Vom Umgang mit Minderheiten in einem föderalen Bundesstaat

Betrachtungen zu den Sezzessionsbestrebungen der Frankokanadier in der Provinz Québec


Hausarbeit, 2002

45 Seiten, Note: bestanden


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Ausgangsbedingungen für den Minderheitenstatus der „Québécois“
2.1 Einordnung vergleichbarer Problemfelder
2.1.1 Allgemeines zu Minderheiten
2.1.2 Benennung von Minderheitenproblematiken
2.2 Entstehung einer frankokanadischen Identität in Kanada
2.2.1 Die Entwicklung bis zur Gründung der Union 1867
2.2.2 Der Gründungsakt 1867 aus der Sicht Québecs
2.2.3 Neuere Tendenzen

3 Die politischen Entwicklungen in Québec von 1980 bis 1995
3.1 Spannungspunkte zwischen Québec und Ottawa
3.1.1 Erstes Referendum zur Unabhängigkeit in Québec (1980)
3.1.2 Constitution Act (1982)
3.1.3 Das Meech Lake-Abkommen (1987) und der „Bloc Québécois“ (1990)
3.1.4 Volksabstimmung zum Abkommen von Charlottetown (1992)
3.1.5 Zweites Referendum zur Unabhängigkeit in Québec (1995)
3.2 Die aktuelle Problemlage seit 1995
3.2.1 Rechtliche Klärung der Separationsfrage Kanadas
3.2.2 Die Verfassungskonferenz von Calgary (1998)
3.3 Québecs „Traditionelle Forderungen“
3.4 Mögliche Entwicklungsperspektiven

4 Politikwissenschaftliche Bewertung der Ergebnisse der Untersuchung und Ausblick
4.1 Bewertung
4.1.1 Staatstheoretische Bewertung des Separationswunsches
4.1.2 Begrifflichkeit des „Québec-Nationalismus“
4.1.3 Beurteilung
4.2 Schlussbemerkungen
4.2.1 Zusammenfassung und Ausblick

5 Anhang
5.1 Politisches System Kanadas
5.2 Statistik
5.3 Chronologie

6 Quellen- und Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Die Hausarbeit mit der Überschrift: „Politische Identität in Kanada; Vom Umgang mit Minderheiten in einem föderalen Bundesstaat - Betrachtungen zu den Sezzessionsbestrebungen der Frankokanadier in der Provinz Québec“ - also die Frage nach dem Zustandekommen der politischen Identität Québecs und seiner Menschen, behandelt ein Thema, dessen Ausgangspunkt in Europa liegt.

Das Gerüst der vorliegenden Ausarbeitung bilden die folgenden Fragen:

- Wie sind die historischen Ausgangsbedingungen?
- Wo gibt es ähnlich gelagerte Probleme und sind diese vergleichbar?
- Wieso entwickelte sich Frankokanada in eine konservative Richtung, während im Mutterland 1789 eine (bürgerlich-liberale) Revolution stattfand?
- Wieso entwickelte sich Montréal „anglophoner“ als der Rest der Provinz?
- Welche Rolle spielte die Religion und warum?
- Wo liegen die Spannungslinien zwischen Québec und der Bundesregierung in Ottawa (vom Beginn der Besiedlung bis zur Gegenwart) ?
- Wird sich Québec über ein weiteres Referendum abspalten können?
- Wie könnte sich Gesamtkanada damit weiterentwickeln?

Da das Gebiet Québec seit den ersten Einwanderungswellen in seinem Kern faktisch unverändert ist, eignet es sich gut für eine genauere Betrachtung der politischen Entwicklung unter Einbindung historischer Fakten.

Die patriotischen Spannungen in Québec sind von Interesse, denn heute ist Kanada eine der führenden Industrienationen der westlichen Welt. Somit lässt sich, in der Nachbetrachtung zur Staatsgründung aufzeigen, wie ein demokratischer Staat mit Problemen und Fragen einer Bevölkerungsgruppe – einer Minderheit in Kanada, aber einer Majorität in Québec – umgeht.

