Die Beziehung Chinas zu Russland unter besonderer Berücksichtigung der Volksbefreiungsarmee


Tesis, 2007

155 Páginas, Calificación: 2


Extracto


INHALTSVERZEICHNIS

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Die Theorie des politischen Realismus
2.1. Allianzen
2.2. „Balancing oder Bandwagoning”
2.3. Hegemonie

3. Die Volksrepublik China als internationaler Akteur
3.1. Ziele der chinesischen Außen- und Sicherheitspolitik
3.1.1. Schwierigkeiten in der chinesischen Außen- und Sicherheitspolitik

4. Der politische Aufbau der Volksrepublik China

5. Die Volksbefreiungsarmee (VBA)
5.1. Die Rolle der Volksbefreiungsarmee in der Politik
5.1.1. Subarena der nationalen strategischen Weisungen
5.1.2. Subarena der Außenpolitik
5.1.3. Subarena der Verteidigungspolitik
5.1.4. Die Volksbefreiungsarmee unter Jiang Zemin
5.1.5. Die Volksbefreiungsarmee unter Hu Jintao
5.2. Aufbau und Struktur der Volksbefreiungsarmee
5.2.1. Die Zentrale Militärkommission (ZMK)
5.2.2. Das Verteidigungsministerium
5.2.3. GSD (General Staff Department - Generalstab)
5.2.4. GPD (General Political Department)
5.2.5. GLD (General Logistics Department)
5.2.6. GAD (General Armaments Department)
5.2.7. COSTIND (Commission on Science, Technology and Industry for National Defence)
5.2.8. Die Landstreitkräfte (Heer)
5.2.8.1. Rapid Reaction Unit (RRU, schnelle Eingreiftruppe)
5.2.9. Die Luftstreitkräfte (PLAAF – People’s Liberation Army Air Force)
5.2.10. Die Seestreitkräfte (PLAN – People’s Liberation Army Navy)
5.2.11. Die strategischen Streitkräfte: Die Zweite Artillerie
5.2.12. Militärausgaben
5.3. Chinas Bedrohungsperzeptionen
5.4. Die Doktrin und Sicherheitsstrategie der Volksbefreiungsarmee
5.4.1. „Volkskrieg“
5.4.2. „Volkskrieg unter modernen Bedingungen“
5.4.3. „Krieg unter High-Tech-Bedingungen“
5.4.3.1. „Information War“
5.4.3.2. „Asymmetrische Kriegsführung“
5.4.3.3. Seemacht China
5.5. Modernisierung der Armee

6. Die Beziehung der Volksrepublik China zu Russland
6.1. Geschichte der Zusammenarbeit
6.2. Politische Zusammenarbeit
6.3. Militärische Kooperation
6.3.1. Waffenhandel und Militärtechnologie
6.3.1.1. Waffenkäufe aus Russland
6.3.1.2. Russische Wissenschafter in China
6.3.2 Gemeinsame Militärmanöver
6.3.3. ABM-Vertrag, NMD und TMD
6.4. Wirtschaftliche Kooperation
6.5. Zusammenarbeit im Energie- und Rohstoffsektor
6.6. Die Konfliktzone im Grenzbereich
6.7. Probleme in den Beziehungen zwischen Russland und China

7. Zentralasien
7.1. Die Vereinigten Staaten von Amerika in Zentralasien
7.2. Die Beziehung der Volksrepublik China zu den Staaten Zentralasiens
7.2.1. Zusammenarbeit im Energie- und Rohstoffbereich
7.2.2. Probleme in den Beziehungen
7.2.2.1. ethnische Probleme
7.3. Die SCO (Shanghai Cooperation Organization)
7.3.1. Die Entwicklung der SCO
7.3.2. Die militärische Zusammenarbeit mit Zentralasien

8. Die koreanische Halbinsel
8.1. Abriss der Korea-Krise
8.2. Die Rolle der Volksrepublik China auf der koreanischen Halbinsel
8.3. Die Rolle Russlands auf der koreanischen Halbinsel

9. Fazit

10. Schlusswort

11. Annex
11.1. Partnerschaften zwischen der Volksrepublik China und den Großmächten beziehungsweise regionalen Organisationen
11.2. Sino-russische Gipfeltreffen und ihre wichtigsten Ergebnisse
11.3. Wichtige Führungspersönlichkeiten in der chinesischen Politik
11.4. Waffenkäufe aus Russland, der UdSSR, Ukraine und Usbekistan
11.5. Entwicklung der Shanghai-Fünf und der SCO (Shanghai Cooperation Organization)
11.6. Die 15 Staaten mit den höchsten Militärausgaben 2005

QUELLENVERZEICHNIS

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Die Kommandostruktur der Volksbefreiungsarmee

Abbildung 2: Die Zentrale Militärkommission

Abbildung 3: Das Verteidigungsministerium

Abbildung 4: Die Kommandostruktur der Landstreitkräfte

Abbildung 5: Die Kommandostruktur der Luftstreitkräfte

Abbildung 6: Die Kommandostruktur der Seestreitkräfte

Abbildung 7: Die Kommandostruktur der Zweiten Artillerie

1. Einleitung

„Wenn sich China erhebt, erzittert die Welt.“ (Napoleon Bonaparte)

Die Volksrepublik China mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern, einer Fläche von kontinentalem Ausmaß und seinem seit zwei Jahrzehnten anhaltendem Wirtschaftswachstum von bis zu neun Prozent jährlich zeigen, dass sich Napoleons Zitat bewahrheiten könnte. Hohe Rohstoff- und Stahlpreise durch den enormen Hunger der chinesischen Industrie oder höhere Zölle auf beziehungsweise Einfuhrsperren für chinesische Textilien oder Spielwaren in der Europäischen Unionen und den Vereinigten Staaten von Amerika (Handelsdefizit mit China von mehreren hundert Milliarden Dollar jährlich) zeigen die Weitsicht des französischen Feldherrn und Kaisers.

China übte Jahrhunderte lang eine Hegemonie über weite Teile Asiens aus. Die meisten umliegenden Länder waren dem „Reich der Mitte“ tributpflichtig. Erst durch die Schwächung der letzten kaiserlichen Dynastie der Mandschus (Qing-Dynastie) durch innere Unruhen und die gewaltsame Öffnung des von der Außenwelt abgekapselten Landes durch die westlichen Mächte (1. Opiumkrieg: 1840-1842, 2. Opiumkrieg: 1856-1860) begann der Verfall dieser hegemonialen Stellung. China wurde zu einem halbkolonialen „Subjekt der Invasion imperialistischer Mächte“[1] degradiert. In China wird diese Zeit als das „Jahrhundert der Schande“ (1842-1949) bezeichnet. Nach langen inneren Wirren nach der Ausrufung der Republik im Jahr 1912 wurde das riesige Reich unter sich gegenseitig bekriegenden „Warlords“ aufgeteilt. Nach einer kurzen Phase der Einheit, herbeigeführt durch Tschiang Kai-shek, dem nachmaligen Präsidenten der Republik Taiwan, versuchte die einzige östliche Imperialmacht Japan, in Ost- und Südostasien eine

„asiatische Wohlstandssphäre“ zu errichten. Der Zweite Weltkrieg endete mit einer Niederlage der Japaner und in weiterer Folge mit dem Sieg der Kommunisten unter Mao Zedong in China. Am 1. Oktober 1949 wurde die Volksrepublik China ausgerufen. Seit dem Tod Maos 1976 kam es zu einer Öffnung des Landes und eine liberalere Wirtschaftspolitik wurde forciert.

Chinas Aufstieg zu einer der führenden Mächte ist einer der signifikantesten Ereignisse der Post-Kalten Krieg-Periode. Durch die erstaunlichen wirtschaftlichen Leistungen rüstet China auf. Die Nachbarn in Südost- und Ostasien befürchten eine Militarisierung Chinas und wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigte, eine Durchsetzung politischer Ziele mit militärischen Mitteln. Das kommunistische Land führte mehrere Male Krieg gegen seine Nachbarn (Koreakrieg, Indien, Grenzzwischenfälle mit der Sowjetunion am Fluss Amur und Vietnam). Grenzstreitigkeiten im Ost- und Südchinesischen Meer um kleine Inseln und Atolle führten bereits zu kleineren Scharmützeln und Zwischenfällen. In den von China beanspruchten Gebieten werden große Rohstoffvorkommen vermutet, welche für die aufstrebende Wirtschaft und die riesige Bevölkerung, die sich immer mehr leisten kann und will, als lebensnotwendig angesehen werden. Die Volksrepublik China sei auf neuen Lebensraum angewiesen. Mit dieser „Lebensraumideologie" rechtfertigen chinesische Militär- und Marineexperten die Vorstöße. „China must go to the ocean for survival and prosperity".[2] Die Ängste werden weiters geschürt durch die großen Veränderungen in der internen Struktur Chinas. Über die strategischen Ambitionen Chinas ist im Allgemeinen wenig bekannt. Dieser Umstand und die häufig von der Regierung Chinas geschürten antiwestlichen Ressentiments und die inneren politischen und sozialen Instabilitäten lassen die Volksrepublik als einen schwer einzuschätzenden Riesen erscheinen. Ein Ziel der internationalen Staatengemeinschaft muss sein, dass die Volksrepublik China als verantwortungsbewusste Großmacht in die internationale Gemeinschaft eingebunden wird. Dass China militärisch um sich schlagen wird ist unwahrscheinlich. China führte zwar Ende der siebziger Jahre einen kurzen Krieg gegen Vietnam. In chinesischen Politkreisen wurde dieser Krieg als „Strafaktion“ bezeichnet. Heute würde ein solcher Krieg zu hohen wirtschaftlichen Schaden anrichten. Ausserdem würde die Reputation und die „soft power“ Chinas darunter leiden. Militärische Drohungen, hauptsächlich gegen die abtrünnige Provinz Taiwan, stehen aber immer im Raum.

's influence reaches every corner of Asia and, increasingly, the world. Your future is important to us and to all of the Asia-Pacific region, indeed is important to the world." (us-amerikanische Verteidigungsminister William J. Perry). [3]

Die Vereinigten Staaten von Amerika sehen ihre Stellung in Asien bedroht. Die einzige, nach dem Fall der Sowjetunion, verbliebene Supermacht sieht sich als Garant für den Frieden auf diesem Kontinent und versucht den Status quo zu erhalten. Sicherheitsbündnisse und Allianzen mit Taiwan (von der Volksrepublik nicht als eigener Staat, sondern als abtrünnige Provinz betrachtet), Japan, Südkorea, Australien und den Philippinen zeigen den hohen Stellenwert Asiens in der US-Außenpolitik. Durch das aufstrebende China sieht Amerika sein außen- und sicherheitspolitisches Gewicht in der Region bedroht. Die dominante Stellung in der Weltpolitik, die unilaterale Politik und die von China so wahrgenommene Eindämmungs- und Einkreisungspolitik („containment“) der USA ist den kommunistischen Machthabern in Beijing ein Dorn im Auge.

