August Hermann Niemeyers pädagogische Konzepte zum rhetorischen Unterricht


Mémoire (de fin d'études), 2006

115 Pages, Note: 1,1


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 August Hermann Francke und seine Stiftungen
2.1 Biographie
2.1.1 Kindheit und Jugend
2.1.2 Studienjahre und akademische Laufbahn
2.1.3 Verfolgung und Festanstellung
2.1.4 Die Gemeinde Glaucha
2.1.5 Die Glauchaischen Anstalten
2.1.6 Franckes Arbeit an der Universität
2.1.7 Letzte Lebensjahre
2.2 Die Franckeschen Stiftungen im 18. Jahrhundert
2.2.1 Freylinghausen und Gotthilf August Francke
2.2.2 Veränderungen an der Universität
2.2.3 Die Krise der Stiftungen
2.2.4 Ein neuer Anfang

3 August Hermann Niemeyer
3.1 Biographie
3.1.1 Kindheit und Jugend
3.1.2 Studienjahre
3.1.3 Akademische Laufbahn
3.1.4 Die Entwicklung der Ästhetik als
philosophische Disziplin
3.1.5 Inspektor über das Pädagogium
3.1.6 Pädagogische Arbeit und akademische Lehrfreiheit
3.1.7 Die Empfindsamkeit
3.1.8 Die Persönlichkeit Niemeyers
3.1.9 Niemeyer als Mitglied der halleschen Gesellschaft
3.1.10 Napoleonische Herrschaft
3.1.11 Deportation und Rettung
3.1.12 Fortbestand und Freiheitskampf
3.1.13 Preußens Wiederkehr
3.1.14 Letzte Lebensjahre
3.2 Der Autor Niemeyer
3.3 Der Pädagoge Niemeyer
3.3.1 Allgemeine pädagogische Standpunkte
3.3.2 Der Einfluss der Erfahrungsseelenkunde
3.3.3 Der Einfluss Herders
3.3.4 Integration der neuen Ansätze in die
Unterrichtsgestaltung

4 Die „Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts“ –
Inhalte und Ziele

5 Analyse
5.1 Vorbemerkungen
5.2 „Vom deutschen Sprachunterricht“
5.2.1 Lehrschwerpunkte
5.2.1.1 Mechanische Fertigkeiten – Zur „Bildung
der Sprachwerkzeuge“
5.2.1.2 Die Bildung des Stils
5.3 Rhetorischer Unterricht
5.3.1 Zum Verhältnis von Rhetorik und Poetik
5.3.2 Allgemeine Einführung
5.3.3 Rhetorik und Poetik
5.3.4 Vorbereitung auf die Theorie
5.3.5 Erste Behandlung der Theorie
5.3.6 Praktische Übungen in der Anwendung der
Rhetorik und Poetik
5.3.7 Mündliche Wohlredenheit
5.3.8 Deklamation und Aktion

6 Zusammenfassung

7 Anhang

Verzeichnis der wichtigsten Schriften A.H. Niemeyers

8 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Am Institut für Sprechwissenschaft und Phonetik der Martin-Luther-Universität beschäftigten sich schon mehrere Diplomarbeiten mit der Rhetorik an Universität und Schule. Diese Untersuchungen bezogen sich vor allem auf das 17. und beginnende 18. Jahrhundert. Sie befassten sich mit der Rolle der Rhetorik in der Gesellschaft der Aufklärung und im Curriculum der Fridericiana bzw. mit rhetorischen Aspekten in den Lehrplänen an Hallenser Schulen Anfang des 18. Jahrhunderts. Zwei Arbeiten stellten die Professoren der Beredsamkeit an der Fridericiana im 17. und 18. bzw. im 19. und 20. Jahrhundert vor (vgl. Riedel 1999; Birke 1998; Riede 1998; Keil 1996).

Zum Ende des 18. Jahrhunderts bzw. den Beginn des 19. Jahrhunderts, in dessen Verlauf sich die Einstellung zu rhetorischen und poetischen Aspekten weitreichend änderte, gab es bis jetzt noch keine Untersuchung. Auch die Rolle des Faches Rhetorik in der schulischen Bildung dieser Zeit wurde bis jetzt noch nicht untersucht. In der vorliegenden Arbeit sollen nun die pädagogischen Konzepte des schulischen Rhetorikunterrichts exemplarisch mithilfe einer der wichtigsten pädagogischen Schriften des 19. Jahrhunderts beleuchtet und beschrieben werden.

Sie widmet sich aber nicht nur rhetorischen und pädagogischen Gesichtspunkten, es werden auch gesellschaftliche und philosophische Veränderungen einbezogen, die letztlich zu einem anderen Verständnis von Erziehung und damit auch des Rhetorikunterrichts und seinen Inhalten geführt haben. Wichtig dafür ist eine historische Einordnung – einerseits um August Hermann Niemeyers Beweggründe und pädagogische Vorstellungen zu verstehen, andererseits um diese Vorstellungen in einen größeren Kontext einordnen zu können.

Dies ist der Grund für die recht ausführliche Darstellung der Biographien August Hermann Franckes und August Hermann Niemeyers und der Geschichte der Franckeschen Stiftungen. Denn Niemeyer wird sowohl von aufklärerischen als auch von pietistischen Einflüssen geprägt, er ist ein Kind seiner Zeit, nimmt aber immer Rücksicht auf das ihm übertragene pietistische Erbe. Er vereint beide Aspekte und setzt sie für seine Pädagogik in eine neue Beziehung. Einige Ansichten, die auf seine Vorstellungen eingewirkt haben, können nur im Überblick dargestellt und ihre wichtigsten Gedanken in aller Kürze beschrieben werden, denn die Diskussion dieser Gedanken füllt andere Bücher.

Im Analyseteil wird die pädagogische Methodik A.H. Niemeyers umfangreich dargestellt und erörtert. Die dazugehörige Literaturrecherche umfasste vor allem die „Grundsätze der Erziehung“, daneben aber auch andere Bücher Niemeyers, die seine pädagogischen Vorstellungen weiter beleuchten.

Diese Arbeit soll auch noch einem anderen Zweck dienen: sie möchte Lust machen auf die Beschäftigung mit einem faszinierenden und spannenden Jahrhundert, in dem die Diskussion um pädagogische Ansätze ausgiebig geführt wurde und in dem viele Auffassungen zu Bildung und Erziehung entstanden sind, die den Ursprung für unser heutiges Schulwesen bilden. Und sie soll dazu anregen, sich mit den Veränderungen der Rhetorik im wissenschaftlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts zu beschäftigen, die ebenfalls die Basis für unser heutiges Verständnis von Rhetorik und Poetik bilden. Dieser Rückgriff auf die Vorgeschichte des Faches Sprechkunde/Sprechwissenschaft hilft, „moderne“ Sichtweisen zu durchschauen und zu beurteilen – und damit unser eigenes Fach besser zu verstehen.

2 August Hermann Francke und seine Stiftungen

Die Franckeschen Stiftungen entstanden Ende des 17. Jahrhunderts in Halle an der Saale. Sie prägten nicht nur das soziale, sondern auch das geistige Leben der Stadt. Ihr Gründer, August Hermann Francke, war einer der ersten Professoren an der Philosophischen und Theologischen Fakultät der 1694 gegründeten Friedrichs – Universität. Seine strenge Auslegung des christlichen Glaubens, aber auch seine in den Stiftungen praktizierte Nächstenliebe prägten die Stadt und die Universität.

2.1 Biographie

2.1.1 Kindheit und Jugend

Francke wurde am 22. März 1663 in Lübeck geboren. Sein Vater Johannes Francke war ein hochangesehener Jurist, seine Mutter Anna Gloxin die Tochter des Lübecker Bürgermeisters. Als Johannes Francke 1666 eine Stelle als Hofrat bei Herzog Ernst von Sachsen – Gotha bekam, verließ die Familie Lübeck.