Die Ausgangsbedingungen für den Minderheitenstatus der „Québécois“ und die Einordnung des Themas stelle ich am Anfang in einem Überblick, als ersten Schwerpunkt dar. Die Provinz Québec entstand 1867, als Kanada gegründet und als „Dominion“[1] aus der unmittelbaren kolonialen Abhängigkeit zum Mutterland Großbritannien entlassen wurde.

Die entscheidenden Ereignisse, welche die Weichen für den Minderheitenstatus der Frankokanadier in Nordamerika stellten, liegen aber noch weiter zurück und sind europäisch beeinflusst.

Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit gilt dem Zeitraum seit 1980 und den Entwicklungen, die seit der ersten Volksabstimmung (Referendum) zur Abspaltung zu beobachten sind.

Am Ende der Arbeit, in der politikwissenschaftlichen Bewertung der Ergebnisse und dem Ausblick werden die ausgearbeiteten Punkte gewürdigt.

Im Anhang erfolgt eine ausführliche chronologische Darstellung der Ereignisse; er beinhaltet auch einen Statistikteil.

Zusätzlich werden in Fußnoten auch Übersetzungen aufgezeigt.

Außen vor bleiben in der Hausarbeit Betrachtungen zu Gesamtkanada, insbesondere zu den indigenen Urvölkern und den Inuit.[2]

2 Ausgangsbedingungen für den Minderheitenstatus der „Québécois“

2.1 Einordnung vergleichbarer Problemfelder

2.1.1 Allgemeines zu Minderheiten

Minderheiten sind jene Akteure, die aus dem System der Nationalstaaten „herausfallen“, mit Konsequenzen für alle Beteiligten. Gemeint sind damit die nicht-dominanten Gruppen in einem Staatswesen. Im 20. Jahrhundert waren Minderheitenfragen in Europa wiederholt Anlass für Kriege, es handelt sich also um ein wichtiges Problemfeld.[3]

Mehrheit und Minderheit sind abhängig von Form und Größe des jeweiligen Staates sowie von dessen ethnisch-kultureller Basis. Eine Voraussetzung der Idee des Nationalstaates war die Annahme einer ethnisch-homogenen Struktur.[4] Die Bedeutung und Politisierung des Ethnisch-Kulturellen hat sich in der jüngeren Vergangenheit verstärkt, kulturelle Besonderheiten wurden zu identitätsstiftenden Zeichen von Minderheiten.

Der Begriff der Minderheit ist relativ jung und erst seit den zwanziger Jahren gebräuchlich. Der wichtigste Gesichtspunkt scheint, dass staatlicherseits definiert wird, was eine Minderheit ausmacht und auf welchen Personenkreis der Begriff anwendbar ist. Der Staatsapparat ist dominiert von einer (ethnischen) Gruppe, die sich selbst als Mehrheit definiert, was bisweilen demographisch gesehen nicht zutrifft.[5]

Die Mitgliedschaft in einer Minderheit beruht auch auf einem Abstammungsprinzip dessen kohäsive Kräfte nachfolgende Generationen[6] selbst dann zusammenhalten, wenn Eigenheiten für Außenstehende nicht bemerkbar sind oder sich objektiv verlieren[7].

Eine Minderheit kann innerhalb politischer und völkerrechtlich relevanter Einordnung als eine Nation verstanden werden, was als Ergebnis eines politischen Prozesses oder auch Konflikts zu sehen ist.[8]

Eine Minimaldefinition von Minderheit könnte demnach lauten:

1. eine historisch gewachsene oder wiederentdeckte Gemeinschaft von Menschen, welche sich größtenteils selbst reproduziert
2. ein eigener Name
3. eine spezifische, andersartige Kultur, insbesondere eine eigene Sprache
4. ein kollektives (ethnisches) Gedächtnis oder geschichtliche Erinnerung, einschließlich seiner (Gründer-)Mythen
5. Solidarität unter den Mitgliedern (Wir-Gefühl)

2.1.2 Benennung von Minderheitenproblematiken

Neben der noch zu betrachtenden Thematik zur kanadischen Föderation sind die Probleme in der Europäischen Union (EU) zu benennen; betrachtet man insbesondere die künftige EU-Osterweiterung. Es sind Fragen, wie wirtschaftliche Integration, staatliche / nationale Souveränität und unterschiedliche regionale Schwerpunkte in Kultur und Gesellschaft dauerhaft bestehen können. Wobei hier die jeweilige Nation eine Minderheit per se in einer EU ist oder zukünftig wird.

