Neutralitätspflicht von Regierungsmitgliedern. Grundlagen im Öffentlichen Recht


Seminararbeit, 2021

49 Seiten


Leseprobe

I. Einleitung

II. Rechtssoziologischer Hintergrund

III. Umsetzung durch das Grundgesetz

1. Neutralitätsgebot im politischen Wettbewerb

a. Verortung des Neutralitätsgebots im politischen Wettbewerb im Grundgesetz

i. Art. 21 I 2 GG i.V.m. Art. 38 I 1 GG – Chancengleichheit der Parteien bei Wahlen

ii. Art. 20 I, II – Demokratieprinzip

(1) Ansicht des BVerfG

(2) Abweichende Meinung – das Sondervotum des Richters Rottmann

(3) Stellungnahme

iii. Ergebnis

b. Inhalt des Neutralitätsgebots und Abgrenzung zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung

i. Die Öffentlichkeits- und Informationsarbeit der Regierung

(1) Legitimität und Notwendigkeit von Öffentlichkeits- und Informationsarbeit

(a) Verortung legitimer Öffentlichkeits- und Informationsarbeit im Grundgesetz

(b) Inhalt der Öffentlichkeitsarbeit

(2) Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit – das Neutralitätsgebot

(a) Grenzen durch das Gesetz

(b) Interne Grenzen

(c) Externe Grenzen

ii. Kriterien zur Ermittlung der eingenommenen Rolle von Regierungsmitgliedern: Regierungsamt oder Parteienamt?

(1) Grundlegende Kriterien

(2) Besonders relevante Fallgruppen

(a) „Fall Schwesig“: (Zeitungs-)Interview

(b) „Fall Wanka“: Internetauftritt

(c) „Fall Seehofer“: Interview veröffentlicht auf Homepage

(d) Social Media

iii. Die Entwicklung der Rechtsprechung – ein Überblick

iv. Die Sonderrolle des Bundespräsidenten und der „Fall Gauck“

(1) BVerfG

(2) Literatur

(3) Stellungnahme

c. Neutralitätsgebot auf Landes- und Kommunalebene

i. Landesebene

ii. Kommunalebene

2. Neutralitätsgebot in Bezug auf Grundrechtsträger

a. Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Art. 5 I, Art. 8 GG

b. Glaubens- und Religionsfreiheit, Art. 4 GG

c. Berufsfreiheit, Art. 12 GG

d. Schlussbemerkung zum Neutralitätsgebot bei Grundrechten

IV. Schluss

Literaturverzeichnis


I.                        Einleitung

 

Am 5. Februar 2020 wurde Thomas Kemmerich, Fraktions- und Landesvorsitzender der FDP in Thüringen, mit Stimmen seiner eigenen Partei, der CDU und der AfD im dritten Wahlgang zum sechsten Ministerpräsident von Thüringen gewählt. Und das, obwohl Die Linke mit deren Landesvorsitzendem Bodo Ramelow, der bis dahin amtierende Ministerpräsident war, stärkste Kraft geworden war.

 

Bis zu diesem Zeitpunkt hatten alle großen im Bund und den Ländern vertretenen Parteien betont, nicht  mit der AfD koalieren oder in sonstiger Weise zusammenarbeiten zu wollen. Eine rote Linie war, darüber waren sich – offensichtlich abgesehen von den Landtagsfraktionen der CDU und der FDP in Thüringen, sowie der AfD – alle in der Politik etablierten Parteien einig, durch die Wahl Kemmerichs mit Stimmen der AfD somit überschritten. Das dadurch losgetretene politische Erdbeben erreichte schnell auch Berlin und die Bundesparteien.

 

In vielen Augen überraschend lange ließ jedoch eine Reaktion von Seiten der Parteispitze der CDU, insb. von deren Parteivorsitzenden und Kanzlerin Angela Merkel, auf sich warten. Am 6. Februar, einen ganzen Tag später, war es dann jedoch soweit: Auf einem Regierungsbesuch in Südafrika äußerte Merkel sich schließlich. Mit den Worten, „aus innenpolitischen Gründen eine Vorbemerkung“ zu machen, eröffnete sie eine Pressekonferenz, die sie als Kanzlerin zusammen mit dem südafrikanischen Präsidenten abhielt, und nahm zu den Vorgängen, die sich am Tag zu vor in Thüringen abgespielt hatten, Stellung: „Die Wahl des Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung für die CDU und auch für mich gebrochen hat, dass nämlich keine Mehrheiten mit Hilfe der AfD gewonnen werden sollen. Da dies in der Konstellation, in der im dritten Wahlgang gewählt wurde, absehbar war, muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb das Ergebnis rückgängig gemacht werden muss." Sie fügte hinzu: "Es war ein schlechter Tag für die Demokratie."[1] Später wurden diese Worte auch in schriftlicher Form auf der Internetseite des Kanzleramtes veröffentlicht.

 

Die Presse und die eigene Partei waren zufrieden; doch schnell entbrannte erneute Kritik: Darf sich Merkel als Kanzlerin so über eine andere Partei äußern? Unterliegt sie als Regierungschefin hier nicht einer Neutralitätspflicht im politischen Wettbewerb? Oder trat sie vielleicht gar nicht als Kanzlerin auf, sondern lediglich als Spitze ihrer eigenen Partei und somit als persona inter pares in der allgemeinen politischen Auseinandersetzung? Ändert die Veröffentlichung auf der Internetseite des Bundeskanzleramtes etwas?

 

Das BVerfG, das sich zu ähnlichen Fallkonstellationen bereits mehrfach in der Vergangenheit geäußert hat, nimmt sich nun auf Antrag der AfD auch diesem Fall an. Zwar wird ein Urteil erst in einigen Wochen bzw. Monaten erwartet (vsl. Ende 2021 oder Anfang 2022), doch lässt sich bereits an der vorhandenen und zugleich recht aktuellen Rspr. des BVerfG erahnen, welche Maßstäbe zur Beurteilung des Falls das Gericht auch diesmal heranziehen wird.

 

Kernpunkt der Verhandlung wird die Frage sein, ob Merkel als Regierungsmitglied ihre Pflicht zur politischen Neutralität[2] verletzt hat. Dabei sind zwei Dinge entscheidend: Zum einen die Frage, ob die Äußerung Merkels selbst nicht neutral war und somit gegen das Neutralitätsgebot verstößt, an das sich Regierungsmitglieder zu halten haben. Zum anderen, ob Merkel vielleicht gar nicht als Mitglied ihrer Regierung aufgetreten ist und somit – bspw. in der Rolle als einfache Parteipolitikerin nicht an das Neutralitätsgebot gebunden war.

 

Anhand bereits vorhandener Rspr. sollen nun im Folgenden die Maßstäbe, die das BVerfG heranzieht, die jedoch womöglich von Stimmen aus der Literatur auch kritisiert werden, erörtert werden, um am Ende einen kurzen Ausblick auf den Ausgang der Verhandlung zwischen AfD und Bundesregierung zu wagen. Vorab soll jedoch geklärt werden, zunächst aus welchen rechtssoziologischen (bzw. auch historischen) und anschließend aus welchen normativen (mit Bezug auf das Grundgesetz) Grundlagen ein Gebot zur Neutralität gegenüber der Regierung überhaupt folgt. Erst im Anschluss wird auf den konkreten Inhalt des Neutralitätsgebots und die diesen festlegenden Maßstäbe eingegangen. Schwerpunkt der Arbeit liegt auf dem Neutralitätsgebot, das für die Bundesregierung im politischen Wettbewerb gilt. Fragen, inwiefern das Neutralitätsgebot auch auf Landes- bzw. Kommunalebene zum Tragen kommt, oder in welcher Form die Regierung gegenüber den Bürgern und anderen Grundrechtsträgern zur Neutralität verpflichtet ist, werden nur kursorisch behandelt.

