Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Die Pädagogik der Naturkindergärten im Anthropozän
2.1. Naturkindergärten in Deutschland
2.2. Die pädagogischen Herausforderungen im Anthropozän
3. Pädagogische Konzeption der Auen-Kindertagesstätte
3.1. Die Lippeaue als Kita-Standort
3.2. Konzeptionsentwicklung in Kindertagesstätten
3.3. Schwerpunkte der pädagogischen Konzeption der Auen-Kita als
4. Ausblick
5. Literaturverzeichni
Gliederung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Schaute man als Kind das erste Mal nachts in den Himmel und sieht die Wolken vor dem hellen Mond vorbeiziehen, so würde man meinen, der Mond selbst würde in die entgegengesetzte Richtung ziehen. Schauen die Menschen auf die Unendlichkeit der Ozeane, in den tiefblauen Himmel oder auf das wechselhafte Wetter, sie würden meinen, dass sie selbst keinen Einfluss darauf hätten. Das erste Beispiel beschreibt Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert in „Emile oder Über die Erziehung“. Das zweite Beispiel ist der Irrtum der Menschheit, der für den Beginn des neuen Erdzeitalters steht: dem Anthropozän. Beide Beispiele führen zu dieser Bachelorarbeit vorangestellten Aussage: „Die Natur täuscht uns niemals, wir sind es, die wir uns immer täuschen“ (Rousseau 2009, S. 428).
Begriffe wie Klimawandel, Entwaldung, Artensterben, Übersäuerung der Meere und radioaktiver Fallout stehen dafür, dass zum ersten Mal eine einzige Spezies das Lebenssystem des gesamten Planeten im globalen Maßstab verändert (Crutzen 2002, S. 23). Welche Auswirkungen hat diese Einsicht und dieses Verständnis auf Bildung, Sozialisation und Erziehung? Wie begegnet die Pädagogik diesen Herausforderungen?
Eine Antwort gibt die Entstehung von Naturkindergärten, die seit den 1990er Jahren aus der deutschen Kita1 -Landschaft nicht mehr wegzudenken sind. Sie wollen als Gegengewicht zu einer Konsumorientierung, einer multimedialen Bilderwelt, fehlenden Möglichkeiten der Bewegung, Gestaltung und Sinnesempfindung und schlussendlich einer Entfremdung von der Natur bei Kindern wirken (Miklitz 2019, S. 26f.). Gleichzeitig hat die Naturkindergarten-Pädagogik in den letzten Jahren auch in den Regelkindergärten wichtige Impulse gesetzt (ebd., S. 11).
Diese Arbeit bewegt sich zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite stehen die enormen Herausforderungen an Bildung und Erziehung im Zeitalter des Anthropozäns. Auf der anderen Seite die praktische Planung und Konzeption einer einzelnen neuen Kindertagesstätte in der Stadt Hamm. Als „Auen-Kindertagesstätte“ (Auen-Kita) soll sie in der Flussaue des westfälischen Flusses Lippe entstehen. Sie wäre nach Wald-, Strand-, Heide- und anderen Naturkindergärten der erste Naturkindergarten in einer Flussaue in Deutschland. Diese Spannbreite zwischen den massiven Bedrohungen des Planeten und dem Aufbau einer einzelnen Kita folgt dem Verständnis, dass auch durch viele kleine Schritte an vielen kleinen Orten sich die Welt verändern lässt.
Im folgenden ersten Teil der Arbeit stehen die Herausforderungen des Anthropozäns an Bildung und Erziehung im Vordergrund. Diese werden anhand der Arbeit des Anthropologen und Erziehungswissenschaftlers Prof. Dr. Christoph Wulf behandelt und vorgestellt. Hier schließt sich die Analyse an, ob und unter welchen Maßgaben die Naturkindergarten-Pädagogik diesen Herausforderungen begegnet und wie sie sich dabei an den Aufgaben und Zielen globaler Bildung orientiert. Eine kurze Vorstellung der Naturkindergärten ist dem ersten Teil vorangestellt.
Aufbauend auf dieser Analyse werden im zweiten Teil die Schwerpunkte einer Konzeption für die Auen-Kita in der Stadt Hamm erarbeitet. Der Fokus liegt dabei auf den praktischen pädagogischen Antworten auf die vorab skizzierten Aufgaben an Bildung, Erziehung und Sozialisation im neuen Erdzeitalter. Die Rahmenbedingungen des Standorts Flussaue und der Konzeption einer Kindertagesstätte werden vorab erläutert.