Neben der internationalen Betrachtung zu Gesamteuropa gibt es auch auf nationaler Ebene in europäischen Staaten ähnliche Fragestellungen zu Minderheiten. Ein Blick auf den Balkan, das Baskenland, Korsika, das Elsaß, das Saarland, Irland, Wales und Schottland lässt den Respekt gegenüber der meist friedlichen Auseinandersetzung in Québec bzw. Kanada wachsen.[9]

In Deutschland existieren heute vier bekannte und anerkannte Minderheiten[10], wobei die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein[11] am bekanntesten sein dürfte. Insbesondere bei Landtagswahlen ziehen stets ein oder zwei Abgeordnete des SSW[12] in den dortigen Landtag ein.

Nicht ganz so bekannt sind die Friesen (Schleswig-Holstein, Niedersachsen) und die Sorben (Sachsen, Brandenburg). Augenfällig - durch ihre Art zu leben - dürften auch die Sinti und Roma[13] sein, die in ganz Deutschland vertreten sind.

Die Südschleswiger Dänen erhalten, beispielsweise für ihre Schulen, finanzielle Unterstützung des Staates Dänemark. Dies ist bei den Sorben nicht der Fall. Die 40.0000 Sorben, ein slawisches Volk, vornehmlich im Landkreis Kamenz[14] ansässig, können keinen Staat um Geld bitten, sie sind auf das Bundesland Sachsen angewiesen.

Eine Vergleichbarkeit mit den Entwicklungen in Québec ist bei den deutschen Beispielen nicht gegeben. Dies wäre aufgrund historischer, politischer und territorialer Fakten am ehesten mit Schottland möglich.

An diesem Punkt soll das Thema „Minderheiten“ nicht weiter vertieft werden, denn allein in Deutschland wäre sicher noch mit dem Thema der „Russlanddeutschen“ und den Problemen der Folgegenerationen der „Gastarbeiter“ ein breites Spektrum zu erörtern, wenngleich hier kein offizieller Minderheitenstatus vorliegt. Hinzu käme, wie im 6. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den Auswärtigen Beziehungen benannt, noch die Thematik Aids sowie Homosexualität.

2.2 Entstehung einer frankokanadischen Identität in Kanada

Ausgehend von der These, dass die heutigen nationalen Spannungen in Québec aus Versäumnissen der Vergangenheit resultieren und damit die Ausbildung einer frankokanadischen Identität förderten, folgt dieses Kapitel, wie andere auch, der Zeitschiene. Wesentliche Meilensteine sind dabei das Zustandekommen der kanadischen Föderation im Jahr 1867 sowie der Beginn der „Stillen Revolution“ im Jahr 1960.

2.2.1 Die Entwicklung bis zur Gründung der Union 1867

Der eigentliche Ausgangspunkt, der Urknall, der zum Minderheitenbewusstsein der „Québécois“ führte, ist die Gründung der britischen „Province of Québec“ im Jahre 1763.

Das französische Militär sowie die Verwaltungs- und Wirtschaftseliten kehrten nach ihrer Niederlage gegen die Briten aus Québec nach Frankreich zurück. Geblieben ist die eher wertkonservative Bevölkerung auf dem Land, die sich zunehmend an den Priestern der katholischen Kirche[15] orientierte. Auf die eher rückständigen Moralvorstellungen der Kirche ist auch das Bevölkerungswachstum der Frankokanadier zurückzuführen. Die Kirche machte sich zum Sprecher der Frankokanadier. Ihre soziale Autorität begann zu wachsen und die Privilegien der katholischen Kirche wurden im Laufe der Zeit von den Briten bestätigt.

Der „Québec Act“[16] (1774) ist vor dem Hintergrund der „Boston Tea Party“[17] (1773) zu sehen, um die Solidarisierung mit den unzufriedenen britischen Siedlern in den amerikanischen Kolonien vermeiden.

