkeit und unfaires Spiel: „mit Absicht auf den Kopf gezielt ... einfach zur Belustigung“
4.2.3 Selbstjustiz und Rache an Mitschüler:innen: „Denkzettel verpassen“
4.3 Mobbing: „wurde im Sportunterricht von vielen sehr gemobbt“
4.4 Sexualisierte Gewalt: „hat mich . an sich gedrückt“

5 Diskussion und Verortung des Gewalterlebens

6 Schlussbetrachtung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anlagenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Entstehungsbedingungen von Gewalt

Abb. 2: Forschungsdesign der qualitativen Studie

Abb. 3: Phänomene des Gewalterlebens im Schulsport

Abb. 4: Struktur der Online-Umfrage (Startseite)

Abb. 5: Struktur der Online-Umfrage (Aufforderung zur Kurznarration)

Abb. 6: Struktur der Online-Umfrage (Zuordnung der Schulform)

Abb. 7: Struktur der Online-Umfrage (Zuordnung der Jahrgangsstufe)

Abb. 8: Struktur der Online-Umfrage (Danksagung und Umfrageabschluss)

Abb. 9: Genehmigung des Regionalen Landesamts für Schule und Bildung (S. 1)

Abb. 10: Genehmigung des Regionalen Landesamts für Schule und Bildung (S. 2)

Abb. 11: EU-Datenschutzverordnung zur Online-Umfrage

Abb. 12: Informationsschreiben für die Schüler:innen

Abb. 13: Verteilung der in den Narrationen enthaltenen Gewaltformen

Abb. 14: Gewalterleben in den einzelnen Schulformen

Abb. 15: Gewalterleben in den einzelnen Jahrgangsstufen

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Exemplarische Darstellung der Sequenzanalyse

Tab. 2: Datensatz der schriftlichen Kurznarrationen

Tab. 3: Auswertungsübersicht der Kurznarrationen (Kategorienbildung)

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

„Was als Gewalt bezeichnet oder gedeutet wird und wo die Grenzen von Ge-walt liegen, ist immer auch eine Frage der [...] sozialen Konstruktion.“

(Meßelken, 2018, S. 14)

1 Einleitung

Gewalt ist ein umfassendes Problem, das nahezu jedem Menschen täglich in allen gesell­schaftlichen Bereichen begegnet. Es verwundert daher nicht, dass auch die Institution Schule als gesellschaftliches Teilsystem von diesem Phänomen betroffen ist (Hofmann, 2011, S. 1). Trotz des sehr emotional besetzten Themas sind empirische Daten zur Ein­schätzung dessen, was im Kontext Schule als Gewalt empfunden wird, bisher kaum erho­ben worden (Schubarth, 2020). Erst seit Beginn der 90er-Jahre erlebt die schulische Ge­waltforschung in Deutschland einen deutlichen Aufschwung, wobei nicht zuletzt dramati­sche Medienberichte den Gegenstandsbereich der schulischen Gewalt in den Fokus der Wissenschaft rückten (Fuchs, Lamnek, Luedtke & Baur, 2009, S. 11). Die Erforschung des Gewaltphänomens an Schulen ist mit einer Vielzahl forschungsmethodischer Probleme be­haftet (Klewin, 2006, S. 17). „Diese reichen z.B. von den Definitionsschwierigkeiten des Ge­waltbegriffs über den hohen Grad der Tabuisierung von Gewalt in Schule und Gesellschaft [hin zur, Anm. d. Verf.] [.] Schwierigkeit, Gewaltäußerungen empirisch zu erfassen [.]“ (Schubarth, Kolbe & Willems, 1996, S. 9). Insbesondere das Unterrichtsfach Sport hat bis­lang in der schul- und unterrichtsbezogenen Gewaltforschung nur wenig bis keine Berück­sichtigung gefunden, gilt Gewalt hier gemeinhin eher als unerwünschte und individuelle Aus­nahmeerscheinung (Hunger & Böhlke, 2017, Abs. 1) - nicht zuletzt, weil dem Bewegungs­fach eine ausschließlich positive Intention zugeschrieben wird.

Dem Sportunterricht kommt in der Schule eine sehr bedeutsame pädagogische Aufgabe zu (DOSB, 2009, S. 5). Das Fach ist - im Vergleich zum übrigen Fächerkanon - in besonderer Weise mit der Lebensführung und Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen verbunden und erfüllt in Hinblick auf die Identitätsbildung für Schüler:innen eine wesentliche Funktion (Gerber, 2016, S. 23). Darüber hinaus trägt Sportunterricht auch zum Aufbau eines positiven Selbstkonzeptes von Schüler:innen bei und ist daher in der Bildungseinrichtung Schule nicht mehr wegzudenken (Roth, 2015, S. 22). Im Beschluss der Kultusministerkonferenz ist zu den Zielen des Sportunterrichts festgehalten, dass die Schüler:innen im und durch Sport zu einer umfassenden Handlungskompetenz befähigt werden sollen und mithilfe des Erhalts physischer und psychischer Gesundheit ein wichtiger Betrag zum lebenslangen Lernen ge­leistet werden kann (KMK, 2004, S. 3). An dieser Stelle „[.] wird die große Bedeutung und hohe Verantwortung des Schulsports fur den Einzelnen und fur die Gesellschaft deutlich“ (ebd.). Jedoch besitzt der Sport als gesellschaftliches Teilsystem ebenso wie Schule eine Ambivalenz und ist „[...] daher auch anfällig fur verschiedene Verfehlungen in Form von Gewalt, Ausgrenzung [...] etc.“ (DOSB, 2009, S. 4). So tritt in einem Unterrichtsfach, das zur Vermittlung von Freude an Bewegung und der Prävention gesundheitlicher Risiken vor­gesehen ist, das Phänomen der Gewalt weitaus häufiger in Erscheinung als zunächst ver­mutet (Palzkill, 2017, S. 270). Daraus ergibt sich im Schulsport eine Diskrepanz zwischen der positiven Intention ebendessen und den Folgen, die aus einem Gewalterleben für Schü- ler:innen in diesem Kontext resultieren können. Mit dem Erleben von Gewalt kann nicht nur die Freude an Bewegung vonseiten der Schüler:innen in beträchtlichem Maße beeinflusst werden. Vielmehr noch können hieraus negative gesundheitliche Langzeitfolgen aber auch Abwesenheit im Schulsport oder die Ablehnung von Sport als solches resultieren. Schubarth führt in diesem Zusammenhang an, dass Gewalt mittlerweile fester Bestandteil des Alltags an Schulen sei und keinesfalls verharmlost werden dürfe (2020, S. 15). Zwar scheint es nahezu unmöglich das Auftreten von Gewalt im Schulsport in Gänze zu vermeiden, jedoch können Lehrkräfte durch ihre didaktische Planung und ein positives Klassenklima durchaus ein Miteinander im Sportunterricht gestalten, in dem Gewalt keinen Platz findet (Wagner, Schrewe, Ungerer, Balser & Graupner, 2000, S. 6).

In Hinblick auf die angestrebte Lehrtätigkeit erscheint die Thematik somit besonders wichtig, da für Gewalt im Sportunterricht erst dann eine Sensibilisierung erfolgen kann, wenn auch jene Formen der Gewalt sichtbar gemacht werden, die auf den ersten Blick nicht als solche verstanden oder gemeinhin als typisches Charakteristikum von Sport plausibilisiert werden. Zudem gilt es an dieser Stelle herauszuarbeiten, in welchen unterrichtlichen Zusammen­hängen es aus Sicht der Schüler:innen zu einem Gewalterleben kommen kann, um darauf aufbauend die pädagogisch-didaktische Planung von Sportunterricht anpassen und für Ge­walt empfindlich machen zu können (Palzkill, 2017, S. 271). Hervorgehend aus der hier beschriebenen Problematik ergibt sich das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit. Den Ausgangspunkt der qualitativen Untersuchung zum Gewalterleben im Schulsport bilden daher folgende zentrale Forschungsfragen:

I. In welchen unterrichtlichen Settings und thematischen Zusammenhängen kommt es für Schüler:innen im Schulsport zu einem Gewalterleben?
II. Welche Formen von Gewalt treten im Unterrichtsfach Sport in Erscheinung?

Das Vorhaben der Untersuchung zum Gewalterleben aus Schüler:innensicht dient keines­wegs der Kritik oder Problematisierung von Schulsport im Allgemeinen. Vielmehr geht es darum, hierdurch jene Erlebensmomente von Schüler:innen zu erfassen und zu reflektieren, die im schulsportlichen Kontext nicht beabsichtigt und nicht wünschenswert sind, „[.] um sie perspektivisch im Sinne einer Sensibilisierung fur alltägliche sportunterrichtliche Hand­lungen didaktisch aufgreifen zu können“ (Hunger & Böhlke, 2017, Abs. 9). Im Rahmen die­ser Arbeit sollen keine konkreten Handlungsempfehlungen zur Gewaltprävention im Sport­unterricht abgeleitet oder Aussagen über die Häufigkeit von Gewalterleben im schulsportli­chen Kontext getroffen werden. Vielmehr ist es Ziel, individuelle Erlebensmomente aus Schüler:innensicht sichtbar zu machen und anhand dessen die Phanomenbereiche der Ge­walt im Schulsport herauszuarbeiten.