Bei Rousseau ist es nicht die optische Sinnesempfindung der vorbeiziehenden Wolken, nicht die Natur, die den „Zögling“ täuscht, sondern das eigene Urteil und die Vorstellung, der Mond würde vorbeiziehen (2009, S. 428f.). Und so beruht auch der Klimawandel oder das Artensterben auf vielen menschlichen und sehr fatalen Urteilen und falschen Vorstellungen. Wenn diese in Zukunft vermieden werden sollen, müssen im Großen wie im Kleinen „Frieden, Umgang mit kultureller Diversität und Nachhaltigkeit zu den Bedingungen zukunftsfähiger Bildung“ (Wulf 2020, S. 204) werden. Eine neue Auen-Kita kann dafür vielleicht einer dieser vielen kleinen Schritte sein.
2. Die Pädagogik der Naturkindergärten im Anthropozän
2.1. Naturkindergärten in Deutschland
2.1.1. Ursprung, Entwicklung und Definition
Die Wurzeln der Wald- und Naturkindergartenpädagogik liegen in Skandinavien. In Schweden bot die Organisation „Friluftsfrämjandet“ seit 1892 ganzjährig naturpädagogische Aktivitäten für alle Altersstufen an. Eine erste elementarpädagogische Gruppe entstand in der Mitte des 20. Jahrhunderts (Miklitz 2019, S. 23f.). Zur gleichen Zeit wurde 1954 in Dänemark auf Initiative von Ella Flatau in Sölleröd der erste „skovbørnehave“ (dänisch: Waldkindergarten) gegründet. Nachdem sie mit ihren eigenen Kindern täglich zum Spielen und zur Naturbeobachtung in den Wald ging, schlossen sich nach und nach Nachbar:innen und Freund:innen2 an, die für ihre Kinder keinen Kindergartenplatz erhalten hatten (Rech 1997, S. 13).
Ebenfalls aus der Not heraus entstand in Wiesbaden in der Nachkriegszeit aufgrund von Raummangel sogenannte „Spazierkindergärten“, die regelmäßig durch den Stadtwald wanderten (Miklitz 2019, S. 14). Im Frühjahr 1968 gründete Ursula Stube, ebenfalls in Wiesbaden und in Ermangelung ausreichender Kindergartenplätze, eine feste Wandergruppe, die der Naturpädagogik folgte (Gorges 2000, S. 275), ohne jedoch einen Namen oder ein Konzept zu haben oder staatliche Förderung für ihren „Waldkindergarten“ zu erhalten (Häfner 2002, S. 34). Der erste deutsche staatlich anerkannte Waldkindergarten eröffnete 1993 in Flensburg, nachdem die Erzieherinnen Kerstin Jebsen und Petra Jäger durch einen Artikel über die Waldkindergartenbewegung in Dänemark auf diese alternative Form der Kindergartenpädagogik aufmerksam wurden (ebd., S. 33). Diese Gründung war der Ursprung für die besondere Aufmerksamkeit, die Waldkindergärten von nun an in Deutschland erfuhren.
Zurzeit gibt es ca. 2000 Natur- und Waldkindergärten (BVNW, online). Die Trägerschaft liegt nicht mehr nur bei freien (Eltern-)Initiativen, wie dies in den Anfängen noch der Fall war, sondern inzwischen ebenso bei Kirchen, Kommunen oder Wohlfahrtsverbänden (ebd.). Sie werden weiterhin und vor allem über ihr fehlendes Gebäude definiert, wobei zu beachten ist, dass sich auch ihre Materialien und Pädagogik vom Regelkindergarten unterscheiden. Eine grundsätzliche Beschreibung hat das Hessische Ministerium für Umwelt, Energie, Jugend, Familie und Gesundheit veröffentlicht, dass sich so oder in ähnlicher Form in fast allen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Publikationen wiederfindet:
„Reine Wald- bzw. Naturkindergärten unterscheiden sich von Regelkindergärten darin, daß sie kein eigenes Gebäude besitzen, sondern unter freiem Himmel ‚zu Hause‘ sind: im Wald oder am Strand, zu jeder Jahreszeit, an jedem Vormittag der Arbeitswoche, bei jedem Wetter (abgesehen von extremen Witterungslagen), […] also Kindergärten ‚ohne Türen und Wände‘. In der Regel verfügen Waldkindergärten jedoch über einen Stützpunkt, in dem die Gruppe bei plötzlichem Wetterumschwung Schutz finden kann und wo auch Materialien und Geräte gelagert werden können […]“ (1998, S. 8).