Aufgrund der Anerkennung der Vereinigten Staaten von Amerika durch Großbritannien[18] flohen die der britischen Krone treu gebliebenen Siedler (Loyalists) von der „amerikanischen Revolution“ in die „Province of Québec“. Die „Loyalists“ fühlten sich von den französischen Kanadiern majorisiert, was 1791 mit dem „Constitutional Act“ zur Teilung in das anglophone Oberkanada und das frankophone Niederkanada führte. Gleichzeitig versah England die beiden neuen Kolonien mit jeweils einer lokalen Volksvertretung und einem von London ernannten Gouverneur an deren Spitze. Dieses System konzentrierte die wirkliche Macht in den Händen eines gesetzgebenden, von der Kolonialmacht bestallten, britischen Exekutivrats. Das Parlament der jeweiligen Kolonie hatte dabei nur wenig Kontrollmacht. Das britische Parlament hatte zwar die Anwendung des Nationalitätenprinzips überall in Europa stets gefordert, sah aber keinen Anlass dies in seinen eigenen Kolonien einzuführen.

Dies war die offene Flanke an der sich heftige Kritik entzündete. Nachdem das Gebiet der Frankokanadier, Niederkanada, also eigentlich selbständig sein sollte, hielten die Briten dennoch die Zügel fest in der Hand.

Nach blutigen Aufständen (1837), erstellte der Earl of Durham[19] als Generalgouverneur einen Situationsbericht (1839), wobei er zwei grundsätzliche Dinge, als Voraussetzung für eine dauerhafte Lösung in Kanada nannte:[20]

1. Assimilation der Frankokanadier, die als rückständig, wirtschaftlich schwach und unloyal bezeichnet wurden.
2. Selbstverwaltung der Kolonien, basierend auf der Verantwortlichkeit der kolonialen Regierung gegenüber dem kolonialen Parlament, britischer Enthaltung in lokalen Angelegenheiten und erneute Zusammenfassung von Oberkanada und Niederkanada.

Hier zeigt sich deutlich, dass es - 1839 mit dem Ziel der Assimilation offiziell ausdrücklich benannt - Vorurteile gegenüber den Frankokanadiern gab, die ein reiches Feld für Diskriminierung boten.

Für Québec bedeutet der folgende „Canada Union Act“ (1840), dass die relative Unabhängigkeit wieder verloren ging. Die Teilprovinzen „Canada East“[21] und „Canada West“[22] bildeten nun die „Province of Canada“. Die Teilprovinzen entsandten je 42 Vertreter in eine gemeinsame Volksvertretung.[23] Dadurch fühlten sich die Frankokanadier gegenüber der britisch-stämmigen Bevölkerung abermals im Nachteil.

Das eigentliche Hauptziel Durham´s, die Selbstverwaltung, wurde jedoch nicht eingeführt, zu stark war die Macht der englischen Familien gegenüber dem Kolonialamt. Möglicherweise wäre die Selbstverwaltung ein Punkt gewesen, die die anschließenden Entwicklungen in andere Bahnen gelenkt hätte.[24]

Die englischsprachige Bevölkerung stieg stetig an, dank der loyalistischen Einwanderer und neuer Siedler aus den Britischen Inseln, im Gegensatz zum frankophonen Unterkanada, deren Basis auf eigener Reproduktion beschränkt war, so dass hier die numerische Überrundung nur eine Frage der Zeit war.[25]

Wirtschaftliches Wachstum ließ die Vision einer Verbindung zum Pazifik entstehen, aber durch die Zersplitterung von Interessen war in der Provinz keine arbeitsfähige Parlamentsmehrheit vorhanden. George Brown, ein Zeitungsverleger und Führer des radikalen englischen Flügels in „Canada West“, genannt „Grits“[26], schlug 1864 einen Bund aller britischen Kolonien Kanadas vor.

Für die Frankokanadier stellten Überlegungen im Sinne einer föderalen Union die große Chance dar, zumindest Teile der 1840 verlorenen Autonomie wiederzugewinnen und eigene parlamentarische Strukturen zu erhalten.

Die riesigen finanziellen Verluste der Bahn, aber auch deren transkontinentaler Ausbau zu militärischen Zwecken, ließen auch im britischen Kolonialamt Unionsüberlegungen zu; eine eigenständige Union würde größere Kostenanteile tragen müssen.

