Drei Zugangsweisen zur Welt bei Arthur Schopenhauer

Transzendentallogische Erkenntnistheorie, Empirische Metaphysik und Mystik


Diploma Thesis, 1994

82 Pages, Grade: cum laude


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Siglenverzeichnis

Einleitung

I. Die mittelbare Erkenntnis: "Die Welt als Vorstellung" - Schopenhauers transzendentaler Idealismus
1. Die Subjekt-Objekt-Differenz als grundlegende und notwendige Form jeglicher Erkenntnis
2. Die weiteren Formen der Erkenntnis
2.1. Die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund
2.2. Die reine Anschauung der subjektiven Formen von Raum und Zeit
2.3. Der Verstand und die anschauliche Erkenntnis
2.4. Die Vernunft und die abstrakt-begriffliche Erkenntnis
3. Vorstellung und Ding an sich

II. Formen unmittelbarer Erkenntnis
1. Die unmittelbare Erkenntnis des Willens
1.1. Wie ist Metaphysik auf der Basis eines transzendentalen Idealismus noch möglich?
1.2. Blickpunktwechsel: Der empirische Ursprung der metaphysischen Frage verlangt nach einer empirischen Beantwortung - Schopenhauers existentiell-anthropologische Begründung der Metaphysik
1.3. Exkurs: Religiöser Glaube, Naturwissenschaftliches Erklären und Philosophisches Verstehen
1.3.1. Religion und Philosophie
1.3.2. Naturwissenschaft und Philosophie
1.4. Die "innere Erfahrung"
1.5. Wie ist die unmittelbare Erkenntnis des Willens transzendentallogisch möglich? - Die Rolle der Vernunft
1.6. Blickpunktwechsel: Der Wille als metaphysisches Urprinzip
1.7. Die Ideen als Objektivationsstufen des Willens und der metaphysische Pessimismus
2. Die unmittelbare Erkenntnis des Schönen
2.1. Die erkenntnistheoretische Rechtfertigung der Ideen und die Kontemplation
2.2. Zwei subjektive Bedingungen der Ideenschau
2.2.1. Die geniale Veranlagung - Die Kunst, der Künstler, das Genie und der Wahnsinn
2.2.2. Die schönen Gegenstände
2.3. Psychologische Indizien: zwei intellektuelle Gefühle (Die Lehre vom Schönen und Erhabenen)
2.4. Ist die ästhetisch-intuitive Anschauung "machbar"? - Ueber den Ursprung der Willensverneinung
2.5. Der Uebergang von der Aesthetik zur Ethik
3. Die unmittelbare Erkenntnis des Guten
3.1. Exkurs zur Ethik
3.1.1. Die pessimistische Grundlage der Ethik
3.1.2. Ethik als deskriptive, rational vermittelbare Seins-Ethik
3.2. Stufen des moralischen Seins
3.3. Die Verneinung des Willens zum Leben
3.3.1. Stufen der Askesis
3.3.2. Der "zweitbeste Weg"

III: Der vergessene Blickpunktwechsel
1. Schopenhauers systemimmanente Relativierung seiner Philosophie
2. Die Grenze der philosophischen Erkenntnis
3. Philosophie und Mystik
3.1. Mystik und Rationalität
3.2. Mystik im interkulturellen Vergleich
3.3. Die existentielle Relevanz der mystischen Erfahrung
3.3.1. Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod
3.3.2. Absolutes Glück
3.3.4. Relativierung und Resultate

Literaturverzeichnis

Siglenverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Einleitung

"Widersprüche aufsuchen ist die gemeinste und von allen Strohköpfen geübte Art, ein Buch und System zu kritisiren: sie blättern bloss hin und her, bis sie Sätze finden, die aus dem Zusammenhang gerissen nicht zu einander reimen. Diese Methode aber beweist zu viel, nämlich nicht bloss, dass ich Unrecht habe, sondern dass ich ein Pinsel bin, der nicht weiss, was er redet, da ich ja bei jedem Schritt gegen das erste Denkgesetz verstosse."(GBr Nr.415, S.417)

Schopenhauers Philosophie beinhaltet nicht ein "System von Gedanken"(WW I/1, 7), bei welchem jeder einzelne aus dem vorherigen folgt und jeder vorherige die Grundlage des nächsten bildet, sondern vielmehr "ein[en] einzige[n] Gedanke[n]"(Ebd.): "Die Welt als Wille und Vorstellung". Dieser "eine Gedanke" lässt sich nicht nach dem Vorbild der Naturwissenschaften mathematisch exakt beweisen, so dass er als Ergebnis die lineare Folge aus den Grundlagen eines Systems darstellt. Seine Explikation bedarf vielmehr einer gänzlich eigenständigen Darlegung. Es handelt sich dabei, so Schopenhauer, um eine hier "zuerst versuchte, von allen bisherigen völlig abweichende Methode des Philosophirens"(WW I/1, 10).

"Ein System von Gedanken muss allemal einen architektonischen Zusammenhang haben, d.h. einen solchen, in welchem immer ein Theil den andern trägt, nicht aber dieser auch jenen, der Grundstein endlich alle, ohne von ihnen getragen zu werden, der Gipfel getragen wird, ohne zu tragen. Hingegen ein einziger Gedanke muss, so umfassend er auch seyn mag, die vollkommenste Einheit bewahren. Lässt er dennoch, zum Behuf seiner Mittheilung, sich in Theile zerlegen; so muss doch wieder der Zusammenhang dieser Theile ein organischer, d.h. ein solcher seyn, wo jeder Theil eben so sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen gehalten wird, keiner der erste und keiner der letzte ist, der ganze Gedanke durch jeden Theil an Deutlichkeit gewinnt und auch der kleinste Theil nicht völlig verstanden werden kann, ohne dass schon das Ganze vorher verstanden sei."(WW I/1, 7)[1]

Nur als ein organisches Ganzes ist jener "eine Gedanke", im Gegensatz zu einem "System von Gedanken", verstehbar. Die Mitteilung desselben soll seinem Gehalt nach bewahrt bleiben, auch wenn die Form der Darstellung unweigerlich im Widerspruch dazu steht. Die sprachliche Darstellung kann eben immer nur "linear" erfolgen. Dieses sprachliche Hindernis mindert jedoch nicht den Gehalt des Gedankens selbst. Denn es handelt sich dabei lediglich um ein formelles Hindernis jeglicher sprachlichen Mitteilung.

"Ein Buch muss inzwischen eine erste und eine letzte Zeile haben und wird insofern einem Organismus allemal sehr unähnlich bleiben, so sehr diesem ähnlich auch immer sein Inhalt seyn mag: folglich werden Form und Stoff hier im Widerspruch stehen."(WW I/1, 8)

Der Gehalt jenes "einen Gedankens" ist jedoch nie erschöpfend erklärt, sondern kann immer nur von unterschiedlichen Blickrichtungen her aufgehellt werden. Das Verfahren erweist sich somit als hermeneutischer Zirkel, bei welchem es nicht darum geht, einen Standpunkt zu isolieren und über alle anderen zu erheben, sondern alle unterschiedlichen Standpunkte (erkenntnislogische, metaphysische, psychologische, naturwissenschaftliche, usw.) als Versuche zu betrachten, jenen einen Grundgedanken in gewisser Hinsicht zu entfalten.[2] Schopenhauers Beschreibung der Entstehung seines Werkes weist auf die organische Unzertrennlichkeit sämtlicher Teile seiner Philosophie hin.