Seit dem Krieg gegen den Terror der auf die Attentate vom 11. September 2001 folgte, fasste die USA auch in Zentralasien Fuß. Die zentralasiatischen Länder stellen beziehungsweise stellten Militärstützpunkte für den Krieg gegen Afghanistan zur Verfügung. Russland, welches in Zentralasien seinen Hinterhof sieht, sieht die us-amerikanische Militärpräsenz mit gemischten Gefühlen. Einerseits ist Russland ein Partner der USA im Kampf gegen den Terror und erwartet im Gegenzug für das Dulden us-amerikanischer Truppen in seiner Einflusssphäre kritikloses Vorgehen gegen die Rebellen in Tschetschenien. Andererseits beharrt Russland genau wie China auf einer Multilateralisierung der Weltpolitik und möchte den Einfluss der USA mindern.

Das ausgehende Erkenntnisinteresse liegt in der Fragestellung ob die strategische Partnerschaft zwischen Russland und China als Bedrohung oder als Ausgleich in der asiatisch-pazifischen Region gesehen werden muss, oder ob die Annäherung beider Länder von einer Nachhaltigkeit geprägt ist und welche Rolle die chinesische Volksbefreiungsarmee (VBA) hierbei spielt.

Schwerpunkte werden auf den militärischen Austausch, der sich in gemeinsamen Militärübungen (z.B. Peace Mission 2005 im Sommer 2005) und im extensiven Handel mit Rüstungsgütern zeigt, legen. Russland ist neben Israel, aufgrund der 1989 verhängten Waffenembargos der EU und der USA, das einzige Land, welches China mit den dringend benötigten modernen Waffen versorgt. Russland braucht umgekehrt China als Absatzmarkt, um die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion marode Rüstungswirtschaft aufrecht zu erhalten. China heuerte zudem zahlreiche russische Wissenschafter an, um die eigene Rüstungsindustrie zu modernisieren. Die chinesische Rüstungsindustrie ist in staatlicher Hand und ist derzeit noch von Privatisierungen ausgenommen. Sie wird zu großen Teilen von der VBA kontrolliert. Chinas Rüstungsmaterial ist zum größten Teil noch aus den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts und damit seit Jahrzehnten veraltet. Die meisten dieser Rüstungsgüter sind sowjetischen Ursprungs oder aus eigener Produktion mit sowjetischem Know-how. Durch die Rüstungseinkäufe aus Russland und anderen Nachfolgestaaten der UdSSR wird eine unterbrochene Kooperation fortgesetzt. In diesem Zusammenhang werde ich auf den Aufbau und die Struktur (Doktrin, Bewaffnung und Rüstungsbeschaffung) der Volksbefreiungsarmee eingehen. Es gibt derzeit drei große strategische Strömungen im chinesischen Militär („people’s war“, „limited war under hi-tech conditions“ und die Richtung der „Revolution in Military Affairs (RMA)“). Jeder dieser Doktrinen hängen mächtige Militärpersonen an. Die Frage nach der Wichtigkeit unterschiedlicher Strategien führt zu verschiedenen Prioritäten bei der Rüstungsbeschaffung. Hinzu kommt noch die Verlagerung von einer defensiven Verteidigung des Heimatlandes mit einer starken kontinentalen Ausrichtung hin zu einer eher offensiveren Auslegung und der Machtprojektion auf das offene Meer. Daraus resultieren zum Beispiel Einkäufe aus Russland von Zerstörern, U-Booten, Tankflugzeugen, großen Truppentransportern und der generellen Stärkung der Marine und der Luftstreitkräfte im Vergleich zu den Landstreitkräften. Die Marine (PLAN) und die Luftstreitkräfte (PLAAF) wurden erst Jahre nach der PLA gegründet und bekamen einen marginalen Teil der Rüstungsausgaben zugewiesen. Der stärkste anteilsmäßige Teil der Militärausgaben floss seit ihrer Gründung in die Zweite Artillerie (Nuklear- und Raketenstreitkräfte, sowohl taktisch als auch strategisch). Zudem wird erklärt, welche Rolle die VBA in der chinesischen Innen- und Außenpolitik spielt. Ist die Volksbefreiungsarmee politisch in der Lage außenpolitische Entscheidungen zu treffen und wie ist sie am „policy-making“ in der chinesischen Politik involviert? Hu Jintao, der chinesische Präsident, Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas und der Zentralen Militärkommission, ist zwar selbst kein Angehöriger des Militärs oder ein Kämpfer der Revolution wie seine Vorgänger (Mao Zedong, Deng Xiaoping), sondern ein „Technokrat“, wie auch sein unmittelbarer Vorgänger Jiang Zemin. Doch wichtige und einflussreiche Generäle haben sowohl hohe Positionen im Staat als auch in den Stäben und Führungsgremien der Volksbefreiungsarmee inne. Hier stellt sich die Frage ob die Politiker und Generäle eine Machtbalance finden oder die Priorität des ökonomischen Aufbaus zu Gunsten des Militärischen kippt.

In Chinas Außen- und Sicherheitspolitik sind bilaterale Abkommen maßgebend. Militärische und sicherheitspolitische Allianzen oder eine Blockbildung sind verpönt. Eine multilaterale Politik von Seiten Chinas ist aber in Ansätzen erkennbar. Die neue Führungsriege bricht schrittweise mit den alten Grundsätzen. Eine Ausnahme bildet hier die SCO (Shanghai Cooperation Organization). Diese multilaterale Organisation soll die Zusammenarbeit Russlands, Chinas und der zentralasiatischen Staaten stärken und den westlichen (besonders us-amerikanischen) Einfluss mindern. China sieht sich von den USA und deren Verbündeten eingekreist und versucht daher durch eine engere Bindung an Russland dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Hauptsächlich ist die Organisation gegen Terrorismus, Fundamentalismus und Separatismus gerichtet (Probleme Chinas mit seiner muslimischen Bevölkerung in der Westprovinz Xinjiang, grenzübergreifende Verbindungen von „Terrorgruppen“). Alle Staaten der SCO erkennen die staatliche Souveränität und das Nichteinmischungsprinzip in innere Angelegenheiten an. Russland erkennt das Ein-China-Prinzip an und schweigt bei inneren Verstößen gegen die Menschenrechte (Tibet, Xinjiang). Im Gegenzug schweigt China bei Themen wie Tschetschenien oder anderen Teilen des Kaukasus.

In der Beziehung zu den USA ergibt sich eine weitere Gemeinsamkeit - die Ablehnung des angekündigten Raketenabwehrschirms für das amerikanische Festland beziehungsweise für die asiatischen Verbündeten und die gleichzeitige Kündigung des ABM (Anti Ballistic Missile)-Vertrages. Russland und speziell China mit seinem derzeit noch kleinen Nukleararsenal, gegen die der Raketenabwehrschirm laut der us-amerikanischen Regierung nicht gerichtet sei, sehen darin eine Verminderung der Abschreckung ihrer Nuklearraketen. Die beiden Staaten argumentieren gegen die Kündigung des ABM-Vertrages mit einem zukünftigen Wettrüsten im asiatisch-pazifischen Raum. Ein weiterer Kritikpunkt an der Kündigung des ABM-Vertrages ist die befürchtete Aufrüstung und Militarisierung des Weltraums. Beide Länder, Russland aufgrund seiner angespannten finanziellen Lage und China wegen seines bislang noch fehlenden Know-hows im Bereich der Satelliten- und Raketentechnologie, sehen hier eine massive Bedrohung ihrer Verteidigungskapazitäten (verminderte Zweitschlagskapazität) und ihrer Interessen.

Eine weitere sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen China und Russland, zwar in nur sehr geringem Maße, besteht auf der koreanischen Halbinsel bei den so genannten Sechs-Parteien-Gesprächen (China, Japan, Nord- und Südkorea, Russland, USA). Alle Parteien treten für eine atomwaffenfreie koreanische Halbinsel ein. Bei der Frage der Wiedervereinigung divergieren die Ansichten innerhalb der Eliten sehr stark. China ist grundsätzlich nicht dagegen, fürchtet aber Flüchtlingsströme aus dem Norden, falls das Regime implodieren sollte. Bei einer Wiedervereinigung würden südkoreanische Investitionen vermehrt in den Norden, anstatt nach China, wandern. Zudem fürchtet China ein wiedervereintes Korea, in dem weiterhin us-amerikanische Truppen stationiert blieben. Ein solches Korea wäre militärisch relativ stark, aber wirtschaftlich, siehe deutsche Wiedervereinigung, auf viele Jahre eher schwach. Russland hat sich zu diesem Thema bis dato nicht offiziell geäußert. Die Teilnahme Russlands an den Sechs-Parteien-Gesprächen basiert eher auf der geopolitischen Nähe und den traditionell freundschaftlichen Beziehungen zu Nordkorea, während bei China die kulturelle Nähe zu beiden Koreas im Vordergrund steht. Russland sieht sich immer noch als Großmacht, zwar nicht als globale, jedoch zumindest als regionale Macht. Ein weiteres Movens ist die viel propagierte Multilateralität in den internationalen Beziehungen. Außerdem traut keines dieser beiden Länder den USA eine Lösung im Alleingang zu. Russland und China, sie halten Nordkorea durch Rohstoff- und Nahrungsmittellieferungen „künstlich“ am Leben können einen gewissen Druck auf das Regime in Pjongjang ausüben.

Die russische politische und militärische Führung ist in der Frage einer weiteren Annäherung an China gespalten. Einerseits sucht man auch in Russland nach einem Gegengewicht zur Hegemonie der USA. Andererseits besteht Angst vor dem aufstrebenden riesigen Nachbarstaat, welches durch sein bisher ungebremstes Wirtschaftswachstum massiv aufrüstet. Russland hat sich durch die START (Strategic Arms Reduction Treaty)-Verträge verpflichtet, große Teile seines Nuklearwaffenarsenals abzurüsten. China, die einzige offizielle Atommacht, die weiterhin sein Nuklearwaffenarsenal aufrüstet, ist an keinerlei Verträge zur Beschränkung der Aufrüstung gebunden. Somit könnte in wenigen Jahrzehnten eine Parität in diesem Bereich hergestellt werden. Obwohl die Grenzverläufe und –streitigkeiten zum größten Teil ausgehandelt und beigelegt wurden, bestehen weiterhin Ängste auf russischer Seite, dass China den fast menschenleeren Osten des Landes infiltrieren und besiedeln könnte.

China ist durch seinen wirtschaftlichen Aufstieg zum größten Teil auf ausländische Energieressourcen angewiesen. Russland als eines der rohstoffreichsten Länder der Erde, aber auch die zentralasiatischen Staaten bieten sich hier als wichtiger Partner an.

Am Ende jedes Kapitels soll die Rolle der VBA explizit herausgestrichen werden.

Der inhaltsanalytisch-qualitative Ansatz bildet die methodische Grundlage dieser Arbeit. Die behandelten Themen und Unterthemen werden deskriptiv aufgearbeitet und analysiert. Ziel ist die Offenlegung der militärischen Kapazitäten Chinas und der damit verbundene Machtanspruch.