Die Vereinigten Staaten gingen gestärkt aus ihrem Bürgerkrieg (1861-65) hervor, so war man auch in weiten Kreisen Londons der Überzeugung, nur ein Zusammenschluss der britischen Kolonien könnte eine zukünftige Annexion durch die Vereinigten Staaten verhindern.

Mit dem „Gesetz über den kolonialen Zusammenschluss“ von 1867[27] schuf ein britischer Gesetzesakt[28] ein Verwaltungsgebiet mit einer Zentralregierung in Ottawa und vier Provinzen: Ontario, Québec, Nova Scotia und New Brunswick.[29] Die vormalige „Province of Canada“ (Vereintes Kanada) wurde dabei aufgelöst; an ihre Stelle traten die neuen Provinzen Québec[30] und Ontario[31]. Das Land wurde eine parlamentarische Monarchie, wobei die britische Krone von einem Generalgouverneur[32] vertreten wurde (und auch heute noch wird). Das Parlament bestand aus zwei Kammern: Dem gewählten Unterhaus und dem vom Gouverneur ernannten Senat.[33]

Am 1. Juli 1867 wurde das „Dominion of Canada“[34] gegründet.

2.2.2 Der Gründungsakt 1867 aus der Sicht Québecs

Die französisch-stämmigen Kanadier aus dem ehemaligen Niederkanada stellten knapp ein Drittel der Bevölkerung der neuen Föderation. Sie sahen offensichtlich in der angestrebten Lösung des Dominion „einen verfassungsrechtlichen Pakt der Gründernationen“, der ihnen erlauben sollte, sich als eigenes (distinct), mit der anglophonen Mehrheit gleichberechtigtes Volk zu behaupten.[35]

Die Provinz Québec wurde durch die Gründung der kanadischen Föderation zu einem eigenständigen (Glied-)Staat. Gleichzeitig war Québec aber nur noch eine von vier Provinzen Kanadas. In ihrer Provinz in einer großen Mehrheit, blieben die Frankokanadier aber in ganz Kanada in der Minderheit, so dass sie sich einer englischsprachigen Dominanz ausgesetzt fühlten. Hinzu kam der subjektive Eindruck, der vorwiegend auf dem Land lebenden katholischen Bevölkerung von wirtschaftlicher Benachteiligung.

Der neue Staat übernahm das parlamentarische Regierungssystem Großbritanniens, mit einem Generalgouverneur als Vertreter der britischen Krone und einem aus Unterhaus und Senat bestehenden Parlament.

Das Bundesparlament erhielt die Befugnis zur Gesetzgebung in allen Angelegenheiten von „nationalem“ Interesse (z.B. Besteuerung und Landesverteidigung), während die Provinzen für „spezifische Interessen“ (z.B. Eigentums- und Zivilrecht, Bildungswesen) zuständig waren.

Der verfassungsrechtliche Text von 1867 enthielt Bestimmungen, die der Bundesregierung weitreichende Machtbefugnisse[36] verliehen und die Zentralgewalt des Bundes stärkten.[37] Diese Befugnisse wurden vom ersten Premierminister der Föderation, John A. Macdonald, autoritär genutzt - damit beeinflusste er die künftige Entwicklung maßgeblich.

Die Regierung unter Georg-Étienne Cartier in Québec wollte aber in der Verfassung einen „Pakt zwischen den beiden Gründervölkern“[38] Kanadas erkennen und strebte weitreichende Autonomie in einer Föderation an. Aus der Sicht Québecs kam dieser „Pakt“ seinerzeit nicht zustande.

Fühlten sich die Frankokanadier schon 1763 durch ihre eigenen Eliten verraten, so war dies während der vergangenen 100 Jahre durch die herrschende Schicht der Briten noch verstärkt worden.

2.2.3 Neuere Tendenzen

In die kanadische Union wurden in den folgenden Jahren weitere Provinzen und Territorien aufgenommen.[39]

Kanada am wurde 11. Dezember 1931 durch das vom britischen Parlament verabschiedete „Westminsterstatut“ innen- und außenpolitisch ein selbständiger Staat im Rahmen des „British Commonwealth of Nations“.

