Der psychoanalytische Gehalt von sabr. Untersuchung eines islamischen Konzepts


Masterarbeit, 2019

91 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Reflexion über das, was man Islam nennt
2.1. Das Böse
2.2. Die Theodizee im islamischen Kontext
2.3. sabr
2.3.1. sabr im Koran

3. Psychoanalyse - ein eigenständiges Epistem?
3.1. Psychoanalytisches Denken als Methode der Erkenntnis
3.2. Der psychoanalytische Subjektbegriff und die conditio humana
3.3. Das Negative aus psychoanalytischer Sicht
3.3.1. Negatives in klinischer Hinsicht
3.3.2. Gedanken zum Problem des Bösen eingedenk der Zeitlichkeit

4. Was ist der psychoanalytische Gehalt von sabr
4.1. Durchführung der Deutung von sabr.
4.2. Resultat der Deutung

5. Potenzial einer psychoanalytisch-tradierten Koranexegese

Bibliografie

Eidesstattliche Erklärung

Danksagung

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine wissenschaftliche und theoretische Ausarbeitung eines Themas, was in dieser Form so noch nicht erforscht wurde. Beim Prozess galt es viele große und kleine Hürden zu überwinden. Deshalb möchte ich die vorliegende Arbeit nicht beginnen lassen, ohne all denjenigen gedankt zu haben, die einen wesentlichen Anteil in der Vorbereitung, Entstehung und Verwirklichung hatten.

Großem Dank bin ich Frau Beyza Kilic verpflichtet, die mir in schweren Zeiten immer wieder mit Rat und Tat zur Seite stand und mich auch mal zum reflektierenden Entspannen ermutigte.

Des Weiteren wäre diese Arbeit nicht ohne die Gespräche mit Frau Lilli Gast entstanden, die mich mit ihren Hinweisen, Ergänzungen und Hilfestellungen thematisch weitergebracht hat.

Zudem möchte ich meinen Eltern Herrn Hüseyin Bozkurt und Frau Zeynep Bozkurt dafür danken, dass sie jeden Abend ein offenes Ohr für meine inhaltlichen Probleme hatten, die sie nicht verstanden haben. Beim Versuch euch mein Vorhaben zu erklären - und gleichzeitig zu zeigen, dass es keine „brotlose Kunst“ ist - konnte ich so manchen Gedanken klarer fassen und mich besser auf den nächsten Arbeitstag vorbereiten. Sie standen immer an meiner Seite und konnten selbst in Zeiten der stärksten gesundheitlichen Rückschläge so manches aufmunterndes Wort finden und mich motivieren weiterzuarbeiten.

Dank gebührt all denen, die mich in dieser Zeit gehalten und natürlich auch ausgehalten haben.

1. Einleitung

Das Paradies, das den Gottesfürchtigen versprochen ist, ist so beschaffen: In seinen Niederungen (w. unter ihm) fließen Bäche. Und es hat andauernd Früchte und Schatten. Das ist das letzte Ziel derer, die gottesfürchtig sind. Das letzte Ziel der Ungläubigen aber ist das Höllenfeuer (Sure 13, Vers 35).

Bilder über den Himmel oder die Hölle stellen das dar, was der Mensch am meisten begehrt. Erkenntnistheoretisch kann über den Wahrheitsgehalt dieser Darstellungen wenig gesagt werden, da es eine metaphysische Fragestellung ist und deshalb auch außerhalb des menschlichen Erkenntnisraums liegt. Etymologisch betrachtet jedoch verweisen die Ursprünge der Worte Paradies und Hölle (arab. ganna und gahannam) auf ein menschliches Begehren und auf Ängste, die ganz real waren und deshalb auch Eingang in den Koran gefunden haben. Eine Untersuchung dieser beiden Worte würde zeigen, dass das Paradies als Ort phantasiert wird, in welchem jegliches Begehren erfüllt und alle Sorgen beseitigt sind. Interessant daran ist jedoch auch die inhärente Ambivalenz in der Etymologie, da es gleichzeitig auch einen sich einziehenden Ort/Bereich bezeichnet. Demnach wäre das Paradies ein Ort, der sich per definitionem immer entzieht und nicht wahrgenommen werden kann, der jedoch alle Phantasien und Wünsche bedingungslos bestätigt. Solch eine Untersuchung wäre für den psychoanalytisch Denkenden prinzipiell von Interesse, da in den Konzepten eine deutliche Manifestation des Herbeigesehnten zu beobachten ist. Eine psychoanalytische Untersuchung würde an diesem Punkt ansetzen und das subjektive Bild des Konzeptes des Paradieses analysieren und Deutungsvorschläge bringen. Beim erwähnten Beispiel ist besonders der entziehende Charakter des herbeigesehnten Paradieses markant, da dies deutliche Parallelen zu psychoanalytischen Konzeptionen, wie dem unbewussten (ersten) Wunsch, der Not des Lebens, dem Bedürfnis nach omnipotenter Aufrechterhaltung der Realität, etc., aufweist.

Ausgehend vom Gedanken, dass der Koran bestimmte Menschen zu einer bestimmten historischen Periode adressierte, soll eine Untersuchung des Konzepts sabr unternommen werden. Die Untersuchung soll dabei den psychoanalytischen Gehalt des Konzeptes ermitteln und Deutungsvorschläge anbieten, die die Wichtigkeit und Tragweite von sabr unterstützen und gleichzeitig das Potenzial einer solchen Analyse unterstreichen. Die Vorgehensweise wird dabei einem strukturellen Gedanken folgen, welcher graduell an das Konzept sabr heranführt und die erkenntnistheoretische Implikation der Psychoanalyse beschreibt. Durch diese Untersuchung soll eine Standortbestimmung beider Paradigmen erfolgen und eine Heranführung kann letztlich dazu beitragen neue Probleme aufzuwerfen, Fragen zu stellen und Lücken bewusst herbeizuführen. Die Differenz beim Heranführen soll dabei strukturierend wirken und Raum für Neues schaffen, das in diesem Rahmen jedoch nur zu Teilen gefüllt werden kann.

Beginnen soll die Arbeit mit einer persönlichen Reflexion des Autors über das, was gemeinhin unter der Religion des Islam verstanden wird. Nachdem die Ansicht des Autors vertreten wird, soll es zu einer Darstellung über Konzeptionen des Bösen in der islamischen Theologie und Philosophie kommen. Da die theologische und philosophische Denktradition keine monolithische Einheit darstellt, musste der Autor eine deutliche Beschränkung auf wenige (moderne) Stimmen vollziehen, die dennoch ein repräsentatives Bild über das Thema darstellen. Nachdem über das Leid und das Böse Erläuterungen gebracht werden, soll es abschließend für den Teil zu einer Darstellung der Theodizeeproblematik aus Sicht des Islam kommen. Dies erlaubt für eine konzeptuelle Übersicht über den Wert von sabr und unterstreicht gleichzeitig den Umgang der Muslime mit erfahrenem Leid.