2. Die Theorie des politischen Realismus

Im Kontext der immer stärker werdenden Rolle, die die Volksrepublik China auf der internationalen Bühne spielt, soll die Theorie des politischen Realismus behandelt werden. Da China verstärkt auf Kooperationen unterschiedlichster Varianten setzt, wird die Rolle der „Balance of Power“-Theorie und die Entstehung und Wirkungsweise von Allianzen genauer untersucht.

Zu Beginn werden die Entstehung des politischen Realismus und seine wichtigsten Merkmale geschildert. Diese Theorie stellt eine Richtung in der Politikwissenschaft im Allgemeinen und in den Internationalen Beziehungen im Besonderen dar und ist konträr zum Liberalismus zu sehen. Philosophische Vordenker des Realismus waren Thukydides, Machiavelli und Hobbes. Die bekanntesten Theoretiker sind Morgenthau, Waltz und Gilpin.

Der Realismus geht davon aus, dass sich alle Staaten und Gesellschaften in einem latenten Kriegszustand befinden. Es herrscht zwar kein Krieg, aber der Ausbruch desselben ist jederzeit möglich. Es kann zu einem Kampf jeder gegen jeden kommen und der jeweils andere wird als potenzielle Bedrohung empfunden. Die Gründe hierfür werden in der menschlichen Natur oder in der Anarchie des internationalen Systems gesehen.

„Die Ursache dieses menschlichen Unvermögens, in politischen Belangen absolut normgerecht und konstant unter Ausschaltung des Eigeninteresses zu handeln, wird [...] darauf zurückgeführt, dass Größe wie auch Elend des Menschen der gemeinsamen Wurzel seiner Freiheit entstammen. In dieser Freiheit, die schöpferische wie auch zerstörerische Möglichkeiten umschließt, offenbart sich ferner auch die Unmöglichkeit, die Probleme der Geschichte und Politik durch Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden theoretisch vollauf zu erfassen und praktisch meistern zu können.“ [4]

Permanenter Friede sei nicht möglich. Es gibt zwar Phasen des Friedens, diese dienen aber nur der Vorbereitung für den nächsten Krieg, der unausweichlich ist.

Morgenthau definierte in seinem Werk „Politics among Nations“ (deutsche Übersetzung:

„Macht und Frieden“) sechs Grundsätze des politischen Realismus:

1. Die Politik, sowie die Gesellschaft im Allgemeinen, wird von objektiven Gesetzen beherrscht. Deren Ursprung ist in der menschlichen Natur verankert. Tatsachen sollen festgestellt werden und durch Vernunft soll ihnen Sinn verliehen werden. Die Theorie der Politik muss auf zweifache Weise überprüft werden, durch die Vernunft und durch Erfahrung. Für Morgenthau hat sich diese Theorie bereits seit Jahrhunderten bewährt. Schon die Griechen, zum Beispiel, sprachen vom Gleichgewicht der Mächte und die Erfahrung der letzten Jahrzehnte lehrt, dass diese Theorie nicht veraltet ist.

2. Macht und Interesse: Ein besonderes Merkmal des politischen Realismus zeigt sich im Verständnis der Macht als Interesse. Die Politik wird dadurch zu einem selbstständigen Bereich von Handlungen und Einsichten. Damit grenzt sich die Politik von anderen Bereichen wie der Wirtschaft, Ethik, Ästhetik oder Religion ab. In der Wirtschaft zum Beispiel wird die Macht am Reichtum gemessen und das Interesse besteht in der Anhäufung derselben. Es wird angenommen, dass Staatsmänner in Sinne eines als Macht verstandenen Interesses denken und handeln. Eine gewisse Kontinuität und vernunftgemäße Ordnung im Handeln der Akteure lässt den Betrachter den Ablauf der Außenpolitik verschiedener Staaten erkennen. Laut Morgenthau handeln die unterschiedlichen aufeinander folgenden Staatsmänner nicht nach ihren eigenen Wünschen, Motivationen oder intellektuellen Fähigkeiten, sondern die Entwicklung der Dinge wird allein auf den Staat fokussiert. Der einzelne Mensch wird nicht ins Kalkül gezogen. Verfolgt ein Staatsmann gute Absichten, heißt das nicht, dass auch seine Außenpolitik moralisches Lob verdient oder politisch Erfolg hat. Eine rationale Außenpolitik ist eine gute Außenpolitik, denn nur durch die Vernunft werden Gefahren vermindert und der Vorteil maximiert. Sie muss aber moralisch vertretbar sein.

3. Nationale Interessen: Die Interessen sind von Zeit und Ort unabhängig. Thukydides sagte, dass die Gleichheit der Interessen das sicherste Band zwischen Staaten und Menschen sei. Welches Interesse in einer geschichtlichen Periode verfolgt wird, hängt von den politischen und kulturellen Zusammenhängen, in denen Außenpolitik formuliert wird, ab. Dasselbe gilt für den Begriff der Macht.[5]

Macht kann alles umfassen, was die Beherrschung von Menschen durch Menschen bewirkt und erhält. Unter den Begriff der Macht gehören alle gesellschaftlichen Beziehungen [...] von der physischen Gewaltanwendung bis zu den feinsten psychologischen Bindungen, durch die ein geistiger Wille einen anderen beherrschen kann. Macht ist die Herrschaft von Menschen über Menschen [...].[6]

Von Macht spricht man sowohl in Demokratien, wo die Herrschaft verfassungsrechtlich geregelt wird, als auch in Diktaturen, wo sie barbarische Ausmaße annehmen kann.

Damit die Macht nicht außer Kontrolle gerät, soll ein Gleichgewicht der Mächte, welches ein Element aller pluralistischen Gesellschaften ist, geschaffen werden. Ein Gleichgewicht der Mächte auf internationaler Ebene soll Stabilität und Frieden gewährleisten. Nach den Vertretern des Realismus habe die Geschichte oft gezeigt, dass dieses System funktioniert.

4. Allgemeine sittliche Grundsätze in allgemein gültiger Formulierung können nicht auf staatliches Handeln angewendet werden. Sie müssen im Lichte der konkreten Umstände von Zeit und Ort gesehen werden. Freiheit ist ein hohes menschliches Gut. Ist aber der Bestand der Nation gefährdet und scheint es für erfolgreiches politisches Handeln opportun, können die Freiheitsrechte des Einzelnen eingeschränkt werden. Die politischen Handlungen und deren Folgen müssen aber klug abgewogen werden und moralisch sein. Der Moral sind aber Grenzen gesetzt, weil es keine universellen Normen hierfür gibt. Es gibt auch keine internationalen Institutionen, die Ordnung schaffen können und keinen Sinn für Gemeinschaft. Aus diesem Grund fühlt sich kein Staat einer Moral oder Ethik verpflichtet.

5. Es besteht kein Einklang zwischen nationaler und universeller Moral. Viele Nationen versuchen, ihr eigenes Streben und Handeln mit der Verwirklichung universeller sittlicher Ziele zu rechtfertigen. Die Demokratisierung des Nahen und Mittleren Osten durch die Vereinigten Staaten wäre demnach moralisch nicht zu rechtfertigen. Hinzu kommt, dass sich die Neokonservativen auf eine Mission berufen. Morgenthau spricht hier von sündigem Hochmut. Handeln im Namen sittlicher Grundsätze, Ideale oder gar im Namen Gottes, wird strikt abgelehnt. Die Menschen können im Bereich des Politischen nicht unter Ausschaltung des Eigeninteresses handeln. Daraus resultiert die Tendenz, dass eine vom Eigeninteresse bestimmte Definition des Rechtes zum endgültigen Begriff der Gerechtigkeit erhoben wird.[7] Demokratie, nach westlichem Muster, kann man keinem Staat und dessen Bevölkerung aufoktroyieren, man kann ihm nur helfen, sie selbst zu schaffen.

„Moral crusades disrupt balances of power. For example, if the United States becomes too concerned about spreading democracy or human rights throughout the world, it may create disorder that will actually do more damage than good in the long run.” [8]

6. Die Politik darf die gleiche Eigengesetzlichkeit wie die Ökonomie, Rechtswissenschaft oder Moral beanspruchen. Die Begrifflichkeit ist das als Macht verstandene Interesse. Im politischen Realismus gibt es neben dem politischen auch andere bedeutende Maßstäbe, diese treten aber hinter das Politische zurück. Diese Theorie versucht zu erklären, wie die internationale Politik ist und wie sie in ihrer innersten Natur sein sollte und nicht, wie sie die Menschen gerne haben würden.[9]

Weitere Kernannahmen des Realismus:

1. Der politische Realismus ist staatszentriert. Die Staaten sind die wichtigsten Akteure in der Weltpolitik.

2. Im internationalen System herrscht Anarchie. Es gibt keine den Staaten übergeordnete Autorität. Wenn heute vom internationalen System gesprochen wird, dann ist das nach dem Dreißigjährigen Krieg im Frieden von Westfalen entstandene System von Territorialstaaten gemeint. Internationale Politik wird definiert als Politik ohne gemeinsamen Souverän. Es ist eine Politik zwischen Einzelteilen ohne einer übergeordneten Herrschaftsinstanz, das bedeutet Anarchie. Internationale Politik ist ein „self-help“-System. Anarchie kann zum „Sicherheitsdilemma“ werden: Eine unabhängige Aktion eines Staates, um seine Sicherheit zu erhöhen, kann das System unsicherer machen. Vermehrt ein Staat seine Kapazitäten, um sicherzustellen, dass kein anderer ihm schaden kann, wird auch ein anderer Staat, der sieht dass Ersterer stärker wird, versuchen es ihm gleichzutun. Das Ergebnis ist eine erhöhte Unsicherheit beider.[10] Ein „worst case scenario“ wäre ein Wettrüsten.

Im Kalten Krieg wurde das Wettrüsten durch konventionelle und besonders strategische Waffen (Nuklearwaffen) auf die Spitze getrieben, bis zur MAD („mutual assured destruction“ – „wechselseitig zugesicherte Zerstörung, oder auch „Gleichgewicht des Schreckens“). Das Sicherheitsdilemma lässt sich durch Rüstungsverträge umgehen. „An-archie“ bedeutet „ohne Regierung“. Im internationalen System muss trotzdem nicht unbedingt Chaos oder totale Unordnung herrschen. Rudimentäre Praktiken und Institutionen regeln das Verhalten im System: „Balance of Power“, internationales Recht und internationale Organisationen.[11]

3. Staaten streben immer nach maximaler Sicherheit. Weil die internationale Politik ein „self-help“-System ist, und kein Staat ein legitimes Gewaltmonopol wie im Inneren besitzt, manche Staaten aber stärker als andere sind, kann es zu Zwangs- und Gewaltmaßnahmen kommen, um sein „Recht“ durchzusetzen. Das vorherrschende Ziel der Staaten in einem anarchischen System ist die militärische Sicherheit. Seit geraumer Zeit ist von „umfassender Sicherheit“ die Rede. Es zählt nicht mehr nur die militärische, sondern auch die wirtschaftliche Sicherheit. Weiters kommen soziale Belange, Drogenhandel, Krankheiten oder die Umwelt hinzu.

