Permanenz menschliches Leben bei Hans Jonas und Nicolai Hartmanns Prinzip der Fernstenliebe


Hausarbeit, 2021

17 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Das Altruismus-Spektrum bei Nicolai Hartmann

3 Fernstenliebe

4 Postulate des Prinzips der Verantwortung bei Hans Jonas
4.1 Die Notwendigkeit einer neuen Ethik
4.2 Basale Axiome
4.3 Eckpunkte einer zukunftsbezogenen Verantwortungsübernahme
4.4 Die Umkehrung des kantschen Diktums: Du kannst, denn du sollst!

5 Parallelen zwischen den Ansätzen von Hartmann und Jonas
5.1 Der „Nahe“ als Ziel altruistischer Strebungen
5.2 Konzentration auf den typisierten bzw. idealen Menschen
5.3 Verantwortungszuschreibung an die Lebenden

6 Diskrepanzen zwischen den Ansätzen von Hartmann und Jonas
6.1 Systematisierung versus Aufforderung zum Handeln
6.2 Verantwortungsübernahme durch Künstler einerseits, Politiker andererseits
6.3 Annahme eines Schöpfergottes versus fehlende transzendentale Verankerung
6.4 Lösungswege

7 Kritisches Fazit

8 Schluss

Literatur

1 Einleitung

Allen bisherigen Tugendsystemen war noch bis in die jüngste Gegenwart gemeinsam, dass sich ihre Postulate überwiegend auf die Gegenwart bezogen, bzw. auf den Nächsten in der konkreten Wortbedeutung, und weniger auf die Zukunft oder auf zukünftige Generationen.1

Durch den fulminanten Siegeszug der Technologie hat sich diese Situation jedoch fundamental verändert. Erstmals ist es dem Menschen möglich, sich selbst auszulöschen bzw. den Planeten Erde so weit zu zerstören, dass menschliches und tierisches Leben kaum mehr möglich sein wird.

Aufgrund dieser Situation fordern auch Philosophen zunehmend eine Erweiterung bisheriger Tugendspiegel bzw. eine neue Ethik. Zu den großen Denkern, die sich einer zukunftsorientierten Perspektive verpflichtet fühlen, gehören Nicolai Hartmann und in ganz besonderer Weise Hans Jonas – ersterer in Bezug auf das Konstrukt der Fernstenliebe und letztere hinsichtlich des Prinzips der Verantwortung.

2 Das Altruismus-Spektrum bei Nicolai Hartmann

Die Fernstenliebe gehört bei Nicolai Hartmann2 innerhalb seines Klassifikationssystems der ethischen Leitlinien zur dritten, nur lose verbundenen Vierergruppe, die er unter dem Oberbegriff „Spezielle sittliche Werte“ zusammenfasst, die man aber auch, so der Autor, jeweils als eigenständige Wertegruppierung auffassen kann. Dabei definiert Hartmann die Fernstenliebe in Abgrenzung von der Persönlichen Liebe einerseits und der Nächstenliebe andererseits.

Persönliche Liebe begreift er als tiefe Neigung zu einer bestimmten Person um deren ureigenen Wesens willen. Diese Form der Liebe ziele auf die Idee der Persönlichkeit ab, sei daher seherisch, indem der tiefste, den Nichtliebenden vielfach verborgene Wert im Anderen intuitiv erfasst werde: „Sie erschaut das Vollkommene in der Unvollkommenheit, das Unendliche in der Endlichkeit.“3

Die Nächstenliebe leitet Nicolai Hartmann aus der tiefgreifenden Modifizierung des antiken Wertesystems in Folge der Christianisierung ab und definiert sie als eine Liebe, die gerichtet ist „auf den Nächsten, den Anderen, und zwar die positive, bejahende Richtung, die Gewichtsverlegung vom Ich auf das Du.“4

Da die Nächstenliebe sich meist auf Bedürftige bzw. Menschen in Not richtet, habe das zu der irrtümlichen Auffassung geführt, sie sei nur eine Begleiterscheinung des Erbarmens. Grundlage der Nächstenliebe ist, so Hartmann, jedoch nicht Mitleid, sondern das Berührtsein durch den unbedingten Wert des Anderen, der es erforderlich mache, Menschen aus entwürdigenden, misslichen Lebenslagen zu befreien.