II.                        Rechtssoziologischer Hintergrund

 

Zu nächst gilt es zu klären, aus welchen grundsätzlichen, rechtssoziologischen Prinzipien eine solche Pflicht des Staates zur Neutralität folgt.

 

Um diese Frage zu beantworten, ist vor allem das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft bzw. den Bürgern in den Blick zu nehmen, zunächst unabhängig von jedweder grundgesetzlichen Normierung. Dieses ist nicht so klar beschreibbar, wie es zunächst scheint, sondern vielmehr ambivalent. So gibt es weder eine klare Trennung von Staat und Gesellschaft (wie es etwa in einer institutionellen Monarchie der Fall ist), die dem Bürger eine gewisse „Privatsphäre“ vor dem Staat einräumen würde, noch eine absolute Gleichsetzung von Regierten und Regierenden. Insb. in Bezug auf den Gesamtwillensbildungsprozess, der sich wiederum in der exekutiven und der legislativen Politik, also in den vom Parlament verabschiedeten Gesetzen, widerspiegelt, ist diese Erkenntnis von Bedeutung. So findet der Gesamtwillensbildungsprozess auf zwei voneinander abzugrenzenden Ebenen statt, die jedoch ineinander wirken: Der Staatswille und der Wille des Volkes bzw. die öffentliche Meinung.[3]

 

Der Staatswille auf der einen Seite ist grundsätzlich losgelöst von der öffentlichen Meinung, kann, darf und soll also von ihr abweichen. Dies bedeutet, dass der Staat nicht unbedingt das zu tun hat, was der aktuell vorherrschenden öffentlichen Meinung entspricht. Dieses Prinzip ist auch in Art. 38 I 2 GG verankert: Die Abgeordneten des Bundestages (im übertragenen Sinn: die Politik bzw. der Staat) sind nur ihrem Gewissen unterworfen. Sie tragen die Verantwortung ihrer Entscheidungen also selbst und bedürfen hierbei keiner unmittelbaren Legitimation durch das Volk. Diesen in repräsentativen Demokratien allgemeingültigen Grundsatz formulierte bereits Charles Fox, ein im ausgehenden 18. Jahrhundert wirkender Politiker und Staatsmann im britischen Unterhaus, wie folgt: „Ich nehme auf die Stellung des Volkes nicht die mindeste Rücksicht; unsere Pflicht ist es, zu tun, was richtig ist, ohne in Rechnung zu stellen, ob es allgemein gefällt.“[4] Es handelt sich dabei also um einen grundlegenden Gedanken westlich geprägter Demokratien. Der Gefahr, dabei das Volk, insb. dessen Willen – genau das ist ja der Grundgedanke einer Demokratie: Der Wille des Volkes soll die politische Richtung bestimmen, nicht der Wille einzelner Herrscher – aus dem Blick zu verlieren, beugt die Angst der Politik vor dem Wähler vor. So bleibt eine zumindest mittelbare Form der Beeinflussung und auch Legitimation stets erhalten.[5]

 

Auf der anderen Seite stehen der Wille des Volkes bzw. die öffentliche Meinung. Es handelt sich dabei nicht um einen festformulierten Willen, sondern vielmehr um einen ständigem Wechsel unterworfenen Prozess der Willensbildung: So existiert die „öffentliche Meinung“ nicht auf Abruf, sondern konkretisiert sich erst auf Frage und Erfragung hin und wird so ständig aktualisiert.[6] Wie der Staatswille unmittelbar losgelöst ist vom Willen des Volkes, so ist auch die öffentliche Meinung im Kern staatsfrei.[7] Ähnlich wie der Staatswille indirekt, nämlich durch jene „Furcht vor dem Wähler“[8], beeinflusst wird, so hat auch der Staat Einfluss auf die Willensbildung des Volkes, insb. durch seine „Entscheidungen […], Äußerungen und Maßnahmen staatlicher Organe“[9], durch Öffentlichkeitsarbeit, aber auch politische Werturteile.[10] Gerade staatlichen Äußerungen kommt ein besonders Gewicht zu, „weil hinter ihren Äußerungen die Autorität des Staates steht, mit der ihnen ein besonderer Geltungsanspruch zuteilwird“[11]. Auch die politischen Parteien, als intermediäres Organ zwischen Staat und Gesellschaft,[12] wirken in der Bundesrepublik bei der politischen Willensbildung des Volkes mit, Art. 21 I 1 GG.

 

Hieraus lässt sich also resümieren, dass sich der Gesamtwillensbildungsprozess in einem Staat aus dem Staatswillen selbst und der öffentlichen Meinung bzw. dem Willen des Volkes, das in diesem Staat lebt, zusammensetzt, wobei diese beiden Formen der Willensbildung einerseits zu trennen sind, andererseits jedoch ineinanderwirken und gegenseitig verschränkt sind (eine vollständige Trennung fordert auch das Grundgesetz nicht)[13].[14] Dies folgt aus dem Umstand, dass das gesamte System – der Gesamtwillensbildungsprozess kann aufgrund der eben beschriebenen Verschränkung nicht als Summe des Willens einzelner Teile (Staat, Gesellschaft, Parteien), sondern nur als Gesamtsystem betrachtet werden – im Sinne von „Aufwärtskausalität durch seine Teile bestimmt wird und […] zugleich im Sinne von Abwärtskausalität die einzelnen Teile“[15] determiniert. Der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel überträgt den amerikanischen Terminus der „checks and balances“ auf dieses Zusammenspiel: Die einzelnen Komponenten des Systems müssen sich gegenseitig anerkennen und dürfen sich nicht „absorbier[en] oder zu einem Schattendasein reduzier[en]“[16]. So hat die öffentliche Meinung zwar den Anspruch auf Herrschaft (so auch im Grundgesetz (Art. 20 II 1 GG)), nicht aber auf Regierung.[17] Dieses Prinzip des Ineinanderwirkens einerseits und der Trennung andererseits ist zwar teilweise auch – wie oben bereits ausgeführt – im Grundgesetz statuiert (Art. 38 I 2 GG, Art. 21 I 1 GG, auch Art. 38 I 1), entspringt jedoch in erster Linie der politischen Realität, die gerade die gegenseitige Verschränkung praktisch nicht anders zulässt.

 

Was das Grundgesetz vorsieht ist das Demokratieprinzip, Art. 20 I GG. Eine einfache (vom Grundgesetz unabhängige) Definition der Demokratie formulierte Duverger in Die Politischen Parteien (Originaltitel: Les Partis Politiques): „eine Ordnung, in der die Herrschenden von den Beherrschten in unverfälscht freien Wahlen gewählt werden“[18]. Besondere Betonung liegt dabei auf den „unverfälscht freien Wahlen“. Grundlage einer Demokratie ist es, dass sich „die Willensbildung […] vom Volk zu den Staatsorganen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin“[19] vollzieht. Was dieser Grundsatz unter anderem bestimmt, ist eine Gewichtung der oben beschriebenen Komponenten des Gesamtwillensbildungsprozesses: Der Wille des Volkes geht dem des Staates (nicht nur in zeitlicher, sondern auch in materieller Hinsicht) vor; doch nicht nur das: Der Staat muss sich – soweit es geht – aus dem Prozess der Meinungsbildung des Volkes heraushalten. Da dies jedoch nicht vollständig möglich ist – der Staat beeinflusst den Willen des Volkes durch sein Handeln zwangsläufig, genauso wie der Wähler die Entscheidungen der Politiker beeinflusst; (wohl fast) jeder Politiker ist ein Stück weit Opportunist und unterwirft sein Handeln nicht ausschließlich seinem Gewissen. So bringt auch Art. 38 I 2 GG mit der Formulierung „nur seinem Gewissen unterworfen“ nicht etwa zum Ausdruck, dass der Abgeordnete sich strikt an sein Gewissen halten muss, da er ihm unterworfen ist, sondern dass er anderen Einflüssen, neben „Aufträgen und Weisungen“ vor allem eben dem Willen des  Volkes gerade nicht unterworfen ist[20] –, muss das oben beschriebene Prinzip der Staatsfreiheit der Willensbildung des Volkes in einer Staatsferne umgedeutet werden.[21] Der Realität wird Rechnung getragen, indem man anerkennt, dass eine völlige Freiheit hier nicht möglich ist.[22] Dennoch muss eine möglichst große Freiheit in Bezug auf die Willensbildung des Volkes gewährleistet sein. Im Grundgesetz kommt dies vor allem in Bezug auf den Wahlvorgang – die Wahl ist frei, Art. 38 I 1 GG – i.V.m. der Chancengleichheit der Parteien (angesiedelt in Art. 21 I 2 GG)[23] zum Ausdruck, aber auch in Bezug auf einige Grundrechte – Art. 4, v.a. 5 und 8 und 12 GG (hierauf wird später noch kurz eingegangen). Dieser Grundgedanke äußert sich in der sog. Neutralitätspflicht.