4. Staaten streben immer nach Macht. Hier ist eine Unterscheidung zwischen defensiven (Vertreter: Joseph Grieco) und offensiven Realisten (Vertreter: John Mearsheimer) zu treffen. Die Ersteren streben nach Macht, um zu überleben. Sie wollen möglichst den Status Quo verteidigen. Die Letzteren versuchen zu dominieren. Macht ist ein knappes Gut und sie trachten nach einer Machtmaximierung. Durch Machterwerb soll Unsicherheit in Sicherheit und Schwäche in Stärke verwandelt werden.

5. Die Innenpolitik eines Staates spielt eine untergeordnete Rolle. Die Stellung eines Staates im internationalen System ist vorrangig und definiert das staatliche Verhalten.

6. Entscheidend für die Stellung eines Staates im internationalen System sind seine Kapazitäten. Hier werden besonders die militärischen Kapazitäten („hard power“) genannt. Die Neorealisten erweitern den Begriff der Kapazitäten um die „soft power“ (Kunst und Kultur, Weltanschauung, Lifestyle).

Im Weiteren soll der Begriff der Macht noch genauer definiert werden. Kindermann zählt fünf verschiedene Charakteristika der Macht auf. Für ihn ist Macht im politischen Handeln allgegenwärtig. Macht wird oft von ihren Inhabern missbraucht. Dies erklärt er mit dem Unvermögen des Menschen zu gerechtem und uneigennützigem Handeln. Der Macht wohnt ein ins unbegrenzte gehender Expansionsdrang inne. Der Machterwerb ist grundsätzlich auf Sicherheit, Herrschaft und Prestige ausgerichtet. Dadurch wird sie zum Selbstzweck des politischen Handelns. Kindermann spricht in diesem Zusammenhang von einer ideologischen Verschleierung dieses Tatbestandes. Ideologien spielen aber heute eine eher untergeordnete Rolle.

Der realistische Begriff der Macht entspricht im Wesentlichen der Definition Max Webers. Macht bedeute die Chance, in sozialen Beziehungen den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen. Diese Aufzwingung des eigenen Willens manifestiert sich in jeder psychologischen Beziehung zwischen dem Machtausübenden und dem Adressaten. Militärische Gewalt ist in diesem Falle nur als politisch einzustufen, wenn sie die letzte, als möglich erscheinende Lösung bietet.[12] Krieg soll nicht einfach nur, wie es Carl von Clausewitz formulierte, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sein.

Die Erhaltung und Erweiterung der Macht ist eines der wichtigsten Grundelemente des politischen Interesses. Das außenpolitische Interesse definiert Morgenthau als eine „denkunabhängige Realität“, die in konkreten historischen Situationen den existenziellen Belangen eines Staates wie Sicherheit, Macht und Wohlfahrt entspricht.

2.1. Allianzen

Im Weiteren soll geklärt werden, warum Staaten sich gegenseitig unterstützen und nach welchem Schema sie sich ihre Partner aussuchen. Die Bildung von Allianzen, Kooperationen oder Partnerschaften beeinflussen das internationale System maßgeblich.

Stephen Walt definiert eine Allianz als eine formelle oder informelle Sicherheitskooperation zwischen zwei oder mehreren souveränen Staaten. Die beteiligten Staaten setzen gewisse Hoffnungen in eine solche Zusammenarbeit und erwarten sich Vorteile daraus. Für Hans Morgenthau sind Allianzen in einem multiplen Staatensystem notwendig für das Mächtegleichgewicht. Zur Frage warum Allianzen gegründet werden, meint Paul Schroeder, dass einer Bedrohung entgegengewirkt werden soll, oder dass Großmächte Allianzen als Werkzeug sehen, die Kontrolle über schwächere Staaten auszuüben. Liska spricht von ideologischen oder ethnischen Affinitäten, die zur Allianzbildung führen. Allianzbildung aufgrund von Ideologien trifft für den Kalten Krieg sicherlich zu, ist aber heute aufgrund des Abhandenkommens großer Ideologien nicht mehr zeitgemäß. Morgenthau spricht von ideologischer Solidarität. Darunter fallen Allianzen, die aufgrund politischer, kultureller und wirtschaftspolitischer Faktoren entstehen. Je ähnlicher sich zwei Staaten in diesen Punkten sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie ein Bündnis eingehen. Die Utilitaristen glauben, dass Staaten nur Allianzen eingehen, um ihren Nutzen zu erhöhen. Der Nutzen liegt in der Sicherheit und im Wohlergehen des Staates.[13] Wenn ein Staat seine Sicherheit bedroht sieht, versucht er entweder seine relative Macht zu steigern, in dem er zum Beispiel seine Verteidigungsausgaben steigert. Gleichzeitig wird er nach der Möglichkeit suchen, einer Allianz beizutreten. Wenn bei zwei Staaten die Kapazitäten steigen, werden sie möglicherweise eine Allianz gegen einen dritten Staat eingehen, dessen Kapazitäten noch schneller wachsen. Eine Allianz gegen einen Drittstaat wird gebildet, wenn sich der Letztgenannte aggressiv verhält. Ein jeder Staat versucht ein Maximum an Sicherheit zu erlangen. Im Englischen spricht man von der Theorie der „grand strategy“. Sie versucht zu erklären wie dieses Maximum an Sicherheit zu erlangen ist und welche Mittel dazu nötig sind.

Eine zentrale Frage ist, wie Staaten auf Bedrohungen ihrer Sicherheit reagieren. Suchen sie Alliierte um einer Bedrohung durch einen anderen Staat oder einer Staatengruppe entgegenzuwirken oder schließen sie sich der gefährlicheren beziehungsweise bedrohlicheren Macht an? Die zweite Frage lautet, ob sich Staaten mit ähnlichen internen Charakteristika eher zusammenschließen als Staaten mit unterschiedlichen Regierungssystemen. Die Vereinigten Staaten opponierten im Kalten Krieg gegen linke oder marxistische Regierungen, weil diese nach ihrem Glauben zur Sowjetunion tendieren und loyale Bündnispartner des kommunistischen Machtblocks werden würden. Sie selbst, die USA, verbündeten sich aber auch mit autoritären Regierungen oder absoluten Monarchien, obwohl diese eine Ähnlichkeit der internen Charakteristika der USA vermissen ließen beziehungsweise lassen. Die Volksrepublik China und die Sowjetunion gingen eine Allianz ein, weil sie beide die kommunistische Ideologie vertraten. Der Bruch Chinas mit der Sowjetunion vollzog sich aufgrund der diametral laufenden Ansichten über die Vorherrschaft im Weltkommunismus und weil die chinesische Führung die sowjetische Führung des Revisionismus und Imperialismus bezichtigte. Die Allianz mit den USA gegen den kommunistischen Bruderstaat verneint die These der Allianz mit Staaten mit gleichen beziehungsweise ähnlichen internen Gegebenheiten. Eine Allianz mit Staaten, mit ähnlichem oder gleichem System, kann als Weg der Verteidigung seiner eigenen politischen Prinzipien gesehen werden. Staaten mit ähnlichen Charakteristika haben voreinander weniger Angst. Im Falle der westlichen Industriestaaten kommt hier die Theorie des demokratischen Friedens zum Tragen, welche besagt, dass demokratische Staaten keine Kriege gegeneinander führen und Konflikte friedlich lösen würden. Außer einigen Grenzfällen ist diese Theorie empirisch sehr gut belegt. Weiters kann eine Allianz mit Staaten mit ähnlichem System schwachen Regimen eine gewisse Legitimation geben. Es wird dadurch demonstriert, dass man Teil einer großen populären Bewegung ist. Beispiele hierfür wäre der Marxismus-Leninismus, aber auch die schnelle Annäherung an die Europäische Union und die NATO der neu entstandenen Demokratien in Mittel- und Osteuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhanges.

Durch wirtschaftliche oder militärische Hilfe können Alliierte gewonnen werden. Der Helfer zeigt wohlwollende Intentionen oder er will den Empfänger bestechen und dadurch auf seine Seite ziehen. Ein Beispiel für erstere Hypothese ist der us-amerikanische Marshallplan (ERP – European Recovery Programm) für die westeuropäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch die Sowjetunion gewährte ihren marxistisch- leninistischen „Bruderstaaten“ materielle und finanzielle Hilfe in großem Maßstab. Je wichtiger der Empfänger für den Geber ist, desto mehr Hilfe wird er bekommen. Die Unterstützung als Druckmittel und der Einfluss des Gebers werden aber gering sein. Die Allianz steht dadurch nicht auf solidem Fundament.[14]

2.2. „Balancing oder Bandwagoning”

Die Traditionalisten der „Balance of Power“-Theorie gehen davon aus, dass sich Allianzen bilden, um einen Machtausgleich zu schaffen. Weiters sollen stärkere Mächte davon abgehalten werden, andere Staaten zu beherrschen. Ein Machtungleichgewicht tritt dann auf, wenn der stärkste Staat oder Koalition im System signifikant stärker ist, als der Zweitstärkste. Walt hingegen meint, dass sich Bündnisse nicht nur gegen die Macht, sondern gegen Bedrohungen durch einen Staat richten. Staaten treten einer Allianz bei, um sich selbst vor Staaten oder Koalitionen, dessen Ressourcen eine Bedrohung darstellen, zu schützen. Die USA konnten im Kalten Krieg eine derart starke und umfassende Allianz schmieden, weil die Sowjetunion und ihre Verbündeten eine große Bedrohung darstellten.

Nach der Theorie des Mächtegleichgewichts hätte die USA diese Allianz nicht bilden können, weil sie und ihre Verbündeten die Mächtigeren waren.[15]

Wenn ein Staat von außen ernsthaft bedroht wird, wird er versuchen die Gefahr auszugleichen oder sich mit dem ihn bedrohenden Staat verbünden, um so die Bedrohung auszuschalten. Unter „Balancing“ versteht man die Bildung einer Allianz, um der vorherrschenden Bedrohung entgegenzutreten. „Bandwagoning“ hingegen bedeutet, dass man sich mit der Quelle der Bedrohung verbündet. Wenn „balancing“ häufiger ist als „bandwagoning“, dann sind Staaten sicherer, denn ein Aggressor sieht sich einer größeren Opposition gegenüber. Er provoziert die Bildung einer Allianz gegen ihn. Falls „bandwagoning“ dominiert, ist das internationale System kaum sicher, weil ein erfolgreicher Aggressor weitere Alliierte anzieht. Deren Macht wird mehr, während die der Gegner abnimmt. Das Deutsche Reich unter Hitler konnte durch seine schnellen Erfolge einige Alliierte wie Italien, Ungarn, Bulgarien oder Finnland gewinnen. Die USA hätten sich genauso der Erfolg versprechenderen Seite, also Hitlerdeutschland, anschließen können, traten aber doch 1941 aufgrund der größeren Bedrohung und womöglich wegen ethnischer und kultureller Verwandtschaft auf der Seite Großbritanniens in den Krieg ein. Nach der Theorie des Gleichgewichts der Mächte hätten die USA auf der Seite Deutschlands in den Krieg ziehen müssen, denn das Deutsche Reich war seinen Gegner in vielen Bereichen, die der Macht zu Grunde liegen, wie militärische Stärke, Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft, unterlegen. An diesem Beispiel ist ersichtlich, warum die Theorie des „Balance of Threat“, jener des „Balance of Power“ vorzuziehen ist. Erstere ist als Verfeinerung der Letzteren zu sehen. Staaten versuchen gegen jenen Staaten auszugleichen, der die größte Bedrohung darstellt. Letzterer muss nicht der Mächtigste im ganzen System sein. Bei der „Balance of Power”-Theorie geht man davon aus, dass Staaten auf Unausgeglichenheiten im System reagieren, während bei der „Balance of Threat“-Theorie Staaten Allianzen bilden und ihre internen Machtstrukturen (Erhöhung des Militärhaushalts) ausbauen, um damit ihre Verwundbarkeit zu reduzieren. Die Sowjetunion hatte während des Kalten Krieges, gemessen am Bruttonationalprodukt, die höchsten Militärausgaben. Die relative Schwäche ihrer Alliierten musste die Sowjetunion durch größere interne Anstrengungen ausgleichen.

