"Bigger than life"

Popkulturelle Unterhaltung im Kino als politische Arena


Tesis, 2006

159 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhalt

1 Einleitung
1.1 Forschungsfragen
1.2 Thesen

2 Zum Politikbegriff
2.1 Traditioneller Politikbegriff
2.2 Entgrenzter Politikbegriff
2.3 Politik – Kultur – Politische Kultur

3 Politik- und Demokratiemodelle
3.1 Abschied von der Parteiendemokratie
3.1.1 Wandlung der Parteiendemokratie
3.1.1.1 Individualisierung
3.1.1.2 Mediatisierung
3.1.1.2.1 Beschleunigung
3.1.1.2.2 Distanzierung bzw. Entfremdung
3.1.1.2.3 Bildkultur
3.2 Deliberative Demokratie?
3.2.1 Das Modell der deliberativen Demokratie
3.2.2 Kritik am deliberativen Demokratiemodell
3.2.2.1 Ungleichheit und diskursive Macht
3.2.2.2 Diskursbegriff
3.2.2.3 Privilegierung der Vernunft als Grundlage politischer Entscheidung
3.2.3 Exkurs: Fragwürdiger Gegensatz Vernunft/ Emotion
3.2.3.1 Vernunft - Gefühl
3.2.3.2 Gefühle als Faktoren der Urteilsbildung
3.2.4 Zwischenresümee
3.3 Mediendemokratie 51
3.3.1 Massenmediale Öffentlichkeit
3.3.2 Inszenierungspotenzial als Zugangskriterium
3.3.3 Komplexitätsreduktion
3.3.3.1 Symbolisierung und Personalisierung
3.3.3.1.1 Personalisierung
3.3.3.2 Unterhaltungsöffentlichkeit
3.3.3.2.1 Rezeption von Unterhaltung
3.3.3.2.2 Identitätsbezug von Unterhaltung
3.3.3.2.3 Fiktionale Unterhaltung und Realität

4 Populärkultur und populäre Urteilskraft
4.1 Populärkultur, Bedeutung und Widerstand
4.2 Politik und Populärkultur
4.3 Populäre Urteilskraft

5 Popkulturelle Unterhaltung im Kino als politische Arena
5.1 Fragestellung und Methode
5.2 Politische Diskurse im Kino am Beispiel der Neoliberalismus-Debatte
5.2.1 Zum Begriff Neoliberalismus
5.2.2 Diskursiver Kontext
5.3 Filmanalysen
5.3.1 Fiktionaler Film
5.3.2 Zum Film „Fight Club“
5.3.2.1 Inhalt
5.3.2.2 Medienreaktionen
5.3.2.3 Hintergrund und Entstehung
5.3.3 Zum Film „Die fetten Jahre sind vorbei“
5.3.3.1 Inhalt
5.3.3.2 Hintergrund und Entstehung
5.3.3.3 Medienreaktionen
5.3.4 Identität und der Wert des Menschen
5.3.4.1 Fight Club: Ikea-Nestbautrieb und Selbsthilfegruppen
5.3.4.2 Fight Club: Formel zum Wert des Menschen
5.3.4.3 Fight Club: Sinnstiftung und Vereinfachung im Fight Club
5.3.4.4 Die fetten Jahre: Private Revolten als Identitätsprojekte
5.3.4.5 Die fetten Jahre: Erdrückende Ungleichheit
5.3.5 Demontage neoliberaler Rhetorik und Metaphern
5.3.5.1 Fight Club: Besprechungsszene
5.3.5.2 Fight Club: Leere Versprechungen
5.3.5.3 Die fetten Jahre sind vorbei: Semiotischer Gegenangriff
5.3.5.4 Moralische Demontage des Systems
5.3.6 Rebellion und Widerstand im Film als Indikator einer Politisierung
5.3.6.1 Rebellion der Widersprüche
5.3.6.2 Widerstand und Gewalt
5.3.7 Dokumentarfilm
5.3.8 Fahrenheit 9/11
5.3.8.1 Inhalt
5.3.8.2 Zur Person Michael Moore
5.3.8.3 Medien und diskursiver Kontext
5.3.8.4 Filmanalyse Fahrenheit 9/11
5.3.8.4.2 Konstruktion einer kohärenten Geschichte
5.3.8.4.3 Inszenierte Emotionalität
5.3.8.4.4 Dramaturgie des Bildes
5.3.8.4.5 Mediensozialisation und Verschwörungstheorien
5.3.8.5 Michael Moore und die Folgen
5.4 Politisches Interesse und Aktivität im Modus der Unterhaltung

6 Befunde zu Fragestellung und Thesen
6.1.1 Forschungsfrage 1: Kann Unterhaltung politische Informationen vermitteln?
6.1.2 Forschungsfrage 2: Kann Unterhaltung politische Diskurse beeinflussen?
6.1.3 Forschungsfrage 3: Findet eine Politisierung der Populärkultur statt, die Unterhaltung zunehmend zu einer politischen Arena macht?
6.1.4 These 1: Neues Politikverständnis jenseits des politisch-administrativen Systems
6.1.5 These 2: Politisierung der Populärkultur durch die Diskrepanz zwischen politisch verkündeter und alltäglicher Realität

7 Resümee: Unterhaltung und Politik

8 Literatur
8.1 Verwendete Abkürzungen
8.2 Bildernachweis

1 Einleitung

"We're more popular than Jesus now; I don't know which will go first - Rock 'n' roll or Christianity."

John Lennon (in einem Interview mit dem London Evening Standard im Jahr 1966)

Der Vergleich der Beatles mit Jesus Christus löste 1966 heftige Proteste in den USA aus. Die Beatles und ihr Sänger John Lennon sahen sich genötigt, eine Pressekonferenz in Chicago an den Anfang ihrer US-Tour zu stellen, um den aus dem Zusammenhang eines Interviews gerissenen Vergleich zu erklären und sich zu entschuldigen. Lennon sagte, er habe das Fernsehen gemeint bzw. die „Beatles“ wie sie von den Leuten gesehen werden. Er habe damit aus seiner eigenen Erfahrung sagen wollen, dass die „Beatles“ als Medienprodukt den Jugendlichen in England damals mehr bedeutet hätten als Jesus oder die Religion, so Lennon auf der Pressekonferenz. Seit dieser Aussage des Beatles-Sängers im Jahr 1966 ist – vor allem mit Blick auf die Populärkultur - vieles passiert. Lennon ist heute eine Ikone der Populärkultur, Rock- und Popmusik sind ebenso wenig verschwunden wie Religion und Christentum. Populärkultur ist heute jedoch allgegenwärtig. Die Beatles und andere „Popstars“ – wie sie heute genannt werden – waren 1966 wie auch das Fernsehen noch ein relativ neues Phänomen. Heute prägen das Fernsehen und Populärkultur (wovon Popmusik nur ein Teilbereich ist) den Lebensalltag in der Mediendemokratie. Medienprominenz vom Moderator über Schauspieler, Musiker, Politiker bis hin zu fiktiven Figuren besuchen uns täglich in unseren Wohnzimmern, kommunizieren mit uns via Radio, Internet oder Presse. Kritiker verweisen auf den zunehmend dominanten Unterhaltungscharakter der medial produzierten Öffentlichkeit („Unterhaltungsöffentlichkeit“). Dieser Trend zur Unterhaltung ist in den vergangenen Jahren zunehmend vor dem Hintergrund der Entpolitisierung diskutiert worden: der Entpolitisierung von Öffentlichkeit wie auch der Entpolitisierung von Politik selbst zur rein Effekt haschenden Show-Politik. Jugend und Unterhaltung waren in den vergangenen Jahren in der Diskussion um die zunehmende Politikverdrossenheit in modernen Mediengesellschaften meist der Sündenbock oder zumindest einer der üblichen Verdächtigen, wenn es darum ging, die Ursachen für diese Entwicklung zu ergründen. Jugend vor allem deshalb, weil das sinkende Interesse am politischen Geschehen in der Demokratie zwar ein allgemeines Phänomen aller Alters- und Bevölkerungsgruppen ist, aber das Desinteresse an Politik bei jungen Menschen am größten zu sein scheint und dieser Trend offenbar auch als ein Blick in die Zukunft der Demokratie verstanden wird. Das Fokussieren dieser Diskussion auf „die Jugend“ mag auch mit der größeren Unterhaltungsaffinität jüngerer Altersgruppen zu tun haben. Jedenfalls ist das Verhältnis der „Jugend“, was auch immer darunter zu verstehen ist, immer wieder im Fokus des Interesses, wenn es um Politik- und Parteienverdrossenheit geht. Die Ursachen für die zunehmende Distanzierung der Bürger, insbesondere der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, von der Politik wurde in den vergangenen Jahren unter anderem vor dem Hintergrund von Spaß- und Erlebnisgesellschaft diskutiert. Dabei ist der Aspekt der Unterhaltung zunehmend ins Rampenlicht der Betrachtung gerückt. Politik müsse nicht mehr überzeugen, sondern unterhalten. Der Jugend (Stichwort: Spaßgeneration) wurde von verschiedenen Seiten attestiert, unpolitisch und hauptsächlich an popkultureller Unterhaltung interessiert zu sein. Dieser Logik folgend hat auch Politik Unterhaltung als ein Instrument politischer Kommunikation erkannt und in den vergangenen Jahren verstärkt genutzt. Dieser in der Mediendemokratie nahe liegende Schritt in die Arena popkultureller Unterhaltung brachte der Politik die Kritik der Entpolitisierung (Stichwort: Show-Politik) ein: Der Fokus auf Inszenierung und Symbolik gehe zu Lasten der Vermittlung von Inhalten.

Politik betritt also eine Arena der massenmedialen Sinnstiftung, in der andere Regeln herrschen als auf der traditionellen Bühne der Politik. Gleichzeitig stellt sich gerade in den vergangenen Jahren heraus, dass der als eher unpolitisch gesehene Bereich popkultureller Unterhaltung sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Polarisierung wieder zunehmend politisiert. Das ist sicherlich kein gänzlich neues Phänomen (man denke nur an die 1970er- Jahre), aber angesichts der Betonung der „Entpolitisierung“ im Zuge der Spaßgesellschaft in den 1990er-Jahren und in Verbindung mit der zunehmenden Nutzung der Unterhaltung als Instrument politischer Kommunikation durchaus eine interessante Entwicklung, die eine detaillierte Betrachtung verdient. Dabei stellt sich heraus, dass es nur sehr wenige Erhebungen zum Einfluss popkultureller Unterhaltung auf Politikwahrnehmung, Meinungsbildung und politische Diskurse gibt. Fundiertes Datenmaterial gibt es über die Rezeption von explizit politischen Inhalten im dominierenden Massenmedium Fernsehen, beispielsweise über TV-Nachrichten und Reportagen. Erst in der jüngsten Vergangenheit sind (zumindest im deutschsprachigen Raum) Untersuchungen über die Rezeption von Unterhaltungsformaten wie Daily Soaps, Talkshows und TV-Serien hinzugekommen. Insbesondere die Untersuchungen von Andreas Dörner sind hier zu erwähnen (Dörner 2000, 2001).