III.                        Umsetzung durch das Grundgesetz

 

Da das Grundgesetz explizite Neutralitätspflichten nicht nennt, können solche nur aus allgemeinen Verfassungsgrundsätzen hergeleitet werden. Dabei kann man die Neutralitätspflicht – wie eben bereits geschehen – unterschiedlich kategorisieren: Eine inhaltlich orientierte Art der Aufteilung besteht darin, die Neutralitätspflicht des Staates einerseits in Bezug auf Wahlen bzw. den politischen Wettbewerb zu sehen – dies zielt insb. auf die Wahlfreiheit des Bürgers (Art. 38 I 1 GG) und die Chancengleichheit der Parteien im politischen Wettbewerb (Art. 21 GG) ab, dazu später – und andererseits – unabhängig von Wahlen – in Bezug auf die Grundrechte von Bürgern aber auch anderen Grundrechtsträgern, wobei hier v.a. die Art. 4, 5, 8 und 12 GG eine Rolle spielen, zu unterscheiden.

 

Auch lässt sich die Neutralitätspflicht funktional aufteilen in eine Neutralitätspflicht, die die Gleichheitsrechte von Personen und Sachverhalten einerseits schützt, sowohl im Hinblick auf eine Ergebnisgleichheit als auch auf vorgelagerte Verfahrenspflichten (hierzu gehört bspw. das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit im Wettbewerb), und eine solche, die die „Freiheitsrechte als Garantien rechtlich gleicher Freiheit“[24] schützt. Hier geht es z.B. um die Staatsneutralität gegenüber Religionsgemeinschaften oder um ein Verzerrungsverbot der Wettbewerbschancen in der Wirtschaft.[25]

 

In der Regel führen beide Wege der Kategorisierung jedoch zum selben Ergebnis. Aus Gründen der Schwerpunktsetzung (s.o.)wird in dieser Arbeit auf den ersten, inhaltlich kategorisierenden Ansatz zurückgegriffen.

 

Anmerkung: Die Frage, ob die Äußerungen der Bundesregierung überhaupt rechtserhebliche Maßnahmen i.S.d. Art. 93 Nr. 1 GG bzw. § 63 BVerfGG sind, bejaht das BVerfG und stellt damit fest, dass Äußerungen von Regierungsmitgliedern, aber auch anderen Teilen des Staates (z.B. Bundespräsident) taugliche Antragsgegenstände in v.a. einem Organstreitverfahren sind.[26]

 

1.                Neutralitätsgebot im politischen Wettbewerb

 

Der wohl für die Praxis relevanteste Bereich der Neutralitätspflicht der Bundesregierung ist derjenige in Bezug auf den politischen Wettbewerb und die politischen Parteien.[27] Zu klären ist hier zunächst, woraus bzw. aus welchem Artikel des Grundgesetzes dieser Bereich der Neutralitätspflicht folgt. In einem zweiten Schritt wird erörtert, worin eine Verletzung dieser Pflicht überhaupt besteht; insb. ist hierbei eine Linie zwischen einer grds. zulässigen Öffentlichkeitsarbeit und einer Verletzung derselben zu ziehen. Begleitet werden die Ausführungen durch ausgewählte Urteile des BVerfG zu diesem Thema.

 

a.                  Verortung des Neutralitätsgebots im politischen Wettbewerb im Grundgesetz

 

Bei der Neutralitätspflicht von Regierungsmitgliedern im politischen Wettbewerb geht es, um den in Kapitel III. 1. b. diskutierten Konflikt kurz umrissen vorwegzunehmen, darum, dass Regierungsmitglieder einerseits befugt und sogar verpflichtet sind, Öffentlichkeitsarbeit zu leisten[28] – dies umfasst die Darstellung und Erläuterung vergangener und zukünftiger Maßnahmen, aber auch die „Orientierung der Bürger durch Aufklärung, Beratung und Verhaltensempfehlung“[29] –, andererseits jedoch aufgrund ihrer Stellung einen Vertrauensvorschuss in der Bevölkerung genießen, der es ihnen durch bestimmte Aussagen möglich macht, einen grundsätzlich fairen Wettbewerb der Parteien im politischen Wettbewerb zu verzerren.[30] Eine solche Verzerrung verfälscht das demokratisch legitimierte Wahlergebnis. Naheliegend ist daher, das Neutralitätsgebot in Art. 20 I, II GG anzusiedeln, dem Artikel, der das Demokratieprinzip, sowie die Herrschaft des Volkes sicherstellt.  Doch auch andere Normen des Grundgesetzes, die potenziell den Gedanken einer Neutralitätspflicht der Bundesregierung beinhalten, kommen in Betracht. Zum einen wäre hier Art. 21 I 2 GG, der die Chancengleichheit der Parteien gewährleisten soll,[31] zu nennen, zum anderen auch Art. 38 I 1 GG, der die Freiheit der Wahl(-entscheidung) garantiert und in diesem Kontext eng mit Art. 21 GG verbunden ist.

 

i.                        Art. 21 I 2 GG i.V.m. Art. 38 I 1 GG – Chancengleichheit der Parteien bei Wahlen

 

In der Praxis sind es vor allem die politischen Parteien, die in Form einer Klage vor dem BVerfG der Bundesregierung bzw. deren Mitgliedern eine Verletzung des Neutralitätsgebots vorwerfen. Dabei berufen sie sich in der Regel auf Art. 21 I GG und ihr darin verankertes Recht auf Chancengleichheit gegenüber anderen Parteien.[32] Oftmals wird in der Literatur, aber auch vom BVerfG vertreten, dass das Neutralitätsgebot direkt aus der Chancengleichheit der Parteien resultiert.[33] Dies scheint jedoch insofern im Widerspruch zu den in Kapitel II. vorgestellten Ansätzen zur rechtsoziologischen Herleitung einer Neutralitätspflicht zu stehen, als diese dort als auf dem Verhältnis Staat - Gesellschaft und nicht etwa Staat - Parteien fußend beschrieben wird. Dieser Widerspruch löst sich auch nicht auf: Die Neutralitätspflicht selbst ist nicht in Art. 21 I GG verankert; denn der Staat muss sich immer dem Bürger gegenüber neutral verhalten, indem er neutrale Äußerungen bezüglich bzw. über den politischen Wettbewerb und die politischen Parteien trifft. Eine Verletzung der Neutralitätspflicht (gegenüber dem Bürger) kann dann jedoch zugleich eine Verletzung des in Art. 21 GG konstituierten Rechts auf Chancengleichheit der Parteien darstellen. Voßkuhle und Schemmel beschreiben in einem Aufsatz in der JuS deshalb das Neutralitätsgebot richtigerweise als mit Art. 21 I GG „verbunden“ und verknüpfen diese Formulierung mit der in Art. 21 I 1 GG beschriebenen Aufgabe der Parteien, auf die öffentliche Meinung einzuwirken.[34] Aus der Tatsache dass, Art. 21 GG bei einer Verletzung der Neutralitätspflicht beeinträchtigt wird, folgt jedoch nicht, dass das Neutralitätsgebot darin zu verorten ist.