Bevor es zu der eigentlichen Untersuchung von sabr kommt, sei die Einbettung im Koran wiedergegeben. Durch das Aufzeigen der Stellen, an welchem sabr explizit vorkommt, soll der Leser einen Einblick in die koranische Sprache und gleichzeitig in das Feld der Einbettung des Konzepts bekommen. Darauffolgend soll die Psychoanalyse vorgestellt werden. Nach einer Standortbestimmung und der Beantwortung, ob denn die Psychoanalyse eine Wissenschaft sei, soll die spezifische Eigenart der psychoanalytischen Erkenntnisgenerierung dargestellt werden. Beim Darstellen dessen, wird ein Verständnis vom Begriff Subjekt vorweggenommen, was jedoch darauffolgend als Theorie aufgerollt werden soll. Besonders die theoretische Herleitung der psychoanalytischen Konzeption des Subjekts und der Subjekthaftigkeit erlaubt für eine Betrachtung der conditio humana, was zugleich der Schnittpunkt mit dem islamischen Konzept von sabr darstellt. Durch das Aufzeigen des Ursprungs und dem steten konflikthaften und libidinösen Spannungsfelds in der Genese des Subjekts, eröffnet sich ein Zugang zu sabr, der durch psychoanalytische Konzeptionen von Negativität zunächst einmal betrachtet werden soll. Durch das zentrale Konzept des Unbewussten, kreist die Psychoanalyse thematisch um ein Negativ, das sich im Leben der Subjekte determinierend manifestiert.

Nachdem thematisch die Umrisse gezogen werden, soll es um die Untersuchung von sabr kommen, was dann im Hinblick der zuvor genannten Konzepte betrachtet wird. Das Ergebnis stellt dabei zugleich das Potenzial solch einer quasi-interdisziplinären Untersuchung dar. Dies ist zugleich als ein Ausblick für kommende Untersuchungen dieser Art zu verstehen, da keine Arbeit in diesem Format und mit der Intention vorliegt. Das Aufzeigen des psychoanalytischen Gehalts von sabr, als ein Mittel um Spannung auszuhalten, neue intrapsychische (phantasmatische) Räume zu gestalten und gleichzeitig die Beziehung zu den inneren Objekten neu zu verbinden, verdeutlich die Signifikanz dieses Vorhabens und trägt zudem zu einer sonderbaren Betrachtung von Religion bei. Besonders der Dialog zwischen Vertretern des Islam und der Psychoanalyse ist begrenzt und die wenigen thematischen Verbindungen kreisen meist um Phänomene der radikalisierten und ideologisierten Ausprägung des Islam. Diese Arbeit soll dabei als Anstoß für weitere Projekte in dieser Richtung verstanden werden, indem anders auf den Islam und islamische Konzepte geschaut wird.

2. Reflexion über das, was man Islam nennt

Dieser Teil der Arbeit beschäftigt sich mit dem, was gemeinhin unter Islam verstanden wird. Dabei ist die Klarifikation des man im Titel ebenso von Bedeutung, wie das Wort Islam an sich. Es wäre ein Leichtes, sich eine Einführung in den Islam anzugucken und daraus die passenden Beispiele herauszusuchen und zu kopieren. Dadurch würde der Leser1 einen Einblick in das bekommen, was allgemein als der Islam dargestellt wird. Zahlreiche Gespräche mit Islamwissenschaftlern, Religionsphilosophen, Psychoanalytikern und islamischen Theologen haben dem Autor dieser Arbeit verständlich gemacht, dass solch eine zwei bis drei Seiten lange Darstellung des Islam mehr Fragen aufwirft, als dass sie sie zu beantworten vermag. Da dies nicht geschehen soll, wird im Folgenden eine persönliche Reflexion über das Wort Islam und seinen Wert erfolgen, was ebenfalls bewusst Fragen aufwerfen und mit den allgemein akzeptierten und propagierten „Grundfesten“ des Islam hadern soll. Es wird kein Anspruch der Expertise über den Islam erhoben und daher soll es auch viel eher um die Reflexion des Autors gehen, was seiner Auffassung nach der Islam ist. Die Entscheidung darüber, diesen Teil der Arbeit reflexiv zu gestalten, kann als Resultat eines langen Ringens verbunden mit viel Widerstand bezüglich dessen verstanden werden, was größtenteils, auch von Muslimen, als Islam geteilt wird. Statt nun auf das zu schauen, was Koranexegeten und Wissenschaftler in der langen Tradition der Islamforschung bezüglich dieses Themas zu sagen hatten, soll es vielmehr um eine dem Text nahe resp. Koran-nahe Betrachtung von grundlegend wichtigen Stichworten gehen.

Der Begriff Islam stellt keine besondere Bezeichnung oder uniformes Gebilde dar. Es bezeichnet viel eher das Paradigma aller Gottergebenen, was auch im etymologischen Ursprung des Wortes Islam zur Deutung kommt: Unterordnung und Hingabe unter den Willen Gottes. Ein Muslim wäre dementsprechend derjenige, der sich allein Gott unterordnet, die Offenbarungen und Gesandten (Propheten) als Führung akzeptiert und ein sozial sowie ethisch verantwortliches Leben führt. Der Islam, verstanden als System das Gott den Menschen auferlegt und „anbietet“, wurde mit Abraham in ein neues Stadium eingeleitet:

(Sure 4/Vers 125) „Und wer hat einen schöneren Glauben als jener, der sich Gott ergibt, der Gutes wirkt und der dem Bekenntnis Abrahams, des Aufrechten im Glauben, folgt? Und Gott nahm Sich Abraham besonders zum Freund.“2

Das mit Abraham eingeleitete System des Islam wurde nach und nach durch die von Gott erwählten Gesandten (oder Propheten) bestätigt, weiter überliefert und - dies ist von besonderer Wichtigkeit - es wurden immer wieder zeitgemäße Fragen und Probleme herangetragen, die es dynamischer und relevanter im Alltag werden ließen (vgl. im Koran Sure 2/Vers 130-133). Der Glaube der Menschen wurde dann durch die Offenbarung des Koran als System der Hingabe vollendet und das Glaubensbekenntnis an den Islam war nun das Mittel um in Gottes Willen zu handeln: (Sure 5/Vers 3) „Heute habe Ich eure Glaubenslehre für euch vollendet und Meine Gnade an euch erfüllt und euch den Islam zum Bekenntnis erwählt.“