Aus zwei Gründen versuchen Staaten Macht oder Bedrohungen auszugleichen. Erstens, wenn ein potenzieller Hegemon nicht rechtzeitig in die Schranken gewiesen und zu mächtig wird, setzt man das Überleben des eigenen Staates aufs Spiel. Glaubt man an das Wohlwollen der dominanten Macht, geht man mit ihm ein Bündnis ein. Die europäischen Staaten, besonders die ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion, sehen die Vereinigten Staaten von Amerika als eine Schutzmacht. Sie sind der Meinung, dass die USA eine positive Rolle in der Weltpolitik spielen. Aus diesem Grund suchen sie um Aufnahme in die NATO (North Atlantic Treaty Organization) an, oder, falls sie schon Mitglieder sind, verbleiben in ihr und unterstützen die Politik der Vereinigten Staaten. Zweitens, wenn man der schwächeren Seite beitritt, erhöht man seinen Einfluss, denn dieses Bündnis braucht jedes neue Mitglied, um zur stärkeren Seite aufzuschließen. Ein mächtiger Staat, wie heute die USA, wird grundsätzlich als Alliierter geschätzt, denn er hat seinen Partnern einiges zu bieten. Dieser muss sich aber immer der Tatsache gewahr bleiben, falls er aggressive Tendenzen erkennen lässt, sich die Partner von ihm trennen. In diesem Zusammenhang erscheint die Tatsache wichtig, dass der mächtigste Staat der Partnerschaft nicht unilateral, sondern im Einverständnis mit seinen Alliierten, handeln soll. Rechtlich nicht gedeckte Interventionen und hegemoniales Gebaren können zum Vertrauensverlust führen.

Nach der „bandwagoning“-Hypothese richten sich bevorzugt Staatsmänner, um Auslandsinterventionen oder höhere Militärausgaben zu rechtfertigen. Sie wollen Stärke zeigen und haben sie dabei Erfolg, wird man sich ihnen anschließen. Italien war zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Dreibund mit Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich alliiert. Als sich das Kriegsglück der Mittelmächte wendete, schwenkte Italien zur Entente mit Frankreich und Großbritannien um. Es schloss sich der erfolgreicheren Seite an, um daraus politischen und besonders territorialen Profit zu schlagen. Das Ergebnis war der österreichische Verlust Südtirols an Italien. Dasselbe geschah 1945, als die Sowjetunion, wenige Tage vor Kriegsende, dem japanischen Kaiserreich noch den Krieg erklärte.

„Bandwagoning“ wird erklärt durch das Verhalten von Staaten. Sie suchen nach Stärke. Je stärker ein Staat ist und je deutlicher diese demonstriert wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich andere Staaten mit ihm verbünden. Zeigt dieser Staat Schwächen oder befindet sich im Abstieg werden seine Verbündeten im besten Fall für die Neutralität optieren oder im schlechteren Fall die Seiten wechseln.

„Balancing“ und „bandwagoning” sind als Antworten auf Bedrohungen zu sehen. Nun soll auf vier Faktoren näher eingegangen werden, die die Bedrohung bestimmen: angehäufte Macht, geografische Nähe, offensive Kapazitäten und aggressive Absichten.

1. Die angehäufte Macht eines Staates bezieht seine Bevölkerungszahl, die industrielle und militärische Kapazität und seine technischen Leistungen mit ein. Je größer die totalen Ressourcen eines Staates, desto größer kann die Bedrohung für andere Staaten sein.
2. Die geografische Nähe zu einem Aggressor kann sehr gefährlich sein. Die Fähigkeit zur Machtprojektion sinkt mit der Entfernung. Ein Staat in der Nachbarschaft kann somit gefährlicher sein als ein weit entfernter. Die Volksrepublik China würde sich mehr Sorgen machen um eine Aufrüstung Japans als Deutschlands. Deutschland kann keine unmittelbare Bedrohung darstellen, Japan, Russland oder Indien hingegen schon. Auch die USA könnten, obwohl von China durch den Pazifik getrennt, durch die weltweite Fähigkeit der Machtprojektion, eine Gefahr darstellen. Da Nachbarschaft gefährlich sein kann, ist oft der Nachbar des Nachbars ein Freund. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges verbündeten sich zum Beispiel Frankreich und Russland gegen Deutschland. Einkreisung und Allianzen gegen zentral gelegene Mächte sollen die Gefahr begrenzen. Führt die Bedrohung durch die nahe Macht zu „bandwagoning“, entsteht eine Einflusssphäre. Beispiele hierfür sind die Sowjetunion und seine mittel- und osteuropäischen Satellitenstaaten während der Zeit des Kalten Krieges oder um ein aktuelleres Beispiel anzuführen, die SCO (Shanghai Cooperation Organisation). Russland sieht Zentralasien als seinen traditionellen Hinterhof an, liegt aber hier im (noch) friedlichen Wettstreit mit China um die Einflusssphäre. Kleinere Staaten fühlen sich durch große Staaten in der Nachbarschaft angreifbar, deswegen werden sie sich eher mit ihnen verbünden, als nach Machtausgleich zu streben.
3. Offensive Kapazitäten verleihen einem Staat die Fähigkeit, einen anderen Staat, zu akzeptablen Kosten, in seiner Souveränität oder territorialen Integrität zu gefährden. Hier trifft dasselbe zu wie bei der geografischen Nähe. Die Nähe zu einem Staat mit großen Offensivkapazitäten und die große Entfernung zu einem möglichen Alliierten verleiten zum „bandwagoning“, denn „balancing“ ist gefährlich.
4. Wenn ein Staat als besonders aggressiv oder expansionistisch gesehen wird, wird versucht gegen ihn einen Machtausgleich herbeizuführen. Nazi-Deutschland sah sich bald nach Kriegsbeginn, aber besonders nach Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ (Einfall in die Sowjetunion) und der Kriegserklärung an die USA einer überwältigenden Koalition gegenüber, denn es vereinte substanzielle Kapazitäten und gefährliche Ambitionen in sich.[16]

Generell kann man sagen, dass „balancing“ häufiger vorkommt als „bandwagoning“. Im Weiteren soll noch genauer geklärt werden, warum sich Staaten für die eine oder andere Variante entscheiden. Je schwächer ein Staat, desto wahrscheinlicher ist es, dass er sich der erfolgversprechenderen Seite anschließt. Sie „müssen“ gewinnen. Sie können zwar wenig dazu beitragen, aber sich dem Aggressor in den Weg zu stellen und die defensive Koalition, zu der sie wenig beitragen können, zu unterstützen, könnte das Überleben des Staates gefährden. Sie könnten leicht zu Opfern der Expansion werden. Durch die nukleare Abschreckung wurde es für eine Großmacht schwieriger, einen kleineren Staat in seiner Existenz zu bedrohen. Sie führte aber auch dazu, dass die jeweilige Supermacht von der anderen eine moderatere Haltung einfordern konnte.

Bei starken Staaten ist die Situation grundlegend anders. Sie können eine schwächere Allianz in eine stärkere verwandeln. Ihre Entscheidung kann zwischen Sieg und Niederlage entscheiden. Sie werden oft auch für ihre Teilnahme belohnt. Ein Beispiel hierfür wäre die Volksrepublik China. Nach der Proklamierung der Volksrepublik im Jahr 1949 galt Festlandchina als Bruderstaat der Sowjetunion. Nach dem Abbruch der Beziehungen Anfang der sechziger Jahre verfolgte Mao einen unabhängigen Kurs. Ein Jahrzehnt später begannen die Verhandlungen zwischen Kissinger und Nixon auf der Seite der USA und Mao Zedong und Zhou Enlai auf Seiten Chinas. Die militärisch gegenüber der Sowjetunion ins Hintertreffen geratenen USA brauchten den ehemaligen Erzfeind, um das Mächtegleichgewicht zu ihren Gunsten zu verändern. Belohnt wurde die Volksrepublik 1978 mit der offiziellen Anerkennung als souveräner Staat und mit dem Sitz im UN- Sicherheitsrat. Vorher hatten diesen Sitz die, 1949 vom Festland auf die Insel Taiwan geflohenen, Nationalchinesen (Guomindang) inne. Weiters brachen die USA die diplomatischen Beziehungen zur Republik China (Taiwan) ab.

Staaten stellen sich auch auf die vielversprechende Seite, wenn schlicht keine Alliierten zu finden sind. „Balancing“ setzt eine intensive diplomatische Aktivität voraus. Dass ein Staat keine Bündnispartner findet, kann mehrere Gründe haben. Zum einen hat der betroffene Staat es verabsäumt ein diplomatisches Netz zu spannen oder er hat sich in der jüngeren Vergangenheit etwas zu Schulden kommen lassen und ist ein „Schurkenstaat“ oder „rogue state“. [17]

2.3. Hegemonie

„Hegemonie bedeutet in der internationalen Politik die Vormachtstellung eines Staates gegenüber anderen. Andere Staaten erkennen die politische, militärische, wirtschaftliche oder kulturelle Überlegenheit eines Staates an. Hegemonie geht über bloße Einflussnahme hinaus, endet aber unterhalb der Schwelle unmittelbarer Herrschaftsausübung. Im Gegensatz zu einem mit Gewalt erzwungenen Über- und Unterordnungsverhältnis schließt Hegemonie, idealtypisch gesehen, das Moment der Freiwilligkeit und Gleichberechtigung der Partner innerhalb des Hegemoniesystems ein. In der politischen Realität überschreitet die Hegemonie eines Staates über andere jedoch oft die Schwelle zur Herrschaft im Sinne einer Über- und Unterordnung.“ [18]

Beispiele hegemonialer Bestrebungen sind das napoleonische Frankreich oder Preußen zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich unter ideologischem Vorzeichen im Ost-West-Konflikt zwischen den Führungsmächten USA und UdSSR ein Kampf um den beherrschenden Einfluss in der Welt.