"Das Werk wächst, concrescirt allmählig und langsam wie das Kind im Mutterleibe: ich weiss nicht was zuerst und was zuletzt entstanden ist, wie beym Kind im Mutterleibe: Ich werde ein Glied, ein Gefäss, einen Theil nach dem anderen gewahr d.h. ich schreibe auf, unbekümmert wie es zum Ganzen passen wird: denn ich weiss es ist alles aus einem Grund entsprungen. So entsteht ein organisches Ganzes und nur ein solches kann leben. Die da meinen man dürfe nur irgendwo einen Faden anzetteln und dann weiter dran knüpfen, eins nach dem andern, in hübsch ordentlicher Reihe, und als höchste Vollendung aus einem magern Faden durch Winden und Weben ein[en] Strumpf wirken - wie Fichte, (das Gleichniss gehört Jakobi), - die irren."(N I, 55)

Die beiden grundlegendsten Blickpunkte, unter denen Schopenhauer seinen "einen Gedanken" reflektiert, sind der erkenntnislogische und der empirische. Einige Interpreten haben darin die Hauptschwäche der Philosophie Schopenhauers erblickt. So bemängelt etwa Hasse:

"Tatsächlich verlässt Schopenhauer, trotz der Energie der Betonung des extremen Idealismus, diesen seinen radikalen Standpunkt, indem er ihm die Lehre angliedert, dass die Welt als Vorstellung 'noch etwas anderes' als Vorstellung ist... Dadurch entsteht ein Zwiespalt idealistischer und realistischer Auffassung, welcher Gegensätze von äusserster Polarität... unüberbrückt lässt, ein Zwiespalt, welcher unversöhnt das gesamte System Schopenhauers durchwaltet."[3]

Hasses Einwand wird sich auf dem Hintergrund einer organologischen Deutung, wie sie Schopenhauer selbst nahelegt, als hinfällig erweisen, und jene vermeintliche Hauptschwäche wird sich unvermerkt in eine Hauptstärke verwandeln. Denn die unterschiedlichen Blickpunktwechsel ermöglichen es dem Philosophen, seinen Gegenstand so umfänglich wie möglich zu verstehen. Es wird sich zeigen, dass sich die verschiedenen Blickrichtungen ebenso ergänzen wie auch begrenzen, so dass keiner der dogmatisch erste und keiner der letzte ist. Schopenhauers zirkuläre Methode erweist sich somit als ein "circulus fructuosus" und nicht als ein "circulus vitiosus". Er unternimmt auf diese Weise den Versuch, die Waage zwischen Dogmatismus und Skeptizismus auszubalancieren.[4]

Einen weiteren massgeblichen Blickpunktwechsel lässt Schopenhauer am Ende seines Werkes anklingen, führt ihn jedoch nicht mehr durch: den Blickpunktwechsel von der "Welt als Wille und Vorstellung" zur Mystik. Damit stellt sich Schopenhauer im Grunde gegen Schopenhauer. Spierling sieht in dieser letzten Wende der Betrachtungsweise denn auch "die radikalste Selbstkritik"[5] in Schopenhauers Denken. "Prinzipiell alle erreichten Resultate der 'Welt als Wille und Vorstellung' werden dadurch wieder angezweifelt, werden erneut zu schwankenden Voraussetzungen. Das System der 'Welt als Wille und Vorstellung' überschlägt sich."[6] Diesen Kontrapunkt einzunehmen bleibt dem Philosophen, nach Schopenhauers Ansicht, allerdings versagt, denn die "Welt als Wille und Vorstellung" bedeutet zugleich die Grenze des sinnvoll Sagbaren, so dass der Uebergang zur Mystik als "ein Uebergang in das leere Nichts erscheint"(WW I/2, 504). Das Scheitern dieses letzten, systemimmanenten Blickpunktwechsels liegt begründet in dessen Nichtkommunizierbarkeit. In der mystischen Vereinigung verstummt die rationale Sprache, die Rede des Mystikers wird folglich gänzlich subjektiv, und deshalb vermag der Mystiker im Gegensatz zum Philosophen nicht zu überzeugen.

"Der Mystiker... geht aus von seiner innern, positiven, individuellen Erfahrung, in welcher er sich findet als das ewige, alleinige Wesen u.s.f. Aber mittheilbar ist hievon nichts, als eben Behauptungen, die man auf sein Wort zu glauben hat: folglich kann er nicht überzeugen."(WW II/2, 715)

Anknüpfungspunkte an die Mystik finden sich jedoch bereits zuvor. Denn der Philosoph hat mit dem Künstler und dem Mystiker (Heiligen) die anschaulich-intuitive Zugangsweise zur Welt gemein. Derselbe, sowohl der Kunst als auch der Philosophie zugrundeliegende schöpferische Erkenntnisakt geht für Schopenhauer aus der intuitiven Anschauung hervor.[7] Die intuitive Erkenntnisweise ist für ihn denn auch Entstehungs- und Rechtfertigungsgrund seines eigenen philosophischen Denkens. 1825 schreibt Schopenhauer rückblickend auf sein Werk:

"Was mir die Echtheit und daher die Unvergänglichkeit meiner Philosopheme verbürgt, ist, dass ich sie gar nicht gemacht habe; sondern sie haben sich selbst gemacht. Sie sind in mir entstanden ganz ohne mein Zutun, in Momenten, wo alles Wollen in mir gleichsam tief eingeschlafen war und der Intellekt nun völlig herrenlos und dadurch müssig tätig war, die Anschauung der wirklichen Welt auffasste und sie mit dem Denken parallelisierte, beide gleichsam spielend an einander haltend, ohne dass mein Wille irgendwie der Sache auch nur vorstand, sondern alles sich völlig ohne mein Zutun, ganz von selbst machte... Daher war mein Individuum hier nicht im Spiel, sondern es war die Anschauung selbst, rein und für sich... die sich in den Begriff rein und für sich absetzte... Nur was in solchen Momenten ganz willensreiner Erkenntniss in mir sich darstellte, habe ich als blosser Zuschauer und Zeuge aufgeschrieben und zu meinem Werke benutzt."(N III, 209)

Aehnlich lautet ein Selbstbekenntnis aus dem Jahr 1813, also noch aus der Entstehungszeit der "Welt als Wille und Vorstellung":

"Mein Denken in Worten, also Begreiffen, also die Tätigkeit der Vernunft, ist für meine Philosophie nichts anderes als was das Technische für den Maler ist, das eigentliche Malen, die conditio sine qua non. Aber die Zeit der wahrhaft philosophischen, wahrhaft künstlerischen Tätigkeit sind die Augenblicke, wo ich mit Verstand und Sinnen rein objektiv in die Welt hineinsehe; diese Augenblicke sind nichts Beabsichtigtes, nichts Willkührliches, sie sind das mir Gegebene, mir Eigene, was mich zum Philosophen macht, in ihnen fasse ich das Wesen der Welt auf, ohne dann zugleich zu wissen, dass ich es auffasse; ihr Resultat wird oft erst lange nachher aus der Erinnerung schwach in Begriffen wiederholt und so dauernd befestigt."(N I, 225f.)

Worin besteht nun aber der Unterschied zwischen Philosoph und Mystiker? Was zeichnet nach Schopenhauer das Sprechen über die unmittelbare Schau des Philosophen von der Rede über die mystische Union des Heiligen aus?