 

Art. 21 GG (und das damit verbundene Recht auf Chancengleichheit der Parteien) ist als subjektive Norm also keine Norm, mit der sich ein Neutralitätsgebot begründen lässt. Barczak führt dazu in einem Aufsatz aus, dass das Prinzip der Chancengleichheit der Parteien (lediglich) „seine Wirksamkeit in der Verpflichtung der Staatsgewalt zur Neutralität entfaltet“[35]; er folgert aus dem Neutralitätsgebot lediglich Konsequenzen, die sich für den Staat – unabhängig ob Judikative, Legislative oder Exekutive[36]gegenüber Parteien ergeben, nämlich sie chancengleich zu behandeln, indem er sich dem Bürger gegenüber neutral verhält. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass das Recht auf Chancengleichheit der Parteien selbst eigentlich „aus dem Gedanken, dass nur durch freie Wahlen demokratische Legitimation vermittelt wird,“[37] resultiert, also aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 I, II GG) und dem Prinzip der Freiheit der Wahl (Art. 38 I 1 GG).

 

Ob und inwiefern die Chancengleichheit im politischen Wettbewerb als Grundlage der Neutralitätspflicht dienen kann, ist zugegebener Maßen hoch umstritten. So spricht sich die Literatur anscheinend mehrheitlich für eine Anerkennung von Art. 21 I GG als rechtliche Grundlage des Neutralitätsgebots aus.[38] Es wird jedoch aus dem Umstand allein, dass v.a. Art. 21 GG und das darin verankerte Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien zur Geltendmachung einer Neutralitätsverletzung herangezogen wird, gefolgert, dass eben jene Norm rechtliche Grundlage des Neutralitätsgebots im politischen Wettbewerb sei.[39]

 

In engem Zusammenhang zu Art. 21 I GG und dem Recht auf Chancengleichheit der Parteien steht Art. 38 I 1 GG. Dieser Artikel gewährt dem Bürger die Freiheit der Wahl. Nach völlig herrschender Meinung ist darunter nicht nur zu verstehen, dass der Wahlvorgang selbst „frei von Zwang und unzulässigem Druck“[40] erfolgen soll, sondern auch die Wahlvorbereitung:[41] Der Bürger muss sich seine Meinung unabhängig und insb. frei von staatlichen Einflussnahmen bilden können.[42] Kann der Wähler dies nicht, beeinflusst der Staat den Wählerwillen und verletzt somit die Wahlfreiheit z.B. indem er bestimmte Parteien schlechtredet. Somit wäre die Chancengleichheit dieser Parteien gegenüber anderen Parteien nicht mehr gewährleistet. Insofern sind Art. 38 I 1 GG und Art. 21 I 2 GG eng miteinander verbunden.

 

ii.                        Art. 20 I, II – Demokratieprinzip

 

Art. 20 I GG und das darin angesiedelte Demokratieprinzip könnten die Grundlage der Neutralitätspflicht des Staates darstellen. Damit die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, wie es Art. 20 II GG festsetzt, muss sie auf den Willen des Volkes rückführbar sein. Konstitutiv für diesen Willen und für die Entscheidung, die das Volk aus seinem Willen heraus über die künftige Herrschaft des Landes trifft, ist, dass sie frei entstanden sind. Nur so wäre das für die demokratische Legitimation einer Regierung „erforderliche hohe Maß an Integrität“ gewahrt.[43]

 

(1)               Ansicht des BVerfG

 

Das BVerfG schließt sich diesem Gedanken in einem Urteil aus dem Jahre 1977[44], der ersten Grundsatzentscheidung zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung, an und begründet dies wie folgt: Wahlen vermögen einer demokratischen Legitimation nur dann, wenn sie frei sind. Diese Freiheit bezieht sich nicht nur auf die Stimmabgabe selbst – diese muss „frei von Zwang und unzulässigem Druck“[45] erfolgen –, sondern auch und vor allem darauf, dass „die Wähler ihr Urteil in einem freien, offenen Prozess der Meinungsbildung gewinnen und fällen können“[46]. Die politischen Parteien sollen bei diesem Prozess als vom Staat unabhängig ausdrücklich mitwirken, vgl. Art. 21 II GG. Damit dieser Prozess der Meinungsbildung frei und offen ist, muss sich der Staat in seinem Auftreten Zurückhaltung auferlegen; er ist zur Neutralität verpflichtet. Dabei streitet das BVerfG in seiner Entscheidung nicht ab, dass es der politischen Realität entspricht, dass „die Regierung und die sie tragenden politischen Kräfte im Parlament […] bei ihrem Verhalten stets auch den Wähler im Blick haben“[47]. Es betont sogar: „Dies […] ist Teil des politischen Prozesses einer freiheitlichen Demokratie, wie das Grundgesetz ihn versteht.“[48] Dennoch stelle diese Erkenntnis, nämlich dass es zu einer funktionierenden Demokratie dazugehöre, dass sich auch staatstragende Organe nicht vollständig parteilos äußern können und müssen,[49] nach Auffassung der Mehrheit der Richter im Jahre 1977 die grundsätzliche Pflicht zur Neutralität des Staates – soweit möglich – nicht in Frage.

 

(2)               Abweichende Meinung – das Sondervotum des Richters Rottmann

 

Andere Stimmen, z.B. die des Verfassungsrichters Rottmann in seinem Sondervotum zur selben Entscheidung aus dem Jahre 1977,[50] vertreten, dass gerade aus den eben geschilderten Überlegungen eine Verortung der Neutralitätspflicht bei Art. 20 I, II GG nicht möglich ist. Hauptargument ist dabei, dass das vom BVerfG gezeichnete Bild der Demokratie (völlig parteiunabhängige „Beamtenminister“ etc., wie es zu Zeiten der Weimarer Republik noch üblich war) überholt ist. Laut Rottmann gibt es eine Trennung wie sie das BVerfG in seinem Urteil aus dem Demokratieprinzip herausliest zwischen Amt und Partei in der politischen Wirklichkeit und somit der modernen Demokratie faktisch nicht mehr, es besteht ganz im Gegenteil eine enge Verbindung zwischen den Amtsinhabern und deren Parteizugehörigkeit, was sich an der politischen Realität deutlich ablesen lässt. Dies hängt mit der Rolle der Parteien in Deutschland zusammen. Vor allem haben sie, was das Aufstellen oberster Bundesorgane bzw. -ämter angeht, eine Monopolstellung. Daraus folgt nach Rottmann, dass die Bundesregierung von vornherein nicht die „‘neutrale‘, über den politischen Parteien schwebende Exekutivspitze“[51] ist, als die sie oft gesehen wird. Dies zeigt sich allein schon darin, dass die Bundesregierung nicht einem objektiven Gemeinwohl dient, sondern dem, was die Wahlprogramme der sie tragenden Parteien für das „Gemeinwohl“ halten. Sowohl die Regierung als Ganzes, als auch die einzelnen Organe und Ämter sind von vornherein nicht neutral. Eine strikte Trennung zwischen Amt und Parteizughörigkeit bzw. zwischen der jeweiligen Parteiführung bzw. -philosophie der die Regierung stellenden Parteien und der Regierung selbst ist weder möglich noch sinnvoll. (Dahingehend ändert auch das BVerfG seine spätere Rspr.[52])