Wenn „balancing“ die Norm ist, Ideologie nur einen geringen Effekt zeigt und fremde Hilfe und Druck wenig bis gar nicht existieren, dann ist Hegemonie im internationalen System nur schwer durchzusetzen. Ist aber die Hypothese des „bandwagoning“ vorherrschend, sind Ideologie, Hilfeleistungen und der dadurch erzeugte Druck auf den Empfänger, und Kontrolle über ihn, starke Elemente zur Schaffung einer Allianz, ist Hegemonie viel leichter erreichbar.[19]

3. Die Volksrepublik China als internationaler Akteur

Seit dem Beginn der Liberalisierungspolitik Ende der siebziger Jahre rückte das Reich der Mitte ins Zentrum der internationalen Politik. Das hohe Wirtschaftswachstum und hunderte Millionen BürgerInnen schaffen eine großes binnenwirtschaftliches Potenzial, der Sitz im UN-Sicherheitsrat und der Status einer offiziellen Nuklearmacht (die weiteren offiziellen Nuklearmächte sind ident mit den Ständigen Mitgliedern im UN-Sicherheitsrat: Russland, Frankreich, Großbritannien, USA; nicht anerkannte Länder im Besitz von Nuklearwaffen sind z. B. Israel, Indien, Pakistan und wahrscheinlich Nordkorea) machen das kommunistische Land zu einem „global player“.

China befindet sich seit zwei Jahrzehnten auf der Suche nach einer außen- und verteidigungspolitischen Identität. China will wieder den Status einer Großmacht erlangen. Dieser Status ist nicht neu, er ist nur zeitweilig abhanden gekommen. Das chinesische Kaiserreich war seit seiner Gründung vor mehr als zweitausend Jahren bis zum Eindringen der europäischen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert eine asiatische Regionalmacht. Ihr kultureller, wirtschaftlicher und politischer Einfluß reichte weit über seine Grenzen hinaus. Chinesische Waren waren bereits sehr früh in Europa bekannt und wurden hoch gehandelt. Lange Zeit war China in der Wissenschaft, bei Innovationen und Erfindungen das Maß aller Dinge. Japan, Korea, Vietnam und weitere angrenzende Gebiete übernahmen die chinesische Kultur, oder zumindest Teile derselben. Obwohl das chinesische Kernreich mehrmals von nicht-hanchinesischen Völkern beherrscht wurde konnte es seine auf dem Konfuzianismus und Taoismus basierende Integrität bewahren. Die Fremdvölker wurden im Laufe der Zeit sinisiert. Durch diese Anpassung an das Chinesentum wurden wenige fremde Elemente aufgenommen. Die chinesische „soft power“ hatte eine enorme Anziehungskraft auf die an den Grenzgebieten des „Reiches der Mitte“ wohnenden „Barbaren“.

Die kommunistische Ideologie verliert immer mehr an Wichtigkeit. Ein starker Nationalismus wird forciert. Eine internationale Führungsrolle wird als mehr oder weniger natürlich und selbstverständlich angesehen. Es öffnet sich langsam internationalen Organisationen und nimmt an Diskussionen und am „policy-making“ teil. Früher unter Deng Xiaoping vertrat man die Ansicht, dass die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen gefährlich sei, denn dies könne zu einem Souveränitätsverlust, zu Sanktionen oder zu einer gegen China gerichteten Politik führen.

Mit anderen Staaten wurde meist auf bilateralem Weg verkehrt. Multilaterale Verhandlungen waren nicht an der Tagesordnung. Die Basis für den Umgang mit anderen Staaten sind die von Zhou Enlai, einem Weggefährten Mao Zedongs und langjährigem Ministerpräsidenten und Außenminister Chinas, formulierten „Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“:

1) Achtung der Souveränität und der territorialen Integrität
2) Nichtangriffsverpflichtung
3) Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten
4) Gleichberechtigung und Pflege der Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen
5) friedliche Koexistenz.[20]

Verteidigungsminister Chi Haotian bezeichnet die fünf Prinzipien als politische Basis für globale und regionale Sicherheit.[21]

China möchte seinen wirtschaftlichen Großmachtstatus auch politisch und militärisch absichern und eine größere politische und sicherheitspolitische Rolle auf der Weltbühne spielen. Während sich China vor wenigen Jahren im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen seiner Stimme enthielt oder grundsätzlich dagegen stimmte, versucht es neuerdings eine konstruktive Rolle zu übernehmen. Die Stärkung der Rolle der UNO in internationalen Streitfragen und die Multilateralisierung der internationalen Beziehungen werden immer wieder von der chinesischen Regierung gefordert. In diesen Punkten sieht sich China immer wieder von Russland und einigen Staaten der Europäischen Union bestätigt. Die Regionalkooperation zum Beispiel mit den ASEAN-Staaten, das ARF – Asia Regional Forum, bestätigt die kontinuierliche Ausweitung der außenpolitischen Macht Chinas. Der immer wieder kehrende Gedanke hinter dieser Politik ist die Unterminierung der unilateralen Politik der USA und der Wettstreit um Einfluss. Nach Meinung von Kay Möller war das Leitmotiv der chinesischen Außenpolitik der neunziger Jahre die Multipolarität und nicht die Multilateralisierung der Weltpolitik.

„Im Unterschied zu den als destabilisierend verstandenen Militärbündnissen sollten solche Partnerschaften auf der Grundlage von Nichteinmischung und Gleichheit ein breites Spektrum der Zusammenarbeit erschließen. Die vorrangig ins Auge gefassten Partner (Russland, Japan, Indien, USA, Europäische Union, ASEAN) repräsentierten die theoretischen Pole in einer multipolaren Welt, wodurch das Modell letztlich wieder einem Metternichschen Mächtekonzert ähnelte.“ [22]

Grundsätzlich geht der Multilateralismus von einer Gleichheit der Akteure aus. Nach dieser Definition würde China im Vergleich zur USA aufgewertet. Kleineren Partnern hingegen verwehrt man diese Aufwertung. Die von China mitgestalteten oder selbst angeregten multilateralen Regime, wie die Shanghai Cooperation Organization, sind an Beijings Partikularinteressen orientiert.

1997 definierten der Außenminister Qian Qichen und der Verteidigungsminister Chi Haotian zusätzlich zu den „Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“ ein neues Konzept. Das „Neue Sicherheitskonzept“ definiert Chinas Vision für die internationale Sicherheit und Beziehungen. Einerseits drückt es zum wiederholten Male die Unzufriedenheit mit dem unipolaren internationalen System aus, welches von den USA dominiert wird. Andererseits zeigt es die Forderung Chinas, dass internationale Dispute friedlich, ohne Einsatz von Gewalt und durch diplomatische Verhandlungen gelöst werden sollten. China sieht zum Beispiel den Krieg gegen Jugoslawien im Jahr 1999 als Präzedenzfall für eine Einmischung in innere Angelegenheiten eines Staates und spricht sich gegen Interventionen unter dem Deckmantel der Menschenrechte aus. Solch ein Anlass könnte laut der Führung in Beijing die USA und ihre Alliierten dazu veranlassen, Taiwan oder Tibet zu Hilfe zu eilen. Drittens kommt der Wunsch Chinas nach einer dem Land zustehenden bedeutenderen Rolle in der Weltpolitik und die Respektierung als Großmacht zum Ausdruck. Ein weiteres Element des „Nationalen Sicherheitskonzeptes“ ist die Implementierung von multilateralen Sicherheitsmechanismen und „strategischer Partnerschaften“ mit anderen Staaten.[23] Die Akzeptanz und Förderung von Partnerschaften mit den Groß- und mittleren Mächten zeigt deutlich die neue Selbstdefinierung Chinas in der internationalen Politik. Beim 16. Parteikongress gab Jiang Zemin in seinem Arbeitsbericht die Devise aus, dass Chinas höchste Priorität die Beziehungen zu den Großmächten sein müsse. Chinas Beziehungen zu seinen Nachbarn und zu den Entwicklungsländern seien von sekundärer und tertiärer Bedeutung. Hu Jintao übernahm Jiangs Ansichten weit gehend, denn Chinas außenpolitische Interessen seien denen der führenden Mächte (USA, Russland, Japan, Indien und Europa) ähnlicher als jener der Entwicklungsländer.[24] Im chinesischen außenpolitischen Jargon wird Europa meist als Ganzes gesehen und es wird nicht mehr von den einzelnen Staaten gesprochen. Die Gespräche mit den einzelnen großen Staaten wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien werden weiterhin gepflegt. Mit der Wende hin zu den entwickelten Staaten ist auch die von diesen Staaten geforderte stärkere Verantwortung Chinas in der Weltpolitik verbunden. Aus militärischer Sicht definiert sich das „Neue Sicherheitskonzept“ wie folgt: „sich auswärtiger Aggression widersetzen und die Einheit des Staates sicherstellen ... den Aufbau der Armee stärken, Waffensysteme entwickeln und militärische Organisation reformieren“.[25]

Eine Änderung des Politikverständnisses der neuen Führungsgeneration zeigt sich auch in der verstärkten Aktivität in der Diplomatie. Immer mehr hohe Politiker und Militärs reisen ins Ausland und empfangen ausländische Delegationen. Während Mao in seiner ganzen politischen Laufbahn nur zweimal im Ausland war (beide Male bei Josef Stalin in der Sowjetunion), ließ sich gerade bei Jiang Zemin ein Anstieg der Reisediplomatie erkennen. Dieser Anstieg macht sich besonders im militärischen Bereich bemerkbar. Bis zum Jahr 2003 hat China mit mehr als 140 Ländern militärische Beziehungen aufgenommen. Chinesische Militärs nehmen an Militärübungen der Nachbarstaaten teil, im Gegenzug werden ausländische Delegierte zu chinesischen Manövern geladen. Des weiteren laufen immer mehr Kriegsschiffe fremde Häfen an (Juli 2002: Beendigung der ersten Reise um die ganze Welt eines chinesischen Kriegsschiffes). Gerade die Militärdiplomatie soll helfen, Ängste abzubauen und Transparenz herzustellen. Offiziell dient die militärische Diplomatie der allgemeinen Diplomatie des Staates, der Modernisierung der Landesverteidigung und der Armee. In der Volksbefreiungsarmee hat sich ein positives Bild von multilateralen Sicherheitsorganisationen herausgebildet. Multilateralismus wird mittlerweile als Instrument, welches für die Stärke und Sicherheit Chinas förderlich sein kann, gesehen.