In meiner Arbeit möchte ich politische Diskurse in Form von Medienunterhaltung untersuchen und der Frage nachgehen, ob diese politischen Diskurse im Unterhaltungsformat relevante Auswirkungen auf allgemeine Prozesse der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung haben können. Im ersten Kapitel werde ich zunächst den der Arbeit zugrunde liegenden Politikbegriff beschreiben, den ich im wesentlichen von Ulrich Beck, Studien zum Politikverständnis von Jugendlichen sowie den Cultural Studies ableite. Im theoretischen Abschnitt stehen Politik- und Demokratiemodelle im Zentrum. Beginnend bei der traditionellen Parteiendemokratie werde ich politische und gesellschaftliche Wandlungsprozesse skizzieren, die dieses Modell obsolet erscheinen lassen. Über eine Kritik des Modells der deliberativen Demokratie soll herausgearbeitet werden, dass eine zunehmende Emotionalisierung der Politik auch zu einer Politisierung der Populärkultur führt bzw. führen kann. Die Dichotomien Vernunft/Emotion und Information/Unterhaltung werden in Frage gestellt und die immer fließender werdenden Grenzen dieser scheinbaren Gegensätze anhand der Konzepte der Mediendemokratie und der Populärkultur dargestellt. Im filmanalytischen Teil der Arbeit will ich an drei Beispielen aus dem Bereich des populären Kinos zeigen, wie Medienunterhaltung Menschen einerseits ermöglicht aktiv politisch Stellung zu beziehen und andererseits Sinnstiftungen von politischer Relevanz anbietet.

1.1 Forschungsfragen

Ziel meiner Arbeit ist nicht die Untersuchung von „Politainment“, die bereits im gleichnamigen Buch von Dörner in hervorragender Weise vorliegt. Das Forschungsinteresse meiner Arbeit gilt der anderen Seite, nämlich der Populärkultur wie sie aus Produktionen der Unterhaltungsindustrie und der Rezeption der Konsumenten entsteht. Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob Unterhaltung eigentlich politische Informationen vermitteln kann, die auch eine Relevanz für die alltägliche politische Meinungsbildung und Entscheidungsfindung der Menschen hat? Die nächste Frage liegt nahe: Wenn Unterhaltung politisch relevante Informationen vermittelt, wie wirken sich diese Informationen auf politische Prozesse in der Demokratie aus? Hat die Darstellung von Politik im Kino (und darüber hinaus generell in Unterhaltungsformaten) Einfluss auf die Meinungen und Bilder, die sich Menschen von Politik machen? Kann popkulturelle Medienunterhaltung politische Diskurse beeinflussen, ihnen einen Drall in die eine oder andere Richtung geben? Diesen Fragen möchte ich am Beispiel von drei populären Kinofilmen („Fight Club“, „Die fetten Jahre sind vorbei“, Fahrenheit 9/11“) nachgehen. Die Analyse und Interpretation dieser Filme soll zudem auch die Rolle der popkulturellen Medienunterhaltung als politische Arena aus der Sicht von Produzenten und Rezipienten näher beleuchten und die These von der Politisierung der Populärkultur untersuchen. An dieser Politisierung der Populärkultur interessiert mich vor allem der politische Widerstand bzw. die Artikulation abweichender politischer Meinungen angesichts einer wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung bei gleichzeitig immer monolithischer wirkender Programmatik der politischen Eliten.

1.2 Thesen

Diesen drei Forschungsfragen liegen Thesen zugrunde, die sich in zwei Bereiche gliedern lassen. Der erste Bereich bezieht sich auf den Politikbegriff, der zweite auf den Einfluss der Populärkultur auf politische Diskurse in der Mediendemokratie. Im ersten Bereich vertrete ich die These, dass politisches Interesse und politische Aktivität heute nicht mehr nach traditionellen Merkmalen klassifiziert werden können, die sich am politisch- administrativen System orientieren („dem als politisch Etikettierten“, Ulrich Beck). Die Orientierung des Lebensalltages der Menschen an Spaß, Unterhaltung und persönlichem Nutzen stellt demnach keinen Widerspruch zu politischem Interesse und politischer Aktivität dar.

Die zweite These geht von einer zunehmenden Politisierung im Unterhaltungssektor aus. Popkulturelle Medienunterhaltung wird demnach vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Polarisierung zu einer politischen Arena. Das soll am Beispiel des neoliberalen Diskurses in den genannten Kinofilmen untersucht werden. Verstärkt wird dieser Trend durch den deliberativen Anspruch neoliberaler Reformpolitik, die den Kriterien einer populären Urteilskraft nicht entspricht und daher zu Desinteresse am politisch-administrativen System führt, nicht aber am Politischen. Populäre Urteilskraft baut auf Alltagsrelevanz, Sinnstiftung und Vergnügen (pleasure) auf. Politisches Interesse und politische Aktivität kann daher auch in Form von popkultureller Medienunterhaltung stattfinden, die mitunter eher der alltäglich erlebten Realität der Menschen entspricht als die von der traditionellen Politik verkündete Realität.

2 Zum Politikbegriff

Die Frage nach dem Politischen in massenmedialen Unterhaltungsformaten sowie der Politisierung der Populärkultur führt zunächst zu der grundsätzlichen Frage: Was ist Politik? Wann ist ein Film, eine TV-Serie, ein Popsong, eine Unterhaltungssendung im Radio oder eine Website im Internet politisch? Ist ein Bezug zum „Politikgeschäft“, zur professionellen „Politik als Beruf“ sowie formalen und informellen Prozessen demokratischer Politik notwendig (Politics-Bezug), um einem Produkt der Unterhaltungsindustrie das Label „politisch“ zu verleihen? Sollten der Staat und die institutionellen Rahmenbedingungen demokratischer Politik thematisiert werden (Polity- Bezug)? Oder reicht es schon, wenn der Inhalt politisch ist (Policy-Bezug), also politische Probleme, Programme oder Handlungen thematisiert werden? Schon hier stellt sich erneut die Frage, nach dem Bedeutungsinhalt eines „politischen Problems“ oder einer „politischen Handlung“. Diese Fragen drängen sich auf, wenn - wie in dieser Arbeit - die Re- Politisierung der Populärkultur und politische Inhalte in Unterhaltungsformaten untersucht werden sollen. Dabei dürfte klar sein, dass die eingangs angeführten Dimensionen des Politischen – Politics (Prozess), Polity (Form), Policy (Inhalt) – alle politischen Prozesse charakterisieren, also auch jene, die sich gegebenenfalls in Unterhaltungsformaten der Unterhaltungsindustrie bzw. ihrer popkulturellen Nutzung wieder finden. Auch Politik im Unterhaltungsformat bleibt durch diese drei grundlegenden Dimensionen bestimmt. Das muss freilich nicht heißen, dass alle drei Ebenen des Politischen auf den ersten Blick ins Auge des oberflächlichen Betrachters/ Konsumenten springen müssen, wie dies etwa in der außerordentlich populären und wegen ihrer politischen Satire bekannten TV-Serie „Die Simpsons“ der Fall ist. Die Serie nimmt immer wieder direkten Bezug auf alle drei Dimensionen des Politischen, wenn etwa immer wieder Politiker (insbesondere US- Präsidenten) und politische Prozesse (meist ironisch oder zynisch) kommentiert werden, wenn die demokratischen Institutionen im Zentrum stehen (z.B. politische Partizipation, die US-Verfassung, die Schule) oder das politische System durch die gelbe Brille der Serienwelt betrachtet wird. Auch inhaltliche Probleme wie z.B. Atomenergie und Umweltpolitik, Migration und Ausländerfeindlichkeit, Gun Control und Gesundheitsfragen werden immer wieder recht eindeutig thematisiert. Nicht zuletzt wegen dem klaren Bezug auf alle drei Dimensionen des Politischen gilt die Serie als das Paradebeispiel für „politische Populärkultur“ bzw. als politische Unterhaltung (in Form der Satire) schlechthin. Aber nicht immer müssen alle drei Ebenen so klar ersichtlich und auch inhaltlich thematisiert sein. So handelt der Film „Fight Club ausschließlich von der postmodernen Identitätsfindung der Hauptfigur ohne direkten und offensichtlichen Bezug auf Staat und politische Akteure im engeren Sinne (Politiker). Die Problematik des Films ist die männliche Identitätsfindung in einer kapitalistisch geprägten Welt des Wertewandels. Aber es geht ganz klar um Macht, um die Kritik des bestehenden Systems und um Widerstand gegen die bestehende Ordnung, also Möglichkeiten des Einzelnen sich in seinem Alltagsleben Freiräume zu schaffen. Auch hier werden alle drei Ebenen des Politischen angesprochen. Nur deshalb kann der Film als „politisch“ behandelt werden, denn würde nur eine Dimension gänzlich fehlen, wäre es schwierig von einem „politischen Inhalt“ zu sprechen. Ich gehen daher im Folgenden immer davon aus, dass auch bei popkultureller Unterhaltung immer alle drei Dimensionen enthalten sein müssen, um sie als „politisch“ bezeichnen zu können. Damit ist zunächst eine Grundvoraussetzung markiert, die jedoch aufgrund ihrer Allgemeinheit nur wenig über den Politikbegriff dieser Arbeit aussagt. Dieser soll nun konkretisiert werden.