Die Residenzstadt Gotha war damals der Mittelpunkt der thüringischen Kirchen- und Schulreform. Die Schulen folgten den pädagogischen Ideen von Comenius und Ratke. August Hermann Francke wurde schon seit frühester Kindheit und später durch den Besuch des Gothaer Gymnasiums mit den Ideen bekannt gemacht, die für sein späteres Wirken richtungsweisend wurden (vgl. Wallmann 1998, 35f.).

Für seine religiöse Entwicklung war die ältere Schwester Anna wichtig – durch sie angeregt las er englische Erbauungsbücher und Johann Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum“. Dieses Buch entstand vermutlich aus Predigten und ist die „wichtigste Erbauungsschrift der lutherischen Kirche“ (Jung 2003, 783). Es war seit dem frühen 17.Jh. im gesamten europäischen Protestantismus verbreitet und ausgerichtet auf innerliche Frömmigkeit und tätiges Leben. Es sollte gläubige Christen zur Buße und zu einer vertieften Frömmigkeit anleiten (vgl. Jung 2003, 783f.; Wallmann 1998, 36).

2.1.2 Studienjahre und akademische Laufbahn

Francke begann sein akademisches Studium im Sommersemester 1679 an der Universität Erfurt, setzte es jedoch ein Semester später in Kiel fort. Seine akademischen Studien lassen sich als typisch für diese Zeit bezeichnen, er wandte sich vor allem den philosophischen Disziplinen und den alten Sprachen zu. Er folgte dem Bildungsideal der Gelehrsamkeit, welches die akademische Welt des 17. Jahrhunderts weithin beherrschte. Beim Studieren ging es vor allem um die Anhäufung von möglichst viel Wissen und die Ausbildung des Verstandes. Die Theologie wurde nicht als lebendige Erkenntnis betrachtet, sondern nur als tote Wissenschaft, in der dogmatische Lehrsätze von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Diese Anschauungen bekämpfte Francke später als zu einseitig, sie standen in krassem Gegensatz zu seinem Glauben an einen lebendigen, liebenden Gott (vgl. Wallmann 1998, 36).

Anfang 1684 kam Francke an die Universität Leipzig, eine der frequentiertesten Hochschulen Deutschlands. Er wohnte bei Adam Rechenberg, einem Professor der alten Sprachen und Geschichte und Schwiegersohn von Phillip Jakob Spener, dem Begründer des (später so genannten) Pietismus. Francke wollte hier seine akademische Laufbahn antreten. Zunächst war er allerdings nur Privatlehrer für Hebräisch. Nach dem Erwerb des philosophischen Magisters und der Abgabe seiner Dissertation, hielt er philologische Vorlesungen über biblische Texte. 1686 gründet er das Collegium philobiblicum, in dessen Rahmen sonntägliche Übung zur Bibelauslegung abgehalten wurden. Sein Zweck war vorerst rein wissenschaftlich (vgl. Wallmann 1998, 38).

Spener wurde jedoch über die Gründung des Collegium informiert und versuchte, zunächst in Briefen, den Schwerpunkt von der rein wissenschaftlichen Zielsetzung stärker auf die persönliche Erbauung zu orientieren. Zur ersten persönlichen Begegnung mit Francke kam es 1687. Seine Persönlichkeit und Ausstrahlung beeindruckten Francke sehr und Spener wurde für ihn zum wichtigsten Ratgeber in theologischen und praktischen Fragen, aber auch zum Seelsorger. Seit dieser Begegnung mehrten sich auch die Anzeichen für die Wende in Franckes Denken. Er begann Texte nicht rein wissenschaftlich, sondern im Sinne Speners existenziell auszulegen. Auch seine religiösen und moralischen Vorstellungen wurden differenzierter und damit seine Forderungen radikaler. Ein Beispiel hierfür ist die Forderung nach einer genau datierbaren Bekehrung, die einem Bußkampf folgt. Der Zweifel am eigenen Glauben und an der Existenz Gottes kann, so Francke, nur durch eine Anrufung Gottes, durch eine Bitte um Erlösung überwunden werden. Der Mensch wird durch die Erfahrung eines lebendigen Gottes, der ihn aus dem Zustand des Zweifels errettet, neu geschaffen, neu geboren.. Nur dann kann er als wahrer Christ angesehen werden (vgl. Wallman 1998, 38ff.).

In der Leipziger Bevölkerung setzte sich bald ein Spottname für die Teilnehmer an diesen Erbauungsversammlungen, den Konventikeln, durch: Pietist. Der Name blieb an der Bewegung haften, nachdem der Rhetorikprofessor Joachim Feller ihn in einem Gedicht aufgegriffen und ihn zu einem Ehrennamen gemacht hatte. In der heutigen Forschung wird der Begriff Pietismus für eine religiöse Erneuerungsbewegung im 17. und 18. Jahrhundert verwendet. Der neue Ansatz besteht in einer Individualisierung und Verinnerlichung des religiösen Lebens und einer Abkehr von einem „zu äußerer Form erstarrenden traditionellen Gewohnheitschristentum“ (Wallmann 2005, 21). Dieser Ansatz führt zu durchgreifenden Reformen in Theologie und Kirche. Die Besonderheit des hallischen Pietismus ist seine Arbeit auf der sozialen Ebene. Dies hat zur Folge, dass sein Wirkungskreis stark erweitert wird (vgl. Wallmann 1998, 42f.; Wallmann 2005, 21ff.).

Der hallesche Pietismus, Franckes Forderung nach einem ständigen Umgang mit Gott beeinflussten sein ethisches und soziales Verhalten und das seiner Anhänger und Mitstreiter. Aufgrund dieser Überzeugungen lehnte Francke das barocke Gelehrtenideal ab und wandte sich entschieden der „praxis pietatis“ zu. Diese schließt nicht nur das Bekenntnis zum christlichen Glauben und das Gebet ein, sondern auch praktisches Handeln und Arbeiten im Sinne der Nächstenliebe, soziale Organisation und Kontrolle des Menschen, Erwachsenenbildung und Kindererziehung. Die persönliche Frömmigkeit eines Christen sollte alle Bereiche des Lebens umfassen, nicht nur die sonntäglichen Gottesdienste. Diese Frömmigkeit war für Francke ein Ausdruck wahren Glaubens und reiner Lehre. (vgl. Wallman 1998, 39ff.; Loch 2004, 265; Obst 2000a, 17; Kemper 1997, 1).

Francke wurde zu einem praktischen Theologen, Nur durch den Glauben konnte die Entwicklung der Menschen dauerhaft eine positive Entwicklung nehmen. Deswegen war das Ziel seiner Arbeit, die Menschen zum lebendigen Glauben zu bringen. Er wandte sich gegen ein rein „äußerliches“ christliches Leben, in dem es genügte, die dogmatischen Glaubenssätze der Kirche zu wiederholen und starren Abläufen, zum Beispiel beim Gottesdienst, zu folgen. Dem franckeschen Pietismus kam es vor allem auf eine innere Erweckung des Menschen an. Er forderte ein persönliches, das ganze Gemüt und Gefühl umfassendes Christentum, eine lebendige Gotteserfahrung und eine echte, von einer starken Erlösungssehnsucht geprägte Frömmigkeit. Die Menschen sollten ihren Glauben verinnerlichen und dann danach handeln. Das führte dazu, dass die Bedeutung der Institution „Kirche“ in den Hintergrund trat bzw. als Vermittlungsinstitution zu Gott überflüssig wurde. Glaube konnte und sollte im Inneren zustande kommen und gelebt werden. Für die persönliche Gotteserfahrung war die Kirchengemeinde nicht mehr wichtig.

Der Glaube verlangt totale Hingabe, er duldet keine Vergnügungen oder „sinnlosen“ Zeitvertreib. Luther hatte die Welt in gute, schlechte und die sogenannten Mitteldinge, die keins von beiden waren, eingeteilt. Diese Ansicht lehnte Francke ab, es gab für ihn nur Dinge, die den Glauben befördern bzw. von ihm ablenken. Diese Ansicht beinhaltet natürlich schon eine Radikalisierung. Francke ging streng gegen weltliche Vergnügungen vor. Diese Ansicht hat dem halleschen Pietismus zu Franckes Lebzeiten nicht geschadet, nach seinem Tod hat sie allerdings erheblich zur Ablehnung der gesamten Bewegung beigetragen (vgl. Obst 2000a, 53ff.; Krüger 1972, 19f.; Kemper 1997, 1f.).