Im Folgenden werden nun punktuell einige Besonderheiten dessen aufgelistet, die der Autor unter dem Islam als allgemeines System versteht. Als Referenz dient die Darstellung bestimmter Koranverse, die die Aussagen des Autors belegen:

1. Der Islam bedeutet sich Gott allein zu ergeben (tauhid). Dies stellt das Hauptdogma dar (Halm 2000, S. 8): (Sure 22/Vers 34) „Euer Gott ist ein einziger Gott. Ihm müsst ihr euch ergeben.“
2. Der Islam verachtet es, Profite aus der Religion (und ihrer Ausübung) zu ziehen: (Sure 2/Vers 174): „Diejenigen, die verheimlichen, was Gott von der Schrift herabgesandt hat und es für einen (geringen) Preis verkaufen, sie verzehren in ihren Bäuchen nichts als Feuer. Und Gott wird zu ihnen am Tag der Auferstehung weder sprechen noch sie läutern. Für sie wird es schmerzhafte Strafe geben.“
3. Der Islam fordert die Menschen auf, die Erschaffung und die Entwicklung der Menschheit, Natur und ihrer Phänomene wissenschaftlich zu erforschen: (Sure 29/Vers 19-20): „Sehen sie nicht, wie Gott Schöpfung hervorbringt und sie dann wiederholt? Das ist fürwahr ein leichtes für Gott. Sprich: ,Reiset umher auf Erden und sehet, wie Er das erste Mal die Schöpfung hervorbrachte'. Dann ruft Gott die nächste Schöpfung hervor. Wahrlich, Gott hat Macht über alle Dinge.“
4. Der Islam verlangt die Überprüfung von Behauptungen: (Sure 17/ Vers 36) „Und verfolge nicht das, wovon du keine Kenntnis hast. Wahrlich, das Ohr und das Auge und das Herz - sie alle sollen zur Rechenschaft gezogen werden.“
5. Der Islam betont die Wichtigkeit des Intellekts und der Vernunft: (Sure 5/Vers 91) „Der Teufel will durch Wein und Glücksspiel nur Feindschaft und Hass zwischen euch erregen, um euch so vom Gedanken an Gott und vom Guten (Gottesdienst) abzuhalten. Doch werdet ihr euch abhalten lassen?“
6. Der Islam schätzt das Wissen, die Ausbildung und das Lernen sehr: (Sure 29/Vers 43-44) „Dies sind Gleichnisse, die Wir für die Menschheit aufstellen, doch es verstehen sie nur jene, die Wissen haben. Gott erschuf die Himmel und die Erde in Weisheit. Hierin ist wahrlich ein Zeichen für die Gläubigen.“
7. Der Islam ist ein System mit universellen Prinzipien: (Sure 2/286) „Gott verlangt von niemand mehr, als er (zu leisten) vermag. Jedem kommt (dereinst) zugute, was er (im Erdenleben an guten Taten) begangen hat, und (jedem kommt) auf sein Schuldkonto, was er sich (an bösen Taten) geleistet hat. Herr! Belange uns nicht, wenn wir vergesslich waren oder uns versehen haben!“
8. Der Islam verlangt Verantwortlichkeit, Freiheit und Widerstand gegenüber falschen und unrechtmäßigen Autoritäten: (Sure 6/Vers 164) „Sag: Soll ich mir einen anderen Herrn wünschen als Gott, wo er doch der Herr über alles ist? Und jeder begeht nur zu seinem eigenen Nachteil (was er sich an Sünden zuschulden kommen lässt). Und keiner wird die Last eines anderen tragen. Schließlich werdet ihr zu eurem Herrn zurückkehren. Und dann wird er euch Kunde geben über das, worüber ihr (im Diesseits) uneins waret.“

An diesem Punkt soll die Liste ohne Belege aus dem Koran weiterverfolgt werden. Die entsprechenden Stellen im Koran werden trotz dessen angegeben, sodass diese bei Interesse dies nachgeschlagen werden können.

9. Der Islam macht es sich zum Grundsatz, dass die Eigenschaft eines Volkes von der Eigenschaft des Individuellen abhängt: (Sure13/Vers 11).
10. Der Islam verlangt bei der Wahl der Amtspersonen (oder Regierenden) die Prinzipien der Kompetenz und der Gerechtigkeit festzustellen und als oberste Priorität zu postulieren: (Sure 4/Vers 58-59).
11. Der Islam verteidigt die Glaubens- und Meinungsfreiheit jedes Individuums: (Sure 2/Vers 256; Sure 10/Vers 99; Sure 88/Vers 21-22).
12. Der Islam würdigt das Leben und den Wert jedes Individuums: (Sure 5/32).
13. Der Islam achtet und verteidigt juristische Gerechtigkeit und spricht jedem Individuum die Sicherheit zu, aufgrund jedweder Charakteristika (Rasse, Religion, Gemeinschaft, etc.) weder bevorzugt noch benachteiligt zu werden: (Sure 5/Vers 8-9).
14. Der Islam verabscheut Verspottung, üble Nachreden, Argwohn und sonstige Verhaltensweisen, die andere Menschen, Völker und Gemeinden in irgendeiner Weise zu Unrecht ins Negative ziehen: (Sure 49/Vers 11-12).
15. Der Islam ermahnt, dass das Schlichten, Fürsprechen und der Urheber einer Tat zu sein, Konsequenzen nach sich ziehen, für die es gilt Verantwortung aufzubringen: (Sure 4/Vers

85).

Diese Punkte sollen über die zumeist vereinfachte Darstellung des Islam - Reduktion eines umfassenden religiösen, ethischen, sozialen, politischen, ökonomischen und juristischen Systems auf fünf „Säulen“ - hinausgehen und einen anderen Blick auf die Religion des Islam ermöglichen, der mehr beinhaltet, als nur die rituelle Pflicht bestimmte Praktiken zu vollziehen und an Gott zu glauben. Wie am Ende der Arbeit religionsphilosophisch argumentiert werden soll, kann schon in einer derartigen Reduktion des Islam eine Art Götzendienerei und somit Abwendung vom Islam verstanden werden, da es dadurch zu einer Auslegung des Koran kommt, welcher der Offenbarung, als Gottes Wort, eine Interpretation zuordnet, die den wesentlichen Kern verfehlt. Grundlegend geht es im Islam um das Wetteifern in Rechtschaffenheit und das Tun von (guten) bleibenden Werken:

(Sure 16/Vers 90-91) „Gott befiehlt (zu tun) was recht und billig ist, gut zu handeln und den Verwandten zu geben (was ihnen zusteht). Und er verbietet (zu tun) was abscheulich und verwerflich ist, und gewalttätig zu sein. Er ermahnt euch (damit). Vielleicht würdet ihr die Mahnung annehmen. Und erfüllt die Verpflichtung gegen Gott, wenn ihr eine (solche einmal) eingegangen habt, und brecht nicht die Eide, nachdem ihr sie (in aller Form) bekräftigt habt! Ihr habt ja Gott zum Garanten gegen euch gemacht. Gott weiß, was ihr tut.“

