Dekonstruktion des Signifikanten Gregor Samsa anhand Kafkas "Die Verwandlung"


Hausarbeit, 2021

18 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Vom Subjekt zum Signifikanten

2. Das Bild als Spiegel: Opposition Mensch – Tier

3. Drei Uniformen: Opposition Innen – Außen

4. Gregor unter Signifikant: Opposition Gregor – (_)

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Zur Identität Gregor Samsas schreibt Sandra Poppe, dass „Gregor [...] ein Mensch im Insektenkörper“1 sei. Ziel dieser Hausarbeit ist es, diese Behauptung kritisch zu hinterfragen. Sie setzt nämlich eine klare Unterscheidbarkeit von Inhalt und Form, Subjekt und Objekt oder Signifikat und Signifikant2 voraus. Genau diese Unterscheidbarkeit wird im Rahmen dieser Arbeit jedoch angezweifelt. Meine These ist, dass Gregor weder als Mensch noch als Tier anzusprechen ist. Die Frage nach der Identität Gregors ist eine Frage ohne Antwort. Daher möchte ich in dieser Arbeit einige Signifikationsprozesse aus Kafkas Die Verwandlung diskutieren, die meiner Ansicht nach genau diese Unmöglichkeit der Identifizierung zum Ausdruck bringen. Die Verwandlung soll dabei keinesfalls als Chiffre für die Undeutbarkeit herhalten. Vielmehr möchte ich der Ansicht Ausdruck verleihen, dass Kafka mit Die Verwandlung ein Text geglückt ist, der anthropologische Grundannahmen unterwandert.

Zentrale Bedeutung kommt in dieser Arbeit der Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat zu, wobei ich an Derrida anschließend die Existenz eines intelligiblen Signifikats leugne. Signfikate sind Signifikanten. Daher soll zunächst in diesen Gedanken Derridas eingeführt werden. Im Anschluss daran versuche ich das so gewonnene methodologische Rüstzeug auf den Text Die Verwandlung anzuwenden. Ein Fazit soll die zentralen Ergebnisse dieser Hausarbeit zusammenfassen und dabei die anthropologischen Konsequenzen diskutieren.

1. Vom Subjekt zum Signifikanten

Auf den ersten Blick erscheint es fast paradox, dass der Begriff Subjekt einerseits eine sprachliche Entität (den Handelnden eines Satzes) und andererseits eine epistemologische oder sogar metaphysische Einheit bezeichnet. Das sprachliche Subjekt ist die zentrale Funktion innerhalb eines Satzes. Dahingegen handelt es sich beim metaphysischen Subjekt um eine atomistische Einheit, die allen Wahrnehmungs- und Denkprozessen zugrunde gelegt wird. So ist das Subjekt als der „Grundbegriff der neuzeitlichen Metaphysik“3 anzusehen. Foucault dazu: „Man kann sagen, die ganze abendländische Zivilisation war auf dem Subjekt aufgebaut, und die Philosophen haben dies nur konstatiert, als sie alles Denken und jegliche Wahrheit auf das Bewusstsein, das Ich, das Subjekt bezogen.“4 Der (abstrakte) Grundbegriff der Metaphysik wurde zum (konkreten) Souverän hypostasiert, die Subjekte zum einzigen Kriterium/Setzenden von Wahrheit. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die lateinische Wortwurzel subiectus eben nicht den aktiv Unterwerfenden, sondern das Unterworfene meint. Tatsächlich lässt sich genau diese Bedeutung beiden Begriffen vom Subjekt zuweisen. Die Theorie der Verbvalenz etwa geht davon aus, dass nicht das Subjekt die zentrale Einheit eines Satzes ist, sondern das Verb.5 Während das Verb den Satz „semantisch und syntaktisch“6 strukturiert, ist das Subjekt dieser Struktur unterworfen. Das wird darüber hinaus auch an der Tatsache ersichtlich, dass es Sätze ohne Subjekt, aber keine vollständigen Sätze ohne Prädikat geben kann. Das metaphysische Subjekt hingegen beschreibt schon Nietzsche als eigentlich grammatisches:

«Es wird gedacht: folglich gibt es Denkendes»: darauf läuft die argumentatio des Cartesius hinaus. Aber das heißt, unseren Glauben an den Substanzbegriff schon als «wahr a priori» ansetzen: – daß, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, «das denkt», ist aber einfach eine Formulierung unserer grammatischen Gewöhnung, welche zu einem Thun einen Thäter setzt.7

So löst sich das eingangs erwähnte Paradox auf, da das metaphysische Subjekt lediglich ein Derivat des grammatischen Subjekts ist. Die abendländische Metaphysik baut also strukturell nicht auf dem Subjekt, sondern auf der Sprache, von der das Subjekt nur ein Teil ist, auf. Diese Erkenntnis kann als Ursache der sprachkritischen Wende, des linguistic turns 8 , angesehen werden.