In der wissenschaftlichen Literatur werden dabei die Begriffe Wald- und Naturkindergärten weitestgehend synonym verwendet (z.B. bei Miklitz, Lenz, Häfner) und auch die beiden bundesweiten Zusammenschlüsse „Bundesverband der Natur- und Waldkindergärten“ (BVNW) sowie die „Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesverbände der Wald- und Naturkindergärten“ (BAG) verwenden beide Sammelbegriffe. In der Literatur wird größtenteils jedoch von Waldkindergärten gesprochen – in seltenen Fällen sogar in deutlicher Abgrenzung zu Naturkindergärten. So führen beispielsweise Schede (2000, S. 16f.) oder Lenz (2021, S. 18) an, dass der Grundgedanke gegenläufig sei, da es bei Waldkindergärten darum ginge, in die Natur hinauszugehen, während bei Naturkindergärten die Natur in die Einrichtung geholt wird. Diese begriffliche Unterscheidung stimmt jedoch kaum noch mit der Realität überein. Viele reine Waldkindergärten bezeichnen sich selbst als Naturkindergarten (BVNW, online) oder Naturkindergärten nutzen einen anderen Naturraum als den Wald, so dass der Begriff „Waldkindergarten“ unpassend wäre. Diese begriffliche Überschneidung räumen auch Schede und Lenz an gleicher Stelle ein.
Um alle Naturräume (z.B. Wald, Strand, Aue) zu inkludieren wird in dieser Arbeit durchgängig der Oberbegriff „Naturkindergarten“ verwendet und als Kindergarten in der freien Natur „ohne Türen und Wände“ verstanden, wie er sich in der oben zitierten Beschreibung wiederfindet. Gleichzeitig gibt es jedoch – nicht nur durch unterschiedliche Naturräume – diverse Formen und Strukturen von Naturkindergärten.
2.1.2. Formen von Naturkindergärten
Die diversen Ausprägungen von Naturkindergärten lassen sich zum einen anhand ihrer Verortung in unterschiedlichen Naturräumen und zum anderen anhand ihrer Struktur unterscheiden. Die zugrundeliegende Naturkindergarten-Pädagogik ist jedoch die verbindende Konstante und wird unter 2.2.4. näher beleuchtet.
2.1.2.1. Naturräume
Wie oben erwähnt, finden sich Naturkindergärten in verschiedenen Umgebungen und Landschaften. Bereits 1996 wurde in Kiel der AWO-Strandkindergarten Falckenstein als Modellprojekt gegründet (Halder 2002, S. 53) und machte so den Ostseestrand zum Kindergartenstandort. Es gibt einen Inselkindergarten mit Naturkindergartengruppe auf Amrum, genauso wie einen Naturkindergarten im Englischen Garten in München (Miklitz 2019, S. 17), auf Streuobstwiesen oder in der Heide (Lenz 2021, S. 17). Und mit der Planung der „Auen-Kita“ will die Stadt Hamm zum ersten Mal eine Flussaue als Naturraum nutzen (Stadt Hamm 2016, S. 99f.). Der Großteil der Einrichtungen in Deutschland sind jedoch, wie die ersten Naturkindergärten, weiterhin Waldkindergärten (Miklitz 2019, S. 17).
Eine besondere Rolle nehmen Bauernhof- oder Farmkindergärten ein. Sie orientieren sich ebenfalls an der Naturkindergartenpädagogik, ergänzen diese aber mit der Versorgung von Tieren und stellen so einen Bezug zur Landwirtschaft her (Lenz 2021, S. 15). Bauernhofkindergärten werden häufig in den landwirtschaftlichen Betrieb eines Bauernhofes integriert und können einen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration und wirtschaftlichen Diversifizierung von Bauernhöfen leisten (Busch 2006, S. 35). Viele von ihnen sind in der Bundesarbeitsgemeinschaft Lernort Bauernhof e. V. vernetzt (BAGLoB, online).