Mit der Einführung einer offiziellen Flagge der Provinz[40] begann 1948 die Einleitung dessen was man später als die sogenannte „Stille Revolution“[41] bezeichnete. Im späteren Verlauf verkündete Québecs Ministerpräsident, Jean Lesage (Liberale Partei Québecs), 1960 sein Programm „Maître chez nous“. Er löst damit nach 16 Jahren die „Union Nationale“ ab, die „Stille Revolution“ hatte begonnen. Nach außen wird sie sichtbar mit der Eröffnung der ersten Generaldelegation Québecs in Paris (1961)[42] sowie der Initiierung der „Internationalen Vereinigung der Universitäten ganz oder teilweise französischer Sprache“ (AUPELF) mit Sitz in Montréal. Zu dieser Zeit waren ca. 15% der Québecker für die Unabhängigkeit Québecs.

Die Königliche Enquête-Kommission über Zweisprachigkeit und Bikulturalismus in Kanada nahm 1963 ihre Arbeit auf. Dabei wuchs in der Provinz Québec die Unzufriedenheit der Frankokanadier an der vermeintlichen Vormachtstellung der Anglokanadier in Gesamtkanada. Erste Tendenzen einer Abtrennung Québecs vom Dominion wurden erkennbar. So verstaatlichte beispielsweise Québec alle privaten Elektrizitätsgesellschaften und fusioniert sie in der Gesellschaft „Hydro-Québec“, dabei wird Französisch als Arbeitssprache eingeführt.

[...]


[1] Dominion heißt „Herrschaftsgebiet“; zunächst jede Überseebestitzung Englands, seit 1917 meinte man damit die „self-governing“, sich selbst regierenden Länder, wie Kanada, Australien und Neuseeland, später auch Indien, Pakistan und Ceylon. Vgl. Fuchs / Raab (2001), S. 189

[2] Nunavut, zum Beispiel, ein Gebiet von der Größe Westeuropas wurde weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit durch die kanadischen Inuit entwickelt und am 1. April 1999 zu einem Bundesstaat Kanadas. Seine Idee liegt zwischen dem Separatismus-Modell der Québécois und dem selfgovernment-Konzept der Indianer. Im Gegensatz zu Frankophonen und Indianern hat es sich durchgesetzt.
Vgl. Website der kanadischen Botschaft, Adresse: www.canada.de

[3] Vgl. Scherrer (1997)

[4] Ein Beispiel: Die Sowjetunion zerfiel in fünfzehn Nachfolgestaaten, wodurch Hunderte von neuen Minderheiten produziert wurden.

[5] So sind die Malaien in Malaysia keine demographische, sondern eine politische Mehrheit; dasselbe gilt für die Russen in der ehemaligen UdSSR

[6] z.B. bei den Frankokanadiern in Québec, den Indianern Nordamerikas oder den Roma in Europa

[7] wie z.B. bei den Nachgeborenen von Arbeitsmigranten (umgangssprachlich: Gastarbeiterkinder)

[8] Dieser Aspekt wurde bei der Ausarbeitung neuer Instrumente des Internationalen Rechts zum Schutz indigener und bedrohter Völker anerkannt. Bereits 1953 kam eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO/ILO) zu dem Ergebnis, dass „der Lebensstandard indigener Bevölkerungen in der Regel extrem niedrig liegt“. Das einzige internationale Vertragswerk, das einen umfassenden Schutz der Rechte indigener Völker zum Gegenstand hat, ist das Übereinkommen Nr. 169 (ILO-Konvention 169) der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO/ILO) über eingeborene und in Stämmen lebende Völker (1989). Vgl.: 6. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den Auswärtigen Beziehungen (Berichtszeitraum 01.01.2000 bis 31.03.2002)

[9] Während der französisch-britischen Kolonialzeit sowie vor der Staatsgründung Kanadas gab es keine Bürgerkriege unter den Kanadiern.

