Béla Balázs und "Der sichtbare Mensch": Kunstanspruch, Theoriebedarf und die Ästhetik des Stummfilms


Seminararbeit, 2004

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Béla Balázs – Biographischer Werdegang bis 1924, und Disposition zur Filmtheorie

2. Der Film in „Der sichtbare Mensch“ – Kunstanspruch, Theoriebedarf und gegenwärtige Gültigkeit, stilistischer Zugang
2.1 Eine neue Kunst fordert einen selbstständigen Kunstanspruch
2.2 Die Filmtheorie
2.2.1 Die Proklamation der Filmtheorie
2.2.2 Zur gegenwärtigen Gültigkeit dieser filmtheoretischen Konzeption
2.3 Sprachfarbe, Tonalität und stilistischer Zugang Balázs’ – argumentative Technik

3. „Der sichtbare Mensch“: Die Ästhetik des Stummfilms, Anwendungsstrategien, Dramaturgische Skizzen
3.1 Vorbemerkungen
3.2 Visuelle Originalität im Stummfilm - Spezifiken
3.2.1 Gebärdensprache, Sprachgebärde, Ausdrucksbewegung
3.2.2 Der Begriff der Physiognomie
3.3 Großaufnahme, Bildwirkung

Schlussbetrachtung

Literaturhinweise

Erklärung über die selbstständige Anfertigung dieser Hausarbeit

Einleitung

Ihr müsst erst etwas von guter Filmkunst verstehen, um sie dann zu bekommen, ihr müsst erst lernen, ihre Schönheit zu sehen, auf das sie überhaupt entstehen kann.“[1]

Dieses Zitat trägt die Handschrift Béla Balázs’. Es zeichnen sich mit dieser an Bedingungen geknüpften Forderung – sowohl an das Kinopublikum als auch „an die gelehrten Hüter der Ästhetik“ - die Konturen einer Initiative ab, in der Balázs bereits 1924 eine fundamentale Bewusstwerdung des theoretischen und formästhetischen Potentials des Films einfordert: „Meine erste Filmtheorie [...] war die heftige Proklamation einer neuen Kunst.“[2] resümiert Balázs später rückblickend.

Doch die Konfrontation mit Béla Balázs ist nicht allein eine Begegnung mit dem Begründer der programmatischen, filmtheoretischen Konzeption des 20. Jahrhunderts „Der sichtbare Mensch“, es ist auch eine Begegnung mit dem Dramatiker, dem Dichter, dem Märchenautor und dem Novellist Béla Balázs. Er versuchte sich mit Dramen, Gedichten, Romanen, Feuilletons und schließlich Filmdrehbüchern. Dennoch bleibt die Auseinandersetzung mit diesen exponierten, literarischen Talenten in dieser Arbeit lediglich auf solche Bereiche beschränkt, die Rückschlüsse erlauben auf das geistige Fundament seiner persönlichen Disposition zur Materie der Filmtheorie. Dies wird insbesondere an der lyrischen Sprachlegung Balázs bzw. an stilistischen Besonderheiten aufzuzeigen sein, mit Hilfe derer Balázs die Bereiche offen zu legen versucht, die für ihn das Wesen der Filmkunst umreißen.

Als ein erster wichtiger Navigationspunkt dieser Arbeit steht dabei die Vorrede in drei Ansprachen voran, deren Analyse die ersten Kapitel dieser Arbeit einnehmen wird. Interessant ist hier bereits, dass Balázs nicht nur den Status eines Kunstwerkes für den Stummfilm beansprucht, sondern darüber hinaus mit Vehemenz seine Überzeugung von der Notwendigkeit und Produktivität der Theorie artikuliert.

Die folgenden Kapitel veranschaulichen und reflektieren die filmästhetischen Anwendungsstrategien für den Stummfilm, die Balázs in den „Skizzen zur Dramaturgie des Films“ dezidiert erörtert. In diesem Kontext werden auf der einen Seite filmische Mittel in ihrer Integrität bzw. ihrer ästhetischen Gewichtung im Film, wie etwa die Großaufnahme, berücksichtigt. Auf der anderen Seite werden diese technischen Bedingungen mit darstellerischen Stilmitteln wie z.B. der „sichtbaren Gebärde“ aufgewogen.

