Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Zur Relevanz des Themas Seite
2. Forschungsstand
3. Fragestellungen und Hypothesen
4. Einführung in das Forschungsthema
4.1. Hintergrund
4.2. Massaker
5. Die Befehle zum Massenmord
5.1. Allgemeine Befehlslage
5.2. Konkrete und vage Mordbefehle
5.3. Befehlsverweigerung
6. Motive
7. Bystanders (ZuschauerInnen)
7.1. ZeugInnen des Massenmords
7.2. Beteiligung der Zivilbevölkerung an Verbrechen und Zivilcourage
8. Die Nachkriegszeit
8.1. Gerichtliche Verfolgung der Täter
8.2. Medialer Diskurs
9. Resümee
10. Literaturverzeichnis
1. Zur Relevanz des Themas
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden – wie heute allgemein bekannt – rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet,1 auf österreichischem Gebiet wurden zehntausende Menschen jüdischer Herkunft Opfer des Holocaust. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges und des NS-Regimes fokussierte sich die Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Gräueltaten in Österreich auf einige wenige Tatorte. So war etwa das Stammlager des KZ-Systems Mauthausen im Geschichtsbewusstsein der ÖsterreicherInnen durchaus präsent, während die eigene Regionalgeschichte jedoch von vielen ausgeblendet wurde. Durch eine örtliche Reduktion der im KZ-System erfolgten Verbrechen auf den Tatort Mauthausen konnte die eigene Unwissenheit hinsichtlich dieser Ereignisse behauptet werden. Diese Sichtweise der eigenen, räumlichen Distanz zu den Gewalttaten wurde offenbar auch von der Nachkriegsgeneration übernommen, bis heute sind etwa nur wenige der Dutzenden Außenlager des Konzentrationslagersystems Mauthausen der breiten Öffentlichkeit bekannt.2 Ein ebenso weitestgehend unbekannter Aspekt des Massenmords an Menschen jüdischer Herkunft sind die sogenannten „Todesmärsche“ ungarischer JüdInnen, die sich im Frühjahr 1945 in Zusammenhang mit der Auflösung von Zwangsarbeitslagern an der österreichisch-ungarischen Grenze ereigneten und in Verbindung mit den Verbrechen im KZ-System Mauthausen stehen. Angesichts der Dimension dieser Verbrechen, der zahlreichen Schauplätze der Gewalt und der zahlreichen Menschen, die AkteurInnen bei diesen Ereignissen waren (sei es als TäterInnen, HelferInnen oder passive ZuseherInnen), ist die bis heute auch diesbezüglich weitgehend vorherrschende Unwissenheit und Unterrepräsentanz in der Öffentlichkeit schwer zu begreifen. Diese Gewaltverbrechen sind ein Teil der Regionalgeschichte, die – wie viele andere Verbrechen im Zuge des NS-Genozids auch – vielerorts vergessen und verdrängt wurden – die Motive dafür dürften auch hier ähnlich sein.
2. Forschungsstand
Maßgebliche Bedeutung bei der Aufarbeitung der Verbrechen im Zuge der Räumung der auf österreichischem und ungarischem Gebiet befindlichen Zwangsarbeitslager, in denen JüdInnen eingesetzt wurden, kommt der Historikerin Eleonore Lappin-Eppel zu. Sie veröffentlichte ab Anfang der 1990er Jahre zahlreiche Aufsätze zu diesem Thema, im Jahr 2010 erschien dazu ein Standardwerk.3 Ein ebenso erst kürzlich erschienenes und ausführliches Werk von Daniel Blatman beschäftigt sich neben dem in dieser Seminararbeit behandelten Thema u. a. auch mit den „Todesmärschen“ und „Evakuierungen“ von Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern in anderen Regionen, die im Einflussbereich des NS-Regimes lagen.4 Szabolcs Szita forschte vor allem zu den jüdischen ZwangsarbeiterInnen auf ungarischem Gebiet und ihrer Verschleppung nach Österreich, er publizierte zu dem Themenkomplex eine Monographie5 und mehrere Aufsätze.6 Claudia Kuretsidis-Haider beschreibt in ihrem Buch die juristische Aufarbeitung der Verbrechen, die sich im Zwangsarbeitslager Engerau und im Laufe seiner Auflösung ereigneten.7 Auch Heimo Halbrainer widmet sich der gerichtlichen Verfolgung der Täter – sein Forschungsfokus liegt auf den Ereignissen im steirischen Bezirk Leoben bzw. auf den „Eisenerzer Prozessen“.8 Barbara Stelzl-Marx analysiert die Medienberichterstattung über den „Liebenauer Prozess“, der ebenfalls im Kontext des Massenmords an den ungarischen Jüdinnen und Juden steht.9
3. Fragestellungen und Hypothesen
In der vorliegenden Seminararbeit soll es nicht um eine möglichst detailreiche oder allumfassende Schilderung der Verbrechen im Zuge der „Todesmärsche“ gehen. Auch widmet sich die Arbeit nur am Rande den Opfern der Gräueltaten. Vielmehr soll es darum gehen, die Hintergründe dieses Aspekts des nationalsozialistischen Genozids zu beleuchten. Der Fokus liegt somit auf den Befehlsstrukturen, die dem Massenmord zugrunde lagen, auf den Motiven der TäterInnen, auf der Frage nach der Beteiligung der Zivilgesellschaft an Verbrechen, auf dem Umgang der TäterInnen mit ihren Handlungen, auf der Rolle der „Bystanders“ und auf dem Umgang der österreichischen Nachkriegsgesellschaft mit den Verbrechen. Gregory H. Stanton unterscheidet hinsichtlich der Durchführung von Genoziden „Eight stages of genocide“ (Classification, Symbolization, Dehumanization, Organization, Polarization, Preparation, Extermination, Denial).10 Die vorliegende Arbeit wird vor allem die Organisation, die Vorbereitung und die Durchführung des Genozids an den ungarischen JüdInnen im Zuge der Auflösung der Zwangsarbeitslager auf österreichisch-ungarischem Gebiet zum Thema haben.
Dahingehend sollen folgende Forschungsfragen bearbeitet werden:
- Handelte es sich bei den Morden im Rahmen der Todesmärsche um geplante oder spontane Tötungsakte?
- Welche Motive hatten die TäterInnen (v.a. auch jene aus der Zivilgesellschaft), sich an den Verbrechen zu beteiligen? Wie gingen sie mir ihren Taten um?
- In welchem Ausmaß beteiligten sich ZivilistInnen an den Gewaltverbrechen im Zuge der Todesmärsche?
- Wie verhielten sich ZuschauerInnen, die ZeugInnen der Todesmärsche wurden?
- Wie gestaltete sich der Umgang mit den Verbrechen in der Nachkriegszeit (Gerichtsprozesse, Medienberichterstattung)?
Darüber hinaus sollen folgende Hypothesen überprüft werden:
- Gewalttaten, die im Zuge der Todesmärsche von ZivilistInnen verübt wurden, geschahen nicht ausschließlich auf Anordnung von FunktionärInnen des NS-Regimes, sondern z.T. auch spontan und aus eigenem Antrieb.
- Der Großteil jener Personen, die zu ZeugInnen der Todesmärsche wurden, verhielt sich passiv und schritt nicht gegen damit in Zusammenhang stehende Gewalttaten ein. Diese Passivität erleichterte den TäterInnen ihr Handeln.