 

Dass Kandidaten vor Wahlen grundsätzlich für sich und ihre Politik, die sie womöglich, da sie Inhaber bspw. eines bestimmten Regierungsamtes waren, bereits praktiziert haben, werben, steht selbstverständlich nicht nur nicht im Widerspruch zum Demokratieprinzip aus Art. 21 I GG, sondern ist Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Aufgrund dieser zwei Erkenntnisse – erstens, dass eine klare Trennung zwischen Regierungsamt und Parteizugehörigkeit sowie Regierung und der sie tragenden Parteien in der heutigen (grundgesetzlichen) Demokratie in Deutschland weder möglich noch sinnvoll ist und dass somit einer „Neutralität“ der Regierung von vornherein nicht gegeben ist, und zweitens, dass Politiker in einem bestimmten Amt, z.B. in dem des Ministers, grundsätzlich natürlich um eine Wiederwahl werben dürfen – folgert Rottmann, dass man ein Gebot zur Neutralität von Regierungsmitgliedern nicht in Art. 20 I, II GG ansiedeln bzw. aus dem Demokratieprinzip herleiten kann; es macht in der heutigen politischen Realität für den Wähler keinen Unterschied, ob der Minister als Minister oder als Parteipolitiker spricht.

 

Das BVerfG näherte sich dieser Argumentation zwar an,[53] bleibt jedoch grundsätzlich bei seiner alten Rechtsprechung.[54]

 

(3)               Stellungnahme

 

Rottmanns erstes großes Argument, es sei nicht mehr zeitgemäß das Amt von der Parteizugehörigkeit so klar zu trennen, läuft bei der grundsätzlichen Frage nach der Verortung der Neutralitätspflicht insofern ins Leere, als es nur ein einzelnes Problem der Neutralitätspflicht markiert: Die Legitimation einer Neutralitätspflicht in Bezug auf die Rolle einer Person (Amt oder Parteizugehörigkeit), die sich zu einem bestimmten, den Wahlkampf betreffenden Thema parteiergreifend äußert. Dabei bezieht sich eine Neutralitätspflicht im Wahlkampf nicht nur auf das Ausnutzen einer bestimmten Position, bspw. die des Ministers, und der damit verbundenen Autorität, sondern auch auf Ressourcen, die eingesetzt werden, wie z.B. staatliche Gelder oder die Internetseite eines Ministeriums.[55]

 

Auch Rottmanns zweites Argument, eine Regierung könne gar nicht neutral handeln, da sie stets ihre eigenen Parteivorstellungen umzusetzen versucht (vgl. auch Art. 65 GG: Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik, die Minister leiten die Ministerien innerhalb dieser Richtlinien), stimmt so zwar prinzipiell; er zieht daraus jedoch die falschen Schlussfolgerungen. Bei einer Neutralitätspflicht geht es nämlich nicht darum, dass eine Regierung ihr – möglicherweise nicht immer nur dem tatsächlichen, objektiv wahren Gemeinwohl entsprechendes – Handeln nicht erklären und verteidigen darf, sondern darum, dass sie nicht insb. durch Wahlwerbung und in Bezug auf andere den politischen Wettbewerb verzerren darf. Wo genau die Grenze verläuft zwischen legitimer Öffentlichkeitsarbeit und illegitimer Wahlwerbung wird in Kapitel III. 1. b. diskutiert; dies spielt bei der grundsätzlichen Frage nach dem Ob und dem Wo (in den Strukturen des Grundgesetzes) keine Rolle. Die Grundidee der Neutralitätspflicht im politischen Wettbewerb entspringt der Idee, dass Wahlen fair ablaufen müssen; und dies ist Grundbaustein der Demokratie.

 

Auch große Teile der Literatur widersprechen Rottmann, indem sie außer Frage lassen, dass eine rechtliche Fundierung politischer Neutralität im Demokratieprinzip stattfinden muss.[56] Das Demokratieprinzip fungiert nach Disci als übergeordnetes Prinzip, das andere Verfassungsgebote, z.B. das der Staatsfreiheit, umfasst, aus denen wiederum – dann konkreter – die Neutralitätspflicht des Staates bzw. der Regierung gefolgert werden kann.[57]

 

iii.                        Ergebnis

 

Das Neutralitätsgebot in Bezug auf den politischen Wettbewerb lässt sich zusammenfassend also der Idee nach im Demokratieprinzip des Art. 20 I GG verorten, findet seine Konkretisierung in Art. 38 I GG und der darin konstituierten Freiheit der Wahl und kommt in der politischen Realität vor allem durch eine Geltendmachung der Rechte auf Chancengleichheit aus Art. 20 I 2 GG durch politische Parteien zum Tragen.

 

b.                 Inhalt des Neutralitätsgebots und Abgrenzung zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung

 

Die Frage nach der Wahrung des Neutralitätsgebots der Regierung stellt sich in zwei Varianten:

 

Entweder es ist klar, dass die Regierung als Regierung bzw. ein Mitglied der Regierung als Regierungsmitglied auftritt, und es geht um den Inhalt bestimmter Handlungen oder bestimmter Äußerungen, also darum, ob dieser Inhalt „neutral“ ist.

 

Oder der Inhalt selbst steht nicht zur Diskussion – er ist klar nicht „neutral“ und überschreitet die Grenzen einer grundsätzlich zulässigen Öffentlichkeitsarbeit einer Regierung / eines Regierungsmitgliedes – und es geht um die Frage, ob die Regierung als Regierung aufgetreten ist, ob sich z.B. ein Minister in seiner Rolle als Minister geäußert hat, oder lediglich als Parteimitglied. Hierbei geht es oft um politische Werturteile, wobei es in den meisten Fällen bereits fragwürdig ist, ob diese – rein terminologisch – überhaupt unter den Begriff der „Öffentlichkeitsarbeit“ zu rechnen sind.[58]

 

Zur Debatte steht also zum einen, wo die inhaltlichen Grenzen einer grundsätzlich zulässigen Öffentlichkeits- und Informationsarbeit der Regierung liegen, und zum anderen, welche Kriterien es gibt, um zu ermitteln, ob die Regierung als Regierung oder die jeweils involvierten Personen als Parteipolitiker aufgetreten sind.

 

i.            Die Öffentlichkeits- und Informationsarbeit der Regierung

 

(1)   Legitimität und Notwendigkeit von Öffentlichkeits- und Informationsarbeit

 

(a)               Verortung legitimer Öffentlichkeits- und Informationsarbeit im Grundgesetz

 

Zunächst stellt sich die Frage nach einer rechtlichen Grundlage staatlicher Äußerungen. Grundsätzlich gilt: Die in Art. 5 I 1 GG garantierte Meinungsfreiheit kommt hier nicht in Frage; es handelt sich dabei um ein Grundrecht, das als Schutzrecht des Bürgers gegen den Staat fungiert. Weder die Regierung als Ganzes, noch einzelne Amtsträger können sich darauf berufen (sog. Konfusionsargument)[59]. Auch Art. 19 III GG ändert daran nichts.[60]

 

Als oberstem Organ der vollziehenden Gewalt obliegt der Bundesregierung die Staatsleitung.  Da das Grundgesetz „die Kompetenz der Bundesregierung zur Staatsleitung im Sinne einer – abschließender Regelung nicht zugänglichen – verantwortlichen Leitung des Ganzen der inneren und äußeren Politik“[61] nicht ausdrücklich nennt, ist davon auszugehen, dass sie stillschweigend vorausgesetzt wird. Um eine tatsächliche Verbindung zum Grundgesetz herzustellen, wird die Befugnis der Bundesregierung zur Staatsleitung allgemein aus Art. 65 bzw. Art. 65 S. 2 GG gefolgert.[62] Diese schließt u.a. die Kompetenz zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit mit ein.[63] Dieser Meinung schließt sich (teilweise) auch die Literatur an.[64]