Grundsätzlich versuche ich filmische und kinematographische Sachverhalte oder etwa divergierende Begriffe von Gattungen und Medien so gut es geht auseinander zu halten. Alle von mir im Folgenden angeführten Aspekte der Analyse beziehen sich ausdrücklich auf den Stummfilm im Stadium seiner technischen Entwicklung zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Der sichtbare Mensch“ im Frühjahr 1924. Balázs beschreibt den Film zum Zeitpunkt der Entstehung von „Der sichtbare Mensch“ im Nachhinein so: „Damals war der Film noch

in seinem Urzustand, eine Jahrmarktnummer: ohne die Hemmungen der Bildungstradition und des Geschmacks, ein genialer Schund, der täglich neues wagte.“[3] Etwaige Ausnahmen (die dann etwa auch den Tonfilm subsumieren könnten) werde ich kenntlich machen.

1. Béla Balázs – Biographischer Werdeganges bis 1924 und Disposition zur Filmtheorie

Nach intensiver Rezeption von „Der sichtbare Mensch“, entsprechender Sekundärund Tertiärliteratur und Kollektaneen zu diesem Thema drängt sich, den biographische Werdegang Balázs’ betreffend, primär die Frage in den Vordergrund welche biographischen Dispositionen und Influenzen als Ursache verstanden werden können, dass Balázs, so Hanno Loewy

„[...] wie kaum ein anderer Zeitgenosse die grundsätzliche Bedeutung des Films als Medium einer anders organisierten Wahrnehmung [...] zu erkennen vermochte ?“[4] Diese Frage wird sich mit einem fragmentarischen biographischen Abriss allein sicherlich nicht beantworten lassen, es bleibt abzuwarten welche Perspektiven und Positionen sich diesbezüglich im Fortgang dieser Arbeit abzeichnen, bzw. ob dies überhaupt leistbar ist.

Am 4.August 1884 als Herbert Bauer im ungarischen Szeged geboren, nimmt er bereits im Alter von sechzehn Jahren mit der Publikation seines ersten Gedichtes den Künstlernamen Béla Balázs an, den er 1913 mit der Heirat seiner ersten Frau Edith als offiziellen Namen bestätigt. Die aktive Teilnahme an der ungarischen Räterevolution im März 1919, kann als wesentliches Initial verstanden werden, für sein entschiedenes Bekenntnis zum Kampf der Arbeiterklasse und zum Kommunismus.[5] In diesem biographischen Kontext wird hier ein nicht minder wichtiger Zugang Balázs’ im Hinblick auf sein filmtheoretisches Konzept in „ Der sichtbare Mensch“ ausgeblendet: Diese Arbeit zeigt also nicht jene Perspektive auf, in der sich in seiner Schrift zum Film der Weg zum marxistischen Autor abzeichnet.

Eigentlich deutet, speziell in seiner frühen dichterischen Periode, recht wenig darauf hin, dass Balázs sich in den frühen zwanziger Jahren dem Film zuwenden würde. Die entscheidende und richtungsweisende biographische Wendung vollzieht sich mit einer, durch seine revolutiven Aktivitäten bedingten, Zwangsemigration von Budapest nach Wien. Mit der Übernahme der Filmkritik-Spalte der neugegründeten „Wiener Tageszeitung“ schreibt er über 200 Filmund Theaterkritiken aus deren Erfahrungsschatz er seine Gedanken und Positionen zu „Der sichtbare Mensch“ (1924) resümiert.[6]

Angaben zu etwaigen Personenkreisen im „intellektuellen Wiener Umfeld“ Balázs’ oder besonderen literarischen Einflüssen und Eindrücken, die seine partikuläre Wahrnehmung des Filmmediums hätten begründen können, werden in den biographischen Ausführungen zu Balázs in der mir vorliegenden Literatur zur Materie nahezu gänzlich ausgelassen. Auch Balázs selbst greift eine solche Selbstreflektion später in seinem Tagebuch „Die Jugend eines Träumers“ kaum auf.

Was den Neuheitswert seiner ideellen filmtheoretischen Überlegungen betrifft, so sind durchaus Vordenker zu nennen, gerade im Hinblick auf filmästhetische Kontexturen.[7]

So erkannte und betonte etwa Herbert Tannenbaum die Eigenständigkeit des Films gegenüber dem Theater, etwa aufgrund der Möglichkeit der visuellen Intensivierung der darstellerischen Mittel wie Mimik und Gestik. Dennoch der Moment der Neuartigkeit und Modernität von

„Der sichtbare Mensch“ liegt vor allem in dem Drängen auf Zusammenhänge zu einer komplexen filmästhetischen Monographie.

