Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Alltagstheater - Die Gesellschaft als Bühne
3. „Totale Institutionen“ - Umformung des Selbst
3.1 Individuum in der totalitären Institution - Primäre und sekundäre Anpassung
3.2 Fallbeispiel - Stanford-Prison-Experiment
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der kanadische Soziologe Erving Goffman beschreibt erstmalig 1959 in seinem Buch „The Presentation of Self in Everyday Life“ (übers. „Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag“) die Perspektive des Schauspiels, welche sich aus dem sozial situierten Interaktionsgeschehen des Alltagstheaters zwischen Individuen ergibt (vgl. Goffman 2019: 18). Das besondere Interesse von Erving Goffman am Alltagsleben des Menschen und der im Alltag auftretenden face to face Situationen ist auf die Lehren und Arbeiten von George Herbert Mead zurückführen, welcher einst an der Chicago School of Sociology forschte und dabei die Sozialisationstheorien- und Identitätstheorien des „ Taking the role of the other“ und des „I, Me & Self“ aufstellte (vgl. Schroer 2017: 212). Nach Goffman versucht der „Darsteller“, mithilfe von vorherbestimmten Handlungsmustern, in wechselseitigen Interaktionen seinen Gegenüber, also das Publikum, von seiner eigenen Rolle zu überzeugen (vgl. Schroer 2017: 216). Der Glaube an die eigenen Rolle, während der Theateraufführung vor dem aktiven Publikum auf der Vorderbühne, ist für die Überzeugungsfähigkeit der angenommenen Fassade in der sozialen Situation ausschlaggebend (vgl. Goffman 2019: 19).
Doch wie verhält sich das soziale Handeln, also das beständige einnehmen von Rollen, Rollenwechseln und Rollendistanz in „totalen Institutionen“, welche dem Insasse und dem Gefängniswärter ein von der Außenwelt völlig verschiedenes ortsbestimmtes Verhalten abverlangen? Im Gefängnis können die Insassen nicht selbst darüber bestimmen, ob sie auf der Vorderbühne performen oder ob sie sich Zwecks Vorbereitung der Rolle auf der Hinterbühne bewegen. Im Anbetracht der permanenten Überwachung beginnt die aufgelegte Fassade des Insassen zu bröckeln, weil die Trennungslinie zwischen Vorder- und Hinterbühne verwischt. Kann der einzelne Insasse seine „Selbst“- Identität vor den totalitären Eingriffen im Gefängnisalltag wahren und gelingt es diesem sein „Normalitätsschauspiel“ bei Besuch aufrechterhalten, indem dieser der endgültigen Stigmatisierung innerhalb von totalitären Institutionen durch eine „sekundäre Anpassung“ entgeht? Gelingt es den Insassen innerhalb einer abgeschlossenen und reglementierten totalen Institution bei der Verrichtung von gemeinsamen Tätigkeiten als geschlossenes Ensemble aufzutreten und der Überwachung durch die Wärter, als auch dem Zwang der totalitären Institution zur Verrichtung von Diensten zu trotzen, indem keine destruktiven Informationen an die Wärter gelangen, welche die Situationsbestimmung der gemeinsamen Darstellung diskreditiert (vgl. Goffman 2019: 129/Schroer 2017: 230 ff.)?
In dieser Arbeit soll zunächst der Theateralltag des einzelnen Individuum, aber auch des Individuums im Ensemble dargestellt werden. Des Weiteren geht es darum zu klären, warum das soziale Handeln in unterschiedlichen sozialen Situationen nach der beständige Einnahme von Rollen, Rollenwechseln und einer Rollendistanz verlangt. Hierbei soll eine nähere Untersuchung des Stanford-Prison-Projekts unter der Anwendung der Theorie des dramaturgischen Handelns für Antworten auf die oben gestellten Zwischenfragen sorgen. Am Schluss dieser Arbeit soll eine kurze Zusammenfassung der erzielten Ergebnisse stehen.