2.1 Traditioneller Politikbegriff

„Wer heute als politisch gelten will, muss den Anforderungen eines Begriffs von Politischsein genügen, dessen Inhalte gut und gerne genauso alt sind wie man selbst, der sich aber – anders als man selbst und der Rest der Welt – kaum verändert hat“, stellt Judith Mair, Unternehmerin und Expertin für Populärkultur per Eigendefinition, mit Bezug auf das angebliche „Unpolitischsein“ heutiger Generationen fest. Ist die Politikverdrossenheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen das Thema (Stichwort: Spaß- bzw. Erlebnisgesellschaft), dann wird von einem Politikbegriff ausgegangen, der heute kaum noch anwendbar ist. Mair spricht von „Heldensagen der 68er“, der letzten Generation, die sich politisch engagiert hat und an die „Veränderbarkeit der Zustände“ geglaubt habe (Mair/Becker 2005, S. 48). Ohne Begriffe wie Utopie, Vision, Revolution und Demonstration im Repertoire fehlt das politische Bewusstsein, ohne Demonstrationen, Lichterketten und Transparenten auf öffentlichen Plätzen schaut es mit dem politischen Engagement schlecht aus. Die Jugend von heute – was auch immer darunter zu verstehen ist – ist also unpolitisch, geht man von diesem traditionellen Politikbegriff aus.

Nimmt man jedoch einen Politikbegriff als Grundlage, der den gesellschaftlichen Veränderungen in den vergangenen 30 Jahren (oder mehr) Rechnung trägt, zeichnet sich ein völlig anderes Bild ab. Junge Menschen stehen stets im Zentrum derartiger Wandlungsprozesse. Sie müssen sich in der gewandelten Welt zurechtfinden und dabei oft völlig neue Wege gehen. Das trifft auch auf das Politikverständnis und Formen politischen Handelns zu. Nur 34 Prozent der deutschen Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren bezeichnen sich laut 14. Shell-Jugendstudie (Deutsche Shell 2002) als „politisch interessiert“. Dieser Anteil sinkt seit Jahren kontinuierlich und betrug im Jahr 1984 noch 55 Prozent. Dennoch kann bei deutschen Jugendlichen keineswegs von „Politikverdrossenheit“, sondern eher von „Politiker- und Parteienverdrossenheit“ gesprochen werden, so die Studienautoren. Sie interessieren sich generell für „globale ethische und soziale Themen“, wobei sie vor allem durch „Eigeninteresse mit dem Ziel der Selbstentfaltung“ motiviert werden. Die politische Partizipation findet in anderen Organisationsformen und anderen Arten des Engagements statt. Traditionellen Verbänden und Vereinen schenken junge Menschen immer weniger Interesse, wohingegen punktuelle politische Events und Aktionen, die keine verbindliche und längerfristige Mitgliedschaft erfordern (z.B. Demonstrationen, öffentliche Diskussionen, Unterschriftenaktionen) an Attraktivität gewinnen. Auch der Berliner Jugendforscher Klaus Farin widerspricht der Annahme einer „unpolitischen Jugend“: Die Weigerung junger Leute, sich als politisch engagiert darzustellen, könne nicht als Gleichgültigkeit gedeutet werden. So berichtet Farin in der Wochenzeitung „Die Zeit“ von einer Vorstadtdisco, deren Betreiber plötzlich anfing, Ausländer mit dem Hinweis „nur für Klubmitglieder“ abzuweisen. Eine Gruppe von Mädchen organisierte daraufhin einen Boykott, dem sich auch andere Cliquen anschlossen. Der Betreiber musste Konkurs anmelden, der neue Pächter beendete die Diskriminierung. Darin habe die Organistorin des Boykotts keine politische Aktion gesehen, so Farin, sondern lediglich die Diskriminierung von Freunden nicht hinnehmen wollen.[1] Auch die Teilnahme an Demonstrationen werde oft nicht als politisches Engagement, sondern schlicht als Teilnahme an einem „spannenden Event“ verstanden. Die Shell-Studie spricht von einem „ganzheitlichen Politikverständnis“ und sieht Jugendliche als „Vorreiter für eine neue Auffassung von Politik, die sich mittelfristig auf breiter Ebene durchsetzen könnte“. Jugendliche seien „politische Seismographen“ für künftige Chancen und Probleme.

2.2 Entgrenzter Politikbegriff

Jugendstudien bestätigen also, dass die Grenzen zwischen dem, was als politisch betrachtet wird, und anderen Bereichen im Sinne einer „Entgrenzung der Politik“ verschwimmen (Beck 1986, S.300ff.). Ein entgrenzter Politikbegriff – wie er offenbar bei deutschen Jugendlichen immer weiter verbreitet ist – reduziert Politik nicht auf das „politisch Etikettierte“ (Beck) und auf Aktivitäten des politischen Systems, sondern lässt Politik jenseits der traditionellen Rahmenbedingungen stattfinden, weil auch die gesellschaftlichen Veränderungen dort stattfinden. Beck führt diese Entwicklung auf die Ausdifferenzierung eines politisch-administrativen und eines technisch-ökonomischen Systems zurück. Dadurch wird nur ein Teil der gesellschaftsgestaltenden Entscheidungen im politisch- administrativen System gebündelt, das den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie unterworfen ist. Ein anderer Teil wird den Regeln öffentlicher Kontrolle (durch demokratische Institutionen) entzogen und an die Investitionsfreiheit der Unternehmen sowie die Forschungsfreiheit der Wissenschaft delegiert. Gerade diese Entscheidungen sind es aber, die heute (Beck: in der reflexiven oder zweiten Moderne) den Alltag der meisten Menschen wesentlich gravierender prägen als die Entscheidungen des politischen Systems. Dadurch ensteht der „Eindruck des politischen Stillstandes“ bei gleichzeitiger Veränderungshektik im technisch-ökonomischen System (ebd. S. 303). Die technisch- ökonomischen Entwicklungen verlieren aufgrund ihrer massiven Auswirkungen auf das Alltagsleben den Charakter der Nichtpolitik. Beck spricht von einer „prekären Umkehrung von Politik und Nichtpolitik“. Das Politische wird unpolitisch und das Unpolitische politisch (ebd. S. 305).

Das „ganzheitliche Politikverständnis“, das die Shell-Jugendstudie konstatiert, entspricht diesem entgrenzten Politikbegriff. Nur dass eben Jugendliche bei der Frage nach ihrem politischen Interessen nach wie vor von den eingespielten Politikdefinitionen ausgehen, die das politisch-administrative System als das Zentrum von Politik schlechthin voraussetzt. Auch das „Idealbild“ von politischen Entscheidungsprozessen als Durch- und Umsetzung von Programmen im Wechselspiel von Regierung und Opposition (also der politischen Führer) ist noch in den Köpfen. Das Handeln und das Alltagsverständnis von Politik ist aber längst ein anderes. Längst ist durchschaut, dass Politik im herkömmlichen Sinn nur noch Sachwalter und Anwalt von Entwicklungen und Entscheidungen ist, die sie nicht oder kaum planen und gestalten kann oder will. Politik im herkömmlichen Sinn ist daher „out“:

„In der Ahnung, dass es keinen großen Unterschied macht, wer regiert und wer in Opposition sitzt und mit dem Abschied von der Überzeugung, über Politik die Gesellschaft tatsächlich verändern zu können, ist einem das ‚Fuck the System“ des Punk näher als das unverbesserliche „Change the System“ der 68er“ (Mair 2005, S.61).

Das lässt aber keineswegs auf eine unpolitische Jugend schließen. In der Auffassung, die deutsche Jugendliche von Politik haben, spielen Emotionen, persönliche Bedürfnisse und eigene Interessen eine mindestens ebenso große Rolle wie sachliche Überlegungen und Vernunft orientierte Entscheidungen. Die Shell-Jugendstudie weist darauf hin, dass angesichts des jugendlichen Verständnisses von Politik gängige Vorstellungen des Inhaltes und der Grenzen dessen, was innerhalb der Gesellschaft als Politik verstanden wird, einer kritischen Überprüfung bedürfen.

2.3 Politik – Kultur – Politische Kultur

Einen weiteren Ansatzpunkt des Politikbegriffs in dieser Arbeit bieten die Cultural Studies. Die Cultural Studies - ob im weiteren Sinne der postmodernen Kulturphilosophie und des Poststrukturalismus (z.B. Foucault, Lacan) oder im engeren Sinne der British Cultural Studies (z.B. Williams, Fiske, Grossberg) – haben Kultur immer im Hinblick auf Alltagswelten und kulturelle Praxis untersucht und insbesondere Populärkultur oder das Populäre als Ort sozialer Auseinandersetzungen betrachtet. Raymond Williams hat Kultur als „particular way of life, which expresses certain meanings and values not only in art and learning but also in institutions and ordinary behaviour“ (zitiert nach Dörner 2000, S.99f.) definiert. Dieses Verständnis von Kultur hat den Fokus auf die diskursive Konstituierung von Kultur und damit auf die Analyse kultureller Kontexte gerichtet. Die „forschungspolitische Frage“ der Cultural Studies richtet sich an „die Leute“ (people) und will wissen, wie sie „von den besonderen Strukturen ihres Alltagslebens und den verschiedenen Widerständen und Mächten, denen sie dabei begegnen (politisch oder ökonomisch), entmündigt oder ermächtigt werden und wie sie selbst ihre Situation auslegen, darstellen, begreifen und zum Ausdruck bringen“ (Göttlich 2001). Williams führt Kultur als „whole way of life“ im anthropologischen Sinne ein. Der Kulturbegriff bezieht sich damit nicht mehr nur auf Literatur, Theater oder Malerei, sondern Kultur wird als eine umfassende soziale Praxis verstanden, die nicht nur kulturelle Objekte oder kulturelles Wissen beinhaltet, sondern auch die Sinn- und Erfahrungsebene einschließt. Nach der Rezeption der Hegemonietheorie von Gramsci führte vor allem der Strukturalismus und Poststrukturalismus dazu, Kultur als diskursive Formation zu begreifen. In Kultur als „demokratisch partizipativer Kommunikationsgemeinschaft“ spielen schöpferische Aktivität und Kommunikation eine wesentliche Rolle für die Reproduktion menschlicher Gemeinschaft (ebd., S.27). Sprache, Bilder, Symbole, Narrative und andere Texte gewinnen vor diesem Hintergrund an Bedeutung. Damit wird aber auch das Alltagsleben der Menschen ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt. Kultur wird neben Macht zu einer wichtigen Kategorie der politischen Analyse.

„Der entscheidende Punkt ist dabei, dass Kultur nicht einfach als eine Variable neben vielen anderen gesehen wird, der man günstigenfalls durch den Ausbau einer entsprechenden Bindestrich-Teildisziplin gerecht würde. Stattdessen gilt Kultur als die konstitutive Dimension von Gesellschaft, als Dimension, ohne deren Beachtung die Logik der Beziehungen und Konflikte zwischen Akteuren, Gruppen, Organisationen und Institutionen nicht adäquat analysiert werden kann“ (Dörner 2000, S.25).