2. Der Film in „Der sichtbare Mensch“ – Kunstanspruch, Theoriebedarf und gegenwärtige Gültigkeit, Stilistischer Zugang

2.1 Eine neue Kunst fordert einen selbstständigen Kunstanspruch

Einleitend ist es hilfreich Format und Adressat dieser „Vorrede in drei Ansprachen“ zu fixieren. Béla Balázs selbst bezeichnet seine Schrift mit recht demutsvoller Tonalität lediglich als den „Versuch einer Kunstphilosophie des Films“, die sich mit der Bitte dem Film zunächst überhaupt den Status einer Kunstform zu akkreditieren, „an die gelehrten Hüter der Ästhetik und Kunstwissenschaft“[8] bzw. an die „Herren von der Philosophie“[9] wendet. Balázs formuliert das so: „[...] vor den Toren euer hohen Akademie steht seit Jahr und Tag eine neue

Kunst und bittet um Einlaß. Die Filmkunst bittet um eine Vertretung, um Sitz und Wort in euer Mitte.“[10]

Der Einschub einer derart bittenden Einleitung ist kein Zufall. Im Gegenteil, es lassen sich allein in der Notwendigkeit der Installation dieser dreiteiligen Vorrede darüber hinaus jene Indizien aufspüren, die deutlich machen, dass der Film sich als Kunstund Reproduktionsform mit aggressiver zeitgenössischer, formästhetischer Kritik konfrontiert sah. Ein Kritiker etwa, der den Kunstanspruch des Mediums Films als „Unkunst“ strikt zurückwies, war der Tübinger Kunstprofessor Konrad Lange. Er reduziert den Film auf eine synthetische Reproduktion der Natur: „Es sei keine künstlerische Gestaltung der Natur, sondern eine rohe Reproduktion derselben [...].“[11]

Auf diesem Hintergrund darf herausgelesen werden, dass Béla Balázs sich mit „Der sichtbare Mensch“ auf sehr dünnem „theoretischen Eis“ bewegte, ansonsten würde diese Vorrede nicht derart mit einer Bitte an die gestrengen Ästheten beginnen. „Wir bitten um Einlaß!“[12] heißt es da in der Überschrift. Es wird deutlich, dass Balázs den Film als Kunst betrachtet haben will, eine Kunst deren Autonomie erst erkannt werden musste.

Gewiss spricht Balázs mit dieser Vorrede nicht allein eine Avantgarde oder eine akademische Elite an, er will gleichwohl in der formalen Dreiteilung dieser Vorrede den Filmschaffenden und besonders dem Kinopublikum eine neue Perspektive auf das Filmmedium eröffnen, denn er weiß sehr wohl: „Der Film ist die Volkskunst unseres Jahrhunderts.“[13]

Doch er statuiert damit nicht allein ein System, welches die Filmkunst als einen volkskulturellen Faktor erfasst, er hebt den Film gar auf eine neue Ebene der Rezeption, in der die Perspektive der visuellen Wahrnehmung in einem neuartigen, übergeordneten Kontext reflektiert wird: „[...]eine neue Kunst wäre wie ein neues Sinnesorgan.“[14] Und kulminiert mit seinen Ausführungen schließlich in der Feststellung, der Film sei eine von Grund aus neue Offenbarung des Menschen.[15]

2.2 Die Filmtheorie

2.2.1 Die Proklamation der Filmtheorie

Das von mir in 2.1 artikulierte Postulat Balázs’, der Akkreditierung des Films als Kunstform, steht lediglich als Basis voran für die Proklamation eines theoretischen Konzeptes für den Film. So beginnt Balázs die Vorrede mit der Offenlegung des von ihm als Mangel empfundenen Theoriedefizits bezüglich der Filmkunst: „Sie [die Filmkunst] wünscht von euch endlich einer theoretischen Betrachtung gewürdigt zu werden [...]“[16] Auch im Exkurs dieser Vorrede wird die Theorie, die „gar nicht grau“ ist in den Mittelpunkt gerückt, so akzentuiert Balázs einleitend beispielsweise mit der Metapher der „heiligen Hallen der Theorie“ die Bedeutung der Theorie als solche.