4. Einführung in das Forschungsthema
4.1. Hintergrund
Im Herbst 1944 wurden durch den ungarischen Befehlshaber Ferenc Szálasi rund 76.000 JüdInnen der SS übergeben – sie sollten dem Deutschen Reich bis Kriegsende zur Zwangsarbeit dienen. Die von Budapest aus über die Grenze verschleppten Menschen wurden in der Folge der Schutzstaffel (SS) übergeben und in Konzentrationslager verschickt oder zum Bau des „Südostwalls“ eingesetzt. Die Arbeiten erfolgten unter menschenunwürdigen Bedingungen und unter der Oberhoheit der Gauleitungen in den Gauen Niederdonau und Steiermark auf beiden Seiten der Grenze Österreich-Ungarn.11 Dieser Zwangsarbeitseinsatz sollte einerseits ein Teil der „Endlösung der Judenfrage“ sein, andererseits sollten die JüdInnen zum Bau der strategisch bedeutenden Befestigungsanlage beitragen.12 Adolf Hitler hatte schon im Sommer 1944 aufgrund des Vormarsches der Sowjetischen Armee die Errichtung von Festungslinien angeordnet, wobei der „Südostwall“ bzw. „Ostwall“ ein Teil des östlichen Schutzschirms sein sollte. Diese Verteidigungsstellungen, die von „Reichsdeutschen“, Deportierten und Kriegsgefangenen sowie auch ca. 50.000 ungarischen JüdInnen errichtet werden sollten, sollten den zurückweichenden deutschen Truppen dienen und reichten von Bratislava über den „Gschriebenstein“ in der Nähe des ungarischen Köszeg bis in die Steiermark. Die JüdInnen hatten schon, bevor sie im November 1944 der SS ausgeliefert wurden, jahrelang in ungarischen Arbeitslagern an der Ostfront leiden müssen – nun setzten sich die miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen beim Festungsbau fort. Bis zum März 1945 starben in den Zwangsarbeitslagern ca. 15.000 Menschen an Hunger, Krankheit und Gewalttätigkeiten.13
Ende März 1945 sollten die Lager entlang der österreichisch-ungarischen Grenze schließlich in Richtung des Konzentrationslagers Mauthausen „evakuiert“ werden. Für den Abtransport der entkräfteten jüdischen ArbeiterInnen wurden Schiffe und Züge verwendet, meist musste jedoch zumindest ein Teil der Strecke zu Fuß bewältigt werden. Vor allem Angehörige des Volkssturms, aber auch Gendarmerie und Hitlerjugend übernahmen die Begleitung der von den Kreisleitungen organisierten und den Gauleitungen angeordneten Transporte – die Leitung wurde oft von SS-Mannschaften übernommen.14 Darüber hinaus waren auch Angehörige der Gestapo und lokale Parteifunktionäre involviert.15 Die Zuständigkeit lokaler Instanzen bei der Rekrutierung von Wach- und Begleitpersonal begründet sich damit, dass die Zwangsarbeitslager in den beiden Gauen Niederdonau und Steiermark nicht Teil des nationalsozialistischen Konzentrationslager-Systems waren.16
In den Lagern und bei den „Evakuierungen“ kam es zu zahlreichen Gewalttaten und Morden: Insgesamt starben von den jüdischen ZwangsarbeiterInnen, die 1944 dem NS-Regime übergeben worden waren, mindestens 45.000 Menschen in den an der Grenze Österreich-Ungarn gelegenen Lagern oder bei den Todesmärschen, die schließlich im Frühjahr 1945 durchgeführt wurden. In dieser Zahl sind die Todesopfer unter den in den Zwangsarbeitslagern des Gaues Steiermark und den in die Konzentrationslager Mauthausen und Gunskirchen verschickten Personen nicht berücksichtigt.17
Bei der Auflösung der Zwangsarbeitslager für JüdInnen in Westungarn, im Gau Niederdonau sowie in der Gegend von Sopron und Köszeg im März waren dort insgesamt 18.000 Personen interniert.18 Rund zehntausend Häftlinge aus Sopron und den Lagern in Niederdonau wurden Richtung Nordwesten nach Mauthausen gebracht, die übrigen Personen wurden über den Süden gemeinsam mit Häftlingen aus den Lagern im Gau Steiermark abtransportiert.19 Während jene Personen, die durch Niederdonau nach Mauthausen gebracht wurden, meist mit der Bahn transportiert wurden und schon nach wenigen Tagen das Ziel erreichten, zog sich der Todesmarsch durch die Steiermark über zwei Wochen hin.20 Jene jüdischen ZwangsarbeiterInnen, die im Gau Steiermark interniert waren, mussten zu Fuß vom „Südostwall“ bis zum Konzentrationslager marschieren. Gründe dafür waren einerseits die vielfach zerstörten Bahnanlagen, andererseits rechnete man damit, dass die sowjetische Armee vorrangig nach Wien vorrücken werde. Daher sollten die Zwangsarbeitslager im Gau Niederdonau rascher geräumt werden als jene in der Steiermark, wo ein Eintreffen der feindlichen Truppen erst zu einem späteren Zeitpunkt erwartet wurde und somit die „Evakuierung“ auch langsamer erfolgen konnte.21 Im Gau Steiermark wurden im Zuge der Auflösung von Außenlagern des Konzentrationslagers Mauthausen auch nichtjüdische Häftlinge, die nicht mehr marschfähig waren oder als unnütz galten, ermordet, dies ist etwa für das Außenlager Hinterberg bei Peggau belegt.22
Ab dem 10. April 1945 begann man mit der Verlegung von jüdischen Häftlingsgruppen vom KZ Mauthausen in das Außenlager Gunskirchen. Diese SchanzarbeiterInnen waren zuvor aus dem Gau Niederdonau und aus der Region Ödenburg per Bahn nach Mauthausen gebracht worden und dort Anfang April eingetroffen.23 Die Transporte von Mauthausen in das rund sechzig Kilometer entfernte Gunskirchen wurden von der Waffen-SS und Feuerwehrmännern begleitet – schon innerhalb der ersten vier Kilometer ab Mauthausen wurden 800 Menschen getötet.24 Insgesamt wurden während dieser Märsche rund sechs tausend Personen ermordet.25
[...]