Die Cultural Studies haben daher schon sehr früh Interesse für Schwerpunkte wie jugendliche Subkulturen, kulturelle Identitäten sowie die Nutzungsweise populärer Medien gezeigt und dabei auch immer die politische Perspektive der kulturellen Kontexte im Auge gehabt. Dabei haben die Cultural Studies mit der Populärkultur ein Konzept entwickelt, das nicht nur die Seite der Produzenten und Anbieter von Medieninhalten – die Kulturindustrie im Sinne von Horkheimer und Adorno (Horkheimer/Adorno 2004) – berücksichtigt, sondern auch die Rezipienten dieser Angebote. Populärkultur ist demnach ein ständiger Prozess der kulturellen Regulierung des Lebensalltages vor dem Hintergrund der Medienkultur bzw. Massenkultur. Diese Wechselwirkung beinhaltet hegemoniale Macht ebenso wie Widerstand. Kultur ist die Arena, in der dieser Kampf um individuelle Freiräume ausgetragen wird. Insbesondere die Untersuchungen von John Fiske und Lawrence Grossberg zur Populärkultur haben diese politischen Aspekte der Populärkultur hervorgehoben.

Noch vor wenigen Jahren hätte die Frage, was Populärkultur und Unterhaltung mit Politik zu tun haben, wahrscheinlich – zumindest im deutschsprachigen Raum – einer ausführlichen Begründung bedurft. So hat beispielsweise Andreas Dörner das erste Kapitel seiner Habilitationsschrift „Politische Kultur und Medienunterhaltung“ im Jahr 2000 wie folgt begonnen:

„Die populäre Medienkultur und ihre Bilder des Politischen werden in dieser Arbeit als zentraler Bestandteil von politischer Kultur begriffen. Eine solche Sichtweise bildet allerdings im Kontext der politikwissenschaftlichen Forschungsliteratur noch immer ein Novum und bedarf deshalb einer genaueren Herleitung und Begründung“ (Dörner 2000, S.24).

Dörner konstatiert in der politikwissenschaftlichen Forschung einen „Boom des Kulturellen“ als eine wesentliche dimensionale Größe. Gleichzeitig stellt er aber fest, dass in der politischen Kulturforschung der massenmedialen Konstituierung von politischer Kultur viel zu wenig Rechnung getragen wird. Weder die Visualisierung des Politischen in Film und Fernsehen noch die zunehmende Relevanz der Unterhaltungskultur als Kern der Öffentlichkeit in der Gegenwartsgesellschaft werde adäquat berücksichtigt. Inzwischen hat Dörner die Bedeutung von Medienunterhaltung nicht nur auch für Deutschland untersucht und nachgewiesen, sondern sogar mit seinem Buch „Politainment“ einen Begriff geprägt, mit dem er die zunehmend fließenden Übergänge zwischen Unterhaltungskultur und politischer Kultur in der Mediendemokratie zu fassen versucht (Dörner 2001). Darüber hinaus sind in den vergangenen Jahren auch im deutschsprachigen Raum weitere Arbeiten und Aufsätze in diesem Bereich erschienen, die unter anderem auch auf Autoren wie John Fiske (Fiske 1989, Fiske 2003), Lawrence Grossberg (Grossberg 2000) und anderen aufbauen, deren Arbeiten im anglo-amerikanischen Raum die Populärkultur (popular culture) und politische Aspekte von Unterhaltung in der Tradition der „British Cultural Studies“ schon seit Längerem ins Zentrum des Forschungsinteresses gestellt haben (vgl. Hepp/Winter 1999, Göttlich/Winter 2000, Winter/Mikos 2001, Wegener 2001, Schicha/Brosda 2002, Göttlich/Albrecht 2002). Eine ausführliche Begründung und Herleitung des Zusammenhanges von Kultur und Politik im Allgemeinen bzw. von unterhaltungsgeprägter Medienkultur und Politik in der Mediengesellschaft – wie sie Dörner noch vor wenigen Jahren für notwendig erachtet hat - scheint mir daher aus heutiger Sicht und mit Blick auf die vorliegende Literatur in diesem Bereich nicht mehr drängend zu ein.

Ein Politikbegriff, der die Fixierung auf das politische System als exklusives Zentrum der Politik zugunsten einer verstärkten Betrachtung kultureller Alltagspraktiken der Menschen verschiebt, - wie er dieser Arbeit zugrunde liegt - meint keineswegs „Alles ist Politik“. Das würde den Gegenstand in einem gesellschaftlichen Nirvana der Allgemeinheiten verschwinden lassen. Die grundlegenden Definitionsmerkmale des Politischen, die Rolle der Macht, des Gemeinwohls, der Werte bzw. Normen und der Kommunikation, gehen dabei nicht verloren. Es geht nach wie vor um Politik als die „Vorstellung oder die Durchsetzung von Handlungen, deren Folgen für alle Mitglieder einer Gesellschaft Gültigkeit erlangen, ohne ihnen individuelle Ausweichmöglichkeiten offen zu lassen“ (Meyer 2003, S.44), wobei die Gestaltung und Veränderung von Lebensverhältnissen im Alltag der Menschen im Zentrum stehen. In diesem Sinne geht diese Arbeit von einem „anthropologischen Politikbegriff“ aus, der den Fokus politischen Handelns bei Prozessen des Lebensalltages setzt. Dass diese Prozesse aufgrund der genannten Entwicklungen heute oft jenseits des „politisch Etikettierten“ liegen, heißt nicht, dass konstitutive Elemente des Politischen fehlen oder verloren gehen und der Politikbegriff soweit ausgeweitet und verallgemeinert wird, dass die Substanz und Aussagekraft schwindet.

3 Politik- und Demokratiemodelle

3.1 Abschied von der Parteiendemokratie

Die Spielregeln demokratischer Politik haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht nur zeitgemäß gewandelt, sondern sind einer grundlegenden Veränderung unterlegen und tun dies weiterhin. Der Wandel politischer Systeme und Prozesse in marktwirtschaftlichen und demokratischen Staaten des Westens im Laufe des 20. Jahrhunderts – im Wesentlichen aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ist ein gesellschaftlicher Wandlungsprozess und ist auch immer als solcher betrachtet worden. Das zeigen schon die zahlreichen gesellschaftstheoretischen Konzepte, die – verstärkt seit den 1970er-Jahren – Erklärungsversuche anbieten wollen. Dabei wird jeweils auf verschiedene Schwerpunkte Wert gelegt; alle gehen jedoch von einem Übergang von der modernen Industrie- und Klassengesellschaft in eine neue Form einer spät-, post- oder re-modernen Gesellschaft aus. In der Literatur ist einmal von Risikogesellschaft, dann wieder von Chancengesellschaft die Rede (Beck 1986; Teufel 2001). Von der Informationsgesellschaft bis zur Spaß- und Erlebnisgesellschaft reichen die Etiketten zur Erklärung gesellschaftlicher Transformationsprozesse, die naturgemäß auch Auswirkungen auf politische Prozesse in demokratischen Staaten haben. Genauso verhält es sich auch mit Demokratietheorien, die unterschiedliche Aspekte dieser Wandlungsprozesse hervorheben und integrieren. Ausgangspunkt ist eine Gesellschaft in deren Zentrum die klassische Parteiendemokratie stand. In dieser Variante einer demokratischen Gesellschaft stehen die drei Staatsgewalten Exekutive, Legislative und Jurisdiktion im Zentrum des politischen Systems. Die Bevölkerung wird durch Parteien repräsentiert, die wie Hans Kelsen betont, für eine moderne, mittelbare Demokratie unverzichtbar sind. Parteien haben im demokratischen Staat die wichtige und zentrale Funktion partikulare Interessen zu integrieren und den „Gemeinschaftswillen in eine mittlere Richtung zu bewegen“ (Kelsen 1981). Sie spielen also eine zentrale Rolle bei den Politikherstellungs- und Politikdarstellungsprozessen einer Demokratie. Politik findet als ein politischer Konkurrenzkampf zwischen unterschiedlichen Parteien statt, deren öffentliche Arena die drei klassischen Gewalten, vor allem aber das Parlament, sind. Die Parteiendemokratie ist die demokratische Organisationsform einer Welt, in der das politisch-administrative System als exklusives Zentrum der Politik fungiert.

Ich möchte mich hier im Wesentlichen auf zwei Aspekte konzentrieren, die mir für den Wandel von der traditionellen Parteiendemokratie zu neuen Formen demokratischer Politik entscheidend erscheinen. Erstens die Individualisierungs- und Emanzipationsprozesse, die in westlichen Marktwirtschaften – verstärkt seit den 1960er-Jahren – zu tief greifenden sozialen und kulturellen Wandlungen geführt haben. Dabei stimme ich im Wesentlichen mit der Theorie der reflexiven Moderne (Re-Moderne) überein, die Ulrich Beck 1986 in „Risikogesellschaft“ ausgeführt hat. Zweitens die Umstrukturierung von Öffentlichkeit im Zuge der Entstehung elektronischer Massenmedien, insbesondere des Fernsehens. Auch diese Debatte wurde unter verschiedenen Vorzeichen geführt. Die Diskussion über die kulturellen Auswirkungen des Fernsehens war (und ist) im Zusammenhang mit dem Begriff der „Kulturindustrie“ oft verbunden mit Klagen über einen Kulturverfall. Die These von der Kulturindustrie der Frankfurter Schule, insbesondere von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno bestimmt, geht von der „Massenkultur“ als Instrument der Kulturindustrie aus. Sie dient der „Ruhigstellung“ der Massen durch Unterhaltung und kommt letztendlich einer Entmündigung des Staatsbürgers und sogar einer „Anti- Aufklärung“ (Adorno) gleich. Auch Neil Postman analysiert die Auswirkungen des Fernsehens auf Kultur, Öffentlichkeit und Politik mit Wehmut über das Ende der Rationalität (Postman 1988). Einigen Argumenten dieser Skeptiker werde ich bei meiner Darstellung der Auswirkungen elektronischer Massenmedien folgen, nicht jedoch dem negativen Ausblick. Bereits John Fiske hat 1989 mit seiner Analyse der Populärkultur auf die positiven und befreienden Aspekte der massenmedialen Öffentlichkeit hingewiesen (Fiske 1994, 2003). Neuere Beiträge zur Diskussion über die Mediengesellschaft sehen zwar die Gefahren, die von Massenmedien wie dem Fernsehen für die demokratische Öffentlichkeit ausgehen können, weisen der sozialen Realität der Mediengesellschaft aber nicht von vornherein eine negative Tendenz im Sinne eines kulturellen Verfalls zu (Meyer 2001, Dörner 2001). Den beiden Entwicklungen – Individualisierung und elektronische Massenmedien – ist gemeinsam, dass ihre Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft in verstärktem Ausmaß in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sichtbar und vor allem erlebbar werden.