Francke beschloss in Leipzig, seine akademische Laufbahn nicht weiter zu verfolgen und auch seine Promotion in Theologie nicht zu beenden. Diese Entscheidungen hatten Einfluss auf seine Vorlesungen. In seiner Textexegese stellte er nun den Bezug zu Frömmigkeit und Praxis in den Vordergrund, vernachlässigte aber auch nicht die philologische Erklärung. Zusätzlich unterrichtete er immer mehr auf Deutsch und nicht in der Wissenschaftssprache Latein. Diese Neuerungen sprachen sich bald unter den Studenten herum und die Hörsäle der ordentlichen Professoren der Theologie leerten sich. Dieser Erfolg Franckes erregte den Neid und das Misstrauen der orthodoxen Professoren der Theologie. Franckes Studenten fingen an, ebenfalls Konventikel zu gründen, an denen nicht nur Universitätsangehörige, sondern auch Handwerker und sogar Frauen teilnahmen (vgl. Wallmann 1998, 42).

2.1.3 Verfolgung und Festanstellung

Die pietistische Bewegung führte zu Unruhen und Widerstand in der theologischen Fakultät der Leipziger Universität. Es gab mehrere Verfahren gegen Francke und die Konventikel wurden verboten. 1690 nahm Francke eine Anstellung in Erfurt an, auch hier hatte sich bereits eine pietistische Bewegung gegründet. Francke begann sofort mit einer Reform des Gemeindelebens und der Jugendunterweisung. Viele Leipziger Studenten folgten ihm, andere, zum Beispiel aus Jena, kamen neu hinzu. Da die meisten von ihnen als Hauslehrer in Bürgerhäusern aufgenommen waren, zogen Franckes Ideen immer weitere Kreise. Je größer jedoch die Erweckungsbewegung wurde, umso größer wurde auch der Widerstand der Orthodoxie. 1691 wurde eine Inquisitionskommission eingerichtet und bald darauf wurden die Versammlungen verboten und Francke seines Amtes enthoben (vgl. Wallmann 1998, 45ff.).

Wenig später erfuhr er jedoch, dass sich Spener in Berlin für ihn eingesetzt hat. Im Dezember 1691 wurde Francke als Pfarrer nach Glaucha, einem Vorort von Halle, berufen und bekam gleichzeitig eine Stelle als Professor der griechischen und orientalischen Sprachen an der in der Gründung befindlichen Universität Halles. Erst 1698 wurde er Ordinarius an der Theologischen Fakultät (vgl. Sames 1998, 69; Obst 2000a, 29).

2.1.4 Die Gemeinde Glaucha

Halle gehörte damals zum Kurfürstentum Brandenburg - Preußen. Um seine Macht gegenüber dem Landadel und der lutherischen Orthodoxie zu stärken, förderte Kurfürst Friedrich III. die pietistische Bewegung. Sie setzte sich für eine Reform der Kirchen ein, für die Disziplinierung des bürgerlichen Lebens und forderte Toleranz gegenüber den Mitmenschen. All diese Punkte lagen im Interesse der Politik des Kurfürsten. Die Berufung Franckes nach Halle, nicht nur als Pfarrer, sondern auch an die Universität, sollte das Bündnis zwischen den Pietisten und dem Kurfürsten stärken und die pietistische Reformtätigkeit unter ein staatliches Dach stellen (vgl. Sames 1998, 69f.).

Infolge des 30jährigem Krieges war der Wohlstand Halles zerstört, da die Stadt durch ihre Lage und militärischen Befestigungen immer wieder Stützpunkt für militärische Operationen gewesen war. Die Folge waren Einquartierungen, Brandschatzungen und Lebensmittelforderungen. Die Stadt geriet in eine tiefe Verschuldung und verelendete. Auch nach dem westfälischen Frieden 1648 verbesserte sich die Lage nur langsam. Obwohl Frieden herrschte, war die hallesche Wirtschaft zerrüttet, der Salzhandel fast vollständig zum Erliegen gekommen und die soziale Lage äußerst schwierig. Im Jahr 1680 fällt Halle an Kurbrandenburg und verliert durch die geographische Randlage sein wirtschaftliches Hinterland. Viele Einwohner waren verschuldet und durch das Wüten der Pest 1681/82 hatten viele Kinder ihre Eltern verloren. Mehrere Stadtbrände erhöhten das Elend weiter (vgl. Hertzberg 1898, 1; Obst 2000a, 21f.; Mrusek 1976, 115ff.).

Glaucha lag vor den Stadtmauern Halles und war ein selbständiges Gemeinwesen mit eigenem Rat. Die Bürger Glauchas verdienten ihr Geld mit der Herstellung von Branntwein, durch Bierausschank und durch Kleinhandel. Die wirtschaftliche Lage war allerdings seit der Pest von 1682 sehr schlecht. 40% der Bevölkerung waren von ihr getötet worden und somit blieben viele Vollwaisen zurück, die sich nicht allein versorgen konnten. Große Teile der Bevölkerung verelendeten immer mehr. Viele zeitgenössische Quellen beklagen die Armut, die Trunksucht und die mangelnde Bildung (vgl. Sames 1998, 69). Fries (1913, 8) beschreibt die Gemeinde als „vielfach verwildert“. Dies lag aber nicht nur an den schlechten ökonomischen und sozialen Bedingungen, sondern auch an Franckes Vorgänger, der seine Gemeinde „in hohem Grade vernachlässigt hatte“ (ebd.). Ein kirchliches Leben war nicht vorhanden und auch die Kinderbetreuung litt unter diesen katastrophalen Zuständen.

1692 traf Francke in Halle ein und wurde in seiner Gemeinde Glaucha mit einer großen Unwissenheit in Glaubensfragen und einer weitgehenden sittlichen Verwahrlosung konfrontiert (vgl. Obst 2000a, 22).

2.1.5 Die Glauchaischen Anstalten

Francke begann seine Tätigkeit sogleich mit umfangreichen Reformbemühungen. Er setzte zum Beispiel die Schließung der Wirtshäuser am Sonntag während des Gottesdienstes durch und drängte auf die strenge Einhaltung der Kirchenordnung. Besonderen Wert legte er von Anfang an auf die Erziehung und Katechisation der Kinder. Dies führte ihn später zur Gründung einer Armen- und Waisenschule. Dennoch brachen die Streitigkeiten mit der lutherischen Orthodoxie, regional wie überregional, immer wieder aus. Aber durch eine von Francke angeregte Untersuchungskommission und seine insgesamt gefestigte Stellung konnten diese Anfeindungen nichts ausrichten (vgl. Sames 1998, 70ff.; Fries 1913, 9, 17f.).

1695 wurde Francke durch eine Spende veranlasst, eine Schule für Armen- und Waisenkinder anzufangen. Die Armenschule unter Leitung eines Theologiestudenten hatte Erfolg und schon wenig später wollten Glauchaer Bürger gegen Gebühr ihre Kinder unterrichten lassen. Fries (1913, 11) berichtet, dass schon im ersten Sommer „die Anzahl der Kinder bis gegen sechzig“ ging. Auch von außerhalb Halles, aus dem pietistischem Adel, gab es Anfragen an Francke für die Vermittlung von Hauslehrern. Er wollte allerdings nicht seine besten Mitarbeiter verlieren. Und so kam es zu dem Aufruf, die Kinder nach Halle zu senden. Diese beiden Bestrebungen waren die Anfänge der Bürgerschule und des Pädagogiums (vgl. Obst 2000a, 26; ders. 2000b, 60).