"Mein Kniff ist, das lebhafteste Anschaun oder das tiefste Empfinden, wann die gute Stunde es herbeigeführt hat, plötzlich und im selben Moment mit der kältesten und abstraktesten Reflexion zu übergiessen und es dadurch erstarrt aufzubewahren."(N IV/1, 352)

Auf die intuitive Schau des Philosophen folgt der Versuch der rationalen, d.h. begrifflichen Klärung. Der Philosoph wird zum "Begriffs-Mystiker". Treffend charakterisiert Hasse Schopenhauer daher als einen "intuitive[n] (nicht... diskursive[n]) Synthetiker"[8]. Allerdings bringt Schopenhauer sich und seinen Lesern die Beteiligung der Vernunft bei der Beschreibung seiner Methode nicht ausdrücklich zu Bewusstsein. Bei seiner Rekonstruktion der Genese der begrifflichen Erkenntnis führt er aus, dass durch die nachträgliche, begriffliche Fixierung das intuitiv Erschaute als erstarrter Reflex wiederholt werde. Die begriffliche Reflexion "ruht und wurzelt"(WW I/1, 104) für Schopenhauer in der begriffslosen Anschauung. Sie allein ist "der letzte feste Boden, der Alles trägt und über den man nicht hinaus kann"(WW II/1, 79). Sehr treffend und mit ahnungsvoller Richtigkeit habe man das begriffliche Denken "Reflexion" genannt, denn in der Tat handle es sich dabei um einen blossen "Reflex", einen "Widerschein der anschaulichen Welt, ein Abgeleitetes von dieser"(Vorl.1, 266). Die konstitutive Leistung der Vernunft im Vorfeld der intuitiven Schau bleibt, zumindest in solchen Aeusserungen, unthematisiert. Schopenhauer wird sich hier seiner eigenen, begrifflichen "Vorurteile"[9] nicht ausdrücklich bewusst. Doch was sich ihm in der intuitiven Schau präsentiert ist immer schon "vor-begriffen", ist unausdrücklich geprägt durch die "Vorurteile" der jeweiligen Sprache einer geistesgeschichtlich bestimmten Vernunft.[10] Allein daraus begründet sich denn auch der diskursive Anspruch von Schopenhauers scheinbar intuitiv gewonnener Philosophie. Durch die immer schon in "Vorurteilen" befangene Rede der Vernunft erweist sich die Philosophie letztlich als intersubjektiv verbindlich. Daher findet sich an anderen Stellen ausdrücklich das Bekenntnis zur Vernunft:

"[S]tets findet man mich auf dem Standpunkt der Reflexion, d.i. der vernünftigen Besinnung und redlichen Mittheilung, niemals auf dem der Inspiration, genannt intellektuelle Anschauung, oder auch absolutes Denken, beim rechten Namen jedoch Windbeutelei und Scharlatanerei."(WW I/1, 17)

Schopenhauer ist sich seines geistesgeschichtlichen Bodens bewusst, indem er an zahlreichen Stellen seines Werkes immer wieder auf die massgeblichen Quellen seines Denkens verweist.[11]

"Ich gestehe übrigens, dass ich nicht glaube, dass meine Lehre je hätte entstehen können, ehe ich nicht die Upanischaden, Plato und Kant ihre Strahlen zugleich in eines Menschen Geist werfen konnten. Aber freilich standen wie Diderot sagte, viel Säulen da, und die Sonne schien auf alle: doch nur Memnons Säule klang."(N III, 329)

Die intuitive Schau bildet nach Schopenhauers Selbstverständnis jedoch nicht bloss die Grundlage von Philosophie überhaupt und den Ausgangspunkt seines "einen Gedankens", sondern ebenso den Anfangspunkt sowohl der Erkenntnis des "Willens" im "Selbstbewusstsein", als auch der Erkenntnis der "Ideen" als vermittelnder Prinzipien zwischen der "Welt als Wille" und der "Welt als Vorstellung". Allerdings ist auch hier die konstitutive Funktion der Vernunft auf den ersten Blick verstellt. Unsere Analyse wird zeigen, dass es sich bei der Rekonstruktion der unmittelbaren Willenserkenntnis im Selbstbewusstsein, sowie bei der Rekonstruktion der unmittelbaren Erkenntnis der Ideen um Konstrukte der Vernunft handelt, welche durch jenes dialektische hin- und hergehen zwischen transzendentaler Erkenntnistheorie und empirisch begründeter Metaphysik gerechtfertigt sind. Schopenhauers permanente Blickpunktwechsel stellen sich folglich nicht als rein willkürliche Verschiebungen der Betrachtungsweisen dar, wie etwa Hasse meint[12], sondern als ein in der Sache selbst begründetes dialektisches Prinzip. Die nicht vollzogene Transzendierung seines "einen Gedankens" am Ende der "Welt als Wille und Vorstellung" stellt sich folglich ebenso als in der Natur der Sache begründete letztmögliche Verlagerung des Blickpunktes dar. Schopenhauers einseitige Reduktion des Vernunft- und Rationalitätsbegriffs verunmöglicht jedoch eine adäquate Auseinandersetzung mit der Mystik als solcher. Die Mystik begrenzt somit bloss negativ den Standpunkt der Philosophie (d.h. den Standpunkt der "Welt als Wille und Vorstellung"), ohne diesen jedoch positiv erweitern zu können. Der "circulus fructuosus" wird von Schopenhauer aufgrund seines Bekenntnisses zu einem verengten Vernunftbegriff zum Stehen gebracht. Gleichwohl hat er als einer der ersten Philosophen der Neuzeit das mystische Denken, bewegt durch seine interkulturellen Vergleiche, ernst genommen und aufgrund seiner existentiellen Bedeutsamkeit als wesentlichen Bestandteil der philosophischen Auseinandersetzung gesehen.

I. Die mittelbare Erkenntnis: "Die Welt als Vorstellung" - Schopenhauers transzendentaler Idealismus

1. Die Subjekt-Objekt-Differenz als grundlegende und notwendige Form jeglicher Erkenntnis

Schopenhauer stellt zu Beginn seiner "Theorie des gesammten Vorstellens, Denkens und Erkennens"[13] die grundlegende Frage, inwiefern die Welt für uns Menschen überhaupt erkennbar ist, d.h. welches die Bedingungen der Möglichkeit jeglicher Erkenntnis sind.[14]

Erkennbar ist die Welt für uns grundsätzlich immer nur als "Vorstellung", resp. "Erscheinung".[15] Dies bedeutet, dass "Welt überhaupt" nur als Erkannte da ist und als solche vom Erkennenden, welches man selbst ist, abhängt. Das Sein der Dinge ist somit "identisch mit ihrem Erkanntwerden. Sie sind, heisst: sie werden vorgestellt."(Vorl.1, 126) Diese These widerspricht auf den ersten Blick der Alltagserfahrung, dass wir im Umgang mit den Dingen annehmen, sie existierten, auch wenn wir sie uns nicht gerade bewusst vorstellen. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass Schopenhauer nicht naiv behauptet, dass der einzelne Mensch die Dinge in der Welt durch seine Vorstellung immer wieder von neuem erzeugt, sondern dass es ihm um die Frage geht, wie denn Erkenntnis als solche möglich ist. Dabei stellt er fest, dass die Möglichkeit jeglicher Erkenntnis immer schon bedingt ist durch ein erkennendes Subjekt, dem ein erkanntes Objekt (Welt) gleichursprünglich gegenübersteht.

"Sie meinen, die Dinge der Welt wären doch da, auch wenn sie niemand sähe und vorstellte. Aber suchen Sie nur einmal sich deutlich zu machen was für ein Dasein der Dinge dies wäre. Sobald Sie das versuchen stellen Sie immer die Anschauung der Welt in einem Kopfe vor, nie aber eine Welt ausser der Vorstellung. Sie sehn also, dass das Seyn der Dinge in ihrem Vorsgestelltwerden besteht. Sie können sagen: 'Der Ofen steht da, auch wenn ich fortgehe und ihn nicht mehr sehe.' Freilich vom Individuo ist das Objekt nicht abhängig: aber vom Subjekt des Erkennens überhaupt: die Art des Daseins eines Objekts ist durchaus ein Dasein in der Vorstellung; daher ist es immer nur in Bezug auf ein Vorstellendes, ein Subjekt überhaupt; es bedarf eines Subjekts als eines Trägers seines Daseins. Welches Individuum dies Subjekt sei, ist gleichviel: das Subjekt ist nicht das Individuum, sondern stellt sich nur in Individuen dar."(Ebd.)[16]

Subjekt und Objekt sind somit der innerste Kern, der eigentliche Boden jeglicher Möglichkeit von Erkenntnis, welche daher immer nur Vorstellung, nie aber Ding an sich sein kann. Unter dem Begriff der "Vorstellung" versteht Schopenhauer jedweden Bewusstseinsinhalt, in dem sich ein Ich, das diesen Inhalt hat, ein Subjekt, von dem Inhalt selbst als dem Objekt, unterscheiden lässt.