3.1. Ziele der chinesischen Außen- und Sicherheitspolitik

Die oberste Priorität der chinesischen Außen- und Sicherheitspolitik besteht in der Schaffung eines friedlichen Umfeldes, um das wirtschaftliche Wachstum zu garantieren. Durch die erfolgreiche Demarkierung der Grenzen in den letzten Jahren fühlt sich China sicherer als je zuvor. China wird auf längere Sicht nichts unternehmen, wodurch dieser Zustand gefährdet werden könnte, außer die nationalen Interessen wären bedroht. Das internationale Gewicht Chinas nimmt immer mehr zu, gleichzeitig steigt aber auch die Abhängigkeit des Landes von den globalen ökonomischen und finanziellen Systemen. Nach Ansicht von Lin Limin, Mitglied des „China-Instituts für Gegenwärtige Internationale Beziehungen“, müsse die chinesische Außenpolitik im 21. Jahrhundert außer einem hohen wirtschaftlichen Entwicklungstempo, die Zunahme nationaler Stärke und die Übernahme legitimer internationaler Verpflichtungen im Auge behalten. China müsse sowohl an „harter“, als auch an „weicher“ nationaler Stärke zunehmen. Die „harten“ Faktoren betreffen eine leistungsfähige Wirtschaft, ein starkes Militär und einen hohen wissenschaftlichen Standard. Die „weichen“ Maßnahmen wären eine Propagierung der Attraktivität des historischen und kulturellen Erbes, des chinesischen Modernisierungs- und Entwicklungsprogramms und die Wiederbelebung des chinesischen Einflusses auf die asiatisch-pazifische Region. Lin möchte die VBA in einer untergeordneten Rolle sehen.

Stattdessen sollen Wirtschaft und Entwicklung und nicht die Aufrüstung Priorität haben. Weiters solle China verstärkt für eine Multipolarisierung der Weltpolitik eintreten.[26]

Die Wirtschaft muss weiterhin wachsen, um die ambitionierten Ziele der militärischen Modernisierung zu gewährleisten. Ein wichtiges Ziel der Außenpolitik ist die Aufrechterhaltung der inneren politischen Ordnung. Ist das äußere Umfeld stabil, die wirtschaftliche Entwicklung positiv und der Handel floriert, dann ist auch das soziale Gefüge stabil und die Regierungsarbeit wird nicht angezweifelt. Somit bleibt die Herrschaft der Kommunistischen Partei unangetastet. Die Argumente, die die KPCh (Kommunistische Partei Chinas) für ihre politischen Interessen und somit für die nationalen Interessen Chinas offeriert lauten, dass „nur die KPCh China retten kann“,

„China kann sich nur unter der Führung der KPCh vorteilhaft entwickeln“ und „keine KPCh, kein Neues China“. In der von Jiang Zemin geschaffenen „Theorie der dreifachen Repräsentation“ wird das Verhältnis zwischen Partei und Armee wie folgt beschrieben:

„[...] repräsentiert die KP in China zugleich die Entwicklungserfordernisse der hoch entwickelten gesellschaftlichen Produktivkräfte, den fortschrittlichen Kurs der hoch entwickelten chinesischen Kultur sowie die fundamentalen Interessen des chinesischen Volkes. Die Natur der KPCh ist demnach eine fortschrittliche. Als solchermaßen fortschrittliche Kraft muss sie auch nach wie vor die uneingeschränkte Führung über die Armee ausüben.“ [27]

Das damit verbundene strategische Denken wird im Konzept der „umfassenden Sicherheit“ oder der „neuen Sicherheit“ zusammengefasst und von der höchsten Führung der Partei propagiert. In einem Journal des Außenministeriums stand zu lesen, dass Chinas „grand strategy“ auf einer „umfassenden Sicherheit“ (politisch, wirtschaftlich und kulturell) und einem inneren und äußeren Frieden und nicht nur auf militärischer Sicherheit beruhen dürfe.[28]

„Friedliche Entwicklung“ ist das Schlagwort dieser Politik. Dieses Konzept wurde erst vor wenigen Jahren geändert. Zuvor war vom „friedlichen Aufstieg“ die Rede. Da aber der Begriff „Aufstieg“ bei den Nachbarn negativ konnotiert und mit dem Aufstieg Japans und Deutschlands zu Imperialmächten in Verbindung gebracht wurde und im Zweiten Weltkrieg mündete, wurde der Name des Konzeptes revidiert.

“What is worrying about China’s rise is historical precedent. Both history and scholarship clearly suggest that nations in economic transition tend to be assertive externally, and that accomodating a rising power into the established order has proved difficult and disruptive.” [29]

China betont die Vermeidung von Gewalt als Lösung von internationalen Disputen, den defensiven Charakter seiner Militärstrategie, die Deklaration, dass China nicht als Erster Atomwaffen einsetzt, die Unterstützung für nuklearwaffenfreie Zonen und dass China niemals militärische Kräfte auf fremdem Gebiet stationiert.

Die derzeitige auf Erhaltung des Status Quo ausgerichtete konservative Außenpolitik enttäuscht viele chinesische Nationalisten. Sie wollen eine Außenpolitik, die mehr auf den Machtausbau ausgerichtet ist. China soll mehr Einfluss und Prestige in den internationalen Beziehungen erlangen. Die nationalistische Bewegung löst den Kommunismus als Ideologie ab und gewinnt immer mehr an Einfluss.

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 und der Beginn des Kriegs gegen den Terror änderten die internationalen Beziehungen grundlegend. Diese Ereignisse beeinflussten auch die chinesische Sicht der Weltgeschehnisse. Der Wille Beijings zu einer Einbindung in die existierende internationale Ordnung und die Partizipation in internationalen Organisationen wurden intensiviert. Die chinesische Führung wusste, dass die USA im Kampf gegen den Terrorismus auf die anderen großen Mächte angewiesen ist und dass man mit den Amerikanern zusammenarbeiten müsse. Außerdem sucht man im Angebot der Hilfe und Zusammenarbeit mit den Amerikanern, Verständnis für den eigenen Feldzug gegen den Terrorismus, sprich gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen ethnischer Minderheiten wie der Uighuren und Tibeter vorzugehen, zu erlangen. Es soll das angeschlagene Verhältnis zu den USA wieder verbessert werden. Die USA sehen in China zwar noch immer eine potenzielle Bedrohung und versuchen es einzudämmen, aber die Bekämpfung der Terroristen muss Vorrang haben, denn China sei selbst zum Angriffsziel geworden und seine Sicherheit ist gefährdet. Dass die USA der Hegemon über die ganze Welt sein will, muss derzeit unter den gegebenen Umständen akzeptiert werden, obwohl die Frage noch nicht geklärt ist, was gefährlicher ist, Hegemonismus oder Terrorismus. Trotzdem sieht China in den USA eine Herausforderung für einen längeren Zeitraum.

Die chinesische Führung proklamierte drei wichtige Ziele, damit China sich entwickeln und als Nation überleben kann: nationale Einheit, Stabilität und Souveränität. Das erste Ziel, es wird als das Wichtigste der Drei betrachtet, bezieht sich sehr stark auf Taiwan, welches als abtrünnige Provinz bezeichnet wird, aber auch auf Tibet und Xinjiang. In den beiden letztgenannten Gebieten, welche beide offiziell Autonomiestatus genießen, kommt es immer wieder zu Sezessionsbestrebungen. Um noch einmal auf Taiwan zurückzukommen, hier wird auch das dritte Ziel, die Souveränität berührt, denn gerade die USA mit ihrer vertraglichen Verteidigungspflicht gegenüber Taiwan verletzt nach chinesischer Auffassung die Souveränität durch wiederholte Einmischung in innere Angelegenheiten.

Außer den traditionellen Sicherheitsinteressen begannen die strategischen Planer auch nicht traditionelle Bedrohungen wie HIV/AIDS, Drogen, Proliferation von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermittel und Terrorismus ins Kalkül zu ziehen. Die „wirtschaftliche“ und „Informationssicherheit“ und die Auswirkungen der Globalisierung rückten ebenfalls ins Blickfeld. Gerade der Terrorismus rückte seit dem 11. September 2001, aber auch bereits die Jahre zuvor, ins Blickfeld der Planer.

Die chinesische Außenpolitik ist darauf ausgerichtet, sich einen strategischen Vorteil zu verschaffen. Während dieser Zeit soll soviel ökonomische, politische und militärische Macht angesammelt werden, die China in den Rang einer Weltmacht erhebt.

3.1.1. Schwierigkeiten in der chinesischen Außen- und Sicherheitspolitik

Je mehr die von der Führung selbst definierte nationale Stärke zunimmt, desto komplexer gestaltet sich die außen- und sicherheitspolitische Situation. China tritt in einen verstärkten Wettstreit mit anderen etablierten Großmächten ein. Hier wird an erster Stelle die USA genannt. Die kommunistische Führung weiß, dass sie auf die Vereinigten Staaten angewiesen ist, um ihre nationalen Ziele zu erreichen. Die Abhängigkeit besteht in Bereichen der Technik, des wissenschaftlichen Know-hows und des Handels. Die USA sind das einzige Land, welches China militärisch bedrohen kann oder wirksame Sanktionen gegen das Regime verhängen kann. Deshalb versucht China durch bilaterale Maßnahmen Konflikte zu entschärfen beziehungsweise mit anderen mittleren und größeren Mächten oder internationalen Organisationen (z.B. EU, Russland, Japan, UNO) eine strategische Gegenbalance zu schaffen. Einstweilen konzentrieren sich diese Bemühungen hauptsächlich auf die asiatisch-pazifische Region. Hier konnte China das von der Sowjetunion hinterlassene sicherheitspolitische Machtvakuum geschickt füllen.

Im Weißbuch zur nationalen Verteidigung vom Juli 1998 ist präzise definiert, was die Führung in Beijing in Bezug auf die jetzige internationale Ordnung und die einzige verbliebene Weltmacht USA, die nie direkt beim Namen genannt wird, denkt:

“[...] there still exist some factors of instability both globally and regionally: Hegemonism and power politics remain the main source of threats to world peace and stability; cold war mentality and its influence still have a certain currency, and the enlargement of military blocks and the strengthening of military alliances have added factors of instability to international security […].” [30]

Im Weißbuch 2000 werden die Vereinigten Staaten namentlich erwähnt:

[...] “neo-interventionism,“ “neo-gunboat diplomacy,” and “neo-economic colonialism”, which are seriously damaging the sovereignty, independence, and developmental interests of many countries, and threatening world peace and security. [...] The United States is further strengthening its military presence and bilateral military alliances in the region, and is advocating the TMD [theater missile defense] system, and is planning to deploy it in East Asia.” [31]

Hier wird auch deutlich, dass sich China gegen militärische Allianzen und Blöcke ausspricht. Bei der Anspielung auf das Raketenabwehrprogramm der USA befürchtet China zudem eine Unterminierung der weltweiten Bemühungen um die Rüstungskontrolle und Abrüstung. China möchte den Weltfrieden wahren und gegen Aggression und Expansion kämpfen. Es tritt entschieden gegen Hegemonismus, Machtpolitik, Kriegspolitik, Aggressions- und Expansionspolitik ein. China ist auch dagegen, dass ein Land einem anderen Land sein eigenes politisches System aufzwingen will.[32]