Für die Beantwortung der Forschungsfragen wird in der vorliegenden Arbeit ein qualitativer Zugang zum Gegenstandsbereich gewählt. Das forschungsmethodische Vorgehen begrün­det sich dabei auf dem Erhebungs- und Auswertungsverfahren von Hunger und Böhlke (2017). Zur Sichtbarmachung des individuellen Gewalterlebens werden die Teilnehmer:in- nen mittels schriftlicher Kurznarration dazu angehalten, eine Situation aus dem Schulsport zu schildern, in der es aus ihrer Sicht zur Gewalt gekommen ist. Die hieraus gewonnenen Daten bilden die Basis für die anschließende Auswertung und Interpretation mithilfe der Se­quenzanalyse nach Soeffner und Hitzler (vgl. Soeffner, 2004; Soeffner & Hitzler, 1994).

Der thematische Aufbau der Arbeit gliedert sich in insgesamt drei Abschnitte. Der erste Ab­schnitt widmet sich primär der theoretischen Verortung des Gegenstandsbereichs durch die Begriffsbestimmung und Wortverwendung von Gewalt (Kap. 2.1) sowie der Darstellung von Entstehungsbedingungen gewalttätigen Handelns (Kap. 2.2). In einem weiteren Schritt folgt ein Überblick über die Gewalt im Kontext Schule mit dem aktuellen Forschungsstand zur Gewalt im Schulsport (Kap. 2.3.1) und einer detaillierten Ausführung zu den Gewaltpotenti­alen schulsportlichen Unterrichts (Kap. 2.3.2). Das Kapitel 2 bildet das theoretische Funda­ment der qualitativen Studie und schafft die Basis und das grundlegende Verständnis von Gewalt für die anschließende Analysearbeit. Der zweite analytische Abschnitt gilt der Skiz­zierung des forschungsmethodischen Vorgehens zur Beantwortung der genannten For­schungsfragen (Kap. 3). Nach Erläuterung des gewählten Forschungszugangs zum Gegenstandsbereich Gewalt in Kapitel 3.1 folgt die Darstellung der Erhebungsmethode mit­tels schriftlicher Kurznarration (Kap. 3.2). Daran anschließend werden in Kapitel 3.3 die Un­tersuchungssituation sowie die Zielgruppe der Studie umfassend konturiert. Abgeschlossen wird der methodische Abschnitt der Arbeit mit der Veranschaulichung der verwendeten Aus­wertungsmethode, anhand derer die in der Studie erhobenen Daten analysiert werden (Kap. 3.4). Auf die Beschreibung der Forschungsmethodik folgt die Ergebnisdarstellung, welche zugleich den zentralen Kern dieser Arbeit bildet (Kap. 4.). Der dritte und letzte Ab­schnitt umfasst unter der Verwendung induktiv hergeleiteter Gewaltkategorien die Darstel­lung der sich aus der Sequenzanalyse ergebenen Gewalterlebensmomente aus Schüler:in- nensicht und diskutiert diese anschließend unter Rückbezug auf die theoretische Rahmung der Arbeit. Zudem wird eine Verortung des Gewaltphänomens in den sozialen Kontext vor­genommen (Kap. 5). Den Abschluss der qualitativen Studie bildet die Schlussbetrachtung sowie ein Ausblick auf weitere zu leistende Forschungsarbeit und Möglichkeiten der Ge- waltpravention im schulsportlichen Kontext in Kapitel 6.

2 Grundlegungen zum Gegenstandsbereich „Gewalt“

„[.] Das nackte Wort Gewalt hat eine negative, wenn nicht düstere Konnotation. Ausgehend vom alltagssprachlichen Gebrauch ist es heutzutage kaum möglich zu sagen, was Gewalt ist.“ (Schnell, 2014, S. 1)

Bereits Heitmeyer und Hagan konstatieren in ihrem Internationalen Handbuch der Gewalt­forschung den Gegenstandsbereich der Gewalt als eines der wohl populärsten und zugleich komplexesten sozialen Phänomene (2002, S. 15). Der stetige Wandel des Gewaltbegriffs und die damit einhergehende Vielschichtigkeit machen es nahezu unmöglich, den Begriff in seiner Gesamtheit zu erfassen und darzulegen (ebd.). Dennoch soll nach einleitender Dar­stellung der grundlegenden Problematik von Gewalt an Schulen im folgenden Kapitel ein einheitliches Begriffsverständnis von Gewalt herausgestellt werden. Durch die theoretische Verortung des Gegenstandsbereichs sowie der Untersuchung der Entstehungsbedingun­gen von Gewalt sollen ein theoretischer Rahmen geschaffen und wertvolle Wirkungszusam­menhänge in Hinblick auf die qualitative Studie erarbeitet werden. Darüber hinaus wird ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand gegeben sowie die Anfälligkeit des Schul­sports als Kontext für ein mögliches Gewalterleben von Schülerinnen aufgezeigt.

2.1 Begriffsbestimmung und Wortverwendung

Für die Untersuchung von Gewaltphänomenen ist es, wie eingangs bereits erwähnt, erfor­derlich, ein differenziertes und einheitliches Begriffsverständnis von Gewalt zu schaffen. Zwar liegt im öffentlichen Diskurs bislang keine einstimmige Auffassung zum Gewaltbegriff vor, dennoch soll im Nachfolgenden eine zweckmäßige, für das Vorhaben angemessene Definition von Gewalt herausgestellt werden, um die Begriffe im weiteren Verlauf klar von anderen Phänomenen abzugrenzen und einen einheitlichen Ausgangspunkt zu gestalten.

Gewalt ist ein vielseitiges und komplexes Phänomen, das wie die Gesellschaft selbst einem stetigen kulturellen Wandel unterliegt. So können die Vorstellungen darüber, welche Ver­haltensweisen als akzeptabel oder nicht akzeptabel empfunden werden, je nach histori­schem und sozialem Kontext abweichen (WHO, 2002, S. 6). Ob Personen ein und dieselbe Sache meinen, wenn Sie den Begriff Gewalt verwenden, ist daher oftmals auch eine Frage der Generation, des Geschlechts oder der sozialen Schicht, der die Personen angehören bzw. Ausdruck ihrer individuellen Bewertungen und Erfahrungen (Kury, 2014, S. 162). So hat jede Person eine ganz eigene, subjektive Vorstellung davon, was sich fur sie hinter dem Gewaltphänomen verbirgt (Selg, Mees & Berg, 1997, zitiert nach Kury, 2014, S. 164). Ins­besondere in der Wissenschaft und dem Alltagsverständnis herrscht Uneinigkeit darüber, was unter Gewalt zu verstehen ist (Gugel, 2006, S. 47).

„Zwar gibt es ein breites Einverständnis darüber, dass Gewalt verletzt und gegebenenfalls tötet, sie vielfältige Varianten der Zerstörung hervorbringt, so dass immer Opfer entstehen, aber spä­testens damit endet auch schon ihre Eindeutigkeit. Unklar ist bereits, wer oder was genau verletzt wurde und wie gravierend die Verletzung ausfällt.“ (Heitmeyer & Hagan, 2002, S. 16)

Des Weiteren kommt dem Gewaltbegriff im deutschsprachigen Raum ein doppelter Bedeu­tungsinhalt zu. Er umfasst einerseits die Komponente der negativen Gewalt als Bezeich­nung für die unrechtmäßige Handlung der persönlichen Gewalt, bei der ein Mensch einem anderen Menschen physisch oder psychisch Schaden zufügt. Andererseits findet der Ge­waltbegriff auch positive Verwendung im Sinne der institutionellen legitimen Gewalt mittels derer von staatlicher Seite bestimmte Ordnungsvorstellungen in der Gesellschaft durchge­setzt werden (Imbusch, 2002, S. 28 f.). Diese besondere Ambivalenz des Gewaltbegriffs stellt sowohl die Gewaltforschung im Allgemeinen als auch die schulbezogene Gewaltfor­schung vor große Herausforderung, da hierdurch eine trennscharfe Erklärung von Gewalt erschwert und der Raum für Definitionen erheblich ausgedehnt wird (Melzer & Schubarth, 2015, S. 23).