2.1.2.2. Struktur
Neben der natürlichen Umgebung unterscheiden sich Naturkindergärten vor allem durch die Betreuungszeiten und die damit verbundene Struktur.
Der „klassische“ (Miklitz 2019, S. 17) oder auch „reine“ (Lenz 2021, S. 13) Naturkindergarten ist ausschließlich im Naturraum verortet. Häufig ist die tägliche Betreuungszeit zwischen vier und sechs Stunden (ebd.), die in den Wintermonaten auf bis zu drei Stunden verkürzt wird (Häfner 2002, S. 44f). In den letzten Jahren wächst der Anteil von Naturkindergärten mit verlängerten Betreuungszeiten und die Anzahl mit Ganztagsangebot stetig und orientiert sich somit an den Wünschen der Eltern. Bei einem Ganztagsangebot müssen Ruhe- bzw. Schlafmöglichkeiten, feste Schutzräume sowie Essensversorgung sichergestellt werden – in den meisten Fällen wird dies in einem oder mehreren umgebauten Bauwagen mit kindgerechter Einrichtung ermöglicht (Lenz 2021, S. 13 f.). Die Gruppengröße liegt in der Regel bei 20 Kindern im Alter zwischen drei und sechs Jahren und zwei Erzieher:innen (Miklitz 2019, S. 18). Immer mehr Naturkindergärten bieten inzwischen auch die Betreuung von Unter-Dreijährigen an, wobei hier gute personelle und räumliche Bedingungen entscheidend sind, um den besonderen Herausforderungen der U3-Betreuung im Naturraum gerecht zu werden (Lenz 2021, S. 20).
Bei „integrierten“ (Miklitz 2019, S. 18) Naturkindergärten wird das pädagogische Konzept in einen Regelkindergarten integriert. Dabei existieren inzwischen die unterschiedlichsten Mischformen. Dazu gehören Ganztagskindergärten mit freien, festen oder wechselnden Naturgruppen, in denen wahlweise oder im festen Wechsel die Gruppen in den Naturraum gehen. Oder die Kinder spielen und lernen am Vormittag in der freien Natur und verbringen den Nachmittag in den Räumen eines Regelkindergartens. Dies wird entweder in eigenen Räumlichkeiten oder in Kooperationen zwischen Natur- und Regelkindergärten realisiert (ebd., S. 18 f.). Die integrierte Form ist in Dänemark am weitesten verbreitet, bildet in Deutschland allerdings die Ausnahme (Häfner 2002, S. 46; Miklitz 2019, S. 18).
Zur Vollständigkeit gehört, dass auch immer häufiger Regelkindergärten auf die Pädagogik der Naturkindergärten zurückgreifen und so den Kindern – insbesondere aus urbanen Gebieten – ermöglichen, in zeitlich begrenzten Projektwochen oder regelmäßigen Wald- bzw. Naturwochen oder -tagen, neue und außergewöhnliche Erfahrungen zu machen (Gorges 2000, S. 276). Häfner weist jedoch darauf hin, dass „durch die völlig neue Umgebung […] dies anfangs bei einigen Kindern mit Problemen verbunden sein [kann]. Das Fehlen von Spielzeug oder der unbegrenzte Raum kann auf einige Kinder irritierend und befremdend wirken. Meist weicht diese Skepsis nach einigen Tagen und die Kinder haben mehr und mehr Spaß an und in der Natur“ (2002, S. 47).