Im Folgenden möchte ich zunächst einige der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse skizzieren, die den Abschied von der Parteiendemokratie verursacht oder gefördert haben. Darauf folgend werde ich zwei Modelle vorstellen, die verschiedene Aspekte des Wandels integrieren und dadurch Politik besser erklärbar und organisierbar machen wollen: das Modell der deliberativen Demokratie, das mit der Dimension der Zivilgesellschaft vor allem die Individualisierungsprozesse betrachtet, und das Konzept der Mediendemokratie, das den Fokus auf den Einfluss der Massenmedien legt.

3.1.1 Wandlung der Parteiendemokratie

3.1.1.1 Individualisierung

Die Individualisierungsprozesse, die heute westliche Demokratien kennzeichnen, haben sich gegen Ende der 1950er-Jahre vor dem Hintergrund eines wirtschaftlichen Aufschwunges sowie einer verbesserten Ausbildung verstärkt. Bei der Darstellung der Auswirkungen dieser Modernisierungsprozesse werde ich im Wesentlichen auf der Grundlage von Becks Konzept der reflexiven Moderne (Re-Moderne)[2] argumentieren, weil mir der Verweis auf prägende Prozesse der Moderne (Marktwirtschaft, Aufklärung) aufschlussreich erscheint. Die moderne Industriegesellschaft stellt demnach durch ihre konsequente Umsetzung die eigenen Lebensgrundlagen in Frage. Die re-modernen Individualisierungsprozesse bedeuten keinen Abschied von der Moderne, aber sie „wirbeln die Lebenswege und Lebenslagen der Menschen durcheinander“ (Beck 1986, S.125) und ordnen damit die Strukturen moderner Gesellschaften neu. Nach 1950 haben sich die Lebensbedingungen auch der einkommensschwachen Bevölkerungsschichten auf ein Niveau verbessert, das einem „Freisetzungsschub“ gleichkommt. Beck spricht von einem „Fahrstuhl-Effekt“ (Beck, S.124ff.): Demnach sind zwar in den Jahrzehnten nach 1950 Ungleichheitsrelationen zwischen den gesellschaftlichen Großgruppen (Klassen) nicht wesentlich verändert worden, aber Ungleichheitsfragen sozial entschärft worden. Das trifft auch heute noch zu, wenngleich der von Beck schon 1986 festgestellte „Fahrstuhleffekt nach unten“ im Zuge neoliberaler Globalisierung die Ungleichheitsfrage wieder zu einem politischen Thema von brennender Bedeutung gemacht hat. Bei steigender Ungewissheit trifft aber auch heute noch zu, dass der Lebensstandard in Österreich und anderen westeuropäischen Ländern heute höher ist als noch vor 1950. Auch das Bildungs- und Ausbildungsniveau hat sich seit damals signifikant verbessert. Die Erhöhung des materiellen Spielraumes (steigende Lebenszeit, verringerte Arbeitszeit und wachsendes Einkommen) sowie die verbesserte (Aus-)Bildung haben zu einer sozialen Mobilität geführt, wie sie zuvor durch traditionelle Barrieren (z.B. Religion, Klasse, Familie, Geschlecht) nicht möglich war. Diese Veränderung des Verhältnisses von Arbeit und (privatem) Leben wurde in der Literatur auch unter dem Stichwort Freizeitgesellschaft diskutiert. Entscheidend ist jedoch, dass durch das Zusammenwirken von Wohlstandsproduktion und höherer Bildung - also Erfolgen der modernen Industriegesellschaft – die (bisherigen) Grundlagen dieser Gesellschaft in Frage gestellt werden, indem die Menschen aus traditionellen Bindungen herausgelöst werden. Werte und soziale Rollen (z.B. Geschlechter) sowie Bindungen zu Familie, Nachbarn, Kollegen, zur eigenen Klasse bzw. sozialen Schicht, zur regionalen Kultur oder zum Heimatort verändern sich oder verlieren ihre Bedeutung. Der Spielraum des Einzelnen bei der Beurteilung und Befolgung sozialer Normen, von Werten und Bindungen steigt wesentlich. Diese soziale Mobilität führt zu einer Veränderung von Machtstrukturen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Beck führt Frauenerwerbstätigkeit als ein Beispiel an. Das „selbst verdiente Geld“ hat nicht nur materiellen Wert, sondern auch soziale Symbolkraft. Gleichzeitig werden dadurch die Machtbeziehungen in Ehe und Familie verändert. Das gleiche gilt für das Gleichziehen der Frauen bei der Bildung. Die Ausbildung garantiert am Arbeitsmarkt nichts, sie ist lediglich eine „Teilnahmeberechtigung an der Vergabe von Arbeitsplatz-Chancen“ (Beck, S. 138). Aber die gleiche Ausbildung bei unterschiedlicher Bezahlung und Chancen am Arbeitsmarkt macht die Ungleichheit von Männern und Frauen sichtbar.

Diese Individualisierung bedeutet auch die Auflösung der Klassen und Schichten im Sinne der gemeinsamen Erfahrungen einer gesellschaftlichen Großgruppe. Das heißt aber nicht, dass soziale Ungleichheiten aufgehoben werden oder verschwinden. Beck spricht von der „Individualisierung von Ungleichheit“. Die Veränderung der Lebensbedingungen der Menschen nach 1950 ist demnach nicht klassenrelevant. Die alten Abstände zwischen den Klassen bzw. Schichten stellen sich auf neuem Niveau wieder her. Allerdings verlieren die sozialen Ungleichheiten ihren Klassencharakter. Arbeitslosigkeit ist heute beispielsweise ein Problem, von dem auch gut ausgebildete Arbeitskräfte betroffen sein können. Nach wie vor sind aber weniger gut Ausgebildete und Menschen aus den unteren Einkommensschichten häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen als andere. Massenarbeitslosigkeit wird heute dennoch als persönliches Schicksal wahrgenommen, nicht als gemeinsame Erfahrung einer sozialen Großgruppe. Die Individualisierung löst die Menschen zwar aus traditionellen Bindungen und eröffnet für den Einzelnen neue Möglichkeiten. Gleichzeitig verlieren aber auch neue soziale Barrieren ihre Sichtbarkeit als Probleme, von denen gesellschaftliche Gruppen betroffen sind (wenn sie nicht an Merkmalen wie dem Geschlecht erkennbar sind wie im Fall der Frauenerwerbstätigkeit). Beck verweist jedoch darauf, dass der Individualisierungsprozess (und die Aufhebung der Klassen) an bestimmte Rahmenbedingungen gebunden ist, nämlich das Weiterbestehen der genannten Erfolge bei den Lebensbedingungen der Arbeiter sowie der besseren Bildung:

„Das, was die Klassen gestern und heute individualisiert hat, kann morgen oder übermorgen unter anderen Rahmenbedingungen – etwa sich radikal verschärfender Ungleichheiten (Massenarbeitslosigkeit, Automationsgewinne der Unternehmen) – auch wiederum in neuartige, jetzt aber gerade nicht traditional zu verstehende, die erreichte Individualisierung voraussetzende Klassenbildungsprozesse umschlagen“ (Beck, S. 134).

Die Auswirkungen dieser erhöhten sozialen Mobilität für das politische System in westlichen Demokratien zeigen sich am deutlichsten im Wahlverhalten der Wähler. Die Lockerung traditioneller Bindungen bedeutet auch eine Erosion der Parteibindung und das Sinken der Parteiloyalität. Die Stammwählerschaft der Parteien geht in Österreich und anderen europäischen Ländern immer mehr zurück und parallel dazu steigt der Anteil der Partei ungebundenen Wechselwähler. So lag der Anteil der Wechselwähler in Österreich 1972 bei rund acht Prozent und wuchs bis Mitte 1995 auf rund 44 Prozent an (Plasser, 1997). Diese erheblich erhöhte Mobilität der Wähler ist allerdings nur ein Aspekt der geschilderten Individualisierungsprozesse. Auch die Funktionsweise politischer Öffentlichkeit hat sich dramatisch verändert. Aufgrund der schwindenden Parteibindungen können sich Parteien nicht mehr (ausschließlich) auf traditionelle Mobilisierungsstrategien verlassen. Andere Strategien zur Mobilisierung und Erreichen der Wähler sind gefragt.

Diese Strategien stehen vor allem im Zusammenhang mit Veränderungen im Entstehen politischer Öffentlichkeit, die sich aus der Etablierung des Fernsehens als dominierendes Massenmedium ergeben.

