Im Jahre 1912 verfaßte der Theaterleiter Carl Hedinger eine Invektive gegen den damals noch jungen Film und bezeichnete ihn als „kulturellen Krebsschaden“.1 Achtzig Jahre später – andere Medien und andere Krankheiten drängten sich in der Zwischenzeit in den Vordergrund des öffentlichen Bewußtseins – macht Neil Postman gegen den Computer und dessen Auswirkungen Front: „Wir leiden unter einer Art von kulturellem Aids.“2 Demgegenüber sieht der Philosoph Istvan Bodnar durch die Neuerungen des Computers „eine Großkultur neuer Art“3 entstehen, und Walter Hasenclever reklamierte 1913 für den Film: „Von allen Kunstfertigkeiten unserer Zeit ist der Kintopp die stärkste“.4 Die Frage, wer von ihnen recht hat und ob man für oder gegen die neuen Medien sein soll, wird in vorliegender Arbeit nicht beantwortet werden. Gleichwohl steht diese Frage meistenteils im Zentrum der folgenden Untersuchung, denn es ist gerade ihre Unbeantwortbarkeit, die den Reiz ausmacht, sie einer eingehenden Analyse zu unterziehen. Solange Medien neu sind, löst die Frage, ob sie denn gut oder von Übel seien, ein beträchtliches Redebedürfnis aus. Der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie besteht in der eigentümlichen Sorte Text, in der sich dieses Redebedürfnis niederschlägt und die in Zeiten einer „Medienrevolution“ enorme Blüten treibt: Texte, die mit zumeist unverhältnismäßig anmutender Leidenschaft auftreten und sich mit jenem Aplomb anheischig machen, „das Wesen“ eines neuen Mediums zu bestimmen und es zu bewerten, der gleichermaßen ins Euphorische wie ins Hysterische umschlagen kann. Es werden also keine einzelnen Medien untersucht oder worin ihr Beitrag zu einer „Medienrevolution“ besteht, sondern die Art und Weise wie über neue Medien gesprochen und geschrieben wird. Aufgrund ihrer ähnlichen Formen konstituiert die Rede über verschiedene neue Medien einen eigenen und bislang noch nicht systematisch erschlossenen Objektbereich.5 Die gegenwärtig sich vollziehende „digitale Revolution“ hat historische Vorläufer. Nicht erst die „digitale Revolution“ stellt sich in die Tradition der Erfindung des Buchdrucks, auch für den Film wurde damals reklamiert, daß es sich um die größte Neuerung seit Gutenberg handele. Die „Buchdruckrevolution“ ihrerseits gab vor, Schrift und Sprache neu zu erfinden, „Medienrevolutionen“, auf die sich wiederum auch Film und Computer beziehen. Mediengeschichte scheint die Geschichte von „Medienrevolutionen“ zu sein.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Von der „Kinopest“ zur „siebten Kunst“. Die Kontroverse um den frühen Film.
- 2.1. Zwischen Faszination und moralischer Entrüstung: Die Kinoreformbewegung.
- 2.1.1. Phasen und Entwicklung der Kinoreformbewegung.
- 2.1.2. Positionen und Fraktionen.
- 2.1.3. Gesellschaftliche, politische und ideologische Implikationen
- 2.1.4. Integrations- und Desintegrationsstrategien
- 2.2. Zwischen wohlwollender Süffisanz und ästhetischer Entrüstung: Die Auseinandersetzung der Literaten mit dem Film in der Kino-Debatte.
- 2.2.1. Die Krise des Wortes
- 2.2.2. Der Kino-Theater-Streit
- 2.2.3. Das Kino-Buch.
- 2.2.4. Ausgrenzung und Assimilation
- 2.3. Das Schmuddelkind in den Tempeln der Kunst: Frühe Filmtheorien
- 2.3.1. Ästhetische Nobilitierung des Films: Kunstgriffe
- 2.3.2. Das Ende der Aura – Rückwirkungen des Films auf den Gesamtcharakter der Kunst.
- 3. Unterwegs nach Digitalien. Die Kontroverse um digitale Medien.
- 3.1. „Cyberdemokratie“. Die politischen Chancen und Gefahren digitaler Medien als Gegenstand des aktuellen Mediendiskurses.