Aus diesen bescheidenen Anfängen entwickelte sich später ein „umfassendes Sozial-, Bildungs- und Erziehungswerk“ (Obst 2000a, 26) für Kinder aller Stände. Den Kernpunkt dieser Unternehmung bildet das 1701 eingeweihte Waisenhaus. Die Veröffentlichung von Franckes „Fußstapffen Des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen GOTTES/ Zur Beschämung des Unglaubens / und Stärckung des Glaubens“ machten die Stiftungen national und international bekannt. Da sich die Unternehmung vorrangig aus Spenden finanzierte, war diese Erhöhung der Bekanntheit ein großer Vorteil, durch den viele neue Spender geworben werden konnten. Doch Francke wollte sich nicht auf die Spenden allein verlassen. 1698 gründete er eine Buchdruckerei und eine Apotheke. Beide waren sehr erfolgreich, denn Francke arbeitete mit „weltmännischer Klugheit und dem Scharfblick eines erprobten Geschäftsmannes“ (Hertzberg 1898, 26). Beide Projekte machten die Anstalten unabhängiger von Spenden (vgl. Obst 2000a, 32).

Um die Schulen mit Lehrern zu versorgen, warb Francke Studenten der Theologie für diese Aufgabe. Sie erhielten anfangs eine Bezahlung, die aber, wie Fries (1913, 13) schreibt, „nicht immer zu den wesentlichsten Bedürfnissen verwendet wurde“. Deshalb wurde ein studentischer Freitisch errichtet, der den Vorteil besaß, dass Francke seine Lehrer besser kennen lernen konnte und mehr Einfluss auf sie hatte. Aus den Teilnehmern an diesen Freitischen rekrutierte er nun seine Lehrer (vgl. Fries 1913, 13).

So unterschiedlich die Schulen in den Stiftungen durch ihre Ausrichtung auf verschiedene Stände auch waren, ihr Ziel war dasselbe: die Kinder sollten zu einer „lebendigen Erkenntnis Gottes und Christi und zu einem rechtschaffenen Christentum“ (Fries 1913, 35) angeführt werden. Allen Schulen gemeinsam war daher das Besuchen des Gottesdienstes an Sonn- und Wochentagen, regelmäßiges Lesen der Bibel und des Katechismus, regelmäßiges Gebet. In allen Schulen wurde Lesen, Schreiben, Rechnen und Gesang gelehrt, in den höheren Schulen zudem noch die alten Sprachen Hebräisch, Griechisch, Latein. Allerdings hatte dieses Sprachstudium nur das Ziel, die biblischen Texte im Original zu lesen. Eine Beschäftigung mit den „heidnischen“ antiken griechischen und römischen Klassikern wurde jedoch abgelehnt.

Auf dem Pädagogium wurde zudem noch „auf Übung im deutschen Ausdruck viel Gewicht gelegt“ (ebd.), Französisch und Zeichnen waren fakultative Unterrichtsgegenstände. Schließlich gab es noch die sogenannten Realien, Unterrichtsfächer wie Botanik, Anatomie oder Astronomie, die anhand von Modellen oder „realen“ Gegenständen gelehrt wurden (vgl. Fries 1913, 35).

Die Kinder wurden ständig beaufsichtigt und beschäftigt, Freizeit oder Ferien gab es nicht. Als „Recreation“ dienten die Realienfächer. Zu dieser Zeit war eigentlich auch der rhetorische Schulaktus üblich, ein öffentliches Aufführen von Reden und Rezitationen, antiken Gerichtsprozessen oder szenischen Dialogen. Er war, neben den öffentlichen Examina, ein Mittel um über das Können und die Fortschritte der Schüler Rechenschaft abzulegen und ihre lateinische Eloquenz zu fördern. Außerdem diente er der Werbung für die Schule (vgl. Barner 1970, 292ff.; Geitner 1992, 96).

Francke verbot diese Aufführungen an allen Schulen der Stiftungen. Er setzte sich auch für ein Verbot des Theaterspiels in den ganzen Stadt ein. Während Luther das Theater noch als eines der sogenannten Mitteldinge gebilligt hatte und dem Schultheater sogar einen festen Platz im christlich – humanistischen Erziehungsprogramm zuwies, entbrannte in Halle ein heftiger Kampf gegen Wanderkomödianten, die Schulkomödie, das Schauspiel und Musiktheater insgesamt. Diese Verdammung war ein Ausdruck des Misstrauens gegen die weltliche Kultur und die Künste überhaupt. Die Fiktion wurde abgelehnt, da der Mensch immer nach unbedingter Wahrhaftigkeit streben sollte, sie aber den trügerischen Schein des irdischen Daseins darstellte. Das Streben nach Wahrhaftigkeit bezog sich nicht nur auf Taten, sondern auch auf die eigenen Empfindungen, die Gefühle und persönliche (Glaubens)Bekenntnisse. Da jede Handlung religiös und moralisch bewertet wurde, war Zeit ein kostbares Gut, das man für die Erlangung des Seelenheils nutzen sollte und nicht für weltliche Freuden und zweckloses Spiel „vergeuden“ durfte. Infolgedessen wurde zum Beispiel auch das Kartenspiel und das Spazieren gehen abgelehnt (vgl. Thomke 2002, 159ff.; Kertscher 2001, 94).

Der religiöse Druck war relativ groß. Es gab Gebetsstunden, vorgeschrieben Besuche des Gottesdienstes, Abend- und Morgenandachten. Doch trotz dieser religiösen und pädagogischen Einseitigkeiten trat Francke immer wieder für die Beachtung kindgemäßer und individueller Gegebenheiten ein. Er war bemüht, die fortschrittlichsten pädagogischen Ideen seiner Zeit zu nutzen und in den Schulen zu realisieren. Dies zeigen auch seine zahlreichen pädagogischen Schriften (vgl. Obst 2000a, 56).

Franckes Werk erregte auch in England Aufmerksamkeit. Er wurde korrespondierendes Mitglied der „Society for Promoting Christian Knowledge“, einer Gesellschaft, die sich dem Aufbau von Armenschulen widmete. Ein Schüler Franckes wurde als Prediger an die lutherische Kapelle des britischen Prinzgemahls Georg von Dänemark berufen. Diese Berufung zog viele Spenden nach sich und sorgte dafür, dass auch junge englische Schüler nach Halle kamen (vgl. Obst 2000a, 36).

Trotz seiner Erfolge musste Francke sein Werk immer wieder gegen Angriffe des orthodoxen Luthertums verteidigen. Durch seine guten Beziehungen zum Kurfürst, bzw. ab 1701 König in Preußen, erhielt er die Unterstützung des Staates. Friedrich Wilhelm I., der Sohn Friedrichs I., erneuerte, nach einem Besuch und einem persönlichen Gespräch mit Francke, sämtliche Privilegien. Somit war das Werk Franckes auch durch die nachfolgende Fürstengeneration gesichert (vgl. Obst 2000a, 40; Fries 1913, 28).

Francke stand ab 1715 im Zenit seines Erfolgs und hatte sich durch seine Anstalten, die eine internationale Ausstrahlung besaßen, sein Werk, seine Diplomatie großes Ansehen innerhalb und außerhalb Deutschlands erarbeitet (vgl. Obst 2000a, 42).

2.1.6 Franckes Arbeit an der Universität

Auch August Hermann Franckes Stellung an der Universität war durch die Gegnerschaft zur Orthodoxie geprägt. Die 1694 gegründete Fridericiana sollte den Interessen des brandenburg – preußischen Staates entsprechen und somit moderne Ziele im Sinne des absolutistischen Staates verfolgen. Durch das im 17. Jahrhundert aufkommenden Manufaktursystem kam es zu einer Zentralisierung der Arbeitskräfte und zu einem Städtewachstum. Die Stadtverwaltungen wurden ausgebaut und das Stadtbürgertum gewann an Bedeutung. Da in den Manufakturen ausgebildete Arbeiter nötig waren und das aufstrebende Bürgertum an gehobener Bildung interessiert war, wurde das Bildungswesen seit dem Ende des 17. Jh. verstärkt ausgebaut. Die Stadt- und Bürgerschulen nahmen deutlich zu. Der Ausbau und die Gestaltung des Bildungssystems war Aufgabe des (absolutistischen) Staates. Er regelte den Ablauf und finanzierte die Schulen. Das Ziel war es, durch geeignete Institutionen den Bürgern je nach ihren Fähigkeiten eine adäquate Bildung zu vermitteln. Dies lässt sich nur im Zusammenhang mit den Ideen der Aufklärung erklären. Die Perfektionierung des Menschen durch Bildung und Erziehung wurde grundsätzlich als möglich angesehen. Das Leitbild war ein selbständiger und kritisch denkender Mensch (vgl. Prahl 1978, 149).