2.2. Die pädagogischen Herausforderungen im Anthropozän
2.2.1. Das Anthropozän als neues Erdzeitalter
Der Vorschlag, die aktuelle geochronologische Epoche als „Anthropozän“ (altgriechisch: „das »Neue« (καινός), das der »Mensch« (ἄνθρωπος) hervorgebracht hat“ (Horn 2021, S. 100)) zu definieren, stammt von dem Chemiker Paul Crutzen und dem Biologen Eugene Stoermer aus dem Jahr 2000 (Raimann 2021, S. 85). In dem einseitigen Essay führen sie insbesondere die menschengemachte Abgabe von Schwefeldioxid, Stickstoffmonoxid, Kohlenstoffdioxid und weiterer Gase in die Atmosphäre mit ihren Auswirkungen auf die Natur an. Dies weisen sie anhand von veränderten Gaskonzentrationen in Eiskernen nach. Gleichzeitig weisen sie auf die Veränderung von 30% - 50% der Erdoberfläche durch den Menschen sowie auf nachweisbare menschliche Einwirkungen auf Ozeane, Seen, Uferregionen und Sedimentablagerungen hin (Crutzen/Stoermer 2000, S. 17). Die Debatte, ob wir nun weiterhin im Erdzeitalter des Holozäns leben, das vor ca. 11.700 Jahren mit der Erwärmung der Erde nach dem Pleistozän begann (Walker et al. 2008, S. 4 f.) oder uns (bereits) im Anthropozän befinden, hält in der geologischen und erdgeschichtlichen Debatte an. Zuletzt hatte die einflussreiche „Anthropocene Working Group“ (AWG) im Mai 2019 beschlossen, die Benennung zu unterstützen und den Startpunkt auf die Mitte des 20. Jahrhunderts zu definieren, da sich zu diesem Zeitpunkt die Auswirkungen der ersten Atom-Bomben-Explosionen in Sedimenten und Gesteinen nachweisen lassen. Der formelle Antrag soll 2021 an die „International Commission on Stratigraphy“ übermittelt werden, die die erdgeschichtlichen Benennungen vornimmt (Subramanian 2019, online).
Unabhängig von der noch nicht abgeschlossenen stratigraphischen Beurteilung – die hier auch schlichtweg wissenschaftlich vom Verfasser nicht bewertet werden kann – ist jedoch festzustellen, dass der Begriff des Anthropozäns sich in geistes- und sozialwissenschaftlichen Debatten sowie als Pop- und Kunstphänomen wiederfindet (Horn 2021, S. 100). Und es ist unbestreitbar, dass die Einflüsse des Menschen zu massiven Veränderungen auf dem Planeten geführt haben. Neben den obengenannten Veränderungen in der Erdatmosphäre, auf der Erdoberfläche und in den Ozeanen und dem damit verbundenen Klimawandel seien hier insbesondere noch zwei weitere Hinweise benannt: Zum einen, dass sich die Erde mitten im sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte befindet und nach Schätzungen der Vereinten Nationen in den nächsten Jahrzehnten bis zu einer Millionen Arten und damit mehr als die Hälfte aller bekannten Arten aussterben könnten (Toepfer 2021, S. 40). Zum anderen der technische Fortschritt der Menschen, den Wulf als „unauflösbare Verbindung zwischen Mensch und Maschine“ (2020, S. 196) benennt und dabei anhand von Beispielen der Gen- und Klontechnik, der künstlichen Intelligenz, maschineller Prothesen und Implantaten (sogenannte Cyborgs) und Robotik aufzeigt, wie sich die Macht des Menschen auf die Biosphäre ausweitet (ebd., S. 195 f.).
Schlussendlich steht der Begriff „Anthropozän“ – und dabei ist völlig unerheblich, ob es als neues geochronologisches Zeitalter benannt wird oder nicht – stellvertretend für die entscheidende Kernfrage der Zukunft: Kann die Welt gerettet werden? Der Philosoph Stascha Rohmer bringt es recht deutlich in seiner Einleitung zu dem Buch „Anthropozän – Klimawandel – Biodiversität“ auf den Punkt:
„Heute steht die Vorstellung, dass das Weiterbestehen unserer Welt gefährdet sein könnte, nicht nur hypothetisch im Raum. Denn noch nie in der Menschheitsgeschichte gab es einen so großen Verlust an biologischer Vielfalt, so starke CO2-Emissionen, so große Entwaldung und so viel Verschmutzung und Versauerung der Ozeane; noch nie gab es so viele Zwangsumsiedlungen und Klimaflüchtlinge“ (2021, S. 15 f.).
Die Menschheit im Anthropozän steht damit selbst im Spannungsverhältnis zwischen Verantwortung und Bedrohung. Die Natur ist durch menschliches Eingreifen bedroht und in Teilen zerstört. Diese zerstörte Natur ist wiederum gleichzeitig eine Bedrohung nicht nur für „jegliche nicht-menschlichen Lebensformen, sondern die Spezies homo sapiens selbst“ (Raimann 2021, S. 92). Und so ist schließlich auch die angestammte Dichotomie zwischen „Kultur“, als von Menschen gestaltete Erscheinungsformen, und der außerhalb des Menschen stehenden physischen „Natur“ nicht mehr haltbar (ebd., S. 82). Damit steht die Frage im Raum, wie das menschliche Subjekt „neu“ gedacht werden kann, wenn die Natur, deren Erzeugnis der Mensch selbst ist und die im Anthropozän zum Ergebnis des menschlichen Handelns wurde, nicht mehr von Kultur unterscheidbar ist (Heise 2010, S. 138) und auch welche Auswirkungen diese Erkenntnis auf Bildung, Erziehung und Pädagogik im Anthropozän hat.