Ein weiteres Problem ist die mitunter bedeutungsgleiche Verwendung des Gewaltbegriffs für andere Phanomenbereiche. So wird Gewalt im Alltagssprachgebrauch häufig mit den Begriffen Aggression und Aggressivität in Verbindung gebracht oder gar mit ihnen gleich­gesetzt (Gugel, 2006, S. 48). Nachfolgend sollen die Begrifflichkeiten eigenständig betrach­tet werden, um darauf aufbauend eine Annäherung an eine Definition von Gewalt anzustre­ben. Im weiteren Verlauf der Arbeit finden die Begriffe Gewalt und Aggression synonyme Verwendung. Unter Aggressivität wird ein Verhaltensimpuls oder auch die individuelle Be­reitschaft zu aggressivem Verhalten verstanden (Schubarth, 2013, S. 16). Mit Aggressivität geht daher nicht zwingend eine tatsächliche physische Verletzung des Gegenübers einher. Aggression hingegen ist weniger deutlich vom Gewaltbegriff abzugrenzen. Sie wird als Ur­form der Gewalt bezeichnet und meint „[.] spezifische, zielgerichtete Verhaltensweisen zur Schädigung anderer Personen [.]“ (ebd.) bspw. in Form von körperlichen Angriffen, die sich meist ungehemmt äußern und gegen Menschen, aber auch Sachen gerichtet sind. Da­bei wird bewusst das Zufügen von Schmerz oder Schaden intendiert (Gugel, 2006, S. 47). Mit Aggression sind trivialere Verletzungen oder die Missachtung sozialer Normen verbun­den, denen oftmals ein emotionaler Erregungszustand oder ein aggressives Gefühl voraus­geht (ebd., S. 50). Gewalt hingegen wird nach wissenschaftlichem Verständnis als radikale Aggressionsform oder als Teilmenge der Aggression verstanden und umfasst schwerwie­gende Verletzungen sowie Verstöße gegen Gesetzesgrundlagen (Schubarth, 2013, S. 17).

Trotz unterschiedlicher Konnotation des Gewaltbegriffs existieren bereits zahlreiche Defini­tionsansätze unterschiedlichster Fachrichtungen in der Literatur. In einer Vielzahl der Be­griffsbestimmungen wird Gewalt dabei sehr eng als rein physischer Aspekt mit der Intention einer körperlichen Schädigung des Gegenübers aufgefasst. So verstehen Selg, Mees und Berg „unter Gewalt [.] in erster Linie physische Gewalt [.]“ (1997, S. 7 f.). Auch Bonacker und Imbusch führen die „[.] direkte physische Gewalt, die auf [körperliche, Anm. d. Verf.] Schädigung, Verletzung oder Tötung anderer Personen abzielt“ [Hervorheb. i. O.] (2006, S. 86) als eindeutigste Gewaltform und gleichzeitig auch als Gewalt im engsten Sinne an. Jedoch kann eine rein auf körperliche Schädigung ausgelegte Definition, insbesondere im Hinblick auf die verstärkte Ausweitung und Entgrenzung des Gewaltbegriffs, als Beschrei­bung dem Gegenstandsbereich heute nicht mehr gerecht werden (Gugel, 2006, S. 49).

Vielmehr ist der Blick hin zu weiten Begriffsdefinitionen, die auch psychische Komponenten oder gesellschaftlich-strukturelle Gegebenheiten miteinschließen, zu richten (Klewin, 2006, S. 12). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellt hierzu in ihrem World Report on Vio­lence and Health eine sehr weitgreifende Definition von Gewalt vor:

„Gewalt ist der tatsächliche oder angedrohte absichtliche Gebrauch von physischer oder psycho­logischer Kraft oder Macht, die gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft gerichtet ist und die tatsächlich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verlet­zungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“ (2002, S. 11)

Damit schließt die WHO nicht nur psychische Gewalt mit in ihr Begriffsverständnis ein, son­dernberücksichtigt erstmals auch die Opfer gewalttätigen Handelns sowie mögliche Aus­wirkungen auf ebendiese. Olweus geht in seiner Definition noch einen Schritt weiter und nimmt Bezug auf den Kontext Schule. „Ein Schüler oder eine Schülerin ist Gewalt ausge­setzt [.], wenn er oder sie wiederholt und über längere Zeit den negativen Handlungen eines oder mehrerer anderer Schüler oder Schülerinnen ausgesetzt ist“ (2011, S. 22). Durch die Definition von Gewalt als negative Handlungen schafft er ein uneingeschränktes und subjektiv auslegbares Begriffsverständnis, insbesondere für den Kontext Schule. Zwar ver­weistMöller darauf, dass es durchaus sinnvoll sei, den „[.] Gewaltbegriff in [.] sozialwis­senschaftlichenZusammenhängen eng zu führen, [.] weil eine Inflationierung der Verwen­dung die Aussagefähigkeit des Begriffs schmälert [.]“ (2018, S. 924), jedoch sprechen ei­nigeGründe eben gegen die Reduzierung des Gewaltbegriffs rein auf die physische Kom­ponente hin, wie bspw. Dollase anführt:

„Durch die Verwendung enger Definitionen und Klassifikationen werden unter Umständen Phä­nomene aus der Analyse der [...] [Gewalt, Anm. d. Verf.] herausgehalten, die für ihr grundlegen­des Verständnis wichtig wären. Wer sich in seiner Definition nur auf spektakuläre und eindeutige Fälle der [.] Gewalt beschränkt, kann unter Umständen nicht zu einem gründlichen Verständnis des [.] Gewaltgeschehens an unseren Schulen kommen.“ (2010, S. 12)

Auch Meßelken stützt diese Haltung zur Verwendung weitgreifender Definitionen insbeson­dere in der schulischen Gewaltforschung und konstatiert: „Wer heute [.] Gewalt nur als körperliche Verletzung bzw. seelische Demütigung oder Provokation definiert, dem entge­hen viele andere Möglichkeiten, wie ein Täter sein Gegenüber schädigen kann“ (2018, S. 18). Aufbauend auf den Ansätzen von Dollase und Meßelken wird auch für die vorlie­gende Arbeit eine weite Definition von Gewalt gewählt, um anhand der qualitativen Studie zum Gewalterleben im Schulsport die Erlebensmomente und Bewertungen der Schüler:innen auf ihren subjektiven Inhalt hin untersuchen zu können und herauszuarbeiten, wie unterschiedlich Gewalt auf Schüler:innenebene erlebt und empfunden werden kann. Als allgemeines und einheitliches Begriffsverständnis von Gewalt im Kontext schulbezogener Gewaltforschung für diese Arbeit resultiert daher:

Gewalt ist der bewusste Einsatz von körperlichem Zwang, physischen und psychischen Verletzungen, verbalen Attacken, Mobbing oder gar sexualisierter Gewalt gegen andere Personen, mit dem Ziel der körperlichen oder psychisch-seelischen Schädigung oder Be­einträchtigung ebendieser.

Dabei sind im Besonderen die Definitionsbestandteile der Intentionalität und der Schädi­gung maßgeblich für die weitere Begriffsverwendung (Klewin, Tillmann & Weingart, 2002, S. 1079). Nachfolgend soll nun der Blick auf unterschiedliche Entstehungsbedingungen von Gewalt gerichtet werden, um mögliche Wirkungszusammenhänge zwischen innerschuli­schen und außerschulischen Faktoren und Gewalt im Schulsport darzustellen.

2.2 Entstehungsbedingungen von Gewalt

Die Ursachen von Gewalt können vielfältig sein und setzen eine mehrdimensionale Erklä­rung voraus (Wahl, 2009, S. 3). „Dass Gewalt an der Schule [jedoch, Anm. d. Verf.] sowohl schulexterne als auch schulinterne Ursachen hat, ist in Wissenschaft und Forschung unbe­stritten“ (Tillmann, Holler-Nowitzki & Holtappels, 2000, zitiert nach Gugel, 2006, S. 187). So erscheint es zunächst sinnvoll, den Blick auf unterschiedliche Entstehungsbedingungen von Gewalt zu richten, um verstehen zu können, wie es überhaupt zu Gewalt im Sportunterricht kommen kann und inwieweit die Institution Schule selbst einen Einfluss hierauf ausübt (ebd.). Die Rekonstruktion ebendieser Entstehungsbedingungen stellt dabei einen überaus vielschichtigen Prozess dar (Hofmann, 2011, S. 10). Nach Kessler und Strohmeyer sind die Ursachen für Gewalt in schulischen, gesellschaftlichen, persönlichen sowie familiären Be­reichen zu finden (2009, S. 32) und auch Schäfer und Korn (2002) beziehen sich auf inner­schulische, soziokulturelle, familiäre und individuelle Komponenten als Ursachenfaktoren von Gewalt im Kontext Schule. Die im Folgenden dargestellten Faktoren (vgl. Abb. 1) sind lediglich als mögliche Variablen für die Entstehung gewalttätigen Handelns zu verstehen. Gewaltsituationen können durch diese Einflüsse zwar begünstigt werden, sind in aller Regel jedoch nicht auf eine alleinige Komponente zurückzuführen, sondern treten als Gefüge un­terschiedlichsterPrädiktoren auf, die sich untereinander bedingen (Jungbauer, 2014, S. 102). Darüber hinaus ist nicht jedes Gewalthandeln im Kontext Schule zwingend einer der aufgeführten Variablen zuzuordnen, sondern kann den Ursprung auch in Faktoren ha­ben, die im Rahmen dieser Arbeit nicht konturiert werden (Meier & Tillmann, 2000, S. 41 f.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Entstehungsbedingungen von Gewalt