- 3.1.1. Das Internet provoziert, den Status quo der politischen Kultur zu bilanzieren
- 3.1.2. Zur politischen Theorie des Internetdiskurses.
- 3.1.3. Das Internet als Medium des ,,herrschaftsfreien Diskurses”
- 3.1.4. Die Genese des Begriffs politischer Öffentlichkeit bei Habermas.
- 3.1.5. Das Internet ermöglicht der „kritischen Medientheorie” ein Comeback.
- 3.2. „Computerisierung“ und „Digitalisierung“ und der Strukturwandel von Raum und Zeit
- 3.2.1. Mimesis und Simulation: Großklaus' Modell der Geschichte von Medien und Wahrnehmungswandel.
- 3.3. Die Neuordnung von Wissensproduktion und Wissensverfügung durch den Computer als Gegenstand des Diskurses.
- 3.3.1. Externalisierungen von Gedächtnis und Gehirn. Die Bezugnahme auf die „,Medienrevolutionen“ Mündlichkeit/Schriftlichkeit und Buchdruck.
- 3.3.2. Memex und Xanadu. Der Wunschtraum von der universalen Bibliothek
- 3.3.3. Externalisierung, Vernetzung, Vollständigkeit. In der „digitalen Revolution” bekommt Wissen eine neue Qualität
- 3.3.4. Ein neues Denken!? Die Debatte um „Künstliche Intelligenz” verlagert ihren Schauplatz.
- 4. Homologe Strukturen der „Medienrevolutionen”.
- 4.1. Das Polarisierungspotential eines neuen Mediums.
- 4.2. Epochenschwellenbewußtsein.
- 4.3. „Wirklichkeitsverluste“ und technische Tore
- 4.4. „Anwendungsunbestimmtheit“ und „Universalcharakter”
- 5. Exkurs: Die Magie des Digitalen.
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Dissertation untersucht die Etablierung neuer Medien im Spiegel ihrer Diskurse. Sie analysiert, wie die Einführung von neuen Medien wie Film und digitale Medien in der Gesellschaft aufgenommen und in verschiedenen Diskursen verhandelt wurde. Dabei werden die jeweiligen Kontroversen, die sich um diese Medien entwickelt haben, im Kontext der jeweiligen historischen und kulturellen Bedingungen analysiert.
- Die Entstehung von Diskursen um neue Medien
- Die Rolle von Technologie und Kultur im Medienwandel
- Die Bedeutung von Diskursen für die Integration neuer Medien in die Gesellschaft
- Die Auswirkungen von Medien auf gesellschaftliche Normen und Werte
- Die Transformation von Kultur und Kommunikation durch neue Medien
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Fragestellung der Dissertation und den Forschungsansatz vor. Kapitel 2 untersucht die Kontroverse um den frühen Film. Es analysiert die Kinoreformbewegung, die Auseinandersetzung der Literaten mit dem Film und die Entstehung der ersten Filmtheorien. Kapitel 3 widmet sich der Kontroverse um digitale Medien. Es beleuchtet die politischen Chancen und Gefahren des Internets, die Auswirkungen der Digitalisierung auf Raum und Zeit sowie die Neuordnung von Wissensproduktion und Wissensverfügung durch den Computer. Kapitel 4 untersucht die homologen Strukturen der „Medienrevolutionen“ und analysiert die Polarisierungspotenziale, das Epochenschwellenbewußtsein, die „Wirklichkeitsverluste“ und die „Anwendungsunbestimmtheit“ neuer Medien. Kapitel 5 befasst sich mit der „Magie des Digitalen“ und erforscht die Faszination und die Ambivalenz der digitalen Welt.
Schlüsselwörter
Medienrevolutionen, Diskursanalyse, Film, Kino, Digitalisierung, Internet, politische Kultur, Medienwandel, Kulturwandel, Wissensproduktion, Wahrnehmungswandel, Mimesis, Simulation, Künstliche Intelligenz.
- Quote paper
- Dr. Tilman Welther (Author), 2000, Medienrevolutionen und Redereflexe - Die Etablierung neuer Medien im Spiegel ihrer Diskurse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116017