3 Fernstenliebe

Hartmann übernimmt den Begriff der Fernstenliebe von Friedrich Nietzsche, der in „Also sprach Zarathustra“ lehrt, den Nächsten zu fliehen und den Fernsten zu lieben:5

Rate ich euch zur Nächstenliebe? Lieber noch rate ich euch zur Nächsten-Flucht und zur Fernsten-Liebe! Höher als die Liebe zum Nächsten steht die Liebe zum Fernsten und Künftigen; höher noch als die Liebe zu Menschen gilt mir die Liebe zu Sachen und Gespenstern.“

Nicolai Hartmann betont, dass es der menschlichen Natur eigentümlich sei, sich dem zeitlich und räumlich nahen Mitmenschen zuzuwenden, da Menschen die Früchte ihres Tuns ernten möchten, das heißt erleben, dass die geleistete Hilfe dankbar entgegengenommen wird und von Erfolg gekrönt ist.

Die Fernstenliebe ist „auf ein noch im Nichtsein schlummerndes Dereinst gerichtet6 und verlangt, uns künftigen Generationen zuzuwenden, die wir nie kennenlernen werden, für die wir aber die Rolle des Wegbereiters übernehmen sollen.

Anders als die Nächstenliebe, die vielfach auf Hilfsbedürftige ohne Ansehen der Person konzentriert ist, soll die Fernstenliebe eine Auswahl treffen und sich auf eine Elite besonders Befähigter bzw. ethisch Vorbildhafter richten.

Die Fernstenliebe zielt außerdem nicht wie die Nächstenliebe, die aus der Empathie mit fremdem Leid erwächst, auf Individuen ab, sondern auf den Typus Mensch, der mit Blick auf die Zukunft veredelt werden soll. Der Einzelne ist nicht als Person gemeint, sondern fungiert als Glied einer Kette.

Der Typus, den es zu fördern gilt, ist der noch nicht existierende, hypostasierte ideale Mensch. Otto Friedrich Bollnow kommentiert:7

In diesem Sinn ist ihm die Fernstenliebe durch den Gegensatz zu Nächstenliebe gekennzeichnet, während diese sich wahllos jedem Bedürftigen zuwendet, bedeutet jene ein auswählendes Prinzip, durch das die Hinwendung in den Dienst letzter, unbedingter Menschheitsziele gestellt wird. Es ist der Wille zum sittlichen Fortschritt, der die Gegenwart am Maßstab einer idealen Zukunft mißt.“

4 Postulate des Prinzips Verantwortung bei Hans Jonas

Seit der ersten Auflage des Buches „Das Prinzip Verantwortung“ ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Damals mögen einige seiner zukunftsgerichteten Prognosen noch übertrieben, schwarzseherisch bis utopisch erschienen sein. Betrachtet man heute jedoch den Zustand der Welt, muss man feststellen, dass die Analysen von Jonas zutreffend waren und sich die kognizierten Bedrohungen und gefährlichen technologischen Entwicklungen immer mehr potenziert haben.8

4.1 Die Notwendigkeit einer neuen Ethik

Hans Jonas geht davon aus, dass sich die Conditio humana in Folge des technologischen Fortschritts grundsätzlich gewandelt hat und wir heute in einer apokalyptischen Zeit leben. Der Mensch ist dabei, so Jonas, zu einem Objekt der Technik zu werden, denn die Geister, die er rief, sind kaum noch beherrschbar.

So bedroht die Genforschung mittlerweile die Ebenbildlichkeit des Menschen, indem sie es ermöglicht, massive Veränderungen am Erbgut vorzunehmen und durch Eingriffe in Gehirnfunktionen die Persönlichkeit nachhaltig zu verändern. Der medizinische Fortschritt vermag in absehbarer Zeit vielleicht sogar, den Tod zu besiegen und Möglichkeiten bereitzustellen, um Menschen entsprechend bestimmter, erwünschter Eigenschaften zu klonen.9

In früheren Zeiten waren die Eingriffe in die Natur durch den Menschen verhältnismäßig harmlos und Mensch und Natur voneinander unabhängig. In der Gegenwart aber besteht erstmals die Möglichkeit, die Erde für unabsehbare Zeit unbewohnbar zu machen, und erstmals ist der Fortbestand der Menschheit nicht mehr fraglos gegeben.

4.2 Basale Axiome

Das zentrale Axiom besteht für Hans Jonas darin, dass der Mensch sein soll. Jonas bejaht zwar, dass es in begründeten Einzelfällen ein Recht des Individuums auf Suizid geben mag, lehnt ein Recht der Menschheit zum kollektiven Selbstmord aber entschieden ab; vielmehr bestehe eine „unbedingte Pflicht der Menschheit zum Dasein.10

Jonas vertritt die Auffassung, dass das Erbe der Evolution auf jeden Fall zu wahren ist. Das Sein hat für ihn absoluten Vorrang vor dem Nichts, da das Sein in sich die Selbstbejahung trage, indem es ohne Unterlass danach strebe, sich selbst zu erhalten.