 

Teilweise wird dieser Ansatz in der Literatur aber eben auch abgelehnt.[65] Es werden andere Möglichkeiten vorgeschlagen, eine Legitimation der Öffentlichkeitsarbeit aus dem Grundgesetz abzuleiten. So ist Öffentlichkeitsarbeit auch „Strukturmerkmal der Volkssouveränität“[66] und damit deren Legitimation unmittelbar aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 GG) sowie dem Grundsatz aus Art. 20 II 1 GG – alle Staatsgewalt geht vom Volke aus – abzuleiten.[67] Auch das Rechtstaatsprinzip wird als Grundlage herangezogen.[68]

 

Weiter wird in der Literatur die Frage aufgeworfen, ob staatliche Äußerungen dem Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes (wird allgemein aus Art. 20 III GG gefolgert)[69] unterstehen. Das Bundesverfassungsgericht lehnt diesen Ansatz ab: „Die Zuweisung einer Aufgabe berechtigt grundsätzlich zur Informationstätigkeit im Rahmen der Wahrnehmung dieser Aufgabe, auch wenn  dadurch  mittelbar-faktische  Beeinträchtigungen  herbeigeführt  werden können. Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt hierfür keine darüber hinausgehende besondere Ermächtigung durch den Gesetzgeber, es sei denn, die Maßnahme stellt sich nach der Zielsetzung und ihren Wirkungen als Ersatz für eine staatliche Maßnahme dar, die als Grundrechtseingriff im herkömmlichen Sinne zu qualifizieren ist.“[70] Die Auffassung des BVerfG stößt wiederum – teilweise – auf Kritik in der Literatur. So wird argumentiert, dass jenes „paternalistisch anmutende Konzept“[71], das von der Annahme ausgeht, der Bürger bedürfe der Aufklärung über Programm und Zielsetzung einzelner politischer Parteien, rechtsstaatswidrig von der Aufgabe auf die Befugnis schließt.[72] Nach Barczak greife der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes zwar nicht bei allen staatlichen Äußerungen, jedoch insb. dann, wenn eine bestimmte Äußerung das Recht von Parteien auf Chancengleichheit zu verletzen vermag. Dann bedürfe es einer speziellen gesetzlichen Befugnisnorm.[73]

 

Letztendlich ist jedoch der Rspr. an dieser Stelle zuzustimmen. Um zu funktionieren, braucht die Politik, in dessen Sphäre sich insb. auch Regierungsmitglieder bewegen, Freiräume.[74] Allein wegen dieses Arguments bedarf es einer näheren rechtlichen Ausgestaltung in Form rechtlicher Befugnisse nicht. Denn auch so sind die Äußerungen von Regierungsmitgliedern rechtlichen Reglementierungen zugänglich. Die Zulässigkeit der Öffentlichkeitsarbeit, insb. parteipolitischer Äußerungen, kann stets anhand der eigenen Grenzen (dazu Kapitel II. 1. b. (2)) überprüft werden.

 

(b)              Inhalt der Öffentlichkeitsarbeit

 

Die Öffentlichkeitsarbeit umfasst in erster Linie, dass die Bundesregierung ihr gegenwärtiges und zukünftiges Handeln erklärt und rechtfertigt. Das Informationshandeln des Staates geht darüber hinaus;[75] Gegenstand der Informationen muss nicht nur die eigene Politik, sondern kann auch das Handeln und Wirken Dritter (vgl. Glykol-Entscheidung)[76] sein.[77]

 

Dies geschieht in erster Linie in Form von Reden und Interviews. Weitere Möglichkeiten sind Pressekonferenzen, Pressemitteilungen, Newsletter, amtliche Publikationen, Grußworte, gelegentlich (Video-)Podcasts, aber auch neue Mittel der Kommunikation, insb. Internetauftritte (z.B. eines Ministeriums) oder die Sozialen Medien.[78]

 

Konkret geht es darum, Sachfragen darzulegen und zu erläutern, damit der Bürger mündig mitentscheiden kann, Vertrauen in den Staat aufzubauen, z.B. dann, wenn der Staat in Wirtschafts- und Sozialpolitik Maßnahmen ergreift, die zu Lasten mancher Teile der Bevölkerung gehen, und dem Bürger komplexe Sachverhalte, insb. das den Bürger unmittelbar betreffende, geltende Recht sachgerecht näherzubringen.[79]

 

Das Informationshandeln des Staates besteht häufig auch aus staatlichen Warnungen vor gefährlichem Handeln und Produkten Dritter.[80] Eine solche Art der Öffentlichkeitsarbeit ist „nicht nur zulässig, sondern auch notwendig […], um den Grundkonsens im demokratischen Gemeinwesen lebendig zu erhalten“[81]. Die Bundesregierung sollte von ihrer Informationsarbeit besonders dort Gebrauch machen, „wo ihr eine gesamtstaatliche Verantwortung zukommt, die mit Hilfe von Informationen wahrgenommen werden kann“[82], so das BVerfG.

 

(2)               Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit – das Neutralitätsgebot

 

Dass die (notwendige) Öffentlichkeitsarbeit des Staates womöglich passiv in den Wahlkampf einwirkt, ist hinzunehmen.[83] Die Bundesregierung darf – allgemein gesprochen – jedoch nicht aktiv in den Wahlkampf durch – dann unzulässige – Öffentlichkeitsarbeit eingreifen.[84] Insb. dürfen die politischen Ziele einer Partei dabei keinen Anknüpfungspunkt für eine differenzierende Handlung unterschiedlicher Parteien bilden.[85]

 

Der Staat ist bei Äußerungen, also rein tatsächlichem Handeln ohne Rechtsfolgen, gem. Art. 1 III GG an die Grundrechte sowie ohnehin gem. Art. 20 III GG an Recht und Gesetz gebunden.[86] Der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung, insgesamt staatlichen Äußerungen, werden (durch das (Grund-)Gesetz) in dreierlei Hinsicht Schranken gesetzt:

 

(a)   Grenzen durch das Gesetz

 

Da die Bundesregierung grds. an die Grundrechte sowie Recht und Ordnung gebunden ist (Art. 1 III, 20 III GG), ist jede Äußerung untersagt, die als „Schmähkritik“ zu qualifizieren wäre und somit gegen §§ 185 ff. StGB verstoßen würde.[87]

 

(b)              Interne Grenzen

 

Weiter gibt es interne Grenzen durch die eigne Kompetenzordnung, insb. das Ressortprinzip. Daraus folgt, dass die Öffentlichkeitsarbeit nur dann zulässig ist, wenn „sie sich im Rahmen des vom Grundgesetz der Bundesregierung zugewiesenen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereiches hält“.[88] Dies gilt prinzipiell nicht für den Bundeskanzler als Spitze der Regierung.[89] In der Literatur wird dieser Grundsatz teilweise in Frage gestellt. Isensee hat die Theorie der sog. „kompetenzfreien Zone“ entwickelt. Nicht jedes staatliche Handeln, so der Gedanke, ist von der Kompetenzordnung erfasst.[90] Dies trifft insb. auf Reden und Interviews von Ministern (und auch des Bundespräsidenten) zu.[91]  Zweifel an dieser Theorie äußert Nellesen: „Die in Art. 20 II 2 GG angelegte Gewaltenteilung gebietet als Ausprägung des Rechtsstaats- und Bundesstaatsprinzips, dass jeweils die zuständige staatliche Stelle handelt. Gewaltenteilung bedeutet auch die Bestimmung und Einhaltung von Kompetenzen. Staatlichen Funktionsträgern werden bestimmte Kompetenzen zugewiesen, in denen – und auch nur in diesen – ihre Handlungen legitimiert sind. Nur so ist staatliches Handeln berechenbar und kontrollierbar.“[92] Auch das BVerfG teilt die – zu befürwortende – Auffassung Nellesens.[93] Damit gebietet die Kompetenzordnung interne Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit für die einzelnen Ressorts.