Diese Reformen und neuen Bildungskonzepte wurden an den neugegründeten bzw. umgestalteten Universitäten fortgeführt. Viele der älteren Universitäten hatten, aufgrund dogmatischer Starre und dem unmodern gewordenen scholastischen Denken, ihre Anziehungskraft verloren und befanden sich inhaltlich wie organisatorisch in einem desolaten Zustand. Die neugegründeten modernen Universitäten hatten andere Probleme. Sie unterlagen erheblichen materiellen und organisatorischen Schwankungen, weil die Staatshaushalte nur wenig Stabilität aufwiesen (vgl. Prahl 1978, 151).

Durch die neue Organisationsform stieg der Einfluss des Hofes auf die Universitäten und das Bildungsideal. Innerhalb der Universität näherte man sich dem höfischen Ideal an. Diese Entwicklung hatte mit dem Einfluss Frankreichs auf das nach dem 30jährigen Krieg verheerte Deutschland zu tun. Die geistig – literarische Entwicklung dort war so ausgeprägt, dass die vornehmen Schichten in Deutschland ihre Bildung aus Frankreich bezogen. Die gelehrten und bürgerlichen Schichten folgten diesem Trend, so gut es ging. Französisch wurde Sprache des Staats und der Gesellschaft, die lateinische Eloquenz wurde überflüssig. Man las französische Literatur und übernahm französische Sitten und Anschauungen. Selbst die Staatseinrichtung, die Militärverwaltung und die Hofhaltung wurden kopiert. Auf dieser Grundlage erwuchs ein neues Bildungsideal. Man wollte keinen Universalgelehrten oder Kirchenmann mehr ausbilden, sondern einen vollkommenen Hofmann. Dieser spricht perfekt Französisch, arbeitet als Militär- und Zivilbedienter, kennt sich in Geschichte, Geographie, Staatenkunde, Politik und Rechtswissenschaften aus und kann reiten, fechten und tanzen. Auf den alten Lateinschulen konnte diese Bildung nicht erworben werden – übrig blieb nur noch die Erziehung durch einen Hofmeister oder auf einer Ritterakademie, die es auch in Halle gab (vgl. Paulsen 1921, 503ff.; Prahl 1978, 152f.).

Diese neue höfische Bildung verdrängt die alte Gelehrtenbildung aus den Schulen. Auf der Universität war sie aber nach wie vor unerlässlich. Hier wurden alle Vorlesungen und Disputationen auf Latein gehalten, die Bücher waren ebenfalls nur auf Latein erhältlich. Trotz der modernen Bildungsbestrebungen hielt sich das Ziel „lateinische Eloquenz“ hartnäckig bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Diesem Problem konnte man nur durch neugegründete Universitäten und ihrem modernen Wissenschaftsbetrieb entgegentreten. Ein Beispiel für diese Reformen ist die Universität in Halle. Hier wurden den Studenten keine wortwörtlich mitzuschreibenden Lektionen diktiert. Die Professoren gaben eine zusammenhängende Einführung in wissenschaftliche Gebiete. Es gab seminarähnliche Veranstaltungen, so dass die Studenten zu einer aktiven Teilnahme am akademischen Unterricht motiviert wurden und mit Problemen der Forschung vertraut gemacht wurden. Auch die Unterrichtssprache veränderte sich. Das Deutsche bekam einen immer größeren Stellenwert (vgl. Fläschendräger 1981, 66f.; Paulsen 1921, 599ff.).

Neben der neuen Bildungspolitik war der Friede zwischen den Konfessionen eines der Ziele des Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Durch die merkantilistische Wirtschaftspolitik Preußens kam es zu einem Zuzug von Pfälzern und Hugenotten, die in ihrer Heimat verfolgt wurden. Die Überzeugungen des Pietismus erleichterten das Zusammenleben verschiedener Konfessionen auf dem brandenburg – preußischen Staatsgebiet. Durch die Toleranz in Glaubensfragen konnten auch viele Gelehrte gewonnen werden, die von anderen Universitäten vertrieben wurden, zum Beispiel Francke. Dies führte, im Gegensatz zur Wirtschaftskrise, zu einer geistigen Wiederbelebung und Neuprägung der Stadt. Die Fridericiana war den alten, mittelalterlichen Universitäten in ihren Lehrmethoden und Bildungszielen überlegen. Während der Jahrhundertwende vom 17. zum 18. Jahrhundert und während der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts war die Fridericiana die modernste und unbestritten die führende deutsche Universität. Die Lehrkräfte konnten ihre neuen, aufgeklärten Ideen ungehindert vertreten und lehren. Ihr Ziel war es nicht feststehende Wahrheiten zu überliefern, sondern neue Wahrheiten zu suchen. Die inhaltliche Erneuerung wurde forciert durch die rationalistische Philosophie, deren Vertreter Christian Thomasius und Christian Wolff in Halle lehrten. Auch die neue Strömung an der Theologische Fakultät, der Pietismus, bot eine Alternative zu formaler Schulgelehrsamkeit und starrer Orthodoxie (vgl. Mrusek 1976, 123f.; Prahl 1978, 154; Mentzel 1993, 19ff.; Paulsen 1919, 531).

Pietistische und aufklärerische Lehre schlossen sich an der halleschen Universität nicht aus. Beide Richtungen verfolgten dieselben Ziele, sie kämpften miteinander und nicht gegeneinander. Die Universität Halle war „der Ort, wo innerhalb einer verhältnismäßig knappen Zeitspanne pietistische und aufklärerische, d.h. auch philanthropistische und neuhumanistische Pädagogik eine Heimat hatten, wo sie in ihren bedeutenden Vertretern in starker Konzentration eine Blüte und eine Höhe erlebte, wie sie so das gesamte übrige Deutschland schwerlich aufzuweisen hat“ (Nabakowsky 1930, 4).

Die Differenzen zwischen Pietismus und Aufklärung zeigten sich erst später. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung war die Vertreibung Christian Wolffs aus Halle (1723). Zwar gingen die rationalistischen Überlegungen der Aufklärer den Pietisten am Ende zu weit, dennoch muss man sagen, dass eine „uranfängliche Gegnerschaft nicht besteht“ (Nabakowsky 1930, 1). In der Anfangsphase der Universität kämpften beide Strömungen gemeinsam gegen die Orthodoxie, die „inhaltlichen Gemeinsamkeiten […] waren groß“ (Walter / Jung 2003, 28). Die Aufklärer wendeten sich in ihrem Drang nach selbständiger Erkenntnis, in ihrem Streben und Forschen nach Wahrheit gegen den blinden Autoritätsglauben. Die Pietisten wehrten sich gegen „dogmatische Versteinerungen, gegen gedankenloses Nachsprechen erstarrter Lehrsätze“ (Nabakowsky 1930, 2) und gegen ein reines Gewohnheitschristentum.