2.1. Das Böse

Beim Lesen der Göttlichen Komödie vom italienischen Dichter und Philosophen Dante Alighieri, bekommt der Leser ein - natürlich stilistisch übertriebenes und polemisch, gezeichnetes - Bild der verschiedenen Stufen der Hölle. Es scheint, als ob sich die Menschen über das Böse und das Übel besser und leichter verständigen können, als über das Gute. Es werden zum Teil kontroverse Diskussionen darüber geführt, was ein gutes Leben ist und wie Glück definiert werden kann. Was böse und übel ist, scheint dagegen oft weit weniger strittig zu sein. Grund dafür könnte sein, dass das „Böse [...] eine erlittene Wirklichkeit, die wir nur zu gut kennen, das Gute dagegen eine erwünschte Möglichkeit, derer wir uns nicht so ganz sicher sind [,ist]“ (Dalferth 2006, S. IX). Das Böse stellt für Philosophie und Theologie eine Herausforderung ohnegleichen dar, die, solange sie als Problem betrachtet wird, eine Deutung ermöglicht, die das Böse in „den methodischen Zusammenhang von Problem und Lösung stellt und ihm damit zumindest so viel Sinn zumutet, dass es als - lösbares oder unlösbares - Problem [Hervorh. i.Orig.] wahrgenommen werden kann“ (Dalferth 2010, S. 9). Religiöse Orientierungen bieten in diesem Sinne Strategien, die sich mit der Problematik des Bösen befassen, diese deuten und gegebenenfalls zu lösen versuchen:

„Das Eigentümliche religiöser Orientierungsstrategien ist, dass sie auf das widerfahrene Unverfügbare reagieren, indem sie es auf anderes Unverfügbares beziehen, um es von dort her in seiner Unverfügbarkeit im Leben zu verorten und dieses umgekehrt angesichts des Unverfügbaren zu verstehen, das immer wieder in das Leben einbricht und es als bonum erwartet steigert oder als malum widersinnig zerstört“ (ebd., S. 522).

Demnach geht es also gerade in den Religionen gerade nicht darum Unverständliches (Leid) verständlich oder Unverfügbares verfügbar zu machen, sondern um die „Wahrung der Unverständlichkeit und die Steigerung der Unverfügbarkeit des Widerfahrenen“ (ebd.). Eine bestimmte Form des Denkens, nämlich die, die sich den Forderungen der logischen Kohärenz unterwirft, kommt bei der Beschäftigung mit dem Bösen, dem Leid und dem Übel, in Schwierigkeiten. Widerspruchsfreiheit und systematische Totalität, (vgl. Ricreur 2006, S. 12) beim Versuch Böses zu deuten, sind deshalb besonders im religiösen Kontext Ziele, welche schwer zu erreichen sein werden.

An dieser Stelle wäre es gewiss interessant zu untersuchen, inwiefern die einzelnen Monotheismen - Judentum, Christentum und Islam - Leid und Böses deuten, vor allem vor dem Hintergrund, dass der Islam in Auseinandersetzung mit anderen Religionen und Weltanschauungen stand und somit quasi interreligiös geformt wurde (vgl. Neuwirth 1991, S. 3-19). Es soll jedoch nicht weiter auf Judentum und Christentum eingegangen werden3, da primär der Islam und seine Sicht auf das Leid und das Böse im Fokus stehen soll. Doch bevor das Böse aus der islamischen Sicht erörtert wird, sei darauf hingewiesen, dass es eigentlich nicht die Haltung des Islam bezüglich einer Thematik gibt:

„Genauso wenig wie die Bibel ist der Koran ein System von Argumenten - aber nicht deshalb, weil es an Argumenten mangelt, sondern weil zu viele, in sich widersprüchliche Argumente enthalten sind. Selbst für die koranischen Verse [bezüglich der Konzeption des Bösen, B.B.], ließen sich andere Verse anführen, die eine andere Sicht des Bösen zu vertreten scheinen. Theologie ist ja gerade das Geschäft, mit solchen Widersprüchen umzugehen, sie in der Deutung miteinander zu versöhnen. So wenig es das [Herv. i. Orig.] christliche oder jüdische Konzept des Bösen gibt, so wenig gibt also der Islam eine einheitliche oder auch nur annähernd kohärente Deutung“ (Kermani 2011, S. 92f.).

Es hat an dieser Stelle eines etwas ausführlicheres Zitats bedurft, da die Problematik der Verschränkung der Motive, ein fortwährendes Missverständnis hervorzurufen droht. Religiöse Deutungen, besonders die der drei großen Monotheismen, haben sich in einem „Prozess wechselseitiger, religionsübergreifender Durchdringung herausgebildet“ (ebd., S. 93), weswegen Formulierungen wie „Der Islam und das Böse“ prinzipiell logisch inkonsistent sind, da sie die verschiedenen Motive nicht getreu abbilden können und fälschlicherweise von einem monolithischen Islamverständnis ausgehen. Brennpunkte der islamischen Theologie verliefen jedoch - und dies wäre eine Alternative zu dem sonst religiös gespaltenen Diskurs - vermehrt durch Schulen mit verschiedenen und zum Teil inkommensurablen Paradigmen, wie die der beiden großen Schulen der dialektischen Theologie: den Mu'tazitiliten und den Asch'ariten, auf die später noch Bezug genommen werden wird.

Oftmals wird behauptet, dass die muslimische Gelehrsamkeit dem Theodizeeproblem, der Rechtfertigung Gottes in Anbetracht des Übels, wenig Beachtung geschenkt hat (vgl. Kam 2019, S. 5). Görgün (2008) beschäftigt sich mit dieser Frage und beginnt seinen lesenswerten Artikel mit folgender Behauptung:

„Es ist allgemein bekannt, dass die klassische islamische Theologie oder das muslimische Denken die Existenz des Bösen nicht als ein primär theologisches Problem, sondern als ein ethisches Problem aufgefasst hat, das unmittelbar auch für die Theologie Bedeutung gewinnt“ (S. 31).