"[D]as Zerfallen in Objekt und Subjekt... ist diejenige Form, unter welcher allein irgend eine Vorstellung, welcher Art sie auch sei, abstrakt oder intuitiv, rein oder empirisch, nur überhaupt möglich und denkbar ist."(WW I/1, 29; vergl.: SG, 41)

Der Begriff der "Vorstellung" drückt die Notwendigkeit der Beziehung von Subjekt und Objekt aus. Alle mögliche Erkenntnis setzt die Form der Subjekt-Objekt-Relation "unumgänglich... voraus"(SG, 157). Das Wissen um diese strenge Notwendigkeit kann nicht aus der Erfahrung geschöpft sein. Wir wissen um die notwendige Beziehung von Subjekt und Objekt nicht aposteriori, d.h. nicht aus der Beobachtung des Verhältnisses empirischer Subjekte und Objekte zueinander, denn empirisches Wissen besitzt höchstens grosse Wahrscheinlichkeit. Kommt jedoch der Subjekt-Objekt-Relation strenge Notwendigkeit zu, so kann sie nicht empirisch bewiesen werden, sondern muss apriori im Begriff der "Vorstellung" enthalten sein. Es handelt sich hierbei um die aprioristische Erkenntnis einer streng notwendigen Grundrelation, ohne welche überhaupt kein weiteres Erkennen denkbar wäre.

Subjekt und Objekt sind zudem korrelative Begriffe.(Vorl.1, 129 und 498f.) Der Satz "kein Objekt ohne ein Subjekt" gilt zugleich auch in seiner Umkehrung: "kein Subjekt ohne ein Objekt", denn sinnvoll lässt sich ein Erkanntes nur denken, wenn es erkannt wird und ein Erkennendes umgekehrt nur, insofern es etwas erkennt. Subjekt und Objekt sind somit erkenntnislogisch gesehen gleichursprünglich.

"Sobald wir... die Welt als Vorstellung stehn lassen, so sind diese beiden Hälften [Objekt und Subjekt] derselben zusammen da und sind ganz unzertrennlich selbst für den Gedanken: da das Subjekt weiter nichts ist als das, welches das Objekt vorstellt, und das Objekt weiter nichts als die Vorstellung jenes Subjekts. Jedes dieser beiden hat also Dasein und Bedeutung nur durch und für das andere, ist mit ihm da und verschwindet mit ihm."(Vorl.1, 129)

Der "Satz vom Grund", welchen wir im anschliessenden Kapitel erörtern werden, findet in der Subjekt-Objekt-Relation keine Anwendung. So kann weder das Subjekt als Folge des Objekts, noch das Objekt als Folge des Subjekts aufgefasst werden. Denn erstens können Subjekt und Objekt nicht unabhängig von einander gedacht werden, weil sie die Grundform jeglicher Erkenntnis überhaupt ausmachen, zweitens bezieht der Satz vom Grund sich ausschliesslich auf den Zusammenhang der erkannten Objekte untereinander und drittens handelt es sich dabei, wie wir sehen werden, um eine blosse Form des erkennenden Subjekts und nicht um eine unabhängig von diesem existierende Grösse.(Vergl.: Vorl.1, 498ff.)

"Der Satz vom Grund kann, als blosse Form des Objekts, nicht ohne das Objekt, vor und ausser demselben daseyn, und so etwa das Objekt als Folge des Subjekts erst entstehen lassen (welches... der Idealismus ist), noch auch kann das Objekt ohne Subjekt daseyn und erst mittelst seiner Form, dem Satz vom Grund, das Subjekt herbeiführen (Realismus): denn ein Objekt ohne Subjekt ist nicht nur unmöglich, sondern auch undenkbar..."(Vorl.1, 498)

Auf dieses Korrelat von Subjekt und Objekt kann sich also der Satz vom Grund nicht erstrecken. Schopenhauer begründet damit seine Philosophie erkenntnistheoretisch weder durch ein subjektunabhängiges Objekt, wie der strikte Realismus, noch durch ein objektunabhängiges Subjekt, wie der radikale Idealismus, sondern durch die Erfahrung schlechthin, welche Subjekt und Objekt gleichermassen impliziert und voraussetzt. Das Objekt setzt, als sein notwendiges Korrelat, immer schon das Subjekt voraus und umgekehrt. Hebt man eines auf, so hat man damit auch immer schon beide Korrelata aufgehoben, da sie nur durch und in dieser Beziehung etwas sind und ausser ihr gar nicht einmal denkbar sind.(Vergl. WW I/1, 41; ebenso Vorl.1, 442 und 499)

Keine Wahrheit ist gewisser und "von allen anderen unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig als diese"(WW I/1, 29; vergl. auch: WW II/1, 11), dass die Welt Vorstellung ist und insofern ein erkennendes Subjekt und ein erkanntes Objekt voraussetzt. Die Subjekt-Objekt-Relation ist die aprioristische Bedingung dafür, dass Erkenntnis als solche überhaupt möglich ist. Was die Welt hingegen "an sich" ist, d.h. unabhängig davon, dass sie Vorstellung eines erkennenden Subjekts ist, geht über die Möglichkeiten unseres Erkenntnisvermögens hinaus. Wir erkennen die Welt immer nur wie sie uns erscheint, nie aber, wie sie "an sich" beschaffen ist.

2. Die weiteren Formen der Erkenntnis

2.1. Die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund

Nachdem diese erste, allgemeinste "Grundwahrheit"(WW I/1, 30) feststeht, geht Schopenhauer dazu über, sie durch die Analyse der weiteren Formen der Erkenntnis zu belegen und zu präzisieren. Er bestimmt das allgemeine Verhältnis von Subjekt und Objekt näher, indem er den Zusammenhang der Vorstellungen (der Objekte) untersucht. Er stellt dabei fest, dass alle unsere Vorstellungen untereinander in einer streng notwendigen Verbindung stehen, durch diese überhaupt begründet werden, und nennt das Prinzip dieser Begründung den "Satz vom zureichenden Grund"(SG, 41).

"[J]edes Objekt des Subjekts, es sei welcher Art es wolle, abstrakte oder intuitive Vorstellung, steht zu einem andern Objekt, also einer andern Vorstellung, im Verhältniss der Abhängigkeit, d.h. es könnte nicht seyn, wie es ist, wenn nicht ein gewisses anderes wäre wie es ist: dieses andre heisst der Grund, jenes die Folge: also kann kein Objekt des Subjekts jemals etwas schlechthin für sich bestehendes, Unabhängiges, oder auch etwas Einzelnes, Abgerissenes seyn; ein dergleichen Wesen kann uns schlechterdings nie vorkommen: sondern alle Objekte stehn wesentlich als solche in einer gesetzmässigen und ihrer Form nach apriori bestimmbaren Verbindung unter einander. - Diese Verbindung also ist diejenige Relation welche der Satz vom Grund allgemein genommen ausdrückt."(Vorl.1, 443f.)

"Nun aber findet sich, dass alle unsere Vorstellungen unter einander in einer gesetzmässigen und der Form nach a priori bestimmbaren Verbindung stehn, vermöge welcher nichts für sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes, Objekt für uns werden kann. Diese Verbindung ist es, welche der Satz vom zureichenden Grund, in seiner Allgemeinheit, ausdrückt."(SG, 41)

Der "Satz vom zureichenden Grund" drückt die universale und streng notwendige Verbundenheit aller Vorstellungen untereinander aus. Die Elementarform dieses Satzes lautet: "Alles was ist, hat einen Grund warum es ist"(Vorl.1, 443; vergl.: SG,17). Dieser Satz ist die "Grundform"(Vorl.1, 443) jeglicher Vorstellung und "das Princip aller Erklärung"(Vorl.1, 444).[17] Als Prinzip jeglicher Erklärung ist er selbst grundlos und daher nicht erklärbar. Denn indem er Erfahrung als solche überhaupt konstituiert, kann er selbst nicht durch die Erfahrung bewiesen, sondern bloss reduktiv aus ihr erschlossen werden.