So gelang es A.H. Francke und seinen Kollegen J.J. Breithaupt und Paul Anton der theologischen Fakultät ein einzigartiges Profil zu geben. Ihr Zweck war nicht mehr nur die reine Gelehrsamkeit, sondern eine Besserung und Bekehrung des Menschen. Das Christentum wurde nicht mehr als Lehrsystem gesehen, sondern als Prinzip eines neuen Lebens. Die praktische Theologie bekam dadurch eine besonders große Bedeutung. Dieser Ansatz zog viele Studenten nach Halle (vgl. Sames 1998, 74ff.; Paulsen 1919, 499)

2.1.7 Letzte Lebensjahre

Die Streitigkeiten mit der Orthodoxie gingen aber auch in Franckes letzten Lebensjahren weiter, konnten seine gefestigte Stellung aber nicht mehr beeinträchtigen. Sie wurden jetzt eher von seinen Mitarbeitern geführt, als von ihm selbst. Die einzige Auseinandersetzung, die seinem Ansehen in dieser Zeit wirklich geschadet hat, war der Streit mit Christian Wolff und dessen Vertreibung aus Halle im Jahr 1723. Wolffs Philosophie stellte den universellen Anspruch der Offenbarungstheologie zugunsten einer auf Vernunftschlüssen aufgebauten Philosophie infrage. Obst vermutet, dass sich Francke, als er sich an den König wandte, eventuell nur eine Einschränkung der Lehrtätigkeit Wolffs erwirken wollte. Der König reagiert jedoch härter, enthebt Wolff seines Amtes und verweist ihn des Landes (vgl. Obst 2000a, 48f.).

Andere Autoren urteilen, dass „Francke und seine pietistischen Kollegen beim brandenburgisch – preußischen König die Vertreibung des aufgeklärten Philosophen Christian Wolff (1679 – 1754) aus Halle durchsetzten“ (Walter / Jung 2003, 28). Sicher ist, dass sich der Pietismus von der Aufklärung distanzierte.

Dies änderte jedoch nichts an seinem Erfolg. Der Ausbau der Anstalten ging auch im letzten Lebensjahrzehnt Franckes weiter. Neue Aufgaben und allgemeines Wachstum machten neue Gebäude und verbesserte Einrichtungen nötig. Von Francke und seinen Anstalten gingen geistlich-theologische, pädagogische, wissenschaftliche, soziale und kulturelle Reformimpulse in alle Welt. Er verwirklichte das Prinzip christlicher Nächstenliebe praktisch und war damit ein Vorbild für viele weitere Projekte. Ab 1725 verschlechtert sich sein Gesundheitszustand jedoch zunehmend. Francke stirbt am 8.Juni 1727. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er eine pietistische Schulstadt mit 3000 Einwohnern geschaffen, die auf eindrucksvolle Weise die Wirkung von sozialem und bildungspolitischem Engagement zeigte (vgl. Obst 2000a, 10, 52).

2.2 Die Franckeschen Stiftungen im 18. Jahrhundert

Das 18. Jahrhundert lässt sich im Hinblick auf die Franckeschen Stiftungen als wechselvoll beschreiben. Nach Franckes Tod zunächst getragen von der Ausstrahlung des Gründers, vom großen Erfolg und der Unterstützung durch den Adel, verloren sie ab der Mitte des Jahrhunderts mehr und mehr ihr Ansehen. Erst am Ende des 18. Jahrhunderts erscheint mit August Hermann Niemeyer ein Retter, der die Stiftungen durch umfangreiche und dringend notwendige Reformen in ein neues Zeitalter führt.

2.2.1 Freylinghausen und Gotthilf August Francke

Francke hatte keine überragenden Schüler oder Nachfolger, weder auf theologischem Gebiet, noch auf sozialreformerischer oder pädagogischer Ebene. Die Aufgabe, Franckes Erbe kreativ zu bewahren und in die Zukunft zu führen, war groß und schwierig. Johann Anastasius Freylinghausen, sein Schwiegersohn und Nachfolger, bemühte sich, die Stiftungen ganz im Sinne Franckes weiterzuleiten, „so genau als möglich auf seiner [Franckes] Spur fortzugehen und in seinem Geiste zu handeln“ (Fries 1913, 38). Es gab keine grundlegenden Neuerungen im Erziehungsprogramm oder in der Leitung der Anstalten. Reformen waren, vorerst, auch gar nicht nötig, denn die Stiftungen erhielten durch ihre hohe Bekanntheit viele Spenden und die Betriebe erzielten hohe Gewinne. Die ökonomischen Bedingungen waren ausgezeichnet und so konnte der Stiftungsbesitz noch erweitert werden (vgl. Obst 2000a, 57; ders. 2000c, 83ff.; Fries 1913, 36).

1739 starb Freylinghausen und Gotthilf August Francke, der Sohn des Gründers, wurde Direktor. Er übernahm die Stiftungen zu einem Zeitpunkt großer Blüte, die noch ein Jahrzehnt unter seiner Leitung anhielt. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts befanden sich die Anstalten im (äußeren) Wachstum, verfügten aber nach dem Tod Franckes und Freylinghausens schon nicht mehr über ihre einstige geistige Ausstrahlung. Die guten Beziehungen zu Preußen wurden jedoch weiterhin gepflegt und man konnte sich der Unterstützung des Königs sicher sein (vgl. Obst 2000c, 86f., 100).

Als Friedrich II. 1740 König von Preußen wurde, verschlechterte sich die politische Lage. Er erneuerte zwar die Privilegien des Waisenhauses, lehnte aber die pietistische Lehre und Lebensform ab und blieb in einer Haltung der kritischen Distanz, die nicht zu vergleichen war mit den früheren Beziehungen zum preußischen Königshaus (vgl. Obst 2000c, 101).

2.2.2 Veränderungen an der Universität

Auch an der Universität verlor der Pietismus an Bedeutung, da die neue Geistesrichtung, die Aufklärung, immer mehr Anhänger und damit Einfluss gewann. Sie eroberte, von den Höfen ausgehend, die Universitäten und auch die allgemeine Bildung (vgl. Paulsen 1921, 4). An der Fridericiana gab es dafür sogar ein sichtbares Zeichen: die Rückberufung Wolffs 1740, die begeistert aufgenommen wurde. Aber auch an der Theologischen Fakultät setzte man neue Akzente. Zu nennen ist hier Siegmund Jacob Baumgarten, ab 1734 ordentlicher Professor an der Theologischen Fakultät, der sich der Wolffschen Philosophie und Lehrmethode öffnete. Er integrierte sie in seine Vorlesungen und konnte so seinen Stoff klarer darbieten und eine gründlichere Beweisführung durchführen. Theologie definierte er als Lehre von der Vereinigung Gottes mit dem Menschen. Die Vereinigung besteht für ihn in der vernünftigen Erkenntnis, die dann den Willen lenkt. So integrierte er das neue philosophische Denken in die pietistische Theologie.

Diese Thesen wurden von seinem bedeutendsten Schüler Johann Salomo Semler endgültig in die Aufklärungstheologie weiterführt. Er wurde zum Vertreter einer neuen kritischen, liberalen Theologie. Er unterschied streng zwischen Religion und Theologie, zwischen „wissenschaftliche[r] Gelehrsamkeit und persönliche[r] Frömmigkeit“ (Brecht 1995, 336). Diese neue Sichtweise leitete die historisch – kritische Bibelforschung ein. Die religiöse Erfahrung hatte ebenfalls eine zentrale Bedeutung in der Aufklärungstheologie. Ziel war eine Vergewisserung und Stärkung der individuellen Religiosität, um so eine religiöse Mündigkeit des Einzelnen zu erreichen. Semler vertrat eine gemäßigte Haltung, andere, wie der ebenfalls in Halle lehrende Carl Friedrich Bahrdt waren radikaler, aber auch umstrittener (vgl. Obst 2000c, 102; Walter / Jung 2003, 28f.; Brecht 1995, 329ff.; Beutel 2003, 945).

2.2.3 Die Krise der Stiftungen

Die Verschlechterung der Rahmenbedingungen, also die kritische Haltung des Königs und das Aufkommen der Aufklärung, hatte vorerst keine Auswirkungen auf den Erfolg der Stiftungen. Im Gegenteil, unter diesen Bedingungen erreichten sie ihre größte Blüte (vgl. Obst 2000c, 102).