Quelle: Eigene Darstellung (angelehnt an Schäfer & Korn, 2002)

2.2.1 Innerschulische Faktoren

Der Institution Schule kommt bei der Erklärung und Ursachenforschung von Gewalt eine entscheidende Rolle zu. Die Schule ist für Schüler:innen ein bedeutungsvolles Umfeld, in dem sie einen großen Anteil ihrer Zeit verbringen (Hofmann, 2011, S. 9). Darüber hinaus treffen an diesem Ort unterschiedlichste Charaktere aufeinander, weshalb hier besonders viele Formen von Gefühlsäußerungen und damit auch Gewalt zu finden sind (Tillmann, 1995, S. 179). So kann Schule durchaus schwierige Bedingungen bieten, die zur Entste­hung von Gewalt beitragen können. Dabei lassen sich in der Literatur insbesondere Leis­tungsdruck und Schulversagen, das soziale Klima und die Beziehung zwischen Lehrkräften und Schüler:innen sowie die Schulform als hemmende oder begünstigende Einflussfaktoren ausmachen (Popp, 2009, S. 63 ff.).

Leistungsdruck und Schulversagen: Die Kommunikation in Schule und Unterricht basiert heutzutage mehr und mehr auf Leistungsprinzipien. So kann auch Schule als Teil des ge­sellschaftlichen Systems sich dem zunehmenden Leistungsstreben der Gesellschaft nicht entziehen. „Noten, Zeugnisse und Schulabschlüsse können aus der schulischen Kommuni­kation nicht ausgeklammert werden“ (ebd., S. 63), sodass Schüler:innen immer stärker un­ter Leistungsdruck geraten. Hinzu kommt in den letzten Jahren eine starke Verlagerung der Schulbesuche hin zum Gymnasium, da sich hierdurch - insbesondere vonseiten der Eltern - bessere berufliche Chancen für die Schüler:innen versprochen werden (Mayer, 2013, S. 223). Die Projektion von Versagensängsten durch das elterliche Umfeld sowie das Aus­üben von Leistungsdruck durch Schule und Gesellschaft erzeugen oftmals Angst, Unsicher­heit und hohes Stressempfinden bei den Schüler:innen und können damit aggressives Ver­haltenbegünstigen (Popp, 2009, S. 63 ff.). Auch Schulversagen1 als Resultat von Selektion und Chancenzuteilung ist in seinem Gewaltentwicklungspotential nicht zu unterschätzen (ebd., S. 64). Die Feststellung, für eine bestimmte Schulform nicht ausreichend erfolgreich zu sein, kann bei Schüler:innen emotionale und soziale Krisen herbeiführen und Gewalt­handlungen forcieren (ebd.).

Soziales Klima ünd soziale Beziehüngen: Dem sozialen Klima wird bei der Ursachenklärung von Gewalt ebenfalls eine große Bedeutung zugeschrieben (Gugel, 2006, S. 190). Ein schlechtes Klassenklima wirkt sich negativ auf das Wohlbefinden der Schüler:innen aus (Popp, 2009, S. 66). So stehen bspw. Aspekte wie die allgemeine Kommunikationsebene, die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Schüler:innen und die Stabilität der sozialen Bezie­hungen untereinander in engem Zusammenhang mit gewalttätigen Handlungen der be­troffenenSchüler:innen. Weiterhin birgt auch die fehlende soziale Einbindung in den Klas­senverband ein hohes Gewaltentwicklungspotential (Hofmann, 2011, S. 9). Die Ausgren­zung aus sozialen Gruppen wird ähnlich wie ein körperlicher Schmerz empfunden und kann negative Gefühle und Aggressionen zur Folge haben. Diese können wiederum ein erhöhtes Konfliktpotential in der Klasse forcieren (Mayer, 2013, S. 224). Grundsätzlich ist anzumer­ken, dass sich das Klassenklima und die Entstehung von Gewalt durchaus gegenseitig be­dingen können. Je positiver die soziale Atmosphäre in der Klasse ist, desto weniger physi­sche und psychische Gewalt tritt hier in Erscheinung (Tillmann et al., 2000, S. 233). Jedoch stehen nicht nur die sozialen Beziehungen zwischen den Schüler:innen oder die Grundstim­mung im Klassenverband in Verbindung mit dem Auftreten gewalttätiger Verhaltensmuster, sondern auch die Beziehungsqualität zwischen Lehrkräften und ihren Schüler:innen (Popp, 2009, S. 66). Lehrkräfte müssen mit der Vermittlung beträchtlicher Mengen an Lerninhalten und der Betreuung großer und heterogener Klassenfrequenzen in ihrem Lehralltag vielerlei Ansprüchen gerecht werden. Nicht selten führt dies zu einem Gefühl der Überforderung, zu Stress und damit einhergehender Gereiztheit gegenüber den zu unterrichtenden Schüler:in- nen. Durch mangelndes Engagement oder die restriktive Anwendung und Durchsetzung von Regeln kann die Lehrkraft in nicht unerheblichem Maße negativen Einfluss auf das so­ziale Klima der Klasse nehmen (Gugel, 2006, S. 190). Überdies kann ein etikettierendes oder autoritär-strafendes Verhalten seitens der Lehrkraft ein erhöhtes Konfliktpotential her­vorbringen (Meier & Tillmann, 2000, S. 44). Insbesondere „bei Schüler(inne)n, die verstärkt den Eindruck haben, von ihren Lehrkräften öffentlich bloßgestellt zu werden, führen derar­tige Erfahrungen [.] zu einer Steigerung psychischer und physischer Gewalthandlungen“ (Popp, 2009, S. 66). Abschließend ist auch die Anwendung institutioneller Machtmittel er­gänzend hinzuzufügen. Lehrkräfte können durch die Vergabe von Noten nicht nur eine Se­lektion in „gut“ oder „schlecht“ vornehmen, sondern vergeben mit der Benotung gleicherma­ßen auch berufliche Chancen und können damit die sozialen Lebensbedingungen der Schü- ler:innen signifikant beeinflussen (Heitmeyer & Soeffner, 2004, S. 50). So ist bei der Leis­tungsbewertung die Vergabe „[.] schlechter Zensuren eine typische Bedingung für Frust­rationen, die ihrerseits Aggressionen und Gewalt bei Schülern wahrscheinlicher werden las­sen" (Wilsmann, 2005, S. 110).

Schulform: Neben den sozialen Gegebenheiten an Schulen wird in der Literatur die Schul­form als weiterer Einflussfaktor auf die Entstehung von Gewalt genannt. Dabei können je nach Schulform unterschiedliche Gewaltbereitschaften gezeigt werden. Meier und Tillmann konstatieren hierzu, dass insbesondere an Schulen mit Lernförderung ein erhöhter Anteil psychischer und physischer Gewalthandlungen vorzufinden sei (2000, S. 43). Dies ist unter anderem auf die Ballung von Lerngruppen mit Lernschwierigkeiten oder emotionalen und sozialen Defiziten zurückzuführen (ebd., S. 44). Hinzu kommt, dass die Institution Schule die gesellschaftlichen Struktur- und Chancenbedingungen widerspiegelt, auf welche sie selbst keinen Einfluss nehmen kann. Mit dem Besuch einer bestimmten Schulform geht da­mit oftmals auch die Zuschreibung einer gesellschaftlichen Stellung einher (Weißmann, 2003, S. 59 f.). So können bspw. Kategorisierungen von Schüler:innen an Schulformen mit niedrigerem Bildungsabschluss in „leistungsschwach“ und „versagend“ zu Minderwertig­keitsgefühlen oder zu Versagens- und Zukunftsängsten führen, die ein aggressives Verhal­tenbegünstigen können (Hurrelmann, 1995, S. 41). Insgesamt ist jedoch zu sagen, dass nicht die Schulform selbst als Auslöser für das Aufkommen von Gewalt an Schulen ange­sehen werden kann, sondern vielmehr die Etikettierung und die Häufung spezifischer problematischer Faktoren an ebendieser (Rostampour & Melzer, 2004, S. 187). Zudem darf der schulinterne Kontext nicht losgelöst von äußeren Faktoren wie Gesellschaft, Familie oder persönlichen Dispositionen betrachtet werden. Schulische Gewalt ist immer als kom­plexe Wechselwirkung zwischen innerschulischen und außerschulischen Faktoren zu sehen (Gugel, 2006, S. 190). Daher sind auch die im Folgenden aufgeführten schulexterne Sozia­lisationsprozesse, Werte oder persönliche Erfahrungen „[.] die dann innerhalb des sozia­len Raumes Schule zu gewaltformigen Verhaltensweisen führen können“ (Meier & Tillmann, 2000, S. 43) als Variablen in die Ursachenforschung von Gewalt miteinzubeziehen.