3.1.1.2 Mediatisierung

„Ausgehend von den Vereinigten Staaten hat sich auch in westeuropäischen Parteiendemokratien seit den siebziger Jahren eine neue, massenmedial orientierte Handlungslogik durchgesetzt. Denn je mehr die Parteien davon überzeugt sind, dass Wahlen nicht durch milieugebundene Stammwähler, sondern durch bewegliche Wechselwähler entschieden werden, und je mehr sie an unmittelbare Wirkungen der Medien, insbesondere des Fernsehens, auf die Meinungsbildung glauben, desto intensiver versuchen sie, Personal und Inhalt der Medien zu beeinflussen und zu bestimmen“ (Plasser 1996, S. 94)

„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (Luhmann 1996, S. 9)

Die beiden Zitate veranschaulichen recht deutlich den Wandel den die traditionelle Parteiendemokratie durchlaufen hat, in der das politisch-administrative System das exklusive Zentrum der Politik war. Auch heute sind Parteien in einer repräsentativen Demokratie trotz zunehmender Elemente unmittelbarer Demokratie unverzichtbar. In der Parteiendemokratie von Hans Kelsen standen Parteien allerdings im Zentrum der politischen Öffentlichkeit. Ihnen kam eine wesentliche Aufgabe bei der Herstellung und Darstellung bzw. Vermittlung von Politik zu. Das Volk ist, wie Kelsen betont, eine Fiktion, ebenso wie der Repräsentationsgedanke nur ein Idealbild darstellt. Der Gemeinschaftswille entsteht in demokratischen Staaten, die immer unmittelbare Demokratien sind, nur durch Parteien. Die „Parteiwillen“ - also das Machtspiel der Parteien in der Demokratie – führen zur Integration von verschiedenen Gruppeninteressen und damit zu einer „mittleren Linie“ des Gemeinschaftswillens, so Kelsen. Durch die Organisation einer demokratischen Gesellschaft in Parteien wird demnach nicht nur jedem einzelnen Bürger die Möglichkeit geboten sich am demokratischen Willensbildungsprozess zu beteiligen. Die Parteien vereinigen Gleichgesinnte und integrieren deren unterschiedliche Positionen. Damit leisten Parteien laut Kelsen eine „entscheidende Vorbereitung jenes Prozesses, der (...) erst in Volksversammlung oder Parlament an die Oberfläche tritt“ (Kelsen, S. 19). Parteien stellen vom Bürgermeister der

kleinsten Gemeinde bis zum Kanzler oder Präsidenten die Verbindung zwischen Kommunalpolitik und „großer Politik“ auf nationaler Ebene dar. Mit den diversen Vorfeldorganisationen erreichen Parteien auch unterschiedliche Altersgruppen. Die ideologische Orientierung der Partei spricht verschiedene Großgruppen der Gesellschaft an („Weltanschauungsparteien“). Parteien bestimmen demnach zwar nicht alleine die demokratische Politik, sie sind aber bei politischen Entscheidungen ausschlaggebende und wichtigste Kraft. Das Parlament ist bei Kelsen der Kristallisationspunkt dieses Integrationsprozesses, der die mittlere Linie des Gemeinschaftswillens formt.

Meyer sieht noch einen weiteren Aspekt der Parteiendemokratie: Wahlen sind eher Sachplebiszite als Personenplebiszite, weil sich Parteien mit einem ausformulierten Programm zu Sachthemen gegenüberstehen (Meyer 2001, S.37). Zwar ist auch das ein in der Wirklichkeit nicht zur Gänze erfüllter Anspruch, weil Parteiführer und Parteiführungen durchaus einen ganz entscheidenden Einfluss auf die Partei und das Programm haben können und auch bei Wahlen nie das vollständige Programm ausschlaggebend ist. Aber dennoch ist das Programm einer Partei in der Parteiendemokratie ein Maßstab für das Handeln der Parteispitzen.

Heute stimmen viele der Annahmen von Kelsen zur Rolle von Parteien in der Demokratie nicht mehr. Parteien sind zwar nach wie vor ein unverzichtbares Element demokratischer Politik. Sie sind aber nicht mehr das Zentrum politischer Meinungs- und Willensbildungsprozesse, sondern lediglich ein Akteur unter vielen. Auch das Parlament verliert seine zentrale Rolle als wichtigste Arena des demokratischen Kräftespiels der Parteien. Es ist lediglich ein Schauplatz der Politik neben anderen. Grund dafür ist zunächst die oben geschilderte Individualisierung der Gesellschaft. Nicht nur die Stammwählerschaft der Parteien schrumpft beständig, sondern auch die politische Partizipation der Bürger in Parteiorganisationen nimmt ab. Dadurch verringert sich der unmittelbare Einfluss von Parteien auf die Wähler und ihr Mobilisierungspotenzial bei Wahlen sinkt gemessen an den traditionellen Strategien. Allerdings kommt zu den laufenden Individualisierungsprozessen eine nicht weniger bedeutende Entwicklung hinzu: Die Dominanz der Massenmedien, insbesondere des Fernsehens, bei der Herstellung politischer Öffentlichkeit. Wie das Zitat von Luhmann verdeutlicht, sinkt der tatsächliche

Kontakt der Bürger mit der Politik. Politik wird vor allem über Massenmedien wahrgenommen und ist heute vor allem ein TV-Event. Plasser spricht in diesem Zusammenhang von „Tele-Demokratie“ (Plasser 1997). Die Strategien der Politik zur Bindung und Mobilisierung von Wählern haben sich daher grundlegend geändert und zwar im Sinne einer Annäherung an die Logik der Massenmedien.

Eine Fülle von kommunikations- und sozialwissenschaftlicher Literatur versucht die Logik der Massenmedien zu fassen. Ich will mich hier auf drei Elemente beschränken, die aus meiner Sicht im Zusammenhang mit dem Wandel von der traditionellen Parteiendemokratie zur Mediendemokratie entscheidend sind:

- Beschleunigung: Massenmedien führen zu einem gesteigerten Tempo gesellschaftlicher Abläufe

- Distanzierung bzw. Entfremdung: Der direkte Bezug der Politik zum Alltag geht verloren und muss von den Rezipienten selbst hergestellt werden

- Wandel von der Text- zur Bildkultur.

3.1.1.2.1 Beschleunigung

Luhmann sieht die Massenmedien als ein eigenes Funktionssystem der Gesellschaft, das durch eigene Gesetzmäßigkeiten und autopoietische Geschlossenheit gekennzeichnet ist (Luhmann 1996). Der Code des Systems der Massenmedien ist demnach die Unterscheidung in Information und Nichtinformation, der alle Bereiche der Massenmedien (Nachrichten und Berichte, Werbung, Unterhaltung) nach unterschiedlichen Auswahlkriterien folgen. Dabei verweist Luhmann auf „die wohl wichtigste Besonderheit des Codes Information/ Nichtinformation“: das Verhältnis zur Zeit. Information lässt sich nicht wiederholen, sie ist ein Ereignis. Informationen werden, sobald sie sich ereignen, zu Nichtinformationen. Die Massenmedien verwandeln also ständig Informationen in Nichtinformationen. Alles, was in den Massenmedien schon einmal gehört, gesehen und inszeniert wurde, hat keinen Informationswert mehr für das System (es sei denn, es lässt sich ein neuer Aspekt darstellen oder es handelt sich um - im Jahreszyklus - aktualisierbare Informationen). Das System der Massenmedien lebt also von Neuigkeiten, d.h. Informationen, die auf etwas hinweisen, das neu ist, also anders als vorher (alt). Es geht um den „Unterschied, der einen Unterschied macht“ (Luhmann 1996, S. 47). Dadurch zwingt sich das System selbst, ständig für neue Informationen zu sorgen, was - wie Luhmann betont – die Möglichkeit der Wiederholung nicht ausschließt (etwa durch die Indikatoren der Wichtigkeit und Erinnerungswürdigkeit). Massenmedien streuen Informationen so breit in den von ihnen geprägten Gesellschaften, dass unterstellt werden kann, dass sie allen bekannt sind. Die gesamte massenmediale Information ist jedoch immer auf Anschlussinformation aufgebaut (wie auch in andern Funktionssystemen). Massenmedien bewirken laut Luhmann eine „gesellschaftsweite soziale Redundanz, also den unmittelbar anschließenden Bedarf für neue Information“ (Luhmann 1996, S.43).

Für die Wechselwirkung zwischen Massenmedien und Politik hat dieses Verhältnis zur Zeit eine fundamentale Auswirkung. Es ergibt sich ein Widerspruch zwischen „medialer Produktionszeit“ und „politischer Prozesszeit“ (Meyer 2001, S.63ff.). Politik läuft in mitunter langwierigen Prozessen der Entscheidungsfindung ab, bei denen möglichst viele verschiedene Akteure einbezogen werden, um einen möglichst breiten Konsens zu finden. Auch wenn dieser Kompromiss mitunter der kleinste gemeinsame Nenner ist, muss er dennoch mehrheitsfähig sein. Diese politischen Prozesse dauern bei zunehmend komplizierten Problemlagen auch entsprechend länger bis ein Ergebnis zustande kommt. Wie Meyer betont, ist „die ausgedehnte Prozessdauer selbst eine der wichtigsten Erfolgsbedingungen politischer Praxis und daher dem Politischen selbst unbedingt angemessen“ (ebd. S.65). Mediale Produktionszeit hat mit langwierigen Prozessen hingegen nichts zu tun. Wie schon zuvor festgestellt, ist Information in den Massenmedien ein inszeniertes Ereignis. Nicht abgeschlossene Prozesse lassen sich aber nur schlecht präsentieren oder zumindest kostet ihre Darstellung mehr Zeit und Aufwand. Massenmedien sind an Prozessen daher nur interessiert, wenn sie sich als abgeschlossene Episode darstellen lassen. Ein Zwischenergebnis ist gefragt. Der Journalist ist daher gegenüber dem Politiker dazu gezwungen, lästig nach dem Stand der Dinge zu fragen und ein Ergebnis zu konstruieren, wo vielleicht noch gar keines ist. Dieser Drang zu abgeschlossenen Ereignissen wird durch den Wettbewerb privatwirtschaftlich geführter Massenmedien noch beschleunigt, weil angesichts der technischen Möglichkeiten die Produktion und Distribution von Informationen nahezu in Echtzeit geschieht. Wenn Information eine Ware ist, die sich bei der ersten massenmedialen Präsentation in Nichtinformation verwandelt, sind schnelle Infos gefragt. Aufgrund der kurzen Produktionszeit und des Ereignischarakters der Information neigen Massenmedien dazu, den ersten Eindruck oder den frühen Stand eines politischen Prozesses zu manifestieren. Es muss ein präsentierbares Ergebnis konstruiert werden. Ändert sich der Stand der Dinge, was in einem politischen Prozess der Entscheidungsfindung nur natürlich ist, wird dies als Abweichen von der ursprünglich berichteten Anfangsposition dargestellt. Die Gesetzmäßigkeiten des Systems der Massenmedien üben daher auf das politische System mit seinen langen Prozesszeiten einen Beschleunigungsdruck aus (aber auch andere Funktionssysteme wie die Wirtschaft tun dies).

3.1.1.2.2 Distanzierung bzw. Entfremdung

Massenmedien bedienen sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung und Distribution. Entscheidend bei der massenmedialen Kommunikation ist, dass „keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfänger stattfindet“ (Luhmann 1996, S. 11). Natürlich sind auch bei klassischen Massenmedien wie Zeitungen Ausnahmen möglich (z.B. Leserbriefe). Auch Internet und interaktive Technologien ermöglichen durchaus Interaktion zwischen Sender und (einzelnen) Empfängern. Aber das System der Massenmedien ist von dieser Interaktion nicht abhängig. Die Kommunikation der Massenmedien funktioniert auch ohne diese Interaktion mit potenziellen Empfängern. Die Massenmedien konstruieren somit eine mediale Realität, so Luhmann. Dies wird dezentral durch Sendebereitschaft der Produzenten (Sender) und Einschaltinteresse (der potenziellen Empfänger) koordiniert. Die Realitätskonstruktion basiert auf Vermutungen (über Zumutbarkeit, Akzeptanz, Relevanz, etc.) der Akteure. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von der „Realität der Massenmedien im doppelten Sinne“ (ebd. S.12 ff.):

- Die Realität der Massenmedien besteht in der Realität ihrer eigenen Operationen: Luhmann sieht diese „reale Realität“ der Massenmedien als die systemintern ablaufenden und das System durchlaufenden Kommunikationen. Sie prägt die Konstruktion der Realität und ist auf weitere Kommunikation ausgerichtet.