[10] Für die Bundesrepublik Deutschland ist das Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten seit 01.02.1998 und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen seit 01.01.1999 in Kraft

[11] Es gibt eine ähnliche deutsche Minderheit in Dänemark

[12] Südschleswigscher Wählerverband

[13] Zu den nationalen Minderheiten gehören die deutschen Sinti und Roma; ihre Sprache „Romanes“ ist durch die Europäische Charta der Minderheitensprachen geschützt. Der Europarat (Lenkungsausschuss Migration) hat die Empfehlung zur Verbesserung der wirtschaftlichen und Beschäftigungslage der Roma in Europa ausgesprochen. Das Ministerkomitee des Europarats hat am 03.02.2000 eine Empfehlung zu Bildung und Erziehung für die Kinder der Roma in Europa verabschiedet. Vgl. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den Auswärtigen Beziehungen (Berichtszeitraum 01.01.2000 bis 31.03.2002)

[14] Zweisprachige Orts- und Straßenschilder sind der augenfälligste Beweis dafür. Im Landkreis Kamenz müssen alle öffentlichen Bekanntmachungen, Dokumente und Formblätter in deutscher und sorbischer Sprache abgefasst werden. Es gibt sorbische Theater, Bibliotheken, Buchverlage. Der Mitteldeutsche Rundfunk produziert Hörfunk in sorbischer Sprache und auch einmal im Monat ein Fernsehmagazin. Die beiden sorbische Schulen stehen vor dem gleichen Problem, wie alle Schulen in Sachsen, sie haben zu wenig Schüler, so dass die Schule in Crostwitz geschlossen werden soll.

[15] Trotz Einwanderungswellen in Rest-Kanada konnten die Frankokanadier ihren Anteil stets bei ca. 1/3 der Gesamtbevölkerung halten. Ca. 70.000 in 1765, 200 Jahre später ca. 6 Millionen. Zehn Kinder in einer Familie waren nicht selten. Die Versorgungssituation war auf dem Lande in Kanada besser als z.B. in Paris (französische Revolution), freigeistige Schriften gab es nicht und auch kein verschwenderisches Königshaus. Vgl. Waldmann (1989), S. 49 ff.

[16] Mit dem Quebec Act erhielten die freiwilligen Zugeständnisse von Religions- und Sprachfreiheit von London ihre offizielle Anerkennung. Es wurde darin gestattet die französische Sprache, die katholische Religion sowie das Eigentums- und Zivilrecht (die „traditionellen Freiheiten“) nach französischen Gesetzen und Gebräuchen zu gestalten. Das französische Zivilrecht wurde später, am 27.03.1804 als „Code civil“ , dann als „Code Napoléon“ aus dem römischen Recht, dem Gewohnheitsrecht, den Gesetzen des „Ancien Régime“ sowie den Errungenschaften aus der französischen Revolution (1789) zusammengefasst. Vgl. Fuchs / Raab (2001), S. 142 und vgl. Wolf (1987), S. 40

[17] „No taxation without representation“ – Keine Besteuerung ohne (parlamentarische) Vertretung, war hier der Schlachtruf, als amerikanische Siedler in Indianerverkleidung einen Teeklipper stürmten und die Ladung in das Hafenwasser warfen und damit den Beginn der Unabhängigkeit der U.S.A. auslösten.

[18] Der Krieg gegen die Kolonien bzw. die U.S.A., beendet mit dem Friede von Versailles (1783), bedeutete für Großbritannien die erste Niederlage seit dem „Hundertjährigen Krieg“ (1339-1453) und der Verlust des Übersee-Empires. Es blieben die kanadischen Kolonien als Einflussgebiet.

[19] Lord Durham ist einer der prominentesten britischen Politiker seiner Zeit

[20] Vgl. Sautter (2000), S. 45 ff.

[21] ziemlich genau das frühere Niederkanada, um Québec

[22] ziemlich genau das frühere Oberkanada

[23] Es ergab sich insgesamt eine englische Mehrheit, und zwar dadurch, dass in Niederkanada auch eine englische Minderheit unter den „Franzosen“ lebte, die auch ihre Vertreter zu den 42 Delegierten entsandte. In der Summe hatten dann die Anglophonen (mit den Vertretern Oberkanadas) die Mehrheit. Sautter (2000), S. 46, spricht in diesem Zusammenhang von einem „Kniff“.