2.2.2 Soziokulturelle Faktoren

„Aus soziologischer Sicht ist Gewalt ein Phänomen, das wesentlich durch gesellschaftliche Verhältnisse [.] bedingt ist“ (Jungbauer, 2014, S. 104). So sind mit soziokulturellen Ursa­chenfaktoren für die Gewaltentstehung jene Lebensbedingungen von Schüler:innen ge­meint, die mit ihren sozialen Strukturen und kulturellen Normen und Werten in Verbindung stehen. Insbesondere außerschulische Sozialisationsprozesse durch das Freizeit- und Me­dienverhalten der Schüler:innen und deren Peergroup, aber auch die Wohn- und Lebens­bedingungen rücken hierbei als mögliche Prädiktoren in den Fokus (Melzer & Rostampour, 2006, S. 138). Jugendliche entwickeln ihre Handlungs- und Deutungsmuster heutzutage nicht mehr ausschließlich über die Sozialisationsinstanz des Elternhauses. Vielmehr kommt bei der Vermittlung von Wertmaßstäben und Verhaltensweisen der Peergroup eine bedeu­tende Funktion zu. Gleichaltrige dienen maßgeblich der individuellen Orientierung sowie der Gestaltung eines eigenen Lebensstils und sind daher wesentlicher Bestandteil im Prozess der Identitätsfindung von Jugendlichen (ebd., S. 153; Fuchs, Lamnek & Luedtke, 2001, S. 217). Grade Schüler:innen, die aus schwierigen familiären Verhältnissen stammen, bietet die Zugehörigkeit zu entsprechenden Cliquen eine Form der „sozialen Heimat“, in der sie Solidarität erfahren, Unbeschwertheit und Anerkennung genießen (Wahl, 2009, S. 146). Je­doch kann die Zuordnung zu delinquenten Peergroups und damit vielfach einhergehendes unstrukturiertes Freizeitverhalten, bspw. Abhängen und Langeweile, auch eine negative Wirkung entfalten und Gewalt und Aggression bei Schüler:innen forcieren (BKA, 2003, S. 3; Fuchs et al., 2001, S. 217). Gewalt tritt dabei als Gruppenphänomen in Erscheinung. Durch die gleichmäßige Verteilung der Verantwortung für gewalttätiges Handeln wird die Aggressionshemmung in der Peergroup gesenkt, wodurch sich die Bereitschaft zur Umset­zung und Anwendung von Gewalt erhöhen kann (Hodges, Card & Isaacs, 2002, S. 628). Ein weiterer soziokultureller Faktor ist die Lebens- ünd Wohnsitüation von Schüler:innen. „Insbesondere die unteren Gesellschaftsschichten, die ökonomisch und sozial belasteten Wohngebiete und die dortigen subkulturellen Milieus oder Nachbarschaften“ (Wahl, 2009, S. 154) werden als risikobehaftete Bedingungen für Gewaltentstehung bei Jugendlichen an­gesehen. So können Aspekte wie eine hohe Arbeitslosigkeit, regionale Armut und damit einhergehende Orientierungs- und Perspektivlosigkeit, aber auch Frust im sozialen Umfeld begünstigend auf aggressives Verhalten wirken (Stangl, 2021). Zudem gehen mit proble­matischen Wohnbedingungen (bspw. Gettoisierung) oftmals auch hohe Verbrechensraten oder starke Präsenzen von Banden und Gangs im subkulturellen Milieu der Schüler:innen einher, die eine leichte Verfügbarkeit von Drogen oder ähnlichen Substanzen bedingen (Wahl, 2009, S. 155). Neben Langeweile und Frust können auch schulinterne Faktoren, wie hoher Leistungsdruck, Überforderung und Versagensängste (vgl. Kap. 2.2.1) dazu führen, dass Jugendliche zu Drogen greifen, um Stresssituationen und schwierige Lebensphasen zu bewältigen (Fuchs et al., 2009, S. 241). Die Frage danach, ob der Konsum von Sucht­mitteln die Gewalt bedingt oder der Weg der Gewalt erst zu den Drogen führt, lässt sich zwar wissenschaftlich nicht eindeutig festmachen. Fakt ist jedoch, dass Substanzen wie bspw. Alkohol, Kokain und Crack vielfach zu Stimmungsveranderungen führen, „[.] die in Aggressivität, erhöhte[r] Gewaltbereitschaft sowie Gewalttätigkeit münden können“ (ebd., S. 240) und sich damit auch begünstigend auf die Gewaltentstehung im schulischen Kontext auswirken. Als letzter soziokultureller Ursachenfaktor von Gewalt ist der Medienkonsüm der Schüler:innen anzuführen. Die Auswahl und der Stellenwert von Medien sind nicht per se Auslöser gewalttätigen Handelns, jedoch können Computerspiele oder Filme mit gewaltsa­men Inhalten maßgeblichen Einfluss auf den Umgang mit Konfliktsituationen und negativen Emotionen nehmen und so auch Gewalt im Kontext Schule forcieren (Wahl, 2009, S. 148). Über Medien werden Schüler:innen weitaus häufiger und intensiver mit Gewalt konfrontiert als dies im alltäglichen Leben der Fall ist. Vielfach wird hier die gewalttätige Problemlösung als gesellschaftlich anerkannt deklariert, wodurch die Gefahr einer „Normalisierung“ von Ge­walt und Aggression für die Schüler:innen entsteht. Ist diese Form von Medienkonsum dar­über hinaus in eine wenig haltbietende Familienstruktur gebettet, scheint die gewaltför­dernde Wirkung der Medien besonders hoch (Melzer & Rostampour, 2006, S. 157).

2.2.3 Familiäre Faktoren

Die Ursachen für gewalttätiges oder aggressives Verhalten von Schüler:innen in der Schule liegen vielfach bereits in der frühen Kindheit begründet. Da sich die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Kontext jener Beziehungen vollzieht, in denen sie leben, kommt der Familie als primäre und wichtigste Sozialisationsinstanz im psychisch-seelischen Entfal­tungsprozess eine fundamentale Rolle zu (Cierpka, 2008, S. 21 f.). Die Familie kann die Gewaltneigung der Schüler:innen in vielfältiger Weise sowohl positiv als auch negativ be­einflussen. Von der Vorbildfunktion beider Elternteile als solches über die emotional-soziale Bindung, den elterlichen Erziehungsstil bis hin zur direkten und indirekten Weitergabe von Verhaltensmustern (Wahl, 2009, S. 128). Ein wesentlicher Faktor bei der Entstehung von Gewalt sind dabei persönliche frühkindliche Entwicklungsverletzungen durch Familienmit­glieder, aber auch das Erleben von Gewalt im unmittelbaren Umfeld, bspw. an Geschwistern oder zwischen den Elternteilen. Bussmann (2005, S. 9) konstatiert in diesem Zusammen­hang, dass frühe Erfahrungen mit körperlicher und psychischer Gewalt den Kindern bereits von klein auf eine „Selbstverständlichkeit“ ebendieser vermitteln. Das alltägliche Erleben beschönigt die Einstellung zur Gewalt, wodurch betroffene Jugendliche auch außerhalb des familiären Umfelds auf gewalttätige Verhaltensmuster zurückgreifen (Pfeiffer, Wetzels & En- zmann, 1999, S. 38). Als weitere Prädiktoren gehen aus der Literatur familiäre Belastungen wie Scheidungs- oder Trennungskonflikte sowie der Verlust von Familienmitgliedern hervor. Eine hohe Problembelastung aufseiten der Eltern wird in der Familie nicht selten auch auf die Kinder und Jugendlichen übertragen und kann daher aggressive Verhaltensweisen be­günstigen (BKA, 2003, S. 2). Herrscht darüber hinaus innerhalb der Familie eine unzu­reichende Konfliktkultur, indem sowohl die Eltern untereinander Probleme über gewalttäti­ges Handeln lösen als auch Konflikte zwischen Eltern und Kind über körperliche und psy­chische Gewalt bewältigt werden, kann dies zusätzlich eine Neigung zur Gewalt fördern (Melzer & Rostampour, 2006, S. 141). Wie bereits oben erwähnt, können auch der Erzie­hungsstil sowie die emotional-soziale Bindung zu den Eltern entscheidenden Einfluss auf die Gewaltentwicklung bei Schüler:innen nehmen. Neben persönlichen Dispositionen (vgl. Kap. 2.2.4) sind dies die entscheidendsten und verhaltensprägendsten Aspekte in der Per­sönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen (Wahl, 2009, S. 128). Mit einer ge­walttätigen Erziehung geht gleichermaßen Aggressivität bei Kindern und Jugendlichen ein­her (ebd., S. 157). So können zum einen fehlende Grenzsetzung und Disziplinierung aber auch überhöhter Leistungsdruck und das Gefühl, dauerhaft einem Ideal der Eltern entspre­chen zu müssen, Aggressionen schüren und gewalttätiges Handeln bei Schüler:innen her­vorrufen (Fuchs et al., 2009, S. 142). Zum anderen ist fehlende Liebe und Zuwendung sowie geringe emotionale Bindung und Geborgenheit in Bezug auf die Eltern als wesentlicher Ur­sachenfaktor anzusehen (Gugel, 2006, S. 187 f.) Im Umkehrschluss kann sich eine stabile emotional-soziale Beziehung zur Familie aber auch positiv auf die Gewaltneigung von Kin­dern und Jugendlichen auswirken und damit vor Gewalt und Aggressionen im schulischen Kontext schützen (Gerber, 2019). Bei Schüler:innen die aus einem familiären Umfeld kom­men, dass von Verständnis und Unterstützung der Eltern geprägt ist, zeigen sich demzu­folge weitaus weniger aggressive Verhaltensweisen (Fuchs et al., 2001, S. 204). Abschlie­ßend ist die ökonomische Sitüation der Familie als möglicher Ursachenfaktor anzuführen. Mit einer ungünstigen finanziellen Lage bspw. bedingt durch elterliche Arbeitslosigkeit, geht oftmals eine ökonomische Marginalisierung der Familie einher. Familiäre Armut und finan­zielle Probleme können einen wesentlichen Stressfaktor innerhalb der Familie darstellen und sich in Form von Unzufriedenheit und Frustration seitens der Eltern maßgeblich auf den Umgang mit den Kindern und die Grundstimmung in der Familie auswirken (ebd., S. 127 ff.). Darüber hinaus resultiert aus ökonomischen Problemen und unerfüllten Konsumbedürfnis­sen der Schüler:innen vielfach auch Neid gegenüber finanziell bessergestellten Peers, wodurch ebenfalls aggressive und gewalttätige Handlungen in der Schule bedingt werden können (ebd., S. 142).