Die Militärpräsenz der USA in unmittelbarer Nähe zu China wird in Beijing mit gemischten Gefühlen wahrgenommen. Einerseits garantieren die USA Stabilität in der Region, andererseits spricht man in Chinas Führungskreisen von der bereits oben erwähnten Eindämmungspolitik und dass die Vereinigten Staaten versuchen, China am Aufstieg zur Großmacht zu hindern. Nur mehr die nördliche Grenze, dort wo China an Russland grenzt, ist frei von us-amerikanischer Militärpräsenz. Gerade der globale Krieg gegen den Terror bestärkt sie in ihrer Meinung. Durch die Militärpräsenz in Zentralasien und durch die intensivierten militärischen Beziehungen mit Indien, Pakistan und Japan fühlt sich China eingekreist. Durch die engere Anlehnung an Russland und die Staaten Zentralasiens versucht man dieser Entwicklung gegenzusteuern. Bei diesen Überlegungen spielen nicht nur sicherheitspolitische Aspekte eine Rolle. Auch die wirtschaftliche Präsenz und der Zugang zu neuen Märkten und der Zugang zu Rohstoffen für die energiehungrige Industrie sind von immanenter Wichtigkeit.[33]

Condoleeza Rice, damals noch nationale Sicherheitsberaterin von Präsident George W. Bush, ist der Ansicht, dass „China keine Macht des Status quo sei, sondern das Kräfteverhältnis in Asien zu ihren Gunsten verändern möchte. Dies mache es zu einem strategischen Konkurrenten, nicht zu einem strategischen Partner.“[34] Unter der Regierung Bill Clinton wurde China noch als strategischer Partner betrachtet und ein Engagement mit China war die Devise. Die USA sehen einen durch den absoluten Machtzuwachs Chinas bedingten Rückgang ihrer relativen Macht und sie reagieren dementsprechend. Die Regierung versucht diese Entwicklung zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen und positioniert sich für den möglicherweise näher rückenden Konflikt. Ob die Entwicklung gestoppt oder „nur“ verlangsamt wird hängt von der jeweiligen Regierung in Washington ab. Die Neokonservativen wollen sie stoppen und sogar umkehren. Li Jijun, der Vizepräsident der Akademie der Militärwissenschaften (AMS) meint, wenn man China als Feind betrachtet, hat man 1,2 Milliarden Menschen gegen sich. Seiner Meinung nach wäre es am Besten das Denken des Kalten Krieges abzulegen. Man sollte statt einer Konfrontation lieber an Kooperation denken und keinen Konflikt von Zaun brechen.[35]

Chinas fehlende Möglichkeiten, der Überlegenheit Amerikas etwas entgegenzusetzen, ist für China, welches nach einer führenden Rolle in der Weltpolitik strebt, eine schmerzvolle Erfahrung und ist ein großer Antrieb für den Ausbau der dazu nötigen Kräfte, besonders des Militärs. Die teilweise aggressive Politik der us-amerikanischen Regierung erweckt den Eindruck, dass die USA China spalten und „verwestlichen“ wolle, um größeren Einfluss auf das Land zu gewinnen. Um in Folge Chinas Annäherung an Russland zu stoppen und dadurch einen Gegenpol zur geostrategischen Position der USA zu verhindern soll gleichzeitig auch Russland am Wiederaufstieg zur Macht gehindert werden.[36]

[...]


[1] Vgl. Umbach Frank: China – unaufhaltsamer Machtfaktor?, in: Reiter Erich (Hrsg.): Jahrbuch für Sicherheitspolitik 2001. Verlag E.S. Mittler & Sohn GmbH. Hamburg, Berlin, Bonn. 2000. S. 770.

[2] Siehe Cao Baojian/Guo Fuwen: Deep Thinking before The Pacific. Beijing. 1989. S. 124.

[3] Siehe Montaperto N. Ronald: The PLA. In Search of a Strategic Focus, in: URL: http://www.fas.org/nuke/guide/china/doctrine/jfq0607.pdf [Stand: 18.12.2006]. S. 1.

[4] Siehe Kindermann Gottfried-Karl: Hans J. Morgenthau und die theoretischen Grundlagen des politischen Realismus, in: Morgenthau J. Hans: Macht und Frieden. C. Bertelsmann Verlag. Gütersloh. 1963. S. 23.

[5] Vgl. Morgenthau J. Hans: Macht und Frieden. C. Bertelsmann Verlag. Gütersloh. 1963. S. 49-54.

[6] Siehe Morgenthau J. Hans: Macht und Frieden. C. Bertelsmann Verlag. Gütersloh. 1963. S. 54-55.

[7] Vgl. Kindermann Gottfried-Karl: Hans J. Morgenthau und die theoretischen Grundlagen des politischen Realismus, in: Morgenthau J. Hans: Macht und Frieden. C. Bertelsmann Verlag. Gütersloh. 1963. S. 22.

[8] Siehe Nye S. Joseph Jr. : Understanding International Conflicts. An Introduction to Theory and History. Harper Collins. New York, NY. 1994. S. 21.

[9] Vgl. Morgenthau J. Hans: Macht und Frieden. C. Bertelsmann Verlag. Gütersloh. 1963. S. 55-60.

[10] Vgl. Nye S. Joseph Jr. : Understanding International Conflicts. An Introduction to Theory and History. Harper Collins. New York, NY. 1994. S. 2-3/12.

[11] Vgl. Nye S. Joseph Jr. : Understanding International Conflicts. An Introduction to Theory and History. Harper Collins. New York, NY. 1994. S. 19.

[12] Vgl. Kindermann Gottfried-Karl: Hans J. Morgenthau und die theoretischen Grundlagen des politischen Realismus, in: Morgenthau J. Hans: Macht und Frieden. C. Bertelsmann Verlag. Gütersloh. 1963. S. 25-26.

[13] Vgl. Walt Stephen: The Origins of Alliances. Cornell Univ. Press. Ithaca, NY. 1987. S. 1/7-9.

[14] to jump on the bandwagon: sich der Erfolg versprechenden Sache anschließen; bandwagon effect: Mitläufereffekt. Da es im Deutschen keine eindeutige Entsprechung für das Wort „bandwagon“ gibt, soll der englische Term verwendet werden.

[15] Vgl. Walt Stephen: The Origins of Alliances. Cornell Univ. Press. Ithaca, NY. 1987. S. 5-6.

[16] Vgl. Walt Stephen: The Origins of Alliances. Cornell Univ. Press. Ithaca, NY. 1987. S. 17-25.

[17] Vgl. Walt Stephen: The Origins of Alliances. Cornell Univ. Press. Ithaca, NY. 1987. S. 28-31.

[18] Siehe Hegemonie: PC-Bibliothek. © 2002 Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG.

[19] Vgl. Walt Stephen: The Origins of Alliances. Cornell Univ. Press. Ithaca, NY. 1987. S. 49.

[20] Vgl. Kreft Heinrich: China – die kommende Großmacht. Vom Objekt zum Akteur der internationalen Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 51/2000. S. 24.

[21] Vgl. Shambaugh L. David: Modernizing China's Military: Progress, Problems, and Prospects. University of California Press. Berkeley, Calif. [u.a.]. 2003. S. 293.

[22] Siehe Möller Kay: China in Fernost: Selektive Multilateralität, in: CHINA aktuell. April 2004. S. 391.

[23] Vgl. Shambaugh L. David: Modernizing China's Military: Progress, Problems, and Prospects. Berkeley, Calif. [u.a.]. University of California Press. 2003. S. 292.

[24] Vgl. Medeiros S. Evan: Agents of Influence: Assessing the Role of Chinese Foreign Policy Research Organizations after the 16th Party Congress, in: Scobell Andrew/Wortzel Larry: Civil-military Change in China: Elites, Institutes, and Ideas after the 16th Party Congress, in: URL: http://www.strategicstudiesinstitute.army.mil/pdffiles/PUB413.pdf [Stand: 02.09.2006]. S. 296.

[25] Siehe Möller Kay: China in Fernost: Selektive Multilateralität, in: CHINA aktuell. April 2004. S. 396.

[26] Vgl. Wie soll Chinas Außenpolitik in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts aussehen? Drei Hauptaufgaben., in: CHINA aktuell. Mai 2000. S. 465.

[27] Siehe Strikte Ablehnung einer Trennung von Armee und Partei, in: CHINA aktuell. Juni 2001. S. 588.

[28] Vgl. Wang Fei-Ling: Preservation, Prosperity and Power: What motivates China’s foreign policy?, in: Journal of Contemporary China (2005), 14 (45), November, 669-694. S. 676.

[29] Siehe Shambaugh L. David: “Containment or Engagement of China? Calculating Beijing’s Responses”, in: International Security. Fall 1996. S. 180-209, hier S. 185.

[30] Siehe URL: http://www.china.org.cn/e-white/5/5.1.htm [Stand: 21.07.2006]. China’s National Defense. July 1998. Beijing. Kapitel I. “The International Security Situation”.

[31] Siehe URL: http://www.china.org.cn/e-white/2000/20-2.htm [Stand: 21.07.2006]. China’s National Defense. October 2000. Beijing. Kapitel I. “The Security Situation”.

[32] Vgl. URL: http://www.china-botschaft.de/det/zt/zgzfbps/t94422.htm [Stand: 16.09.2006]. Weißbuch Chinas Landesverteidigung 2000. Beijing. Kapitel II. Die Verteidigungspolitik.

[33] Vgl. URL: http://www.defenselink.mil/pubs/d20040528PRC.pdf [Stand: 20.07.2006]. FY04 Report to Congress on PRC Military Power. S. 8-16.

[34] Siehe Gu Xuewu: China – verwundbare Kontinentalmacht, in: URL: http://www.dgap.org/IP/ip0104/gu.html [Stand: 23.10.2005]. S. 2.

[35] Vgl. Li Jijun: Traditional Military Thinking and the Defensive Strategy of China, in: URL: http://www.fas.org/nuke/guide/china/doctrine/china-li.pdf [Stand: 18.11.2006]. S. 12.

[36] Vgl. URL: http://www.defenselink.mil/pubs/20030730chinaex.pdf [Stand: 03.09.2006]. S. 13.

Final del extracto de 155 páginas

Detalles

Título
Die Beziehung Chinas zu Russland unter besonderer Berücksichtigung der Volksbefreiungsarmee
Universidad
University of Vienna  (Institut für Politikwissenschaft)
Calificación
2
Autor
Año
2007
Páginas
155
No. de catálogo
V116019
ISBN (Ebook)
9783640180622
ISBN (Libro)
9783640180752
Tamaño de fichero
1932 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Beziehung, Chinas, Russland, Volksbefreiungsarmee, Zentralasien, China, Internationale Politik, Internationale Beziehungen, USA, Korea, SCO, Shanghai Cooperation Organization, Sechs-Parteien-Gespräche, Nordkorea, Südkorea, KPCh, Kommunistische Partei Chinas
Citar trabajo
Mag. Bakk. Christian Roser (Autor), 2007, Die Beziehung Chinas zu Russland unter besonderer Berücksichtigung der Volksbefreiungsarmee, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116019

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