2.2.2. Bildungsziele im Anthropozän nach Wulf
Dr. Christoph Wulf geht als Professor für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaften und als Mitglied des Interdisziplinären Zentrum für Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin intensiv der Frage nach, wie sich Bildung, Pädagogik und das Wissen vom Menschen historisch entwickelt haben und in der globalisierten Welt weiterentwickeln. Dazu nutzt er historische und ethnographische Methoden sowie philosophische Reflexion. Aus anthropologischer und kulturwissenschaftlicher Sicht benennt er – unabhängig von den geologischen Debatten – die aktuelle Epoche als „Anthropozän“, um die „vielfältigen und teilweise stark destruktiven Wirkungen des Menschen auf den Planeten zu kennzeichnen“ (Wulf 2020, S. 192). Dabei zählt er, ähnlich wie Crutzen, Stoermer oder die AWG, die Nutzung des Menschen der Landoberfläche und der Photosynthese, den Anstieg von Kohlenstoff, den Klimawandel und die Gefährdung von Tieren, Pflanzen, Ozeanen sowie viele weitere Indikatoren auf, die die Wirkung des Menschen auf die Natur deutlich machen (ebd., S. 193 f.). Wie Ursula Heise (s.o.) hält er fest, dass sich die Trennung zwischen Natur und der Kultur des Menschen im Zeitalter des Anthropozän nicht aufrechterhalten lässt (ebd.). Gleichzeitig zeigt er nach ethnographischen Vergleichen indischer und chinesischer Entwicklungen auf, dass das Anthropozän ein Ergebnis westlicher Kultur ist:
„Vor allem sind es die führenden Schichten des internationalen, auf Ökonomisierung und Rationalisierung ausgerichteten kapitalistischen Systems, die in Politik, Wirtschaft, Technik, Wissenschaft und Verwaltung die Ausnutzung der Natur und die Rationalisierung aller Lebensbereiche vorantreiben sowie Erziehung, Bildung und Sozialisation der nachwachsenden Generation entsprechend ausrichten“ (Wulf 2020, S. 190).
Um eine Abkehr dieser Ausrichtung zu erwirken, bedarf es laut Wulf einen neuen Anspruch an das Bildungswesen: Die Menschen so zu bilden, die negativen und destruktiven Auswirkungen sowohl ihres individuellen als auch des kollektiven Handelns zu reduzieren sowie ein Umdenken der menschlichen Beziehung zur Natur und sich selbst zu bewirken (ebd., S. 202). Diese Weitergabe des Wissens vom Menschen im Anthropozän erfolgt durch Erziehung, Bildung und Sozialisation (ebd.). Die Schwierigkeit ergibt sich dabei für die Pädagogik mit der Frage nach dem „Zukunftsbezug der Erziehung“ (ebd., S. 38) insbesondere dann, wenn sich die Frage nach einer Zukunft an sich stellt.
Als in der Historie das Leben des Menschen als von Gott oder Göttern bestimmt angenommen wurde oder die säkularisierte Idee eines zielgerichteten Verlaufs der Geschichte als Heilsgeschichte vorherrschte – in dem zumindest der Fortbestand des Menschen nie in Abrede stand – war es noch relativ leicht, das gegenwärtig wichtige und damit zu unterrichtende Wissen auszumachen (ebd., S. 38 f.). Wenn sich die Gegenwartsrelevanz des pädagogisch zu vermittelnden Wissens und der Zukunftsbezug der Erziehung mit einem wachsenden Gefühl der Angst vor der Zukunft der Menschheit insgesamt überschneidet (Gil/Wulf 2015, S. 3), ist es die entscheidende Herausforderung zu benennen, welchen Anspruch die globale Bildung an sich selbst stellen muss und wie das Bildungswesen den nachfolgenden Generationen diesen Anspruch und das Wissen vom Menschen im Anthropozän vermittelt.