2. Alltagstheater - Die Gesellschaft als Bühne
Erving Goffman ist der Ansicht, dass wechselseitigen natürlichen und sozialen Rahmen durch ihre vorgegebenen Regeln soziale Situationen bestimmen, welche wiederum die soziale Ordnung und die sich daraus ergebenden verschiedenen Interaktionstypen in ihrer Selbstdarstellung prägt (vgl. Dahrendorf 2019: VIII). Demnach handelt es sich beim sozialen Handeln für das Individuum nie um einen sicheren und verlässlichen Hafen, denn es kann immer zu situationsbedingten Verzerrungen des Interaktionsgeschehens kommen, wodurch ein Rollenwechsel oder eine Rollendistanz zum Schutz der inszenierten Fassade von Nöten ist (vgl. Schroer 2017: 226). Die Theorie des dramaturgischen Handelns beschreibt Erving Goffman in seinem Werk „Wir spielen alle Theater“ erstmals aus der Perspektive des Schauspiels, in welchem sich das Publikum und die Darsteller der sozialen Ordnung des Alltagstheaters unterwerfen. Als Sympathisant des Theaters vergleicht Goffman die Gesellschaft mit einer Bühne, welche sich in eine Vorder- und Hinterbühne unterteilt. Auf der Vorderbühne muss der Darsteller das Publikum von seiner Fassade aus Verhalten, Darstellung und Erscheinung überzeugen. Die situative Selbstdarstellung ist hierbei als eine Art Antwort auf die soziale Interaktion zwischen dem Schauspieler und dem Publikum zu verstehen, welche im Laufe zunehmender sozialer Handlungen zu einer Verschmelzung des Darstellers mit seiner sozialen Rolle führt. Der Darsteller kann nur durch eine Perfektionierung seines Schauspiels ein Bröckeln seiner Fassade verhindern und dadurch das Publikum, als auch den Außenseiter von seinem situativen Auftreten überzeugen (vgl. Goffman 2019: 23ff.). Letzten Endes gibt es für das Individuum nicht das „wahre“ oder das „eine“ Ich, denn neben unserem Gegenüber bestimmt vor allem der Ort unser situationsbedingtes Verhalten. Goffman spricht hierbei vom ortsbestimmten Verhalten, welches mit der Inszenierung einer festen sozialen Rolle einhergeht. Dadurch dass jede Vorderbühne über verschiedene Kulissen und einen grundlegend verschiedenen Bühnenaufbau verfügt, kann sich der Darsteller auf Dauer keiner festen Rolle zuschreiben, denn ein situativer Rahmenwechsel verlangt nach einem ständigen Rollenwechsel. Im Alltagstheater spielen wir nicht nur die Rollen im Rahmen der situationsbedingten Inszenierung, sondern wir verkörpern diese sozialen Rollen (vgl. Goffman 2019: 98 ff.). Selten handelt es sich bei einem Theaterstück um eine Aufführung mit einem einzigen Schauspieler, sondern meistens um eine Inszenierung durch ein Ensembles. Im Unterschied zu einem Ein-Mann-Ensemble haben wir es bei einem größeren Ensemble nicht mit einem möglichen Standpunkt zu einer sozialen Interaktion zu tun, sondern mit einer vielseitigen Situationsbestimmung, welche in einer gemeinsamen Parteilinie zusammengefasst wird (vgl. Goffman 2019: 80). Für ein Darstellungsensemble sind Loyalität und Einmütigkeit unter den Mitdarstellern als Grundsatzbedingungen unveräußerlich, um einen möglichen Missklang vor dem Publikum zu verhindern (vgl. Goffman 2019: 80 ff.). Die dramaturgische Weise der sozialen Interaktion zwischen den Mitdarstellern des Ensembles sorgt dafür, dass das Darstellerensemble nach außen wie eine „Exklusivgesellschaft“ wirkt (vgl. Goffman 2019: 97). Erving Goffman definiert das gemeinsame Schauspiel des Ensemble auf der Vorder- und Hinterbühne wie folgt:
„Ein Ensemble kann also definiert werden als eine Gruppe von Individuen, die eng zusammenarbeiten muss, wenn eine gegebene Situationsbestimmung aufrechterhalten werden soll. Ein Ensemble ist zwar eine Gruppe, aber nicht in Bezug auf eine soziale Struktur oder eine soziale Organisation, sondern eher in Bezug auf eine Interaktion oder eine Reihe von Interaktionen, in denen es um die relevante Definition der Situation geht (Goffman 2019: 96).“
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