"Die Verbindung zwischen Grund und Folge selbst, lässt sich überall nur nachweisen und zwar als etwas apriori erkennbares: sie lässt sich aber schlechterdings nie näher erklären, eben weil sie die Form aller Vorstellung und das Princip aller Erklärung ist: denn etwas erklären heisst immer nur es auf diese Form einer nothwendigen Verbindung mit einem andern zurückführen, es als Folge eines Grundes darstellen: diese Verbindung selbst ist als die Form des Erkennens stets unerklärbar."(Vorl.1, 444; vergl.: WW II/1, 12)

Der Satz vom Grund ist der gemeinschaftliche Ausdruck von vier unabhängig voneinander bestehenden Grund-Folge-Relationen, welche jeweils für eine bestimmte Klasse von Vorstellungen gilt. Schopenhauer untersucht die verschiedenen Bereiche der möglichen Erfahrung, um daraus die jeweilige Gestaltung des Satzes vom zureichenden Grund aufzuzeigen.[18] Er findet dabei vier von einander gänzlich verschiedene Klassen von Vorstellungen.

"Die vier Klassen sind:"

1. "Raum und Zeit in reiner Anschauung apriori, getrennt von allem ihrem Inhalt."
2. "Die anschaulichen vollständigen, das Ganze der Erfahrung ausmachenden Vorstellungen, also was man reale Objekte nennt."
3. "Die abstrakten Vorstellungen."
4. "Die unmittelbare Erkenntniss des eigenen Willens jedes Individuums."(Vorl. 445; vergl.: SG, 43,113,147,161)

Unter jeder Klasse von Vorstellungen erscheint der Satz vom Grund in einer anderen Gestalt, d.h., dass sich die Form der im Subjekt vollzogenen Verbindung je nach Gegenstandsbereich klar unterscheiden lässt. Zudem teilt er jeder Gestalt der Verbindung eine bestimmte Erkenntniskraft zu, welche die jeweilige Verknüpfung im betreffenden Objektbereich herstellt. Die "reine Anschauung von Raum und Zeit" geschieht unter der formalen Bedingung des "Satzes vom Grunde des Seyns"(SG, 148) in der "reinen [d.h. inhaltslosen] Sinnlichkeit"(SG, 147). Die zweite Objektklasse unterliegt dem "Grund des Werdens"(SG, 49), welcher im Kausalitätsgesetz seinen Ausdruck findet. Die kausale Verbindung unter den "realen Objekten" vollzieht sich im "Verstand"(SG, 67). Erzeuger der "abstrakten Begriffe", als dritter möglicher Klasse von Bewusstseinsinhalten, ist die "Vernunft"(SG, 113). Prinzip ihrer Verbindung ist der "Satz vom zureichenden Grund des Erkennens"(SG, 121) in Form von logischen Urteilen und Schlussketten. Die Erkenntnis der Aktionen des Willens, als letzter möglicher Klasse von Vorstellungen, vollzieht sich im Selbstbewusstsein gemäss dem Gesetz der Motivation, als dem "Grund des Handelns"(SG, 161).[19]

Das Gesagte lässt sich wie folgt schematisch zusammenfassen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bei den unterschiedlichen Erkenntniskräften handelt es sich um dynamische Letztprinzipien, um Tätigkeiten des Subjekts als erkennendem Prinzip. Die notwendigen Verbindungen der Vorstellungen können nicht als Widerspiegelung realer, subjektunabhängiger Objektrelationen aufgefasst werden, sondern nur als subjektives Produkt. Die verschiedenen Erkenntniskräfte präformieren in ihrer Tätigkeit durch die ihnen je eigentümliche Gestalt des Satzes vom zureichenden Grund die jeweiligen Objektklassen und schaffen dadurch die je besondere Form der Erfahrung, d.h., die für jede Objektklasse typische Gesetzmässigkeit. Erfahrung als solche kann nur dann zustande kommen, wenn sie mittels des subjektiven Erkenntnisvermögens, je nach ihrem Gegenstand, in räumlich-zeitliche, kausale, logisch-begriffliche, oder motivationale Bestimmungen gekleidet ist.

Der "Satz vom zureichenden Grund" als "gemeinschaftlicher Ausdruck... für vier ganz verschiedene Verhältnisse, deren jedes auf einem besonderen und... a priori gegebenen Gesetze beruht...[stellt, als die] Urbeschaffenheit unsres ganzen Erkenntnissvermögens..., [den] innerste[n] Keim aller Dependenz, Relativität, Instabilität und Endlichkeit der Objekte unsers in Sinnlichkeit und Vernunft, Subjekt und Objekt befangenen Bewusstseyns..."(SG, 175) dar. Er ist der Ausdruck der gänzlich subjektiv bedingten Relationalität alles Erkennbaren. Damit kündigt sich bereits erkenntnistheoretisch die existentielle Ungeborgenheit des menschlichen Daseins an, welche, wie wir sehen werden, die Legitimationsgrundlage der empirischen Metaphysik abgibt.

2.2. Die reine Anschauung der subjektiven Formen von Raum und Zeit

Wie wir gesehen haben, begreift Schopenhauer die menschliche Erkenntnis dynamisch, und zwar als diejenige Tätigkeit des Subjekts, durch welche der "Satz vom zureichenden Grund" in einer seiner vier Formen auf die Erkenntnisobjekte angewendet wird. Die unterschiedlichen Leistungen der verschiedenen Erkenntnisvermögen können funktional beschrieben werden. Damit lässt sich die Genese der Erkenntnis von der sinnlichen Anschauung bis zum begrifflichen Denken rekonstruieren. Folgen wir zunächst Schopenhauers Erörterung der unmittelbarsten Verknüpfungen der Objekte durch die Anschauungsformen von Raum und Zeit.

Alle anschaulichen Objekte stehen notwendig unter der Bedingungen der Formen von Raum und Zeit. Das Objekt kann nur in diesen Formen existieren und das Subjekt kann nur mittels dieser Formen erkennen.(Vorl.1, 133) Da Raum und Zeit die Formen des Objektseins als solche darstellen folgt, dass zu ihrer näheren Bestimmung nicht die erkannten Objekte befragt werden können.(Ebd.) Das Subjekt muss vielmehr die "Gesetzmässigkeit jener Form[en] ganz aus sich selbst vor aller besondern Erkenntniss, also vor aller Erfahrung, d.h. a priori und nicht erst a posteriori, erkennen"(Ebd.).

"Zeit und Raum und die ganze Gesetzmässigkeit derselben müssen... schon in unserm Bewusstsein als solchen liegen und demnach völlig a priori von uns bestimmt werden können."(Ebd.)

Da das Bewusstsein, insofern wir es als Objekt physiologischer, mechanischer, chemischer oder sonstiger naturwissenschaftlicher Analyse betrachten, immer schon unter den subjektiven Bedingungen von Raum und Zeit steht, können wir die Produktion der gesetzmässigen Zusammenhänge der Vorstellungen durch das Bewusstsein nie durch die Betrachtung desselben als eines Objekts herausfinden. Empirische Einzeluntersuchungen ergeben überdies niemals streng notwendige und allgemeingültige Erkenntnisse, da dabei nie die Totalität aller möglichen Fälle untersucht werden kann. Die Bildung von Gesetzen auf der Basis empirischer Forschungen erfolgt stets durch die Anwendung des Prinzips der Induktion, d.h. des Schlusses von einzelnen Beobachtungen auf ein allgemeines Gesetz, welches alsdann durch irgend einen Ausnahmefall widerlegt wird. Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit im strengen Sinn ist demnach im Bereich empirischer Erkenntnis unmöglich. Erkenntnisse,

"die Allgemeingültigkeit und strenge Nothwendigkeit haben, falls es solche giebt, müssen, wie alle Erkenntnisse, sich zwar auf Objekte, also auf Erfahrung beziehn, vermöge ihrer Allgemeingültigkeit aber von aller möglichen Erfahrung gelten, oder die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt ausdrücken"(Vorl.1, 135).