Wulf beantwortet die Frage nach der Aufgabe globaler Bildung mit einem Satz: „Kinder und Jugendliche sollen sich so bilden, dass sie zukunftsfähig werden“ (2020, S. 204). Mit „Zukunftsfähigkeit“ ist dabei ganz und gar nicht der Fokus auf konkrete Qualifikationsprofile und eine vor allem ökonomische Funktionalisierung der zukünftigen Generation gemeint, wie sie Wulf in Teilen des derzeitigen Bildungswesens ausmacht (ebd., S. 124) und das, wie beschrieben, ein Grund für die destruktive Wirkung des Menschen auf die Natur sei, sondern die Schaffung einer „Kultur des Friedens, der kulturellen Vielfalt und der Nachhaltigkeit“ (ebd., S. 204). Diese Ausrichtung kann einen Beitrag für eine kritische und kreative Gestaltung des Anthropozäns leisten. Sie findet sich in den Bildungskonzepten der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) für eine zukunftsfähige globale Bildung für die Weltgemeinschaft wieder (ebd.).
Diese drei herausgestellten Ziele des Friedens, der kulturellen Diversität und der Nachhaltigkeit sind dabei eng miteinander verwoben (ebd., S. 204) und betonen gleichzeitig unterschiedliche Herausforderungen an die pädagogische Praxis im Anthropozän.
2.2.2.1. Frieden
Für Wulf sind zwei Schwerpunkte bei der Erziehung zum Frieden wesentlich. Zum einen weist er anthropologisch darauf hin, dass genauso wie Krieg, Gewalt und Unterdrückung schon immer zur Menschheitsgeschichte gehörten, auch der Frieden ebenfalls seit Anbeginn wesentliches Ziel der Menschen ist. Er benennt dabei explizit religiöse Paradiesvorstellung (z.B. das christliche Paradies) sowie politische und literarische Utopien (z.B. die Politeia bei Platon oder der Sonnenstaat bei Campanella) und zeigt auf, dass dabei häufig auch die Erziehung einen Beitrag für die Schaffung von Frieden (hier behandelt er insbesondere Comenius und seine Pädagogik vom Kinde aus) leisten muss. Historisch ist damit die pädagogische Vorstellung der individuellen Vervollkommnung des einzelnen Menschen eng verzahnt mit der Befähigung zur Verbesserung der Gesellschaft im Sinne des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit. So leitet er für die heutige Erziehung zum Frieden ab, dass die nachwachsende Generation die aktuellen Zustände kritisch hinterfragen können muss und so die Fähigkeiten erhält, die Gesellschaft friedlicher und gerechter zu gestalten (ebd., S. 209).
Zum anderen erachtet er es als sinnvoll, auch im „engeren Sinne“ (ebd.) von der Erziehung zum Frieden zu sprechen und damit pädagogisch die Entwicklungen und Bedingungen für Krieg, Gewalt und materielle Not sowie die Bedrohung der Menschheit durch moderne Waffen konkret zu behandeln und nach Lösungen und Ansätzen ihrer Reduzierung zu suchen. Auch wenn dies als „Systemproblem“ (ebd.) mit Hilfe der Erziehung nur teilweise bewältigt werden kann, so muss die „konstruktive Auseinandersetzung mit den großen, die Menschheit im Anthropozän bewegenden Problemen Teil eines lebenslangen Lernprozesses sein […], der in der Kindheit und Jugend beginnen und im späteren Leben nicht abreißen sollte“ (ebd., S. 209f.).
[...]
1 Da in dieser Arbeit der Fokus auf der Pädagogik liegt werden die Begriffe Kindergarten und Kindertagesstätte (Kita) weitestgehend synonym verwendet. Generell wird Kindergarten als Kinderbetreuungsinstitution am Vormittag für Kinder zwischen drei und sieben Jahren angesehen und Kindertagesstätten im Gegensatz dazu als Einrichtung mit einem Ganztagsangebot der Kinderbetreuung (Fritz 2021, online).
2 Ich verwende in dieser Arbeit die geschlechtergerechte Schreibweise mit einem Doppelpunkt. So sollen alle Geschlechter sichtbar gemacht und die Sprache in Bezug auf die Kategorie Geschlecht neutralisiert werden. Den Doppelpunkt können dabei Sprachausgabeprogrammen für Blinde oder Menschen mit Sehbehinderung am besten wiedergeben, weshalb diese die aktuell inklusivste Form der geschlechtergerechten Sprache darstellt.