[24] Vgl. Sautter (2000), S. 46

[25] 1851 hatte die Teilprovinz Canada West (Oberkanada) bereits 950.000 Einwohner und damit Canada East (Niederkanada) mit 890.000 Einwohnern überrundet. 10 Jahre später war das Verhältnis 1,4 Mio.,Oberkanada zu 1,1 Mio., Niederkanada; Nova Scotia: 330.000, New Brunswick: 250.000, Prince Edward Island: 80.000 Vgl. Wolf (1987), S. 44 und vgl. Sautter (2000), S. 44 ff.

[26] von „clear grit“ – zu deutsch: unverfälschte Gesinnung

[27] Vgl. Sautter (1992), S. 250 - Auszug des „British North America Act“ “ (Acte de l’Amérique du Nord britannique) von 1867 in deutscher Übersetzung, S. 254-261.

[28] Am diesem Punkt zeigte sich deutlich die Abhängigkeit Kanadas vom Mutterland. Die Souveränität war nicht vollkommen. Über den Gründungsakt selbst stimmte ein britisches Parlament ab und nicht etwa ein kanadisches Parlament oder das kanadische Volk.

[29] Prince Edward Island und Newfoundland hatten von der Unions-Idee zunächst wieder Abstand genommen

[30] vor 1840 Niederkanada

[31] vor 1840 Oberkanada

[32] In Stellvertretung des Königs handelte ein Generalgouverneur, im Laufe der Zeit jedoch eher formal, als politisch-inhaltlich.

[33] Verwaltungsgliederung 1867, „British North America Act“, siehe Anhang – Politisches System

[34] Den ursprünglich diskutierten Namen „Königreich Kanada“ ließ man mit Blick auf den Nachbarn U.S.A. fallen und entschied sich für den Begriff „Dominion“.

[35] Vgl. Rémillard (1983), S. 139

[36] Insbesondere lag die „föderale Grundkompetenz“ beim Bund, was das heutige föderale Verständnis umgekehrt.

[37] Vgl. Rémillard (1983), S. 171

[38] Vgl. Morin / Woehrling (1994), S. 153

[39] siehe Anhang, Chronologie

[40] Die Flagge von Quebec wurde offiziell erstmals am 21.01.1948 gehisst. Sie zeigt eine Gestaltung ähnlich der französischen Handelsflagge von vor 1789, ein weißes Kreuz auf blauem Grund. Damit werden die Verbindungen zum Mutterland Frankreich und auch der Wunsch nach kultureller, z.T. auch politischer Unabhängigkeit zum Ausdruck gebracht. In den vier blauen Feldern sind Lilien zu sehen, ein typisch französisches Symbol, und die Heraldik des französischen Königsgeschlechts der Bourbonen welches 1589-1792 und 1814-1830 in Frankreich und seinen Kolonien herrschte. Offizielle Landesflagge Kanadas wurde 1965 ein rotes Ahornblatt auf weißem Grund mit roten Seitenstreifen und mit „Oh Canada" erhielt die kanadische Föderation am 1. Juli 1967, zur Hundertjahrfeier, ihre Nationalhymne.

[41] Révolution tranquille, zuerst jedoch von der englisch-sprachigen Zeitung „Globe & Mail“ als „Quiet Revolution“ veröffentlich, KEMPF (1999), S. 21

[42] Vergleichbar mit Botschaften; später folgen 25 weitere Delegationen in der ganzen Welt, u.a. in London (1962), Düsseldorf (1970), Abidjan (1970), Brüssel (1972), Washington (1978).

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Vom Umgang mit Minderheiten in einem föderalen Bundesstaat
Untertitel
Betrachtungen zu den Sezzessionsbestrebungen der Frankokanadier in der Provinz Québec
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Lehrgebiet Internationale Politik / Vergleichende Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Politische Identität
Note
bestanden
Autor
Jahr
2002
Seiten
45
Katalognummer
V115960
ISBN (eBook)
9783640177561
ISBN (Buch)
9783640177622
Dateigröße
626 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Umgang, Minderheiten, Bundesstaat, Politische, Identität
Arbeit zitieren
Diplom-Verwaltungswirt, Bachelor of Arts Michael Helbig (Autor:in), 2002, Vom Umgang mit Minderheiten in einem föderalen Bundesstaat, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115960

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