Ähnlich argumentiert Özsoy (2008), der seine Ansicht damit begründet, dass die Frage des Übels „im islamischen religiösen Denken [...] vielmehr eher als ein ethisches denn metaphysisches Problem“ (S. 200) angesehen wurde, mit der Feststellung, sie werde „im Rahmen der innerislamischen Auseinandersetzungen um die Willensfreiheit und die - diesseitige oder jenseitige - Verantwortlichkeit des Menschen thematisiert“ (ebd.). Sinnvoller wäre es daher den islamischen Diskurs um die Theodizee, und damit auch dem Übel und dem Bösen, näher an der „Anthropodizee der modernen Metaphysik“ (ebd.) anzusiedeln. Der Grund dafür „findet sich im Vergleich mit den jüdisch-christlichen Religionstraditionen in der Tatsache, dass es im Islam vom Koran bis zu den wichtigsten islamischen Wissenschaftsdisziplinen keinen Raum für die Ausgestaltung eines autonomen Bösen gibt, da das Böse in der islamischen Metaphysik nicht mit der menschlichen Existenz verknüpft wird. Der Mensch ist ja nicht in Sünde geboren oder mit der Erbsünde belastet. Die Sünde, die Adam und Eva begingen bleibt letztendlich nur ihre eigene als Folge ihrer individuellen Tat“ (ebd.).

Demnach sei die Theodizeefrage für den gläubigen Muslim, auch nicht relevant, da sie kein existenzielles Problem darstelle und er daher auch nicht herausgefordert sei, dieses Problem zu lösen. Auch Izutsu bekräftigt, dass es im Koran „no fully developed system of abstract concepts of good and evil“ (2002, S. 203) gebe, und meint damit, dass die Formation solch moralischer Kernkonzepte „the work of jurists in post-Qur'anic ages“ (ebd.) darstellt. Demnach stellt das Böse eine Kategorie dar, welches in der Sprache des Koran, die „vortheoretisch“ (Görgün 2008, S. 35) zu sein scheint, nicht vorkommt. Da Leid und Böses kein metaphysisches sondern ein lebenspraktisches und ethisches Problem darstellen, ist die Antwort auf eben jenes, individuell. Zentral sind also die Fragen: „Welches sind die ethischen Prinzipien, an denen ich mich richten sollte, um ein gottgefälliges Leben zu führen? Wie gehe ich mit dem Übel um, das mich oder Menschen in meiner Umgebung trifft?“ (Kam 2019, S. 6). Dies führt zu einer systemischen Differenz zum christlichen Diskurs, wodurch die Problematik des Bösen und des existenziellen Leids auf eine andere Ebene verweisen.

Bevor die Theodizeeproblematik aus islamischer Sicht erörtert wird, ist es unter diesen Vorzeichen ebenfalls erwähnenswert, wie dem Leid begegnet wird und wie aus islamischer Sicht die Situation des Menschen, resp. seine conditio humana, aufgefasst wird. Im Koran heißt es in Sure 2, Vers 155-157 (sinngemäß) wie folgt:

„Wahrlich, wir wollen euch auf die Probe stellen durch einiges an Furcht und Hunger und durch Verlust an Gut (an Gutem), an Leben und an Früchten. Verkünde frohe Botschaft den Geduldigen! Die sprechen, wenn ein Schicksalsschlag sie trifft: ,Siehe, wir sind Gottes, und zu ihm kehren wir zurück' - sie sind es, denen von ihrem Herrn Segenswünsche und Erbarmen zugedacht sind, sie sind es, die geleitet sind.“

Leid kann sich laut diesem Koranvers in drei Formen manifestieren: „Leiden als psychisches Erlebnis in Form von Furcht, als physische Wahrnehmung in Form von Hunger und als ein symbolisches [...] in Form von Verlust an Gut, Leben und Früchten“ (Görgün 2008, S. 35). Schlüsselbegriff und das Kernkonzept zur Begegnung und Überwindung des Leidens und der Wahrnehmung von Bösem ist dabei sabr:

„Bestimmte Ereignisse, wie sie auch geartet seien, sind kein Grund dafür, dass man dadurch die Gnade Gottes vergessen soll. Selbst Da-Sein-Dürfen ist Grund genug, sich auf den zu verlassen, der dies alles erschaffen hat. Dieses Beharren oder Ausharren in Vertrauen auf Gott, den Gnädigen, ist das, was ,Geduld' oder vielleicht ,Standhaftigkeit' zum Ausdruck bringt“ (ebd., S. 36).

All dies leitet bereits implizit zum größeren Ganzen, welches auf einer höheren Ebene angesiedelt zu sein scheint. Die diesseitige Welt4 wird aufgefasst als ibtilä' (Prüfung; auf die

Probe stellen) und Leben und Tod sind gleichermaßen der Schöpfung inhärent5, sodass alles von Gott kommt und auch durch ihn wieder genommen wird. Der Koran verweist auf die conditio humana und die Inhärenz des Todes in der Schöpfung in folgenden Versen:

(Sure 67, Vers 1-2) „Voller Segen ist, in dessen Hand die Herrschaft ruht - er ist aller Dinge mächtig, der den Tod schuf und das Leben, um euch zu prüfen, wer von euch am besten handelt - er ist der Mächtige, der bereit ist zu vergeben.“

Demnach wird das Erfahren von Leid umgedeutet als ein Auserwähltsein für eine Prüfung Gottes. Die Aufgabe der Prüfung setzt dabei allerdings ein handelndes Individuum voraus, welches praktisch (also ethisch) so handeln muss, um der Gnade und dem Wohlwollen Gottes zu entsprechen oder eben nicht zu entsprechen - somit sind Versagen und Nichtbestehen miteingeschlossen.

Grob kann gesagt werden, dass der Koran „nicht nur keine Theorie des Bösen [enthält], sondern auch keine Theorie des Guten. [...] Es ist aber daran festzuhalten, dass das Wesen des Guten und des Bösen immer mit der menschlichen Existenz zu tun hat“ (Görgün 2008, S. 47). Demnach ist es die Aufgabe des Menschen, Ungerechtigkeit, Leid, Übel und allgemein Böses, zu überwinden und diesen getreu göttlicher Anleitung mit sabr und weiteren Qualitäten zu begegnen. Obwohl, wie nun deutlich wurde, die Theodizee ein eher peripheres Problem im islamischen Diskurs darstellt, gilt es dennoch die Problematik einzuordnen und auf folgende drei Hauptfragen zu reduzieren: „1. Ist Gott prinzipiell imstande, Böses zu tun? 2. Wenn ja, tut Er es tatsächlich? 3. Wenn ja, aus welchem Grund und mit welchem Zweck tut er es dann?“ (Özsoy 2008, S. 201). Der Kohärenz und Stringenz wegen wäre es an dieser Stelle verwerflich, wenn keiner islamischen Stimme bezüglich der Theodizeeproblematik Platz eingeräumt werden würde. Deshalb soll im Folgenden noch kurz auf die Theodizee eingegangen werden.

2.2. Die Theodizee im islamischen Kontext

Der HERR hat's gegeben, der HERR hat's genommen; der Name des HERRN sei gelobt.