Ein sichtbarer wirtschaftlicher Niedergang setzte erst mit bzw. nach dem Siebenjährigen Krieg ein (1756 – 1763). Dieser Krieg mit seinen Abgaben, Brandschatzungen und Kontributionszahlungen hatte weitreichende Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage der Stiftungen und der Stadt Halle insgesamt. Die hallesche Wirtschaft wurde stark geschwächt und erholte sich bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht wirklich. Der wirtschaftliche Druck auf die Stiftungen wuchs auch durch die Teuerungswelle 1771 - 1773 und der Betrieb konnte nur mit Mühe fortgeführt werden (vgl. Obst 2000c, 105f.; Fries 1913, 41ff.; Menne 1928, 17).

Die Franckeschen Stiftungen befanden sich Ende des 18. Jahrhunderts in einer wirtschaftlichen und ideellen Krise. Freylinghausen hatte es, durch seine enge Zusammenarbeit mit Francke und seinem Respekt vor dessen Handeln, nicht geschafft, die Stiftungen dem neuen Zeitgeist zu öffnen, der in der Regierungszeit Friedrichs II. aufkam. Der hallesche Pietismus, Franckes Ansichten und Erziehungsmethoden wurden aus den öffentlichen Diskussionen verdrängt, man bewertete sie als unmodern und rückständig. Die Bedeutung der Schulen sank ständig, da das alte Schulsystem einfach beibehalten wurde, ohne auf neuere pädagogische Entwicklungen einzugehen. So gelangten auch die Ideen der Aufklärung und die veränderten Methoden und Ansichten nicht in die Schulen der Stiftungen. Klosterberg (2004b, 120) urteilt: „Scheinbar unbemerkt gingen die neuen pädagogischen Vorstellungen und Konzepte […] an Franckes Schulstadt vorbei“. Die zweite Generation der Stiftungsdirektoren war auf die Erhaltung und Bewahrung des pietistischen Erbes aus. Dadurch kam es erst zu einem Stillstand und dann zu einem Rückschritt (vgl. Obst 2000c, 108; Klosterberg 2004a, 111; dies. 2004b, 120).

Es hagelte harsche, teilweise „überscharfe“ (Menne 1928, 17), teilweise begründete Kritik am veralteten Erziehungssystem, die aber meist anonym blieb. Vor allem die übergroße Strenge und Enge der Erziehung, die mangelnde Qualität der Lehrer, die Sittenverderbnis der Schüler und die veralteten Lehrmethoden wurden kritisiert (vgl. Klosterberg 2004a, 112; Menne 1928, 17).

Davon war natürlich nicht nur die Waisenschule betroffen, sondern alle Schulen der Stiftungen. Schüler und Spenden blieben aus, die Situation verschlimmerte sich besonders am Pädagogium, da dieses auf regelmäßige Schulgeldzahlungen angewiesen war und keine andere Einnahmequelle besaß. Auf die einflussreichen und wohlhabenden Kreise, die die Stiftungen jahrelang unterstützt hatten, konnte nicht mehr gebaut werden. Mittlerweile waren auch neue Schulen, wie zum Beispiel das Philanthropin in Dessau, gegründet worden, die in ihrem Erziehungsstil mehr dem Zeitgeschmack entsprachen. Diese neuen Bildungseinrichtungen standen in unmittelbarer Konkurrenz zum Pädagogium. Dies führte zu einer immer geringeren Schülerzahl, die im Oktober 1784, kurz bevor Niemeyer das Direktorat übernahm, auf die alarmierende Anzahl von 17 gesunken war. Das Pädagogium stand kurz vor dem Ruin (vgl. Menne 1928, 17; Fries 1898, 26f.; Klosterberg 2004a, 112).

Die Stadt Halle hingegen konnte in den 1770er und 1780er Jahren zu einem relativ normalen Alltag zurückfinden. Die politische Situation war stabil und der Frieden war durch verschiedene Verträge gesichert. Dadurch stiegen zum Beispiel die Studentenzahlen wieder an. Zu einem wirtschaftlichen Aufschwung kam es allerdings nicht. Dafür gab es eine große Menge an institutionalisierter Kultur. Die Kernträger waren die Universität, die Stiftungen, der Buchhandel und die Schulen. Um diese Einrichtungen war eine „facettenreiche Kommunikationsgesellschaft“ (Zaunstöck 2004a, 29) gewachsen. Man traf sich zu Gespräch und Lektüre im Kaffeehaus oder hielt Geselligkeiten in den eigenen Räumlichkeiten ab (vgl. Zaunstöck 2004a, 29.).

2.2.4 Ein neuer Anfang

Die pietistische Epoche der Franckeschen Stiftungen endete 1785 mit dem Tod Gottlieb Anastasius Freylinghausens (vgl. Obst 2000c, 110). Neuer Direktor wurde Johann Ludwig Schulze. Zum ersten Mal wurden, auf Betreiben des Ministers des Geistlichen Departements und Oberkurators über die preußischen Universitäten, Karl Abraham von Zedlitz und Leipe, zwei Kondirektoren eingesetzt: August Hermann Niemeyer, der sich schon als Direktor des Pädagogiums und als Universitätsprofessor einen Namen gemacht hatte, und Christian Georg Knapp. Diese beiden vereinbarten, dass sie, falls beide den Direktor Schulze überleben, als gleichberechtigte Direktoren an die Spitze der Stiftungen treten (vgl. Raabe 2000, 113f.).

Minister von Zedlitz bemühte sich intensiv um die Verbesserung der Lehrerbildung. Die Unzulänglichkeit der Ausbildung hing eng mit den im Grunde nicht vorhandenen klassischen Studien zusammen, denn sie waren zugleich auch die Schulwissenschaften. J.S. Semler bewirkte, dass an der halleschen Universität das theologische Seminar zur Vorbereitung auf den Schuldienst genutzt wird. Hier wurden philologische Vorlesungen und Übungen abgehalten. Ziel war die praktische Ausbildung von Lehrern, später wurden die philologischen auch mit den pädagogischen Übungen verbunden. Das Institut wurde bald selbständig und mit einer eigenen Professur für Pädagogik versehen. Auch Niemeyer war später an diesem Institut tätig (vgl. Paulsen 1921, 80ff.).

Zedlitz’ Ziel war es, „den überlieferten Schuldrill durch eine lebendige, von innen heraus entwickelnde, den Geist weckende Unterrichtsmethode zu ersetzen“ (Paulsen 1921, 83). Der Verstand sollte in der Lage sein, eigene Urteile zu bilden. Zedlitz’ Bemühungen führten zu einem Klima, in dem ergiebig neue Konzepte für Bildung und Erziehung besprochen und umgesetzt werden konnten. Die bildungspolitische Lage in Preußen prägte Niemeyer und bot die idealen Voraussetzungen für sein späteres Wirken als Pädagoge und Autor.

Doch um sein Handeln und seine Denkweise, seine Standpunkte und Überzeugungen zu verstehen, muss man sich zuerst seine Biographie genauer ansehen. Darin finden sich viele Aspekte, die sich später auch in seinen Gedanken zur Erziehung und Pädagogik wiederfinden und die erklären, warum er sich so engagiert für die Universität und die Franckeschen Stiftungen einsetzte.

3 August Hermann Niemeyer

3.1 Biographie

3.1.1 Kindheit und Jugend

August Hermann Niemeyer wurde am 01.09.1754 in Halle geboren. Er war das fünfte und jüngste Kind von Auguste Sophie und Johann Konrad Philip Niemeyer.

Sein Vater kam aus Peetzen und hatte, als Sohn eines Pastors, in Halle Theologie studiert. Ab 1732 arbeitete er als Lehrer in den Franckeschen Stiftungen. Später wurde er dort Inspektor der deutschen und lateinischen Schule.