 

(c)               Externe Grenzen

 

(i)                 Formell

 

In formeller Hinsicht setzt v.a. das bundesstaatliche Kompetenzgefüge der Bundesregierung (und vice versa auch den Landesregierungen) Grenzen: die Art. 70 ff. GG (d.h. dass sich die Bundesregierung nur zu Themen öffentlich äußern darf, die auch in den Bereich der Gesetzgebungskompetenz des Bundes fallen). So hat sich die Bundesregierung bei den Themen außerhalb ihres Kompetenzbereichs gegenüber Landesregierungen zu enthalten, so wie sich umgekehrt Landesregierungen nicht zu Themen äußern dürfen, die sich wiederum im bundesstaatlichen Kompetenzgefüge befinden.[94]

 

(ii)               Materiell

 

Die Materiellen Grenzen haben in der Praxis die größte Relevanz; es handelt sich dabei um das Neutralitätsgebot.

 

Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit innerhalb des politischen Wettbewerbs entstehen, so lässt es sich grundsätzlich formulieren, dort, wo die Wahlwerbung beginnt;[95] die Öffentlichkeitsarbeit muss den Grundsatz der Objektivität wahren[96] und sachlich sein.[97] Ob das Gebot der Sachlichkeit im Rahmen von „Spontanäußerungen“ entfällt, lässt das BVerfG offen (in Bezug auf Zeitungsinterviews s. Kapitel III. 1. b. ii. (2) (a)).[98] Es ist nämlich beispielweise ein Unterschied, ob die Bundesregierung vor einem bestimmten Produkt warnt – die Informationen/Warnungen sind hierbei an natürliche oder juristische Personen des Privatrechts gerichtet, die außerhalb des Staatsapparats stehen – oder sich politisch äußert und vor einer bestimmten Partei warnt – diese kämpfen um ihren Einfluss im Staatsgefüge.[99] Was den Regierenden jedoch stets erlaubt bleiben muss, ist, Angriffe und Vorwürfe politischer Gegner zurückzuweisen.[100] Dies schließt das bereits beschriebene Recht, sich in Form von Erläuterungen von der Regierung getroffener Maßnahmen und künftiger Vorhaben zu äußern, mit ein.[101]

 

Ein Indiz für eine Überschreitung der Grenzen der zulässigen Öffentlichkeitsarbeit ist ein Anwachsen der Öffentlichkeitsarbeit in Wahlkampfnähe. (Dennoch ist natürlich der Anwendungsbereich des Neutralitätsgebots nicht auf die Wahl und deren unmittelbare Vorbereitung begrenzt.)[102] Dies kann in „der größeren Zahl von Einzelmaßnahmen ohne akuten Anlass, wie in deren Ausmaß und dem gesteigerten Einsatz öffentlicher Mittel für derartige Maßnahmen zum Ausdruck kommen“[103]. Die grundsätzlich zulässige Veröffentlichung von Berichten über eigene Leistungen und Erfolge der Regierung kann in unmittelbarer Nähe zu Wahlen seine Legitimität verlieren. Dies trifft – wie es das BVerfG formuliert – insb. dann zu, wenn die Bundesregierung „im nahen Vorfeld der Wahl ihrem Inhalt und ihrer Aufmachung nach nicht zu beanstandende Veröffentlichungen, insbesondere in Form von sogenannten Arbeits-, Leistungs- oder Erfolgsberichten mit beträchtlichem Aufwand und in erheblicher Menge veröffentlicht oder gegen ihre Verbreitung keine ausreichenden Vorkehrungen trifft, die ihre Verwendung zu wahlwerbenden Zwecken verwehren.“[104] Dies entfalte nämlich regelmäßig Wirkungen auch zugunsten der die Regierung tragenden Parteien; die Maßnahmen der Regierung erhalten in der „heißen Phase“ des Wahlkamps einen „Charakter parteiischer Werbemittel“[105]. Wann die Grenze überschritten ist, lässt sich auch hier nicht genau sagen; grundsätzlich richtet sich dies nach Zahl und Umfang der Maßnahmen, der Nähe des Wahlzeitpunktes und der Intensität des Wahlkampfes. Von diesen Beschränkungen der Öffentlichkeitsarbeit unberührt bleiben – wenn aus akutem Anlass geboten – informierende, wettbewerbsneutrale Veröffentlichungen.[106]

 

Neben dem bereits angeführten Sondervotum Rottmanns gibt es zu derselben Grundsatzentscheidung bezüglich zulässiger Öffentlichkeitsarbeit[107] ein weiteres Sondervotum Geigers. Er stellt die Forderung auf, es dürften nicht einzelne Maßnahmen herausgepickt und auf die Verfassungsmäßigkeit überprüft werden, vielmehr müsse die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung als Ganzes betrachtet werden. Eine diesbezügliche Verfassungswidrigkeit könnte nur begründet werden, „indem das Gericht alle Aktivitäten der [Regierung] zusammen sieht und aus ihrer Massierung die hinreichende Evidenz gewinnt, dass die Feststellung der Verfassungswidrigkeit oder der Verfassungsmäßigkeit des Verhaltens der Bundesregierung, des Bundeskanzlers, der Minister und des Bundespresseamtes im Wahlkampf gerechtfertigt ist“[108].

 

Gegen diesen Ansatz spricht jedoch schlicht der Umstand, dass es in der Praxis oft gerade einzelne Äußerungen – beispielhaft am Fall Gauck zu sehen –[109] sind, die von politischen Parteien vor dem BVerfG beanstandet werden. Das BVerfG hat dann über diese einzelne Äußerung zu entscheiden. Man kann natürlich anführen, dass auch in diesen Fällen die gesamte Öffentlichkeitsarbeit der Regierung maßgeblich sein soll. Das BVerfG stellt jedoch schlicht fest, dass diese einzelne Aussage potentiell reicht, eine Neutralitätspflichtverletzung darzustellen, unabhängig davon, ob man sie innerhalb einer Gesamtbetrachtung der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung als Ganzes betrachtet, oder als einzelne, alleinstehende Äußerung.

 

Grundsätzlich gilt wegen der Schwierigkeit einer Abgrenzung von zulässiger Öffentlichkeitsarbeit und der Verletzung der Neutralitätspflicht zudem nach der Rspr. des BVerfG, dass es sich, wenn eine „ins Gewicht fallende Häufung und Massivität offenkundiger Grenzüberschreitungen“[110] vorliegt, um eine Verletzung der Neutralitätspflicht handelt.

 

ii.                        Kriterien zur Ermittlung der eingenommenen Rolle von Regierungsmitgliedern: Regierungsamt oder Parteienamt?

 

Es gilt: „Für das einzelne Mitglied der Bundesregierung kann nichts anderes gelten als für die Bundesregierung als Ganzes.“[111] Damit steht fest: Die Grundsätze über die Öffentlichkeitsarbeit in Bezug auf die Bundesregierung können unmittelbar auf Mitglieder übertragen werden – wie oben durch Bezugnahme auf bestimmte Beispiele bereits großenteils geschehen. Das vorliegende Kapitel behandelt Abgrenzungsschwierigkeiten, die entstehen, wenn sich einzelne Minister oder der Kanzler parteiergreifend in den Wahlkampf einmischen, und benennt Kriterien zur Ermittlung der in einer bestimmten Situation tatsächlich eingenommenen Rolle; die Frage ist: Ist ein Politiker als Regierungs- oder als Parteienmitglied (oder gar privat) aufgetreten?