(Buch Hiob 1:21) Wie Ricreur schreibt, kommt beim Problem des Bösen und direkt in Bezug dazu bei der Frage nach der Theodizee (der Gerechtigkeit Gottes), ein bestimmtes Denken, welches sich den Forderungen nach logischer Kohärenz, Widerspruchsfreiheit und systematischer Totalität unterwirft, in Schwierigkeiten (2006, S. 13). Schon früh sahen sich muslimische Theologen herausgefordert, die Allmacht Gottes mit seiner Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zu legitimieren. Da der „Koran die Allmacht Gottes und die Einsichtigkeit seines Tuns so deutlich hervorhebt, stellt sich das Problem der Theodizee im Islam noch drängender als im Judentum und Christentum“ (Kermani 2005, S. 126). Im Koran erhält der Leser das Bild von einem Gott, der allmächtig ist und eine makellose Welt erschaffen hat. Die empirische Wirklichkeit - mit der Annahme, dass solch eine Wirklichkeit ontologisch existent sei - steht den koranischen Aussagen jedoch zumeist diametral entgegen. Die Menschen können dann zurecht fragen: „Wenn die Schöpfung so vollständig gut ist - wieso birgt sie dann so viel Leid [?]“ (Kermani 2011, S. 97).

Gelehrte haben versucht eine Antwort auf die Herausforderung der Theodizee zu finden, wodurch sich, unter anderem beim Versuch der Beantwortung dieser zentralen Problemstellung, verschiedene Denkschulen mit unterschiedlichen Paradigmen herauskristallisiert haben. Zuvor wurden bereits die beiden größten Denkschulen der islamischen Tradition der dialektischen Theologie benannt - die Mu'taziliten und die Asch'ariten. Die Mu'taziliten vertraten prinzipiell die Willensfreiheit des Menschen (vgl. Özsoy 2008, S. 201) und versuchten die Gerechtigkeit Gottes damit zu beweisen, dass es „zwischen Gott und dem Bösen keine Verbindung gäbe“ (ebd.). Konträr dazu argumentierten die Anhänger der Schule der Asch'ariten, die sich vom Rationalismus ihrer Gegner abwandten, eher orthodox, indem sie „uneingeschränkt an der Vorherbestimmung und damit an der Verantwortlichkeit Gottes für alles Geschehen“ (Kermani 2011, S. 99) festhielten. Somit ist die Beschäftigung mit der Theodizeeproblematik direkt untrennbar mit dem vorherrschenden Paradigma und dem Zugang zum Koran verknüpft.

Eine Herangehensweise in Bezug auf die Theodizee und die Wahrnehmung vom Guten und Bösen, lässt sich klar im koranischen Geschichtsbild herauslesen, in welchem nicht nur Gott, sondern auch dem Menschen seine eigene Rolle zukommt. In Sure 76, Vers 2-3 wird (sinngemäß) von den erhabenen Idealen und den ethischen Werten gesprochen, die der Mensch auf der Erde zu vollziehen und zu realisieren hat:

„Wir haben den Menschen aus einem Tropfen, einem Gemisch, geschaffen und ihm Gehör und Gesicht verliehen, um ihn auf die Probe zu stellen. So haben wir ihn den rechten Weg geführt, mochte er nun dankbar sein oder undankbar.“

Der Aspekt des Erprobt-Werden wurde bereits erwähnt, jedoch ist hinzuzufügen, dass „die Probe des Menschen [...] in seiner Berufung zur Repräsentation Gottes durch Verwirklichung der universellen ethischen Ideale auf der Erde [besteht], und hinter dieser Berufung (al-amäna) steht die Fähigkeit und Verpflichtung zur Unterscheidung von Gut und Böse“ (Özsoy 2008, S. 204). Jedem Gläubigen wird dabei allerdings stets nicht mehr an Probe aufgebürdet, als dieser zu leisten vermag (vgl. Koran Sure 2, Vers 286). Dabei verläuft die Geschichte nach dem göttlichen Gesetz (arab. sunnatu'lläh), das eine gewisse Neutralität zeigt, da dieses die Unveränderlichkeit der Verhaltensweise Gottes reflektiert. Demnach würde Gott die Gesetze der Natur und des Weltgeschehens weder zu Ungunsten der Menschen noch zu Gunsten der Menschen ändern. Es ist jedoch eine weit verbreitete Erwartung, dass Gott in die Geschichte und Natur eingreift. Der Koran lehnt solch eine Erwartung des Menschen vehement ab, wodurch unter anderem die Vorstellung des, besonders bei Muslimen weitverbreiteten, Bittgebets neu zu überdenken ist:

„Gott wird weder in den Verlauf der Natur eingreifen, um dem Propheten Muhammad ein Wunder zu geben, noch wird er in den Verlauf der Geschichte eingreifen, um den Muslimen zu helfen. Denn die Ordnung der Natur selbst ist das klarste Wunder, dass Gottes Existenz und Macht beweisen soll, und die klarste Hilfe Gottes ist die Gesetzmäßigkeit im Verlauf der Geschichte“ (Özsoy 2008, S. 207).

Die Erwartungshaltung, dass Gott in die Geschehnisse und den Verlauf der Weltgeschichte eingreift, liegt im Grunde darin begründet, und dies widerspricht bestimmten koranischen Aussagen (vgl. Sure 41, Vers 53), dass er als eine der Natur und Geschichte externe Kraft resp. Entität wahrgenommen wird, die nur in den äußersten Notfällen zur Hilfe gerufen wird (vgl. u.A. Sure 20, Vers 22-23; Sure 24, Vers 39; Sure 29, Vers 65). Der Koran spricht jedoch davon, dass Gott „in jeden natürlichen und geschichtlichen Prozess involviert [ist], so dass Er weder in die Natur noch in die Geschichte einzugreifen braucht“ (ebd.). Dies hebt gleichzeitig den lebenspraktischen Aspekt hervor, indem betont wird, dass Gott all dies erschaffen hat, der Mensch aber Leid, Übel und Böses mithilfe der im Koran beschriebenen ethischen Ideale überwinden kann - und gewissermaßen auch soll, da dies Teil seiner irdischen bzw. diesseitigen Prüfung ist. Die Frage, warum Gott dann überhaupt Böses erschaffen haben soll, kann damit beantwortet werden, dass es Teil der Prüfung der Menschen ist, die er mithilfe des ihm gegebenen Maßstabs ethisch beurteilen und sich dementsprechend verhalten oder eventuell Widerstand leisten soll. Doch durch „seine guten Taten erfüllt der Mensch nur seinen Auftrag im Irdischen. Er darf jedoch weder beanspruchen, durch seine guten Taten die Gerechtigkeit bzw. Barmherzigkeit Gottes zu verwirklichen, noch seine Hoffnung [Herv., B.B.] auf das ,Gute' aufgeben, weil letztlich ohnehin nur die absolute Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes herrschen“ (ebd., S. 211).