Alles deutet darauf hin, dass die einzige Hoffnung auf einen Erkenntnisfortschritt in einer Verfeinerung der Analytik der Sprache oder, auf einer anderen Ebene, der Analytik des Zeichens liegt, die in der Sprache oder im Zeichen die Bedingung der Möglichkeit einer freien, nicht an metaphysische Grundbegriffe gebundenen Bedeutung in einem rationalen Diskurs herauszuarbeiten sucht. Die saussuresche Wende der Zeichentheorie, die von einer Arbitrarität des Verhältnisses von Signifikant und Signifikat ausgeht, führt zu einer neuen Möglichkeit, eine Sprache ohne metaphysische Grundannahmen zu denken.9

Mit seiner Zeichentheorie hat de Saussure ein bis heute prinzipiell gültiges Paradigma der Linguistik entworfen. Er fasst das Zeichen als zusammengesetzt aus einer Inhalts- und einer Formseite auf. Die Inhaltsseite ist dabei das Bezeichnete, das Signifikat, während die Formseite das Bezeichnende, den Signifikanten, meint.10 Ergänzend dazu Engelmann:

Entscheidend an Saussure Semiologie war die Kritik der Nomenklaturauffassung der Sprache. Statt Signifikation als Re-Präsentationsprozess aufzufassen, versucht Saussure, Signifikation als differenziellen Prozess zu denken. Sowohl auf der Signifikatseite als auch auf der Seite des Signifikanten haben wir es nicht mit festen Einheiten zu tun, sondern das, was als fest erscheint, entsteht nur in einem Abgrenzungsprozess gegen alle anderen Elemente der Umgebung.“11

Auf der Seite des Signifikanten ist diese Beziehung relativ klar. Die Wörter Fisch und Tisch unterscheiden sich lediglich aufgrund ihrer Anfangsgrapheme. Auf der Seite des Signifikats jedoch gestaltet sich das Verhältnis schon schwieriger. Deutlich erläutern lässt es sich aber am Subjektbegriff. Das Subjekt (das Ich) konstituiert sich über sein Objekt (die Welt). Nur indem das Subjekt nicht Objekt ist, ist es überhaupt. Das Subjekt kann als erstes Signifikat verstanden werden. Tatsächlich hat die Gleichsetzung von Signifikat und Subjekt Tradition:

Wenn beispielsweise für Aristoteles «das in der Stimme Verlautende Zeichen für die in der Seele hervorgerufenen Zustände und das Geschriebene Zeichen für das in der Stimme Verlautende ist», so deshalb, weil die Stimme als Erzeuger der ersten Zeichen wesentlich und unmittelbar mit der Seele verwandt ist. Als Erzeuger des ersten Signifikanten ist sie nicht bloß ein Signifikant unter anderen. Sie bezeichnet den «Seelenzustand» der seinerseits die Dinge in natürlicher Ähnlichkeit widerspiegelt oder reflektiert. [...] Die Stimme [ist] dem Signifikat am nächsten[.]12

Bereits hier weist die „Seele“ genau jenen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit auf, die das Subjekt ausmacht. Das Verhältnis von Seele und Stimme ist bei Aristoteles ein unproblematisches, die Stimme fungiert als Signifikant des Signifikats Seele. Derrida macht nun aber die Schrift zum Ausgangspunkt (und Ziel) seines Gedankens. Traditionell wurde die Schrift lediglich als Signifikant eines Signifikanten angesehen. Sprache wäre so unhintergehbar phonetisch.

In einem ungewohnten Licht aber wird deutlich, daß «Signifikant des Signifikanten» nicht länger eine akzidentelle Verdoppelung und abgefallene Sekundarität definiert. «Signifikant des Signifikanten» beschreibt im Gegenteil die Bewegung der Sprache – in ihrem Ursprung; aber man ahnt bereits, daß ein Ursprung, dessen Struktur als Signifikant des Signifikanten zu entziffern ist, sich mit seiner eigenen Hervorbringung hinwegrafft und auslöscht. Das Signifikat fungiert darin seit ja als ein Signifikant. Die Sekundarität, die man glaubte der Schrift vorbehalten zu können, affiziert jedes Signifikat im allgemeinen, affiziert es immer schon, das heißt, von Anfang, von Beginn des Spieles an. Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme.13

Somit ist jedes scheinbare Signifikat immer nur Signifikant. Diese Einsicht Derridas verändert die Art und Weise, wie Signifikationsprozesse verstanden werden müssen, auf fundamentale Art.