Der Aufweis von Raum und Zeit sowie deren Gesetzmässigkeit kann somit nicht durch empirische Forschung positiv bewiesen, sondern nur reduktiv, d.h. durch Abstraktion von jeglichen empirischen Inhalten, erschlossen werden. Schopenhauer führt dazu folgende Gedankenexperimente durch:

"1) Würden wir auf irgend eine Weise belehrt, dass die ganze Weltgeschichte falsch und erlogen sei, alle jene Begebenheiten sich nie zugetragen hätten; so können wir uns dies als möglich denken, können jede bisher vorgegebene Vergangenheit, ihrer Beschaffenheit nach, als nie dagewesen denken, sie völlig wegdenken; nicht so aber die Zeit in welcher alle jene Begebenheiten sich zugetragen haben sollen: die muss dagewesen seyn, gleichviel womit sie erfüllt, oder gar völlig leer gewesen: sie lässt sich nicht wegdenken: ihre Erkenntniss hängt also von keiner Erfahrung ab...
2) Wir können von einem Körper den wir sehen alle seine Eigenschaften wegdenken, seine Farbe, Härte, Weiche, Schwere, Undurchdringlichkeit, also den ganzen Körper wegdenken; - zuletzt aber bleibt uns immer der jetzt leere Raum desselben und den können wir schlechterdings nicht wegdenken. Die Erkenntniss des Daseyns des Raums hängt also nicht ab von der der Dinge im Raum, also nicht von der Erfahrung: wohl aber umgekehrt: denn wenn wir keinen Raum vorstellen; so können wir keine ausgedehnten Dinge vorstellen."(Vorl.1, 135)

Raum und Zeit sind somit streng allgemeingültige und notwendige apriorische Erkenntnisse. Gegen Leibnitz wendet Schopenhauer ein, dass unsere Erkenntnis von Raum und Zeit nicht erst durch die Erfahrung in uns gekommen ist.(Vorl.1, 141f. und 151f.) Wären Raum und Zeit blosse Verhältnisse an den Dingen, wie Leibniz annehme, so müssten, wenn wir die Dinge wegnehmen, auch Raum und Zeit verschwinden, was jedoch, wie obige Gedankenexperimente zeigen, nicht der Fall ist.(Vergl.: Ebd.) Indem ich die Dinge als nebeneinander, d.h. als durch den Ort verschieden erkenne, muss ich vorgängig schon die Vorstellung des Raumes haben. Ebenso beruft sich die Erfahrung des Nacheinanders auf die Form der Zeit, nicht die Zeit auf die Erfahrung. Was räumliches Nebeneinander und zeitliches Nacheinander ist, das verstehen wir nur dadurch, dass wir immer schon die Vorstellung des Raumes und der Zeit haben. Dabei handelt es sich nicht um ein abstrakt-begriffliches Wissen, sondern um ein anschauliches.(Vorl.1, 142f. und 151f.) Ein abstrakter Begriff, ein bloss Gedachtes wie beispielsweise der Begriff "Tier", enthält immer vieles "unter sich"(Vorl.1, 142 und 151), eine Anschauung hingegen enthält nichts unter sich, sondern vieles "in sich"(Ebd.), insofern sie die Form für einzelne Inhalte bildet. Daher sind die Formen des Raumes und der Zeit je singulär, d.h. der Raum ist nur einer, ebenso wie die Zeit nur eine ist. Die eine, subjektive Anschauungsform des Raumes ist somit die Bedingung der inhaltlich "gefüllten" Räume unserer Anschauungen. Mit anderen Worten: Wir erkennen inhaltlich-konkrete Räume allererst auf der Basis jener ursprünglichen, anschaulichen Erkenntnis der Form des Raumes. Die Tatsache, dass wir allein mittels Begriffen niemandem verständlich machen können, was Richtungsanzeigen wie links, rechts, oben, unten bedeuten ist nur dadurch zu erklären, dass die subjektive Form des Raumes eine anschauliche und nicht eine begriffliche ist.

"Dadurch, dass der Raum [als Form der Erkenntnis] ein einzelnes und deshalb anschauliches Objekt ist und es folglich nur einen Raum giebt hängt das sonderbare Phänomen ab, dass die Bestimmungen der einzelnen [inhaltlich konkreten] Räume nur fasslich gemacht werden können durch ihr Verhältniss zu jenem einen ganzen Raum und eben dadurch nur auf anschauliche Weise, durchaus nicht durch abstraktes Denken: so lässt sich nicht durch Begriffe mittheilen was rechts, links, oben, unten ist; sondern allein anschaulich..."(Vorl.1, 142)

Ebenso wie die Form des Raumes ist die Form der Zeit kein abstrakt Erkanntes, sondern ein Anschauliches und wir denken alle Dinge "als in ihr vorhanden, nicht als unter ihr, als einem gemeinschaftlichen Merkmal begriffen"(Vorl.1, 151).

"[E]s giebt folglich auch nur Eine Zeit: Verschiedene Zeiten sind immer nur Theile derselben. Denken wir zwei Jahre, so müssen diese eine bestimmte Stellung zu einander haben, eins das erste, das andre das zweite: folgen sie nicht unmittelbar auf einander; so muss eine bestimmte Zeit dazwischen liegen. Was vorher und Nachher sei lässt sich durch keine Erklärung deutlich machen, sondern muss durch die eigenthümliche Anschauungsweise gefasst werden."(Vorl.1, 151f.)

Da die Anschauung der Form der Zeit und des Raumes von allen Inhalten, d.h. Sinnesempfindungen abstrahiert, kann sie "reine Anschauung"(Vorl.1, 143 und 152) genannt werden.[20] Das Prinzip der Verknüpfung, welches die Teile der Zeit und die des Raumes in ihrer Folge, bzw. Lage bestimmt, ist der "Satz vom z ureichenden Grund des Seins, principium rationis sufficientis essendi"(SG, 148 und Vorl.1, 448) und drückt sich aus im Gesetz der zeitlichen Sukzession und dem der räumlichen Relationalität.

"Die Regel für den Seynsgrund in der Zeit ist diese: 'jeder Augenblick ist bedingt durch den vorigen und führt den folgenden nothwendig herbei'... [Die Regel für den Seinsgrund im Raum lautet:] Im Raum ist durch die Lage jedes Theils desselben... jede mögliche andere [Lage eines Teils] durchaus bestimmt..."(Vorl.1, 449)

Einen empirisch gegebenen letzten Raum oder einen letzten Zeitpunkt kann es demzufolge nicht geben. Die Reihen sind vielmehr endlos.

"[J]eder Zeitpunkt giebt nothwendig Anweisung auf einen frühern, seinen Seynsgrund, keiner darf der erste gewesen seyn, und das geht schlechthin ins Unendliche."(Vorl.1, 491)

Die Zeit hat keinen absoluten Anfang, sondern aller Anfang ist in ihr, d.h. relativ, immer schon bezogen auf einen anderen Zeitpunkt. Ebenso hat der Raum keine Grenze, sondern alle Grenzen sind in ihm.

"Jeder genommene Theil des Raumes ist durch einen andern begränzt, und so ins Unendliche, der Raum muss nach allen Seiten unendlich seyn, das Gegentheil ist schlechthin unvorstellbar..."(Ebd.)

Aus dem Gesagten folgt, dass alles, was uns in der Erfahrung, d.h. in dieser für uns realen Welt, existiert, nie ein schlechthin unabhängig Daseiendes, ein Ding an sich ist, sondern blosse Vorstellung, produziert durch das Prinzip des Satzes vom zureichenden Grund des Seins, mittels dessen die Vorstellungen in ihrer zeitlichen Sukzession und räumlichen Lage bestimmt werden.