Die Theorie hat darüber hinaus die Funktion (und Fähigkeit) „eine Landkarte für den Wanderer der Kunst“ zu sein. Balázs reflektiert die Theorie in ihrer grundsätzlichen Bedeutung als orthographische Basis für die künstlerische Produktion bzw. den Kunstdisput allgemein, er bezieht sich dabei zunächst nicht ausschließlich auf den Film. Ob „Landkarte“,

„Steuerruder“ oder „Kompaß“, mit diesen Metaphern konstruiert Balázs sinnbildlich eine Werkzeugfunktion der Theorie, „die alle Wege und Möglichkeiten zeigt“.

Balázs zentriert den Theoriebegriff in der Aussicht auf die „weiten Perspektiven der Freiheit“ und impliziert jedoch mit dieser Aussicht gleichzeitig die Tatsache, dass ohne das Vorhandensein eines theoretischen Fundaments, eine solchen Perspektive nicht disponibel sein muss oder kann. Man könnte also letztlich sagen, die Theorie wird hier positiv instrumentalisiert. Dabei ist, so Balázs nicht einmal von Bedeutung ob die Essenz einer Theorie wirklich richtig ist: „Sie muss gar nicht stimmen, um große Werke zu inspirieren“[17] Die Theorie als solche fungiert also zudem als theoretisches Stimulanz bzw. als theoretischer „Unterbau“ für den künstlerischen Schaffensprozess, der seinerseits von der Theorie angetrieben wird.

Letztlich bleibt zu resümieren, dass Balázs’ argumentativer Zugang in der Intention zwar zweifellos auf eine Kunsttheorie für den Film abzielt. Dennoch werden durch seine besondere lyrische Sprachlegung, die es in 2.3 im Einzelnen zu untersuchen gilt, auch und gerade, gesamttheoretische Tendenzen transportiert.

[...]


[1] Béla Balázs, „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“, 2001 Suhrkamp, S. 15

[2] Béla Balázs, „Der Film Werden und Wesen einer neuen Kunst“, 1980 Globus Verlag, S. 7

[3] Béla Balázs, „Der Film Werden und Wesen einer neuen Kunst“, 1980 Globus Verlag, S. 7

[4] Hanno Loewy, „Béla Balázs – Märchen Ritual und Film“, 2003 Vorwerk 8, S. 11

[5] Die Erkenntnisse über biographische Details Balázs’ wurden weitgehend von Helmut H. Diederichs geleistet, etwa im Nachwort zu: Béla Balázs, „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“, 2001 Suhrkamp, S. 115-124

[6] Siehe 5

[7] Zu nennen wäre etwa, Herbert Tannenbaum, „Kino und Theater“ , 1912 München, neu aufgelegt in Helmut H. Diederichs „Der Filmtheoretiker Herbert Tannenbaum“, 1987 Verlag des deutschen Filmmuseums

[8] Béla Balázs, „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“, 2001 Suhrkamp, S. 9

[9] Béla Balázs, „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“, 2001 Suhrkamp, S. 9

[10] Béla Balázs, „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“, 2001 Suhrkamp, S. 9

[11] Béla Balázs, „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“, 2001 Suhrkamp, S. 126, es handelt sich hier um eine zitierte Konjunktivierung des Originalzitats

[12] Béla Balázs, „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“, 2001 Suhrkamp, S. 9

[13] Béla Balázs, „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“, 2001 Suhrkamp, S. 10

[14] Béla Balázs, „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“, 2001 Suhrkamp, S. 11

[15] Béla Balázs, „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“, 2001 Suhrkamp, S. 12

[16] Béla Balázs, „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“, 2001 Suhrkamp, S. 9

[17] Béla Balázs, „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“, 2001 Suhrkamp, S. 9

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Béla Balázs und "Der sichtbare Mensch": Kunstanspruch, Theoriebedarf und die Ästhetik des Stummfilms
Hochschule
Universität Paderborn
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
18
Katalognummer
V115715
ISBN (eBook)
9783640170920
Dateigröße
408 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Béla, Balázs, Mensch, Kunstanspruch, Theoriebedarf, Stummfilms
Arbeit zitieren
Jens Frieling (Autor:in), 2004, Béla Balázs und "Der sichtbare Mensch": Kunstanspruch, Theoriebedarf und die Ästhetik des Stummfilms, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115715

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