2.2.4 Individuelle Faktoren

Neben innerschulischen Faktoren sowie soziokulturell und familiär bedingten Ursachen der Gewalt spielen auch Persönlichkeitsmerkmale, genetische Dispositionen und spezifische Verhaltensmuster der Schüler:innen bei der Entstehung von Gewalt in der Schule eine be­deutende Rolle (Kleber, 2003, S. 65). So steht bspw. eine hohe Ängstlichkeit oder ein ge­ringes Selbstwertgefühl von Schüler:innen in einem engen Zusammenhang mit gewalttäti­gen Handlungen im Kontext Schule. Auch eine verminderte Aggressionskontrolle und Frust­rationstoleranz sowie eine erhöhte Stressanfälligkeit aufgrund - in früher Kindheit (vgl. Kap. 2.2.3) - nicht erlernter Bewältigungsmechanismen werden in Verbindung mit einer Ge­waltneigung bei Jugendlichen wiederholt thematisiert (Wahl, 2009, S. 74 ff.). Darüber hinaus kommt dem Verständnis der eigenen Gefühle bei der Entstehung von Gewalt eine große Bedeutung zu, „[.] weil es als ein emotionaler Aspekt des sozialen Verstehens entschei­dendüber die Motivation bestimmt, Impulse zu kontrollieren und Emotionen zu regulieren“ (Malti, 2003, S. 16). So kann ein Mangel an sozialer Kompetenz bspw. ein geringes Reper­toire an Konfliktbewaltigungsstrategien, eine geringe Selbst- und Impulskontrolle bei den Jugendlichen bedingen und so auch Gewalt forcieren (ebd., S. 58). Zudem resultiert aus Defiziten in der emotionalen Kompetenz und im sozialen Verstehen vielfach ein Mangel an Empathie, weshalb es Schülerinnen mit Gewaltneigung oftmals schwerfällt, sich in andere Personen hineinzuversetzen, die Gefühle anderer zu erkennen und Emotionen oder Mitge­fühl sprachlich auszudrücken (ebd., S. 16). Weiterhin wird in der Literatur besonders das Alter als Prädiktor für die Entstehung von Gewaltbereitschaft bei Schüler:innen thematisiert (Melzer, Schubarth & Ehninger, 2004, S. 91 ff.). Insbesondere in der Jugend durchleben Schüler:innen vielfältige körperliche und emotionale Veränderungsprozesse, weshalb der Pubertät hier eine zentrale Rolle zukommt (Stangl, 2021). „Die Pubertät ist eine wichtige Phase, in der die jungen Menschen ihre Persönlichkeit ausbilden. Der Prozess ist [...] eine Phase des Suchens, Ausprobierens, Zweifelns und Sich-selbst-Findens“ (Schneider, Jacobi & Thyen, 2020, S. 75) und ruft dabei oftmals große Verunsicherung und Selbstzweifel in den Jugendlichen hervor. Zur Bewältigung von Ängsten oder der Kompensation eines ge­ringen Selbstwertgefühls kommt es in der Folge dabei auch zu aggressiven oder gewalttä­tigen Verhaltensweisen (Wilsmann, 2005, S. 110). Die Hochphase der Pubertät vollzieht sich innerhalb des 12. und 16. Lebensjahres, weshalb im schulischen Kontext insbesondere zwischen der 8. und 10. Klasse eine hohe Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen zu erkennen ist (Tillmann, 1997, zitiert nach Melzer et al., 2004, S. 91). Einen weiteren Ursachenfaktor von Gewalt kann in diesem Zusammenhang auch Bewegungsarmut bei Schüler:innen dar­stellen. So ist ein Mangel an Bewegung heutzutage nicht zuletzt aufgrund eines zunehmend unstrukturierten Freizeitverhaltens oder eines hohen Medienkonsums (vgl. Kap. 2.2.2) zu einem ernst zu nehmenden Problem geworden, mit dem sich auch Schulen auseinander­setzen müssen. Insbesondere in Großstädten ist Bewegungsarmut stark verbreitet. Der na­türliche Bewegungsdrang von Kindern wird hier vielfach bereits im Keim erstickt, indem Sportplätze und Bewegungsräume immer knapper werden und damit die Entfaltungsfreiheit von Kindern und Jugendlichen zunehmend eingeengt wird. Abweichende Verhaltensmuster bei Schüler:innen, wie negative Veränderungen des Sozialverhaltens, aber auch Gewalt und Aggressionen scheinen somit nahezu unvermeidbar (Pilz, 2003, S. 12 f.).

2.3 Gewalt im Kontext Schule

Gewalt im Kontext Schule ist keinesfalls ein neuartiges Phänomen. Vielmehr ist schon seit langem ein besonderes Verhältnis der Institution Schule zur Gewalt erkennbar - war es doch bis in die 70er Jahre hinein allgemein üblich Gewalt gegen Schüler:innen anzuwenden (Melzer et al., 2004, S. 20). Da die Schule eine Begegnungsstätte darstellt, die von allen Kindern und Jugendlichen zu durchlaufen ist und in der unterschiedlichste Persönlichkeiten und damit auch Emotionen aufeinandertreffen, ist es nicht verwunderlich, dass Gewalt auch heute in der Schule und im Sportunterricht wiederkehrend in Erscheinung tritt (Schubarth, Niproschke & Wachs, 2016, S. 1). Allerdings scheint das Phänomen der Gewalt im schuli­schen Kontext inzwischen weitaus diffiziler, als dies noch vor einigen Jahren der Fall gewe­sen ist (ebd., S. 6).

Im Rahmen der Literaturrecherche wurde deutlich, dass nach wie vor nur eine sehr geringe Anzahl sportpädagogischer Beiträge zum Thema Gewalterleben im Schulsport zu finden ist und sich diesbezüglich - wie eingangs bereits erwähnt - ein Forschungsdefizit auftut (ebd., S. 5). Ferner existierten überwiegend ältere Studien zum Gewaltphänomen im schulsportli­chen Kontext, welche einer zeitgemäßen Beschreibung des Gegenstandsbereichs nicht mehr gerecht werden und daher eine neue Betrachtung von Gewalt im Schulsport unum­gänglich erscheint. Das folgende Kapitel widmet sich zum einen der Herausstellung des aktuellen Forschungsstandes, um festzustellen, was die schulische Gewaltforschung bis­lang erreicht hat und welche Entwicklungsperspektiven sich hieraus für den Sportunterricht ergeben. Zum anderen soll in einem weiteren Schritt das neuralgische Potential von Schul­sport für das Erleben von Gewalt genauer konturiert werden.