"Wie also das Daseyn des Objekts überhaupt bedingt ist durch das Subjekt; so ist das Daseyn des Objekts als eines räumlichen bedingt durch die Anschauungsform des Subjekts welche der Raum ist. Die Objekte überhaupt... und die Objekte im Raum sind daher nimmermehr Dinge an sich, d.h. unbedingt existirende Wesen, sondern... sie sind Wesen die bloss in der Vorstellung eines Vorstellenden existiren; sie sind also blosse Erscheinungen."(Vorl.1, 148)

"[A]lles was diesen zwei a priori bestimmten Formen Zeit und Raum unterworfen ist, so wie es in ihnen erscheint [hat] kein unbedingtes Daseyn..., [ist] nicht schlechthin und unabhängig vom Erkanntwerden da..., sondern erstlich... nur für das Subjekt überhaupt, und sodann nur für das Subjekt sofern die Zeit die Form seines Anschauungsvermögens ist: d.h. dass alles diesen nicht Ding an sich, sondern nur Erscheinung ist."(Vorl.1, 154)

Für die Erfahrung sind alle räumlichen und zeitlichen Bestimmungen ganz real und objektiv. Aber die Erfahrung ist ja Produkt der beiden Anschauungsformen Raum und Zeit. Daher kann Schopenhauer sagen, Raum und Zeit haben vollkommen "empirische Realität"(Vorl.1, 149 und 155), jedoch "transcendentale Idealität"(Ebd.), d.h. sie gelten nicht, sobald man von der Möglichkeit der Erfahrung abstrahiert und Aussagen über Gegenstände jenseits der Erfahrung macht.

Durch die Begriffe fassen wir die Vielheit der anschaulichen Vorstellungen als etwas Identisches auf. Begriffe vereinheitlichen die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Anschauung. Schopenhauer fragt nun nach der Bedingung der Möglichkeit der Vielheit der Anschauungen und findet sie in den Formen der Zeit und des Raumes.

"Was aber es möglich macht, dass dasjenige was die Vernunft in abstracto durchaus durch denselben Begriff denken muss, doch in der Anschauung als verschieden sich zeigt, zwei Blätter, zwei Frösche, - dies sind eben die der Anschauung als solcher eigenthümlichen Formen: Raum und Zeit. Sie geben das Nebeneinander und das Nacheinander und durch diese die Möglichkeit einer unzählbaren Vielheit des [begrifflich] völlig Gleichartigen... nur durch das Nebeneinander, also den Raum, und das Nacheinander, die Zeit ist die Vielheit als solche möglich."(Vorl.1, 157f.)

Aus diesem Grund bezeichnet er Raum und Zeit als das "principium individuationis"(Vorl.1, 158). Nehmen wir hypothetisch an, dass die ganze "Welt als Vorstellung", die Erscheinung überhaupt auch noch etwas ausser aller Vorstellung, also Ding an sich ist, so werden wir einsehen, dass diesem Ding an sich

"...so wenig als die allgemeinste Form der Vorstellung, das Zerfallen in Objekt und Subjekt... zukommt, noch auch die mehr besondern Formen der Vorstellung, oder die Erkenntnissweisen des Subjekts, nämlich Raum und Zeit, und was aus diesen folge, z.B. Bewegung Veränderung, dass sage ich eben so wenig die Vielheit des gleichartigen solchem Ding an sich, oder innern Wesen der Welt zukommen kann..."(Vorl.1, 159)

Denken wir uns, wiederum rein hypothetisch, die Erkenntnis ihrer Formen entledigt, so wäre mit Raum und Zeit als dem "principium individuationis" auch jene Vielheit verschwunden, und das Viele erschiene als Eines.

2.3. Der Verstand und die anschauliche Erkenntnis

"Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensibus [Nichts ist im Intellekt, was nicht vorher in der Sinneswahrnehmung gewesen wäre]"(Vorl.1, 76)[21] Dieser aristotelische Satz bildet Schopenhauers Ausgangspunkt bei der Rekonstruktion der Genese der anschaulichen Erkenntnis. Allerdings ist der Intellekt für ihn keine bloss passive "tabula rasa", welche durch die äusseren Eindrücke "beschrieben" wird wie noch für Aristoteles. Der Intellekt ist vielmehr selbst aktiv, "beschreibt" sich als "tabula rasa" mittels seiner formgebenden Elemente sozusagen selbst. Raum und Zeit sind die geltungslogisch und genetisch frühsten Formen der Objekte unserer Erkenntnis. Die sinnliche Empfindung liefert das Material, den Gehalt oder Stoff, welcher durch die beiden Anschauungsformen zur wahrnehmbaren Materie geformt werden.

"Der Gehalt dieser Formen ist das, was der Empfindung in uns korrespondirt, was eigentlich in Raum und Zeit wahrgenommen wird, mittelst der äussern Sinne, die Materie."(Vorl.1, 161; vergl.: SG, 44)

Die Materie ist die "Wahrnehmbarkeit des Raumes und der Zeit und zwar beider zugleich"(Ebd.).[22] Angenommen, die anschauliche Vorstellung hätte allein die Zeit, ohne den Raum zur Form, so würden wir kein Zugleichsein, sondern ein blosses Nacheinander und daher wiederum keine Vorstellung von einem Beharrlichen, und einer Dauer haben. Denn das Beharren eines Objekts wird nur durch den Gegensatz des Wechsels anderer, welche mit diesem zugleich sind erkannt. Dieses Zugleichsein ist jedoch nur möglich durch die Form des Raumes.(Ebd.)

"Bloss in einer Vereinigung von Raum und Zeit ist ein Zugleichsein und durch dieses Dauer und Beharren vorstellbar."(Vorl.1, 162)

Nehmen wir andererseits an, die anschauliche Vorstellung hätte bloss den Raum ohne die Zeit zur Form, so gäbe es keinen Wechsel, keine Veränderung.(Ebd.)

"Also muss, wenn in unsren Vorstellungen eine Dauer und ein Wechsel, ein Beharren und ein Verändern vorkommen soll, sowohl Zeit als Raum, und zwar beide nicht nur zugleich, sondern im Verein, ihre Form seyn."(Ebd.)

Das vereinigende Dritte ist für Schopenhauer "die Materie"(Ebd.). Allein ihr kommen die Prädikate der Substanz ("beharrend in alle Ewigkeit wie der Raum") und der Akzidentien ("in stetem Wechsel begriffen wie die Zeit") zu.(Ebd.) Die Materie, welche Zeit und Raum zugleich erfüllt, macht deren Eigenschaften (ewige Dauer und steten Wandel) allererst wahrnehmbar. Die wesentlichen Merkmale der Materie sind folglich ihre "Gestalt,... welche eine Bestimmung des Raumes ist"(Vorl.1, 163) und ihr Wirken. "Wirken... ist ein Hervorbringen einer Veränderung, diese.. eine Bestimmung der Zeit."(Ebd.) Da jedoch jede individuelle Gestalt der Materie in jedem Augenblick durch einen bestimmten Zeitpunkt gekennzeichnet ist, bedarf es einer Regel, welcher gemäss gerade diese individuelle Gestalt mit gerade diesem bestimmten Zeitpunkt vereinigt.

"Ist nun aber, im Gehalt der anschaulichen Vorstellung, Raum und Zeit zu einem Dritten [der Materie] vereinigt; so wird eine Regel nothwendig, welcher gemäss ein bestimmter Theil des einen ganzen Raumes mit einem bestimmten Theil der ganzen Zeit vereinigt seyn muss. Diese Regel ist das Gesetz der Kausalität."(Vorl.1, 163f.)