1742 heiratete er Auguste Sophie Freylinghausen, eine Enkelin August Hermann Franckes. Beide Eltern starben früh, Auguste Sophie 1763, Niemeyers Vater nur vier Jahre später. Nach dem Tod der Mutter übernahm eine Verwandte, die Witwe Sophie Antoinette Lysthenius, August Hermann Niemeyers Erziehung (vgl. Veltmann 2004, 48; Menne 1928, 1ff.; Fries 1898, 12f.). Von Menne (1928, 2) wird sie als „hochgebildete und edelgesinnte Frau“ beschrieben, nach Fries (1898, 14) war sie „eine durch Geistesgaben, Kenntnisse und Herzensgüte ausgezeichnete Frau“. Sie hatte ihre Jugend am ostfriesischen Hof verlebt und war vertraut mit den dort herrschenden feinen und gewandten höfischen Umgangsformen (vgl. Fries 1898, 13; Menne 1928, 2). Sie weckte in Niemeyer die „Liebe für alles Edle und Schöne“ (Menne 1928, 3) und förderte sein „Streben nach vielseitiger wissenschaftlicher Ausbildung und nach eigener Schaffenstätigkeit“ (ebd.). Durch sie lernte Niemeyer die französische Sprache schon sehr früh. Die beiden sprachen oft Französisch miteinander, eine Tatsache, die ihn bei der Besetzung der Stadt Halle durch die napoleonischen Truppen zu einem der wichtigsten Mittler zwischen Universität und Kommandantur machte und ihm auch bei seiner Deportation half. Frau Lysthenius gewöhnte ihn an die vornehmen Umgangsformen, die sie selbst am Hof gelernt hatte (vgl. Menne 1928, 3; Fries 1898, 14) und die ihn, laut Fries (1898, 14), „stets ausgezeichnet haben“.

Seine Schulzeit verlebte August Hermann Niemeyer ab 1762 auf dem Pädagogium, hier erhielt er eine „gediegene Schulbildung“ (Stach 2002, 153). Das Pädagogium Regium, so der vollständige Name, war eine Schule für adelige und bürgerliche Jungen. Obwohl es theoretisch keine Standesschranken gab, konnten sich nur wohlhabende Familien das Schulgeld leisten, so dass der Besuch der Schule doch eine gewisse Exklusivität besaß. Die Schwerpunkte des Unterrichts waren: Theologie, alte Sprachen, Französisch, Realienunterricht und die Bildung der handwerklichen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten (vgl. Veltmann 2004, 48).

Niemeyer interessierte sich sehr für Literatur und verehrte vor allem den Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock. Durch einen befreundeten englischen Mitschüler erlernte er auch diese Sprache und las englische Dichter wie Milton oder Shakespeare im Original. Diese Auswahl der Literatur zeigt einen gewissen pädagogischen Wandel an der Schule. Zu Franckes Zeiten wurden ausschließlich religiöse Werke gelesen und der Literaturkonsum der Kinder streng kontrolliert, zeitgenössische Werke waren nicht erwünscht.

Frau Lysthenius machte ihn zusätzlich mit französischer Literatur bekannt. Hier liegt wahrscheinlich auch der Ursprung seiner späteren Bemühungen einer umfassenden literarischen Bildung der Zöglinge des Pädagogiums (vgl. Jacobi 2001, 349; Veltmann 2004, 48; Fries 1898, 16). Auf dem Pädagogium begegnete er ebenfalls dem Dichter Gottfried August Bürger, mit dem er bald freundschaftlich verbunden war (vgl. Menne 1928, 4)

Fries (1898, 15) merkt an, dass Niemeyer seine große Gewandtheit im schriftlichen Ausdruck und seine oft bewunderte Gabe „eines wohlgeordneten und schön stilisierten freien Vortrags den reichlichen und zweckmäßigen Übungen“ zu verdanken habe, die auf dem Pädagogium angestellt wurden. Dennoch ging seine Erziehung, durch das Engagement der Witwe Lysthenius, weit über das hinaus, was das Pädagogium ihm vermitteln konnte. Dies betraf vor allem die antike griechische und lateinische und die zeitgenössische französische und englische Literatur (vgl. Jacobi 2001, 349).

Seine Kindheit war aber nicht nur von diesen kulturellen Einflüssen geprägt, sondern auch von Krieg und Hunger. Halle litt sehr unter dem Siebenjährigen Krieg und die Wirtschaft befand sich mitten in einer Rezession, die alle Teile der Bevölkerung betraf, und die durch den Krieg noch verstärkt wurde. Die Ausstrahlung der Universität und der Stiftungen litten ebenfalls seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Zaunstöck (2004a, 29) beschreibt den Einfluss auf Niemeyers Leben: „Der junge Mann [Niemeyer] hatte unmittelbare Bedrohungen und Katastrophen erlebt: Krieg und Hunger waren Teil seines Lebens, waren charakterprägend geworden“. Doch dies war nicht das einzig prägende: auch seine umfassende, allseitige Bildung und das Aufwachsen in die aufklärerische Kommunikationskultur, die Gesellschaften und Geselligkeiten, prägten ihn entscheidend (vgl. Zaunstöck 2004a, 28ff.).

3.1.2 Studienjahre

Ab 1771 studierte August Hermann Niemeyer an der Universität in Halle. Während seiner Studentenzeit begann der preußische Hof mehrere Reformen an der Universität. Der Oberkurator über die preußische Universitäten, Karl Abraham von Zedlitz und Leipe, ein ehemaliger Absolvent der Fridericiana, versuchte den Qualitätsverlusten, die sich seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges abzeichneten, entgegen zu wirken. Dies gelang ihm durch eine geschickte Personal- und Lehrplanpolitik.

Er führte im Zuge seines Reformprogramms mehrere Neuerungen ein. Dazu gehörten praktisch-didaktische Übungen im Theologiestudium, einschließlich der Vermittlung pädagogischer Kenntnisse. Die Allgemeinbildung der Studenten sollte erhöht werden. Die Professoren sollten ihre Vorlesungen nicht mehr diktieren, sondern den freien Vortrag bevorzugen (vgl. Kertscher 2004a, 72.).

Die Streittheologie und Schulphilosophie hatten seit Anfang des 18. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung verloren. So ging auch ihre Art der Wissensvermittlung, die scholastische Disputation, ein. Dies wurde noch beschleunigt durch die neue Unterrichtssprache – das Deutsche hielt Einzug in die Hörsäle und Seminare. Die lateinische Eloquenz, die früher als das Ideal der Bildung galt, war nun nichts mehr wert.

Aber nicht nur die Form, sondern auch der Inhalt des Unterrichts veränderte sich. Die Wahrheit war nicht mehr durch eine (kirchliche) Instanz vorgegeben, sondern die Mitarbeiter der Universität waren dazu da, sie zu suchen. Die Suche erfolgte nicht durch Ableitung aus feststehenden Sätzen, sondern durch sachliche Untersuchungen, Beobachtungen und Experimente. In den geisteswissenschaftlichen Disziplinen setzte sich die historisch – philologische Kritik zur Erkenntnisgewinnung durch. Das Prinzip, das ab jetzt für alle Disziplinen, geistes- oder naturwissenschaftlich, galt, war das der „libertas philosophandi“ (Paulsen 1921, 136). Der Lehrer stand für die Wahrheit seiner Lehre ein. Dies verpflichtete ihn und seine Hörer zum Selbstdenken und zum Prüfen des übermittelten Wissens. Das Autoritätsprinzip, das einen Lehrkanon vorgegeben hat, war damit vorbei (vgl. Paulsen 1921, 132ff.). Der neue Student sollte „selbst sehen, untersuchen, denken lernen“ (Paulsen 1921, 136).

[...]

Fin de l'extrait de 115 pages

Résumé des informations

Titre
August Hermann Niemeyers pädagogische Konzepte zum rhetorischen Unterricht
Université
Martin Luther University
Note
1,1
Auteur
Année
2006
Pages
115
N° de catalogue
V116101
ISBN (ebook)
9783640178094
Taille d'un fichier
786 KB
Langue
allemand
Mots clés
August, Hermann, Konzepte, Unterricht, Niemeyer, Rhetorik, Schule, Aufklärung, Pädagogik, Grundsätze der Erziehung, Universität Halle, Franckesche Stiftungen, Theologe, Pädagoge
Citation du texte
Diplom-Sprechwissenschaftlerin Claudia Langosch (Auteur), 2006, August Hermann Niemeyers pädagogische Konzepte zum rhetorischen Unterricht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116101

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