2.3.1 Aktueller Forschungsstand zur Gewalt im Schulsport

„Obwohl das öffentliche Interesse an dem Thema Gewalt an Schulen' recht groß ist, gibt es nur wenige repräsentative Studien zu schulischer Gewalt, was eine genaue Einschätzung der aktu­ellen Lage erschwert.“ (Schubarth et al., 2016, S. 5)

Wie eingangs in der Problemstellung der Arbeit erläutert (vgl. Ka. 1), erlebt die schul- und unterrichtsbezogene Gewaltforschung erst seit Beginn der 90er-Jahre in Deutschland einen deutlichen Auftrieb (Klewin, 2006, S. 16). Zwar liegt zum Thema Gewalt an Schulen bereits eine Vielzahl an Studien und Publikationen vor, empirische Daten zur Bedeutung des Gewaltbegriffs und der Einschätzung, was im Kontext Schule und Schulsport als Gewalt empfunden wird, sind bislang jedoch kaum erhoben worden. Aus diesem Grund soll das folgende Kapitel einen Einblick in die bisher geleistete Forschungsarbeit und die sich hie­raus ergebenen Entwicklungsperspektiven für den schulsportlichen Unterricht geben.

Um einen Überblick über die aktuelle Forschungslage von Gewalt im Schulsport zu erlan­gen, wurde im Rahmen der vorliegenden Studie unter anderem das Fachinformationssys­tem Bildung auf einschlägige Literatur hin untersucht. Unter den Aspekten „Gewalt“ und „Schulsport“ finden sich Stand 14.06.2021 insgesamt 67 Studien und Publikationen, von denen jedoch nur 22 der interessierenden Thematik zugeordnet werden können. Wichtige Autor:innen wie Wilfried Schubarth (vgl. 2013; 2020) und Wolfgang Melzer (vgl. 2006) aber auch Dan Olweus (vgl. 2011) und Klaus-Jürgen Tillmann (vgl. 2012) befassten sich in den letzten Jahren intensiv mit der Thematik der Gewalt an Schulen. Der Fokus ihrer Forschun­gen lag in diesem Zusammenhang jedoch vermehrt auf der Erklärung von Gewaltentste­hung sowie der Erarbeitung von Handlungsansätzen zur Prävention von Gewalt an Schulen. Unter der Suchprämisse des sportpädagogischen Fachbereichs finden sich weitaus weni­ger Autor:innen, die sich explizit der Gewalt im Schulsport gewidmet haben. Hier sind be­sonders Wolf-Dietrich Miethling (vgl. 2002) und Claus Krieger (vgl. 2002) anzuführen, die sich eingehend mit Gewalt und deren Kultivierung im Schulsport auseinandersetzten. Dar­über hinaus erhoben Miethling und Krieger (vgl. 2004) mit ihrer Studie: Schüler im Sportün- terricht: die Rekonstrüktion relevanter Themen ünd Sitüationen des Sportünterrichts aüs Schülersicht erstmals qualitative Daten zu subjektiven Empfindungen von Schüler:innen im Schulsport. Jedoch stellt das Phänomen der Gewalt in den Untersuchungsergebnissen der Studie keinen zentralen Themenbereich dar. In den bisherigen, zumeist quantitativen Erhe­bungen wird Gewalt im Schulsport vielfach mit Aspekten der Gewaltprävention in Verbin­dung gebracht (vgl. Gugel, 2006; Melzer, Schubarth & Ehninger, 2011; Pilz, 2001). Darüber hinaus werden auch die Thematiken der sexualisierten Gewalt sowie Grenzüberschreitun­gen und Scham in der Literatur vermehrt mit Gewalt im Schulsport zusammengeführt (vgl. Hunger &Böhlke, 2017; Hunger, Böhlke & Wilke, 2017). Lückenhaft untersucht bleibt in den vorangegangenen Forschungsarbeiten hingegen die Frage nach dem individuellen Gewalt­empfinden und den Erscheinungsformen der Gewalt im schulsportlichen Kontext. Auch die im Rahmen dieser Arbeit interessierende Fragestellung nach unterrichtlichen Zusammen­hängen, in denen es aus Sicht der Schüler:innen zu einem Gewalterleben kommt, ist bislang nur selten bis gar nicht Gegenstand unterrichtlicher und schulischer Gewaltforschung ge­wesen (Gugel, 2006, S. 49). Fuchs et al. unterstreichen diese These und konstatieren, dass bei der Betrachtung von Gewalt in der Schule noch immer die Betroffenen selbst unzu­reichend in die Forschung einbezogen werden (2009, S. 12). Dabei nimmt insbesondere das Bewegungsfach Sport im Kontext Schule eine besondere Stellung ein. Der Sportunter­richt unterscheidet sich in seinen Umgangsformen und Gepflogenheiten in vielfacher Hin­sicht von denen anderer Fächer. Er bietet Schüler:innen einen einzigartigen Erfahrungs­raum und bringt vielfältige Lernchancen hervor, birgt jedoch auf der anderen Seite aufgrund der körperlichen Exponiertheit und Nähe auch außergewöhnliche Risiken, die es bei der didaktischen Planung und Durchführung zu berücksichtigen gilt (Schicklinski & Hofmann, 2018, S. 55). Um einen nachhaltigen Beitrag zur Vermeidung von Gewalt leisten zu können und Lehrkräfte gezielt für diese Thematik zu sensibilisieren, sollte diesem Phanomenbereich künftig in der Forschung eine besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden.

Trotz lückenhafter Forschungslage wird aus dem aktuellen Stand der schulbezogenen Ge­waltforschung ersichtlich, dass sich in den letzten Jahren zunehmend ein Bewusstsein für Gewalt im Schulsport herausgebildet hat. Nicht zuletzt verweist hierauf auch die Aufnahme der Thematik in das Curriculum für das Unterrichtsfach Sport in Niedersachsen. So wurde „Aggression und Gewalt im Sport“ als sporttheoretisches Themenfeld im Kernkurrikulum der gymnasialen Oberstufe in Niedersachsen aufgenommen (Nds. Kultusministerium, 2018a, S. 49). Und auch die Rahmenrichtlinien für das Unterrichtsfach Sport an berufsbildenden Schulen wurden mit dem Grundsatz der „Toleranz“ um einen wesentlichen Aspekt zur Ver­meidunggrenzüberschreitender Erlebnisse im Kontext Schulsport ergänzt (Nds. Kultusmi­nisterium, 2018b, S. 4 ff.). Insgesamt „[.] scheint [es, Anm. d. Verf.] also einen Fundus von Forschungsergebnissen über schulische Gewalt zu geben und eine Reihe von Vorschlägen, wie ihr begegnet werden kann. Weitgehend offengeblieben ist jedoch, wie [.] SchülerInnen über dieses Problem denken [.]“ (Klewin, 2006, S. 7). Die Sichtbarmachung von Erlebens­momenten der Gewalt aus Schüler:innensicht im Schulsport sowie deren unterrichtliche Ein­bettung bildet demzufolge den zentralen Kern der vorliegenden Arbeit.

2.3.2 Gewaltpotentiale des Sportunterrichts

„[...] Sport als Teilbereich der Gesellschaft [ist, Anm. d. Verf.] ambivalent und daher auch anfällig für verschiedene Verfehlungen in Form von Gewalt, Ausgrenzung [...] etc.“ (DOSB, 2009, S. 4)