1 Vgl. dazu: Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden (3 Bd.), Frankfurt 1990.
2 Willi Mernyi u. Florian Wenninger (Hg.), Die Befreiung des KZ Mauthausen – Berichte und Dokumente, Wien 2006, 9.
3 Vgl. Eleonore Lappin-Eppel, Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45 – Arbeitseinsatz – Todesmärsche – Folgen, Wien/Berlin 2010.
4 Vgl. Daniel Blatman, Die Todesmärsche 1944/45 – Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords, Reinbek bei Hamburg 2011.
5 Vgl. Szabolcs Szita, Verschleppt, verhungert, vernichtet. Die Deportation von ungarischen Juden auf das Gebiet des annektierten Österreich 1944-1945, Wien 1999.
6 Vgl. z. B. Szabolcs Szita, Die Todesmärsche der Budapester Juden im November 1944 nach Hegyeshalom-Nickelsdorf, in: Zeitgeschichte 22 (1995) 3/4, 124-137;
7 Vgl. Claudia Kuretsidis-Haider, „Das Volk sitzt zu Gericht“. Österreichische Justiz und NS-Verbrechen am Beispiel der Engerau-Prozesse – 1945-1954, Innsbruck 2006.
8 Halbrainer Heimo, "Unsere Pflicht, wahrhaft und objektiv Gerechtigkeit zu sprechen" – Die Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen im Zuge des Todesmarschs ungarischer Juden durch den Bezirk Leoben, 2005, http://www.univie.ac.at/jelinetz/index.php?title=Heimo_Halbrainer:_%22Unsere_Pflicht%2C_wahrhaft_und_objektiv_Gerechtigkeit_zu_sprechen%22_-_Die_Ahndung_nationalsozialistischer_Verbrechen_im_Zuge_des_Todesmarschs_ungarischer_Juden_durch_den_Bezirk_Leoben..
9 Barbara Stelzl-Marx, Der „Liebenauer Prozess“: NS-Gewaltverbrechen im Spiegel der steirischen Nachkriegspresse, in: Justiz und Erinnerung (2003) 7, 2-12.
10 Gregory H. Stanton, The 8 Stages of Genocide, 1996, http://www.genocidewatch.org/genocide/8stagesofgenocide.html.
11 Eleonore Lappin, Die Todesmärsche ungarischer Juden durch Österreich im Frühjahr 1945, 2000, http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/e_bibliothek/seminarbibliotheken-zentrale-seminare/8-zentrales-seminar/Lappin,%20Die%20Todesmarsche%20ungarischer%20Juden%20durch%20Osterreich%20im%20Fruhjahr%201945.pdf, 1-2.
12 Eleonore Lappin-Eppel, Zwangsarbeiter, 371.
13 Stelzl-Marx, NS-Gewaltverbrechen, 3.
14 Lappin, Todesmärsche, 2.
15 Blatman, Todesmärsche, 358.
16 Ebd., 357.
17 Ebd., 382.
18 Ebd., 378.
19 Ebd., 380.
20 Ebd., 381.
21 Lappin-Eppel, Zwangsarbeiter, 397.
22 Blatman, Todesmärsche, 378.
23 Lappin-Eppel, Zwangsarbeiter, 459.
24 Ebd., 463.
25 Ebd., 467.
- Arbeit zitieren
- Anonym, 2012, Die Todesmärsche ungarischer Jüdinnen und Juden in Österreich. Handlungen und Motive von TäterInnen und ZuschauerInnen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1156311
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