- Die zweite Realität oder die „Realitätsverdoppelung“ sieht Luhmann in dem, was für die Massenmedien oder durch sie für andere als Realität erscheint. Diese Realität beschreibt Luhmann als eine „Sequenz von beobachtenden Operationen“, die durch die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz eines beobachtenden Systems entsteht.

Die zweite Realität ist jene, die der Bürger bzw. Wähler, wenn er nicht im traditionellen Sinne politisch aktiv ist (in Parteiorganisationen, Verbänden, etc.)[3], als politische Realität wahrnimmt. Dadurch ergibt sich eine gewisse Distanzierung der Politik vom Bürger und umgekehrt. Elektronische Medien verursachen durch ihre Verbreitung in Echtzeit eine Überwindung von Raum und Zeit. Postman sieht darin einen Bruch zu traditionellen Massenmedien im Printbereich, der bereits mit dem Telegraphen eingesetzt hat und mit dem Fernsehen endgültig dominant geworden ist. Information werde dadurch „dekontextualisiert“ (Postman 1988, S.83ff.). Vor der elektronischen Echtzeit-Distribution von Information hatten für politische Gemeinwesen Informationen aus der unmittelbaren Umwelt wesentlich höhere Relevanz. Politik wurde wesentlich von lokalen Parteiorganisationen bestimmt. Politische Partizipation passierte vor Ort. Flusser formuliert es so:

„Früher wurden Informationen im öffentlichen Raum publiziert, und die Menschen mussten ihr Heim verlassen, um an sie heranzukommen – in die Schule gehen, in Konzerte, zu Vorträgen und in Supermärkte. Früher waren die Menschen ‚politisch engagiert’, ob sie nun wollten oder nicht. Aber heute werden Informationen direkt von privaten Räumen aus in private Räume übertragen, und die Menschen müssen zuhause bleiben, um an sie

heranzukommen“ (Flusser 2002, S.137).[4]

Der „Reality Check“, also das Überprüfen an den eigenen Erfahrungen und Lebensumständen, bleibt im Zeitalter des Fernsehens nicht aus, funktioniert aber nicht mehr unmittelbar (wie z.B. in einer Gemeinde). Der Reality Check funktioniert vielmehr, indem die über Massenmedien wahrgenommene politische Realität mit der eigenen Lebenswelt verglichen wird. Bedeutung entsteht durch Relevanz im Alltag der Rezipienten (Fiske 2000), der Rezipient muss also selbst den Kontext herstellen. Dabei werden ihm natürlich von den Massenmedien auch vorgefertigte Muster angeboten, nicht nur in Nachrichtenformaten, sondern durchaus auch in Unterhaltungsformaten (Dörner 2001, Fiske 2003). Decken sich die Realitätsdarstellungen der Politik in den Massenmedien nicht mit der eigenen Realitätswahrnehmung im Alltag, entsteht (früher oder später) ein Glaubwürdigkeitsverlust der Politik.

3.1.1.2.3 Bildkultur

Wissen existiert historisch in drei Formen: in Sätzen, Ziffern und Bildern. Im Zeitalter des Buchdrucks war der Text dominant. Sätze und Ziffern bestimmten also das Wissen über und damit das Bild der Welt. Mit der Etablierung des Fernsehens als dominantes Massenmedium hat auch ein Wandel von der Text- zur Bildkultur stattgefunden. Postman spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen Epistemologie, deren Vorhut bereits Fotografie und Telegraph waren und die mit dem Fernsehen endgültig die alte Epistemologie des Textes abgelöst hat (Postman 1988). Eine Textkultur wie die des Buchdruckes ist demnach rational und argumentativ orientiert, während eine Bildkultur wie die des Fernsehens emotional orientiert ist. Postman hält fest, dass andere Formen des kommunikativen Austausches erhalten bleiben. Aber das Fernsehen - und damit die Bildkultur - dominiert und zeigt ihre Auswirkungen auch auf andere Medien (eben auf die textbasierten Printmedien). Postman meint, dass die „modernen Ideen vom Gebrauch des Verstandes überwiegend durch das geschriebene Wort geprägt sind“, wie auch die modernen Vorstellungen über Erziehung, Wissen, Wahrheit und Information (Postman 1988, S.42f.). Die Bildkultur des Fernsehens verschiebt die Gewichtungen demnach in Richtung einer „Dekontextualisierung“ von Information und einer Emotionalisierung. Postman geht daher von einem drohenden Kulturverfall aus. Man muss diese negative Einschätzung nicht teilen, um seiner Analyse zuzustimmen, dass das Fernsehen Öffentlichkeit und die Art des Diskurses verändert hat. Das Fernsehen ist heute in Nordamerika und Europa das weitaus wichtigste Medium, aus dem die überwiegende Mehrheit der Menschen ihre Informationen über Politik und Gesellschaft beziehen. Auch der ausgeprägte Unterhaltungscharakter und die hohe Emotionalität des Fernsehens sind klar ersichtlich und vermehrt Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.

Darüber hinaus gilt das Bild als Darstellung der Wirklichkeit. Die bildliche Darstellung, insbesondere in Film und Fernsehen, wird als unverfälschte Wiedergabe einer realen Wirklichkeit gesehen. Zwar stehen die audiovisuellen Inhalte der Massenmedien immer unter dem Verdacht der Manipulation, aber trotzdem wird darauf aufgebaut und angeschlossen (Luhmann 1996, S.10). Im Zuge einer zunehmenden Medienerziehung nimmt der kritische Umgang mit den Inhalten der Massenmedien zu, insbesondere in den Bereichen Werbung, Nachrichten und Berichte. Aber dennoch gilt das Fernsehen als das glaubwürdigste Medium (vgl. Plasser 1997). Die Dominanz der Bildkultur hat wesentliche Auswirkungen auf die Wissens- und Informationsvermittlung und auf öffentliche Kommunikation. Durch die naive Vorstellung, ein Foto bzw. eine Filmaufnahme sei ein korrektes Abbild der Wirklichkeit, ergeben sich gewisse Manipulationspotenziale. Jedes Bild ist eine Auswahl, eine Konstruktion. Inszenierung, Symbolismus und Emotionalität gewinnen daher in der öffentlichen Kommunikation und damit zwangsläufig auch in der Politik an Bedeutung. Dabei müssen die genannten Elemente nicht unbedingt negativ bzw. manipulativ eingesetzt werden (z.B. bei TV-Diskussionen). Es bieten sich aber zahlreiche Möglichkeiten der Inszenierung bis hin zu verzerrter oder verfälschter Darstellung. So nennt Plasser Beispiele aus dem US-Präsidentschaftswahlkampf 1988 (Plasser 1996, S.98), Bühl den Irak-Krieg von 1991.

Weitere problematische Auswirkungen ergeben sich zudem durch die Digitalisierung des Bildes. Hat die Ablösung der Buchform als bislang dominante Form der Informationsvermittlung durch die Bildform nicht ohnedies schon gravierende Konsequenzen (Postman 1988, Bühl 2000), so kommen nun die nahezu grenzenlosen Möglichkeiten der Bildmanipulation hinzu. Bühl unterscheidet (nach Paul Virilio) drei Bildzeitalter: Im Zeitalter der formalen Logik (Realität) versuchen Bilder die Realität wiederzugeben (Malerei, etc.). Im Zeitalter der dialektischen Logik (Aktualität) geben Bilder eine genaue und aktuelle Abbildung der Realität wieder (Foto, Film). Im dritten Zeitalter der paradoxen Logik (Virtualität) wird das Bild als Wissensform qualitativ aufgewertet. Gleichzeitig wird aber durch perfektionierte digitale Bildbearbeitungstechnologien der Wahrheitsgehalt von Bildern massiv in Frage gestellt (Bühl 2000, S. 354ff.).

3.2 Deliberative Demokratie?

Die im vorangegangenen Kapitel erörterten Veränderungen und neuen Herausforderungen für Politik stehen naturgemäß auch verstärkt im Zentrum demokratietheoretischer Überlegungen. Das Parlament als zentrale Arena und eigentliches politisches Beratungsforum hat einen Bedeutungsverlust zugunsten zahlreicher anderer Beratungsorgane wie parlamentarische Ausschüsse, Kommissionen, Beiräten und Sachverständigenräten, Expertengruppen und einzelnen Expertenpersönlichkeiten sowie Bürgerinitiativen, Runde Tische, NGOs und dergleichen mehr hinnehmen müssen. Unter dem Begriff der Zivilgesellschaft werden diese „neuen“ Beratungsforen allgemein als eine Ergänzung des politisch-administrativen Systems verstanden und unter dem Aspekt der Effizienzverbesserung staatlicher Politik betrachtet (Bürokratieabbau, Entpolitisierung im Sinne des Abbaus der Parteienstaatlichkeit, „schlanker Staat“). Dieses zivilgesellschaftliche Politikverständnis ist vom Modell der deliberativen Demokratie aufgegriffen worden. Auf den ersten Blick entspricht es dem entgrenzten Politikverständnis wie ich es im ersten Kapitel beschrieben habe am besten, weil es zumindest theoretisch die Trennung zwischen politisch-administrativem System und Zivilgesellschaft (als Utopie) durch Deliberation unter Gleichen überwinden will. Im Folgenden werde ich dieses Demokratiemodell näher beschreiben und argumentieren, warum gerade das Konzept der Deliberation dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Politikbegriff nicht entspricht, aber dennoch einen theoretischen Ausgangspunkt für die These von einer Politisierung der Populärkultur bieten kann.