Es wird in diesem Zusammenhang auf die Überzeugungskraft der koranischen Hidr- Erzählung verwiesen (vgl. Sure 18, Vers 65-82), in welcher Moses eine beschwerliche Reise mit einem fremden Begleiter - dessen Name nicht bekannt ist, aber der in der islamischen Tradition einfach als al-Hidr bezeichnet wird - absolvieren muss. In dieser Erzählung wird maßgeblich Bezug auf die Theodizeeproblematik genommen, da auf die Mehrdimensionalität der Wirklichkeit hingewiesen wird. Demnach sei der „Mensch nicht imstande [...] die Weisheit Gottes hinter seinen Taten zu erfassen. Deshalb erscheinen ihm viele der göttlichen Interventionen als ethisch unverantwortbar, die jedoch nach Offenbarwerden der tieferen Absichten Gottes sich durchaus als etwas Gutes erweisen“ (Kam 2019, S. 6). Daher sind gerade aus koranischer Perspektive die Begriffe Geduld (sabr) und Vertrauen ( tawakkul ) zentral, denn diese bestimmen das ethische Handeln des Menschen und sind somit direkte Signifikanten der Reaktion auf die Prüfung der (aus dem islamischen Denken verstandenen) conditio humana. Die Begegnung mit dem Problem des Leidens und des Übels ist somit in einem hohen Maße mystisch, da mehr Leid, aufgefasst als Prüfung, mehr Beachtung von Gott bedeutet und somit auf das Auserwähltsein hindeutet. Watt (1979) verweist in diesem Zusammenhang auf einen Hadith (authentisch geglaubter Ausspruch des Propheten), wonach die Besten die schwerste Bürde zu tragen haben:

„There is a Hadith according to which Muhammad said, 'Among men the prophets suffer most, then the saints, then other men according to their respective ranks.' To this way of thinking sufferings and tribulations are signs that God is near“ (S. 18).

Wenn Gott nur gut wäre und in dieser Welt nur Gutes erschaffen hätte, dann wäre die Welt gleichsam ein Paradies. Der Mensch hätte keine andere Wahl als sich diesem grundsätzlich guten Gott zu unterwerfen und ihn anzubeten. Es bedarf „eines Streitens und Haderns mit Gott, wenn man all das Übel der Welt betrachtet und das chaotische und unbarmherzige in ihr erfährt“ (Kam 2019, S. 233). Dies ist, wie der Koran an so vielen Stellen betont, die Grundessenz des Glaubens: der freie Entschluss des Individuums. Der freie Entschluss, die Willensfreiheit, ist das Resultat einer Spannung:

„Diese Spannung ist die Erkenntnis des Bösen vor dem Hintergrund eines allmächtigen und guten Gottes. Der Glaube hält dieser Spannung aber stand und entspringt aus ihr. Wenn der Mensch also all das Üble, Böse, Hässliche und Verabscheuungswürdige in sich aufnimmt, zugleich all das Schöne und Kostbare und Anbetungswürdige der Welt betrachtet und daran verzweifelt, wenn man nun Gott von dem Korsett des Lieblichen und Guten befreit und ihn über alles menschenerdenkliche hinüberhebt, indem man ihn als den Widerspruch in sich anerkennt, dann gibt es im Grunde nur zwei Möglichkeiten der Antwort. Entweder man wendet sich von ihm ab, weil man an diesem Widerspruch verzweifeln muss und in seinem Gebet den Gedanken an das Böse nicht ertragen kann. Oder aber man betet ihn an, indem man Liebe und Schrecken und Hoffnung und Furcht zugleich in seinem Gebet vereint“ (ebd.).

Die Akzeptanz und Annahme des Leids mittels seiner Geduld (sabr) hat somit für den Gläubigen auf den Rängen Gottes etwas Förderndes und Progressives. Obwohl die Limitierung der Erkenntniskapazitäten hervorgehoben wurde, die es uns als Menschen unmöglich macht, die Intention Gottes zu durchschauen, gibt die Psychoanalyse dem Menschen dennoch ein Instrument in die Hand, welches ermöglicht, quasi hinter die Kulissen des Geschehens zu schauen und neue Facetten zu erblicken. Wie die eingangs zitierte Passage aus dem Buch Hiob sagt: Der Herr hat es gegeben und der Herr hat es genommen; ähnlich kann somit dem Bösen begegnet werden - in Akzeptanz oder Ablehnung.

2.3. sabr

Der Koran ist ein zutiefst komplexer Text, der Islamforscher, Philosophen, Theologen und andere Gelehrte vor enorme methodische Schwierigkeiten stellt. In den Erzählungen über die Islamgenese und den Zeitraum der Offenbarung, wird oftmals das Rezitieren der einzelnen Verse durch den Prophet und Verkünder Gottes hervorgehoben. Neuwirth (2007) ermutigt jedoch zu einer radikalen Dekonstruktion der Islamgenese (S. 325), da fundamentale Aspekte des Verständnisses des Korans nicht beachtet werden und der Fokus sich somit verschiebt. Der Koran muss in sein spätantikes Entstehungsmilieu eingeordnet werden und zudem muss die aktive Auseinandersetzung und kontinuierliche Interaktion zwischen Verkünder (Muhammed) und Rezipient betont werden (vgl. ebd., S. 328). Das sich zwischen diesen beiden Instanzen vollziehende „Drama“ der Offenbarung und Etablierung der Worte Gottes während der spätantiken Epoche auf der Arabischen Halbinsel, bedarf einer literarischen Analyse, welche die Mitgestaltung des Korans gerade durch die Interaktion und die Manifestation und Bildung der Gemeinde, berücksichtigt. Der Koran ist somit nicht als fertiger Text zu verstehen, den Muhammed einer schon etablierten muslimischen Gemeinde verkündet wird, sondern die

„koranischen Texte dokumentieren in vielerlei Hinsicht einen als ,Versuch und Irrtum' charakterisierbaren Prozess der allmählichen Annäherung von Text und Hörererwartungen: sie zitieren Überzeugungen, Nachfragen und Einwände des Publikums und experimentieren inhaltlich und formal mit unterschiedlichen Weisen der Aneignung und Entgegnung, von denen sich manche als konsensfähig erweisen und weitergeführt werden, während andere sich nicht zu behaupten vermögen. Man wird folglich die im Verlauf der Korangenese entstehende und sich im folgenden mehrfach wandelnde Gemeinde als ,passive Mitautoren' betrachten müssen (ebd., S. 329).