 

Abgesehen von einem Überschreiten der generellen Grenzen zulässiger Öffentlichkeitsarbeit kann das Neutralitätsgebot auf zwei verschiedene Arten verletzt werden, wobei in beiden Fällen der Grundsatz gilt, dass ein „Rückgriff auf die mit dem Regierungsamt verbundenen Mittel und Möglichkeiten unterbleibt“[112].

 

Entweder nutzt ein Mitglied der Regierung die Autorität seines Amtes aus, um ein bestimmtes Handeln oder eine bestimmte Äußerung effektiver zu verbreiten als es ohne den Amtsbonus möglich wäre. Dass es auch einem Minister grundsätzlich möglich sein muss, sich parteipolitisch zu äußern, ist selbstverständlich und entspricht der Ratio des Art. 21 GG also dem Grundprinzip Parteienstaat, den das Grundgesetz durch diesen Artikel aufstellt; andernfalls wären Regierungsparteien ungerechtfertigter Weise benachteiligt.[113] Wichtig ist stets die Rolle, in welcher die betreffende Person die inkriminierte Aussage getroffen hat, also die Frage: Trat Minister XY in der Position des Ministers, als Parteipolitiker oder evtl. sogar als Privatmann auf. Eine Abgrenzung ist dabei nicht immer so einfach, wie es zunächst scheint; Kapitel III. 1. b. iii. wird darauf genauer eingehen.

 

Oder – die zweite Art, wie das Neutralitätsgebot verletzt werden kann – es werden Ressourcen der Regierung, ob in personeller, technischer, medialer und finanzieller Hinsicht, innerhalb des zwischen den Parteien ausgetragenen Wettbewerbs genutzt und führen zu einer Verzerrung des Wettbewerbs. Auch hier ist eine Abgrenzung bzw. eine Entscheidung dahingehend, ob nun staatliche Mittel unberechtigt eingesetzt wurden oder nicht, nicht immer ganz einfach.

 

In beiden Fällen, also entweder bei der Nutzung der Autorität des Amtes oder beim Einsatz von Ressourcen der Regierung, ist ein Regierungsmitglied dem Neutralitätsgebot unterworfen.[114]

 

Bei der Bewertung der Fragen, ob dies gewährleistet ist, spielt die grundsätzliche Vorüberlegung eine Rolle, dass – wie bereits festgestellt – eine strikte Trennung der Sphären von Regierungsamt (z.B. Minister) und Parteienamt, insb. aus Sicht des Bürgers, nicht möglich ist.[115] Damit weicht das Bundesverfassungsgericht von seiner Leitentscheidung aus dem Jahr 1977[116] ab und greift das Sondervotum Rottmanns zur selben Entscheidung auf. Dennoch zieht es in Bezug auf die Verortung der Neutralitätspflicht im Grundgesetz nicht dieselben Konsequenzen wie Rottmann (Neutralitätspflicht für Minister etc. aus dem Grundgesetz nicht ableitbar). Später wiederum betont das BVerfG stärker noch als in BVerfGE 183, 102, dass „der Umstand, dass eine strikte Trennung der Sphären des ‚Bundesministers‘, des ‚Parteipolitikers‘ und der politisch handelnden ‚Privatperson‘ nicht möglich ist, nicht zur Unanwendbarkeit des Neutralitätsgebots im ministeriellen Tätigkeitsbereich“[117] führt. In einem noch späteren Urteil aus dem Jahr 2020 stellt das Bundesverfassungsgericht diese Feststellung sogar bewusst den Überlegungen bezüglich der Trennbarkeit der Ämter voran.[118] Diese zunehmende Betonung des Neutralitätsgebots für Minister hängt wohl damit zusammen, dass das BVerfG zwar in seiner Grundannahme bezüglich der Trennbarkeit der Ämter von der Leitentscheidung aus dem Jahr 1977 abweicht, die Konsequenzen jedoch gleichbleiben sollen: Auch für Minister gilt das Neutralitätsgebot. Die Maßstäbe zur Äußerungsbefugnis von Regierungsmitgliedern werden trotz der Änderung der Rspr. bezüglich jener Grundsatzfeststellung, nämlich der, dass Regierungsamt und Parteienamt nicht strikt trennbar sind, nicht großzügiger und an das Urteil vom 10.6.2014 zur Äußerungsbefugnis des Bundespräsidenten[119] angepasst. Dies wird durchaus als kritisch betrachtet, da so das Regierungsmitglied auf der einen Seite strenger Neutralität verpflichtet ist und der Parteipolitiker auf der anderen Seite bis hin zu Äußerungen an der Grenze zur Schmähkritik alles sagen darf.[120]

 

In den meisten Fällen sind die beiden vorgestellten Varianten der Verletzung des Neutralitätsgebots eng miteinander verwoben und häufig kaum voneinander zu trennen. Insb. zur Abgrenzung der Rollen – Regierungs- oder Parteienmitglied – gibt es eine umfangreiche Rechtsprechung, die nun im Folgenden behandelt wird. Im Vordergrund stehen dabei Fälle aus der jüngeren Vergangenheit; auf folgende Leitentscheidungen wird genauer eingegangen: „Fall Schwesig“, „Fall Wanka“ und „Fall Seehofer“. Es wird zum einen geklärt, ab wann man von einer die Neutralitätspflicht bedingenden „Autorität des Amtes“ spricht, zum anderen wird erläutert, um was es sich bei staatlichen Ressourcen handelt. Grundsätzlich gilt, dass die bezüglichen Fragestellungen in jedem Einzelfall zu entscheiden und nur in einem geringen Umfang pauschalisierbar sind.

 

(1)   Grundlegende Kriterien

 

Bezüglich der Inanspruchnahme von Amtsautorität und der damit verbundenen Pflicht zur Unterwerfung unter das Neutralitätsgebot, trifft das BVerfG in den Fällen Schwesig und Seehofer („Fall Wanka“ zitiert v.a. „Fall Schwesig“) einige grundlegende Aussagen:

 

„Ein spezifischer Rückgriff auf die mit seinem Regierungsamt verbundene Autorität liegt regelmäßig vor, wenn ein Bundesminister bei einer Äußerung ausdrücklich auf sein Ministeramt Bezug nimmt oder die Äußerung ausschließlich Maßnahmen oder Vorhaben des von ihm geführten Ministeriums zum Gegenstand hat. Amtsautorität wird ferner in Anspruch genommen, wenn der Amtsinhaber sich durch amtliche Verlautbarungen etwa in Form offizieller Publikationen, Pressemitteilungen oder auf offiziellen Internetseiten seines Geschäftsbereichs erklärt.“[121]

 

Ein Amtsbezug kann sich auch aus den äußeren Umständen, wie der Verwendung von Staatssymbolen und Hoheitszeichen, der Nutzung der Amtsräume oder sonstigen „amtliche[…] Medi[en]“[122] (Amtsblätter, Homepage des Ministeriums), ergeben. Ein weiteres Kriterium ist der  „Einsatz sonstiger Sach- oder Finanzmittel, die einem Regierungsmitglied aufgrund seines Amtes zur Verfügung stehen“[123].

 

Außerdem kann eine Äußerung auch aufgrund ihres Inhalts als amtlich eingestuft werden.[124]

Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Neutralitätspflicht von Regierungsmitgliedern. Grundlagen im Öffentlichen Recht
Autor
Jahr
2021
Seiten
49
Katalognummer
V1162258
ISBN (eBook)
9783346565327
ISBN (eBook)
9783346565327
ISBN (eBook)
9783346565327
ISBN (Buch)
9783346565334
Sprache
Deutsch
Schlagworte
neutralitätspflicht, regierungsmitgliedern, grundlagen, öffentlichen, recht
Arbeit zitieren
Simon Süßmann (Autor:in), 2021, Neutralitätspflicht von Regierungsmitgliedern. Grundlagen im Öffentlichen Recht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1162258

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