3.2.1 Das Modell der deliberativen Demokratie

Unter dem Begriff der „deliberativen Demokratie“ (Habermas) werden Theorien zusammengefasst, bei denen Elemente der öffentlichen Diskussion, der Argumentation und des Urteilsvermögens im Fokus des Interesses stehen. Der Begriff Deliberation geht auf das lateinische Wort „deliberare“ zurück und bedeutet Abwägen, Erwägen, Überlegen oder Beratschlagen. Als Substantiv verwendet („deliberatio“) kann es auch als „beratende Rede“ übersetzt werden. Im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch wird das Wort „deliberation“ sowohl im Sinne von „consideration“ als auch „discussion“ gebraucht. Deliberation beschreibt damit gleichzeitig zwei verschiedene, aber dennoch zusammenhängende Aspekte von Meinungs- und Willensbildung: das individuelle Abwägen und die gemeinsame Beratschlagung und Diskussion (Lösch 2005, S.10).

Lösch zählt die deliberative Demokratie zu den prozeduralen Theorien, die sie von entscheidungszentrierten und kontextbezogenen Demokratietheorien unterscheidet. Entscheidungszentrierte Modelle orientieren sich grundsätzlich an der individualistischen Rationalität des maximalen Eigennutzens. Daher wird der Meinungs- und Willensbildung ein geringeres Gewicht als dem Abstimmungs- und Entscheidungsprozess eingeräumt, der hier im Wesentlichen ökonomisch ausgerichtet ist. Zu den entscheidungstheoretischen Ansätzen gehören elitistische und ökonomistische Theorien ebenso wie pluralistische und systemtheoretische Ansätze (ebd. S.122ff.). Pluralistische Demokratietheorien weisen zwar der Inputseite des politischen Prozesses großes Gewicht zu, allerdings konzentriert sich politisches Handeln vor allem bei Großorganisationen wie Parteien und Verbände. An die Stelle kollektiver Beratung treten individualisierte Verhandlungsmechanismen, die auf privaten Vertragsakten und Tauschhandel basieren. Dadurch kommt es zu einer Privatisierung und Individualisierung des politisch-öffentlichen Bereichs und zu einer Umgehung kollektiver politischer Beratungs- und Verhandlungsstrukturen. Die kontextbezogenen Demokratietheorien lehnen im Gegensatz zu den entscheidungszentrierten Ansätzen eine universalistische Betrachtungsweise des Politischen ab und gehen stattdessen von partikularen und kulturspezifischen Erfahrungen der Menschen aus. Lösch zählt dazu den Kommunitarismus und verschiedene Varianten der postmodernen Demokratie (Barber, Laclau, Mouffe). Die Vertreter kontextbezogener Theorien kritisieren die Defizite liberaler Politiktheorien und wenden sich entschieden gegen eine elitäre und ökonomistische Vereinseitigung der Demokratietheorie (ebd. S.133ff.).

Deliberative Demokratie ist in der Tradition der partizipatorischen Demokratietheorie zu sehen und auch als Gegenpol zu stärker elitistischen und entscheidungszentrierten ökonomistischen Demokratie- und Politikkonzeptionen zu verstehen (ebd. S.151). Deliberative Demokratietheorien gehen von einer prozeduralen Öffentlichkeit aus. Die Abstimmung unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen und Meinungen erfolgt demnach über Beratungsprozesse und Konsensfindung und zwar nicht nur in etablierten politischen Institutionen der Demokratie, sondern ganz wesentlich außerhalb des politisch- adminstrativen Systems in Form einer selbstorganisierten Öffentlichkeit. John Dryzek unterscheidet eine liberale und eine diskurstheoretische Konzeption der deliberativen Demokratie. Hier wird von der diskurstheoretischen Variante ausgegangen. Im Gegensatz zur liberalen Konzeption bleiben Deliberationsprozesse bei der diskurstheoretischen Deliberation nicht auf eine verstärkte politische Partizipation der Bürger beschränkt, die letztendlich nur zu einer Effizienzsteigerung des Staates und der demokratischen Institutionen führt. Deliberation hat darüber hinaus weit reichende Auswirkungen auf die Herstellung von politischer Öffentlichkeit. Partizipatorische Ansätze gestehen den Deliberationsprozessen zwar eine nicht unwesentliche Rolle zu, aber die politische Öffentlichkeit bleibt nach wie vor auf die etablierten demokratischen Institutionen bezogen. Deliberative Politik hat dann sozusagen einen „vor-politischen Charakter“. Sie dient dann nur dem Zuarbeiten zur eigentlichen Politik, dem politisch-adminsitrativen System, und steigert dessen Effizienz. Daher stehen bei partizipatorischen Ansätzen, aber letztendlich auch bei der liberalen Variante deliberativer Demokratie, eine verbesserte Einbindung der Bürger in politische Prozesse und die verstärkte Möglichkeit der kollektiven Handlungsfähigkeit der Bürger im Zentrum.

Der diskurstheoretische Ansatz deliberativer Demokratie (wie er ursprünglich von Habermas begründet wurde) misst Deliberationsprozessen hingegen eine entscheidende Rolle bei der Herstellung von politischer Öffentlichkeit bei und emanzipiert den Begriff des Politischen vom politisch-administrativen System. Deliberative Demokratie ist bei Habermas eben nicht von der kollektiven Handlungsfähigkeit der Bürger abhängig, sondern „von der Institutionalisierung entsprechender Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen sowie vom Zusammenspiel der institutionalisierten Beratungen mit informell gebildeten öffentlichen Meinungen“ (Habermas 1992, S.362). Die Diskurstheorie „muss nicht länger mit dem Begriff eines im Staat zentrierten gesellschaftlichen Ganzen operieren, das als zielorientiertes handelndes Subjekt im Großen vorgestellt wird“, sondern geht von einer dezentrierten Gesellschaft aus, die auf Prozedualisierung der Volkssouveränität und die Rückbindung des politischen Systems an die peripheren Netzwerke der politischen Öffentlichkeit setzt (ebd.). Auch von „bewusstseinsphilosphischen Denkfiguren“ verabschiedet sich der diskurstheoretische

Ansatz der Deliberation. Stattdessen sei von einer „höherstufigen Intersubjektivität von Verständigungsprozessen“ auszugehen, die sich „über demokratische Verfahren oder im Kommunikationsnetz politischer Öffentlichkeit vollziehen“. Es bilden sich Arenen subjektloser Kommunikation, in denen eine mehr oder weniger rationale Meinungs- und Willensbildung über gesamtgesellschaftlich relevante Materien stattfindet. Der Diskurs ist demnach für Habermas eine Art von allgemeiner und herrschaftsfreier Diskussion, die durch Argumentation und gleiche Kommunikationsvoraussetzungen konstituiert wird. Dieser Diskursbegriff geht davon aus, dass Herrschaft durch die Verzerrung von Kommunikation konstituiert wird und daher kommunikative Zugangsbarrieren zu überwinden sind. Darin unterscheidet sich Habermas ganz wesentlich von jenem Diskursbegriff Michel Foucaults wie ich später noch ausführen werde.

3.2.2 Kritik am deliberativen Demokratiemodell

3.2.2.1 Ungleichheit und diskursive Macht

Habermas unterscheidet zwei Formen von Öffentlichkeit: die demokratisch verfasste und regulierte, als politisch etikettierte Öffentlichkeit und die schwach institutionalisierte, mehr oder weniger spontane Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft, die er als intermediären Raum zwischen Staat und Ökonomie versteht. Dabei fasst er die Diskurse der Lebenswelt, also der nicht organisierten Öffentlichkeit oder Zivilgesellschaft, als im Wesentlichen herrschaftsfrei auf. Das Prinzip allgemeiner und herrschaftsfreier Diskussion unter Gleichen soll zur gesellschaftlichen Konsensfindung und Problemlösung beitragen. Herrschaft werde durch Verzerrung der Kommunikation und ungleiche Sprachcodes begründet. Als Lösung gilt daher die Herstellung gleicher Bedingungen, die Institutionalisierung entsprechender Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen.

Diese Sichtweise, die lediglich die kommunikative Einbeziehung der Bürger in den demokratischen Deliberationsprozess forcieren will, verleugnet bestehende gesellschaftliche Hegemonien und unfreiwillige Assoziationen. Die deliberative Theorie setzt die Gleichheit derer voraus, die miteinander sprechen und beraten. Sie basiert daher auf einer egalitären rationalistischen Utopie und blendet bestehende Ungleichheiten aus. In liberaler Tradition macht die deliberative Demokratie glauben, dass das Leben des Einzelnen und der politischen Gemeinschaft das „Werk jenes liberalen Helden, des autonomen Individuums, das seine oder ihre Mitgliedschaften frei wählt“, ist (Walzer 1999, S.7).

[...]


[1] Aus „Die Zeit“ Nr. 33 vom 11. 08. 2005: „Die Macht der Jugend“ von Jörg Lau, online unter: http://www.zeit.de/2005/33/Titel_2fJugend_33

[2] Nähere Ausführungen zum Begriff der reflexiven Moderne finden sich u.a. bei Beck, U./ Bonß, W./ Lau Ch.: Theorie reflexiver Modernisierung – Fragestellung, Hypothesen, Forschungsprogramme, in: Beck, U./ Bonß, W.: Die Modernisierung der Moderne, S. 11 – 59, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2001.

[3] Und selbst dann haben die Massenmedien an der Wahrnehmung von Politik einen wesentlichen Einfluss, weil die Mehrheit der Funktionäre in den unteren und mittleren Ebenen der Parteien keinen Einblick in die Führungsebene hat. Diese wird immer unabhängiger von der Basis, gleichzeitig aber immer abhängiger von politischen Prozessen außerhalb der klassischen Institutionen der Demokratie.

[4] Das Zitat bezieht sich auf die „Revolution der Bilder“ (so der Titel des Kapitels) in der vom Fernsehen geprägten Medienkultur. Flusser verwendet einen weiten Begriff des Politischen im Hinblick auf „öffentliche Räume“.

Final del extracto de 159 páginas

Detalles

Título
"Bigger than life"
Subtítulo
Popkulturelle Unterhaltung im Kino als politische Arena
Universidad
University of Vienna
Calificación
1,0
Autor
Año
2006
Páginas
159
No. de catálogo
V115992
ISBN (Ebook)
9783640175147
ISBN (Libro)
9783640175178
Tamaño de fichero
2173 KB
Idioma
Alemán
Notas
Eine DVD mit den Beispiel-Filmsequenzen liegt nicht bei!
Palabras clave
Bigger
Citar trabajo
Mag. phil. Erwin Schotzger (Autor), 2006, "Bigger than life", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115992

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Título: "Bigger than life"



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