Muhammed ist somit nicht nur das Sprachrohr Gottes, sondern - und das sollte in den Texten über den Propheten hervorgehoben werden - Katalysator und letztendlicher Formgeber der Religion des Islam (ebd.). Er dient somit als Vorbild und hat durch seine Formgebung die sich etablierende muslimische Gemeinde politisch, sozial und religiös geprägt.

Das Wissen um die interaktive Struktur der Verkündung ist elementar, da dadurch der diskursive und dynamische Charakter des Korans und seiner Begriffe deutlich wird. Dabei erwies sich das Vorverständnis der Araber und der weiteren Hörerschaft ebenfalls als paradigmatisch und somit prägend für die Rezeption der Botschaft Muhammeds. Einer der Begriffe, welcher zentral für die theologische, sowie religionsphilosophische Auseinandersetzung mit dem Islam steht, ist sabr. Etymologisch besteht das Wort, wie bei den meisten semitischen Sprachen, aus einer triliteralen Struktur der Konsonanten - s-b-r. Es kam in der geschichtlichen Entwicklung zu einer Verzerrung des Begriffs durch falsches Rezipieren und Applizieren:

„Die Bedeutung des so tiefgründigen Begriffs hat einen seinen Ursprung verzerrenden Wandel durchlebt. Eigentlich heißt sabr, dass man auf dem Wege des Guten, Göttlichen und Gesegneten, jeglicher Art von Hindernis, Leid, Bürde oder Sorge, entgegenkommen, sich widersetzen und standhaft bleiben soll, damit aktiv gegen das Übel etwas getan wird“ (Özsoy & Güler 2014, S. 411).

Aufgrund des hohen Ambiguitätsspielraums der hocharabischen (koranischen) Sprache (vgl. Bauer 2011), kann eine festgelegte und eindeutige Übersetzung des Wortes nicht gelten. Daher erscheint es problematisch, sich auf eine Interpretation des Begriffs im Rahmen des Korans zu einigen und diese als gültig bzw. wahr zu betiteln. Fälschlicherweise wird sabr nunmehr als Geduld übersetzt und, obwohl diese Übersetzung konkret gefasst nicht falsch ist, ist es prägend für das Leben der Muslime. Der islamische Philosoph und Gelehrte Ibn Qayyim al-Jawziyyah, verfasste im 13. Jahrhundert einen für die islamische Gemeinde prägenden Traktat6 über den Wert von sabr für einen gläubigen Muslim. Darin stellt er eindeutig dar, dass das Verständnis dieses Begriffs als Geduld („patience“) zu simplifizierend ist und zudem fälschlicherweise die Passivität als Weg Gottes preist. Vielmehr betont er, dass es, je nach Kontext, als moralische Kraft, Standhaftigkeit, Gleichmut, Unterlassung, Enthaltung, Nachsicht, Ausdauer, Aushalten, etc. (1997, S. 7) verstanden werden soll. Ebenso heben Watt (1979, S. 14) sowie Kam (2019) hervor, dass Geduld „kein Korrelat für das arabische sabr sei, da dieses auch ein aktives Verhindern von Leid mit einschließe“ (ebd., S. 11). Es wird jedoch weitgehend als die Kapitulation und das Ertragen des Schlechten, das Herabsenken des Blicks und des Hauptes gegenüber (ungerechter) Autorität, das Begrüßen von Armut (materiell aber auch in Sachen Bildung) und die Abkehr von allem Weltlichen verstanden. Dies wirkt sich folgerichtig auch auf die Lebensweise der Muslime aus, da diese von einem aktiven Eingreifen in ihr Leben auf ein passives Ertragen und Erdulden reduziert werden (vgl. Özsoy & Güler 2014, S. 411). Da sabr einen der zentralen Begriffe des Korans darstellt, sollen im Folgenden einige Koranverse exemplifizierend dargestellt und untersucht werden. Dabei ist jedoch stets zu beachten, dass der Autor keine islamwissenschaftliche Expertise aufweist, sondern auf die Kommentare und Exegesen der Wissenschaftler der jeweiligen Disziplin angewiesen ist.

[...]


1 In der folgenden Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form verwendet. Sie bezieht sich auf Personen beider Geschlechter.

2

Dabei wird die sinngemäße Koranübersetzung von Hartmut Bobzin (2015) herangezogen, da diese, nach Auffassung der islamwissenschaftlichen Fakultäten im deutschsprachigen Raum, die momentan beste Heranführung an den originalen Wortlaut sei und daher bevorzugt gegenüber der gängigen Übersetzung von Rudi Paret (2012) genutzt werde (mündliche Mitteilung von Hureyre Kam, Frankfurt, am 01.04.2019).

3 Für eine ausführliche Beschäftigung mit Leiddeutungen und dem Bösen im Monotheismus sei auf folgende Werke hingewiesen: Dieringer (2009); Geyer (1990); Dalferth (2006; 2010); Kermani (2005); Rommel (2011); Renz et al. (2008); Laube (2003).

4 Auch wenn die verwendete Sprache gewiss bekenntnistheoretisch anmuten mag, soll dies keine Bekenntnisschrift und Rechtleitungswegweiser für einen Gläubigen sein. Vielmehr soll aus der Perspektive eines Gläubigen gedacht werden, damit der Zugang zu verschiedenen Ebenen der Theorie und Philosophie eventuell gelingen mag.

5 Dies weist Ähnlichkeiten zur psychoanalytischen Theorie und der Konzeption der conditio humana und der facts of life von Money-Kyrle (1971) auf.

6 Leider gibt es keine Übersetzung dessen in das Deutsche. Glücklicherweise wurde es aber in das Englische übersetzt. Dies stellt zugleich eines der zentralen Probleme der wissenschaftlichen und philosophischen Auseinandersetzung mit der tiefen Islamischen Geschichte und Kultur, Wissenschaft und Philosophie dar - laut Schätzungen sind weiterhin 80-90 % der Werke islamischer Gelehrte, von denen einige maßgeblich prägend für die Entwicklung der abendländischen Philosophie und Wissenschaft gewesen sind, nicht in eine der führenden (akademischen) Sprachen übersetzt (vgl. Haque 2004).

Ende der Leseprobe aus 91 Seiten

Details

Titel
Der psychoanalytische Gehalt von sabr. Untersuchung eines islamischen Konzepts
Hochschule
International Psychoanalytic University
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
91
Katalognummer
V1158217
ISBN (eBook)
9783346564702
ISBN (Buch)
9783346564719
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gehalt, untersuchung, konzepts
Arbeit zitieren
Beyhan Bozkurt (Autor:in), 2019, Der psychoanalytische Gehalt von sabr. Untersuchung eines islamischen Konzepts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1158217

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