Axiome lassen sich bekanntlich nicht beweisen, aber Hans Jonas versucht, sie anhand komplexer und nicht immer leicht verständlicher Denkschritte zu begründen.

Ein zentraler Argumentationsstrang besteht darin, dass sich in der Natur Zwecke und Ziele nachweisen lassen und diese daher über Werte verfüge, denn wenn ein Zweck bestehe und ein Ziel erreicht werde, sei das Ergebnis, so Jonas, ein Gut, aus dem sich ein Sollen ableiten lasse.

Insgesamt demonstrierten Zwecke, Ziele und Werte eine Selbstorganisation des Seins, die es dem Nicht-Sein überlegen mache. Werte und ihnen übergeordnet das Gute drängen dem Autor zufolge auf Weiterexistenz und begründen das Sein-Sollen. Mit dem Zusprechen von Wert ist der Vorrang des Seins, so Hans Jonas, vor dem Nicht-Sein eindeutig.

4.3 Eckpunkte einer zukunftsbezogenen Verantwortungsübernahme

Verantwortung bedeutet in der Sicht von Hans Jonas ein nicht-reziprokes Beziehungsgefüge, eine Art Hierarchie, in welcher der Verantwortliche überlegen und derjenige, für welchen Verantwortung übernommen wird, unterlegen ist. Als Beispiele führt er die Verantwortungsübernahme von Eltern für ihre Kinder und von Staatenlenkern für die jeweilige Großgruppe an.11

[...]


1 Allerdings gilt diese Beobachtung nicht unumschränkt, denn schon Friedrich Nietzsche forderte als Konsequenz seiner Hypothese vom Tod Gottes die zukunftsbezogene Umwertung aller Werte und die Geburt des Übermenschen.

2 Hartmann, Ethik, 1962.

3 Ebd., S. 534.

4 Ebd., S. 450.

5 Nietzsche, 2021, S. 58.

6 Hartmann, 1962, S. 488.

7 Bollnow, 1952, S. 91.

8 Böhler & Gronke, 2003, bemerken in diesem Zusammenhang: „Wir leben weder in einer bloßen ökologischen „Krise“ noch einfach in einer „Risiko“-Gesellschaft, sondern in einer hochtechnologischen Zivilisation, deren Innovationen mehr zerstören könnten, als sich prognostizieren läßt. In dieser Hinsicht ist sie eine Gefahrenzivilisation und Zukunftsgefährdungsgesellschaft, scheint es doch ihr Gesetz zu sein, daß sie permanent kumulative Langzeitwirkungen hervorbringt, welche die Fortdauer „echten menschlichen Lebens auf Erden“ in Frage stellen, weil sie mit den ökologischen und soziokulturellen Lebensgrundlagen auch Freiheits- und Verantwortungsbedingungen künftiger Generationen fortwährend zu verschlechtern oder gar zu vernichten drohen“ (S. 301).

9 Mit den Möglichkeiten und Gefahren des Klonens hat sich Hans Jonas (1987) sehr intensiv auseinandergesetzt, vor allem in dem Essay „Laßt uns einen Menschen klonieren. Von der Eugenik zur Gentechnologie“.

10 Jonas, 2020, S. 80.

11 Jonas unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen der natürlichen Verantwortung, die zwischen Eltern und Kind besteht, und der vertraglichen Verantwortung, die man wie etwa Politiker freiwillig übernimmt; vgl. Kap. 3.4-8.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Permanenz menschliches Leben bei Hans Jonas und Nicolai Hartmanns Prinzip der Fernstenliebe
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Philosophisches Institut)
Veranstaltung
Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
17
Katalognummer
V1158205
ISBN (eBook)
9783346563262
ISBN (Buch)
9783346563279
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar des Dozenten: "Sie werden dem von Ihnen selbst gestellten Thema in allen Belangen gerecht. Hervorzuheben ist die jederzeit nachvollziehbare Gedankenführung, die sprachliche Darbietung wie auch die souveräne Einbeziehung von Sekundärtexten."
Schlagworte
Jonas, Verantwortung, Ethik
Arbeit zitieren
Gabriele Bensberg (Autor:in), 2021, Permanenz menschliches Leben bei Hans Jonas und Nicolai Hartmanns Prinzip der Fernstenliebe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1158205

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