Das Unterrichtsfach Sport hat im schulischen Fächerkanon eine besondere Rolle inne. So stehen in keinem anderen Schulfach die Bewegung und der Erwerb praktischer Erfahrungen so stark im Zentrum des Unterrichtsgeschehens wie hier (Kurz, 2010, S. 49). Nicht zuletzt aufgrund seiner immanenten Körperlichkeit ist der Sportunterricht mit nahezu keinem ande­ren Fach in der Schule zu vergleichen (Fischer, Holzamer & Meier, 2017, zitiert nach Kleinert & Wolf, 2020, S. 7). Bereits Hunger et al. (2017) betonen in ihrem Beitrag das neuralgische Potential von Sportunterricht für das Erleben von Grenzüberschreitungen2 und auch im Hin­blick auf Gewalt im schulsportlichen Kontext kann eine solche Anfälligkeit ausgemacht wer­den. Der Sportunterricht ist in besonderer Weise mit der Lebensführung und Persönlich­keitsentwicklung junger Menschen verbunden. Er erfüllt im Prozess der Identitätsbildung eine wichtige Funktion für Schüler:innen und ist daher in der Bildungseinrichtung Schule nicht mehr wegzudenken (DOSB, 2009, S. 5). Allerdings ergibt sich aus dem Sportunterricht als solches immer wieder auch ein fachspezifisches Problem. „[.] Die Orientierung des Faches an den Sportarten und damit an den Bewegungsnormen und Korperidealen, die der organisierte Sport erwartet“ (Klinge, 2009, S. 297) begrenzt den Gegenstand des Sportun­terrichts auf den Körper und macht ihn hiermit zum zentralen Medium. So unterliegen so­wohl die sportlichen Leistungen als auch der Körper der Schüler:innen außerschulischen Ansprüchen, die sich mitunter „[.] an normativen Kriterien wie Gewicht, Proportionalität, Fitness etc. messen [.]“ (Hunger &Böhlke, 2017, Abs. 5). Gleichzeitig bildet der Körper den Ausgangspunkt aller unterrichtlichen Handlungen und ist Bezugspunkt von Bewertun­gen durch die am Sportunterricht beteiligten Personen (ebd., Abs. 4). Die im Schulsport allgegenwärtige Beobachtung und Kommentierung durch die Lehrkraft, die vielfach infor­mellenÄußerungen von Mitschüler:innen aber auch die zumeist stark körperbetonte Sport­bekleidung (z. B. Schwimmbekleidung) sind für ein Gewalterleben daher besonders voraus­setzungsreich (DBS, 2021). Darüber hinaus kommt es im Sportunterricht immer wieder auch zu Situationen, in denen Sportlehrkrafte bspw. durch das Betreten von Umkleidekabinen, Einblicke in die Intimsphäre ihrer Schüler:innen erhalten oder es durch die didaktisch vor­gesehene Hilfestellungen zu Berührungen kommt, die von Schüler:innen als grenzüber­schreitend wahrgenommen werden können (Schicklinski & Hofmann, 2018, S. 56). Somit ist auch eine Anfälligkeit für sexualisiertes Gewalterleben unter den Gewaltpotentialen des Sportunterrichts zu thematisieren (Neumann, 2016, S. 170).

Neben äußerlichen Vergleichs- und Bewertungsprozessen, die Anlass für Demütigungen und Erniedrigungen sein können, bietet auch die starke Körperzentriertheit bestimmter sportlicher Aktivitäten eine Anfälligkeit für Gewalt im schulsportlichen Kontext. So werden Leistungsunterschiede zwischen Schüler: innen im Sportunterricht besonders stark sichtbar, da sie nicht wie im Klassenraum durch ein „Nicht-Melden“ verborgen werden können (Her­mann, Gogoll & Gerlach, 2020, S. 8). Unterrichtliche Inszenierungen von Bewegungsabläu­fen sowie Übungspräsentationen vor dem Klassenverband exponieren Defizite im Bewe­gungskönnen der Schüler:innen in besonderem Maße. „Ein Rückzug der Schuler/innen aus den sportunterrichtlichen Situationen ist [.]“ (Hunger &Böhlke, 2017, Abs. 4) hierbei na­hezuunmöglich, gilt die körperzentrierte Interaktion im Schulsport doch gemeinhin als di­daktischeSelbstverständlichkeit (ebd., Abs. 7). Mit der körperlichen Zurschaustellung kön­nen bei den Schüler:innen negative Emotionen auftreten, die insbesondere ein psychisches Gewalterleben forcieren können. So verweist auch Baumann (2018) in diesem Zusammen­hang auf die Untrennbarkeit von (Schul-)Sport und Emotionalität und der hieraus hervorge­hendenAnfälligkeit für Gewalthandlungen im Sportunterricht (S. 250).

Eine weitere Besonderheit im Schulsport stellt neben der Exponiertheit der oftmals unver­meidbareKörperkontakt bei sportlichen Spielen dar. So bergen zum einen Mannschafts­und Ballsportarten durch körperliche Nähe oder Rigorosität in vielerlei Hinsicht Gewaltpo­tentiale, aber auch das im Schulsport fest verankerte Wettkampfprinzip kann unter Umstän­den zu einem Gewalterleben bei Schüler:innen führen (Hermann et al., 2020, S. 8). In vielen Sportarten sind „[...] Gewalt und Einschüchterung in Form eines ,Spiel-Kampfes‘ zwischen zwei Einzelpersonen oder zwei Gruppen zentrale Bestandteile“ (Dunning, 2002, S. 1131), wodurch sich verschiedenste Möglichkeiten des Kräftemessens oder der Demonstration von Macht innerhalb des Klassenverbandes bieten (Baumann, 2018, S. 274). Jedoch wird die mit Gewalt assoziierte Körperlichkeit oder ein unfaires Spiel im Sportunterricht vielfach als „Normalität des Sportes“ oder kalkuliertes Verletzungsrisiko verstanden und anhand des sportlichen Codes oder gar den Regeln des Spiels legitimiert und plausibilisiert (Hunger et al., 2017, S. 265). Neben der Körperbetonung im sportlichen Spiel kann auch der Code „Sieg und Niederlage“ ein besonderes Konflikt- und Gewaltpotential im schulsportlichen Kontext hervorrufen. Dunning (2002) konstatiert in diesem Zusammenhang: „Alle modernen Sportarten sind von Natur aus kompetitiv und teilen die Menschen in ,Gewinner‘ und Ver­lierer' ein [...]“ (S. 1311). Im Zuge des Verlierens kommt es dabei nicht selten zu Emotionen wie Frust, Enttäuschung oder Aggressionen und Wut, die sich gegenüber anderen am Sportunterricht beteiligten Personen in Form von Gewalt äußern können.

Abschließend kann in Hinblick auf das neuralgische Potential für das Erleben von Gewalt eine gewisse Ambivalenz im Schulsport ausgemacht werden (Neumann, 2016, S. 170). Die Wahrnehmung von Situationen als gewaltbehaftet oder nicht sowie das Erleben von Gewalt selbst können im schulsportlichen Kontext durchaus subjektiv verschieden ausfallen, was insbesondere auf das stark individuell geprägte Begriffsverständnis von Gewalt zurückge­führt werden kann (vgl. Kap. 2.1).

3 Zur Anlage der Untersuchung von Gewalterleben im Schulsport

Das nachfolgende Kapitel widmet sich dem forschungsmethodischen Vorgehen bei der Da­tenerhebung und -analyse der vorliegenden Studie sowie der Festlegung und Anwendung eines geeigneten Untersuchungsinstruments. Der Erkenntnisbeitrag dieser Arbeit liegt in der Sichtbarmachung unterrichtlicher Settings, in denen es zu einem Gewalterleben von Schülerinnen im Schulsport kommt. Darüber hinaus soll systematisch aufgedeckt werden, welche Formen die Gewalt in diesem Zusammenhang annimmt. Gewalt tritt in unterschied­lichsten Facetten in Erscheinung und ist in ihrer Bedeutung stets eine Frage der individuel­len Wirklichkeitskonstruktion (Meßelken, 2018, S. 14). Aus diesem Grund ist es erforderlich, einen forschungsmethodischen Zugang zu finden, mit dem ein konkretes Abbild dieser Si­tuationen erzeugt und die individuelle Perspektive der Schülerinnen auf das Gewalterleben nachvollzogen werden kann. Um einen Einblick in die subjektiven Sichtweisen auf den Phanomenbereich der Gewalt zu erhalten, wird im weiteren Verlauf die Theorierichtung der hermeneutischen Wissenssoziologie verfolgt.

Ausgehend vom vorliegenden Forschungsinteresse wird zunächst der gewählte For­schungszugang zum Gegenstandsbereich begründet dargestellt sowie das im Rahmen die­ser Untersuchung verfolgte theoretische Konzept beschrieben. Es folgt eine fundierte Er­läuterung der Erhebungsmethode, mit der sich dem Gegenstandsbereich Gewalt genähert wird. Nach Vorstellung der konkreten Erhebungssituation und der Zielgruppe wird abschlie­ßend die angewandte Auswertungsmethode umfassend konzeptualisiert (vgl. Abb. 2).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Forschungsdesign der qualitativen Studie

Quelle: Eigene Darstellung

[...]


1 Schulversagen meint hier bspw. die Gefährdung der Versetzung in die nächsthöhere Klassenstufe, Klassen­wiederholungen, den Abstieg in eine andere Schulform bis hin zu Schulverweisen (Popp, 2009, S. 64).

2 In dem Artikel von Hunger et al. (2017) zum Thema Körper im Fokus: Erlebte Grenzüberschreitungen im Sportunterricht finden sich in Bezug auf das neuralgische Potential des Sportunterrichts vielfach thema­tische Überschneidungen mit dem hier beschriebenen Phanomenbereich der Gewalt.

Ende der Leseprobe aus 143 Seiten

Details

Titel
Gewalterleben im Schulsport. Eine qualitative Analyse der Erfahrungen von Schülern
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
143
Katalognummer
V1154548
ISBN (eBook)
9783346550712
ISBN (Buch)
9783346550729
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gewalterleben, schulsport, eine, analyse, erfahrungen, schülern
Arbeit zitieren
Lina Röttger (Autor:in), 2021, Gewalterleben im Schulsport. Eine qualitative Analyse der Erfahrungen von Schülern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1154548

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