Die erste Folgerung wäre, daß die bezeichnete Vorstellung, der Begriff, nie an sich gegenwärtig ist, in hinreichender Präsenz, die nur auf sich selbst verwiese. Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in eine Kette oder in ein System eingeschrieben, worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die anderen Begriffe verweist. Ein solches Spiel, die différance, ist nicht einfach ein Begriff, sondern die Möglichkeit der Begrifflichkeit, des Begriffsprozesses und -systems überhaupt.14

Alle Wirklichkeit ist zeichenhaft vermittelte Wirklichkeit, selbst die Vorstellung, die ein Mensch von sich selbst hat, ist durchsetzt von Zeichen, diskursiven Imperativen und Narrativen. Das Subjekt, das nicht mehr als Individuum gedacht werden kann, ist Produkt der différance, des Spiels der Zeichen. Ein solcher Signifikationsprozess ist in Kafkas Die Verwandlung ex negativo dargestellt. Selbstverständlich geht es in dieser Hausarbeit nicht darum zu behaupten, Kafka wäre Poststukturalist avant le lettre gewesen, genausowenig wie es darum geht Die Verwandlung als poetische Umformung des Gedankens der différance zu verstehen. Es verhält sich nur so, dass Die Verwandlung und die poststukturalistische Theorie das Subjekt als fragmentiertes und von Zuschreibungen abhängiges begreifen. Das Subjekt rückt dabei ganz nahe an seine etymologische Wurzel als Unterworfenes heran, denn das Subjekt ist dem System der Sprache unterworfen. Das heißt: erst die Sprache (oder der Text, die Schrift) konstituiert das Subjekt.

2. Das Bild als Spiegel: Opposition Mensch – Tier

Im zweiten Absatz von Die Verwandlung wird Gregors „richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer“15 geschildert, das durch diese Formulierung in Kontrast zu Gregor gesetzt wird.

Über dem Tisch [...] hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine Dame dar, die, mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob.16

Die abgebildete Frau wird vom Text bereits in ihrer Zeichenhaftigkeit präsentiert, nämlich als Signifikant, der scheinbar auf ein Signifikat verweist. Dieses Signifikat entzieht sich aber je mehr man sich ihm zu nähern scheint. Zunächst ist da der Bruch zwischen der realen Frau und ihrer Abbildung. Die Frau als abgebildete ist bereits Signifikant ihrer selbst. Vertieft wird dieser Bruch aber durch den Umstand, dass Gregor das Bild „aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten“17, es also aus seinem ursprünglichen Kontext entfernt hat. Dadurch ist das Bild eben nicht mehr das Bild einer Frau aus einer Illustrierten.

[...]


1 Poppe, Die Verwandlung, S. 169.

2 Die Oppositionen Inhalt – Form und Subjekt – Objekt werden in dieser Arbeit bloß als Sonderfälle der Opposition Signifikat – Signifikant begriffen.

3 Engelmann, Dekonstruktion, S. 121.

4 Foucault, Die Geburt einer Welt, S. 1002.

5 Linke et al., Studienbuch Linguistik, S. 93f.

6 ebd., S. 94.

7 KSA 12, S. 549.

8 Brockhaus Philosophie, Art. „Linguistic Turn“, S. 240f.

9 Engelmann, Dekonstruktion, S. 135.

10 Linke et al., Studienbuch Linguistik, S. 30ff.

11 Engelmann, Dekonstruktion, S. 144.

12 Derrida, Grammatologie, S. 25.

13 ebd., S. 17.

14 Derrida, Différance, S. 37.

15 Kafka, Die Verwandlung. S. 115.

16 ebd.

17 ebd.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Dekonstruktion des Signifikanten Gregor Samsa anhand Kafkas "Die Verwandlung"
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Institut für neuere deutsche Literaturwissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
18
Katalognummer
V1156729
ISBN (Buch)
9783346552587
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
„Du mußt bloß den Gedanken loszuwerden versuchen, daß es Gregor ist.“ Gregor Samsa im Spiel der Zeichen.
Schlagworte
Kafka, Derrida, Signifikant, Die Verwandlung, Gregor Samsa, Poststukturalismus, Subjekt, S/O, transzendentales Signifikat, Literaturwissenschaft, klassische Moderne, Sprachkrise
Arbeit zitieren
Johannes Below (Autor:in), 2021, Dekonstruktion des Signifikanten Gregor Samsa anhand Kafkas "Die Verwandlung", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1156729

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