Das Gesetz der Kausalität

"erhält seine Bedeutung und Nothwendigkeit allein dadurch, dass das Wesen des Wirkens und der Veränderung nicht im blossen Wechsel der Zustände in der Zeit, sondern vielmehr darin besteht, dass an demselbsen Ort im Raum jetzt ein Zustand ist und darauf ein andrer und zu einer und derselben bestimmten Zeit hier dieser Zustand und dort jener seyn muss: immer bestimmt das Gesetz der Kausalität welcher Zustand zu dieser Zeit hier eintreten muss und welcher an jenem Ort jetzt"(Vorl. 1, 164)

Das ganze Wesen der Materie, in welcher Raum und Zeit vereinigt sind, besteht somit im Gesetz der Kausalität. Kausalität wird von Schopenhauer definiert als

"ein Verhältniss zweier Zustände[23], in Beziehung auf welches der eine Ursach, der andre Wirkung heisst und ihr nothwendiges Nacheinanderseyn, gemäss einer Regel, das Erfolgen."(Vorl.1, 169; vergl.: SG, 49)

Da, wie schon gezeigt, Raum und Zeit nie einen empirischen Ausgangs- oder Endpunkt haben können, kann auch die kausale Verkettung der anschaulichen Vorstellungen weder eine absolut erste Ursache, noch eine absolut letzte Folge haben.(Vorl.1, 168) Der Kausalnexus ist notwendig anfangs- und endlos.(SG, 49)

"[D]ie Reihe der Ursachen füllt Zeit und Raum: an ihrem Leitfaden können wir einen Regressus vornehmen, der aber eben so unendlich seyn muss, als Zeit und Raum selbst: kein Anfang kann der erste gewesen seyn, sondern seinen Eintritt in einem gewissen Zeitpunkt muss etwas anderes bestimmt haben; so immerfort; nimmer mehr dürfen wir bei einer ersten Ursache stehn bleiben: sie ist so undenkbar, als die Gränzen des Raumes oder der Zeit selbst. Jeder Veränderung muss eine andre vorhergegangen seyn, die sie herbeiführte, sonst hätte es zur ersten nie kommen können."(Vorl.1, 491)

Das Entstehen oder Vergehen der Materie kausal zu denken, ist unserem Erkenntnisvermögen vollkommen unmöglich, denn die Form der Kausalität bezieht sich immer nur auf Zustände der Materie und nicht auf die Materie an sich.(Ebd.)

Wurde der Begriff der Kausalität bisher bloss postuliert, so stellt sich nun die Frage nach dem Grund seiner Geltung. Schopenhauer verweist auf Hume, welcher bekanntlich unser Wissen vom Folgen der Wirkung auf die Ursache aposteriori, durch die Gewohnheit begründet. Dabei stellt sich jedoch das Problem, dass durch empirische Beobachtung die Wirkung nie als eine streng Notwendige und Allgemeingültige bewiesen werden kann.(Vorl.1, 166) Soll der Kausalnexus als ein streng notwendiger und allgemeingültiger ausgewiesen werden, so muss gezeigt werden, dass er, als Form des Intellekts, die Empirie immer schon bestimmt. Also muss die Kausalität, ebenso wie zuvor die Anschauungsformen von Raum und Zeit, apriori dargelegt werden, durch den reduktiven Nachweis, "dass in der Anschauung äusserer Objekte, in deren Gebiet alle Erfahrung liegt, die Erkenntniss der Kausalität schon enthalten, ja ihre Grundbedingung ist..."(Vorl.1, 221). Zu diesem Zweck führt Schopenhauer folgendes Gedankenexperiment durch:

"Haben wir eine Veränderung wahrgenommen, ist etwa ein Stein vom Himmel gefallen; so kann möglicherweise uns gezeigt werden, dass er nicht vom Mond herabgeschleudert, nicht durch einen chemischen Process in der Luft konkrescirt ist, also dass dieses oder jenes nicht die Ursache seines Falles gewesen; aber nie werden wir zugeben, dass sein Herabkommen ohne alle Ursache geschehen: wir werden mit einer völligen und unumstösslichen Gewissheit annehmen dass irgendwo eine Veränderung sich zugetragen hat, durch welche ganz allein jenes Herabkommen des Steins bewirkt worden."(Vorl. 1, 135f.)

Wir können uns das Eintreten einer Wirkung schlechterdings nie anders als streng notwendig durch eine Ursache bedingt denken. Allein auf der Basis dieses Wissens können wir uns überhaupt Gedanken machen, welches denn eigentlich im konkreten Fall die empirische Ursache gewesen sei. Also liegt das Wissen von der notwendigen Verknüpfung von Ursache und Wirkung apriori in uns und erschliesst sich uns nicht erst aposteriori durch die Erfahrung. Die Kausalität stellt sich damit als Bedingung der Möglichkeit jeglicher Erfahrung heraus. Aus diesem Grund wendet Schopenhauer gegen Hume ein:

"Dieses Verhältniss überhaupt, diese Beziehung der Wirkung auf eine Ursache, hat er [der Mensch] nicht erst erlernt: denn woher sollte er sie erlernt haben? - Es könnte bloss aus der Erfahrung seyn: aber alle Erfahrung besteht ja nur in der Erkenntniss einer Aussenwelt, deren Zustände nach dem Gesetz der Kausalität zusammenhangen; diese Aussenwelt selbst ist ja aber bloss in und für die empirische Anschauung da, setzt also diese nothwendig voraus: diese wieder aber setzt... als ihre Bedingung, die Erkenntniss von Ursache und Wirkung voraus..., durch die sie sodann zu Stande kommt und von der sie ihrer Möglichkeit nach abhängt: also hängt keineswegs die Kenntniss vom Gesetz der Kausalität von der Erfahrung ab, sondern umgekehrt alle Erfahrung von ihr."(Vorl.1, 221)

Schopenhauers "Theorie der empirisch-sinnlichen Anschauung"(Vorl1, 175), welche die Genese der anschaulichen Vorstellungen von der sinnlichen Empfindung zur kausal vermittelten Anschauung Schritt für Schritt verfolgt, soll das bisher Gesagte zusammenfassen und verdeutlichen.

Ausgangspunkt der Rekonstruktion der Entstehung der Anschauung ist die körperliche Empfindung. Diese unterscheidet sich wesentlich von der kausal geformten Anschauung. Sie ist uns lediglich in der Zeit gegeben, im Fühlen aufeinanderfolgender Zustände unseres Leibes.

"Die Veränderungen, welche der belebte Leib erfährt, werden unmittelbar erkannt, sind der Ausgangspunkt der empirischen Anschauung. Diese Erkenntniss seiner Veränderung ist aber keineswegs schon Anschauung,... sondern blosse Empfindung; bliebe es bei ihr und käme nichts weiter hinzu, so käme das Bewusstseyn dadurch nicht über den eigenen Leib hinaus, es wäre ein blosses Fühlen successiver verschiedener Zustände des Leibs: Farben im Auge, Gerüche in der Nase, Druck auf der Hand."(Vorl.1, 177)[24]

Wären wir reine Sinnenwesen, so besässen wir nichts als ein "dumpfes, pflanzenartiges Bewusstseyn"(WW I/1,39) bedeutungsloser Affektionen des Leibes innerhalb seiner vegetativen Grenzen. Die blosse Sinnesempfindung ist "ein ärmliches Ding"(SG, 67), denn sie ist "nichts mehr, als ein lokales, specifisches, innerhalb seiner Art einiger Abwechselung fähiges, jedoch an sich selbst stets subjektives Gefühl, welches als solches gar nichts Objektives, also nichts einer Anschauung Aehnliches enthalten kann"(Ebd.). Durch die Tätigkeit des Verstandes, der das Gesetz der Kausalität auf die Empfindung anwendet, "geht eine mächtige Verwandlung vor"(Ebd.): die subjektiven Data der Empfindungen werden zur objektiven Anschauung umgeformt. Die Anschauung ist daher

"nicht sensual..., d.h. sie ist nicht durch die blosse Sinnesempfindung gegeben; sondern zu dieser muss noch etwas sehr Bedeutendes hinzukommen, damit aus ihr Anschauung werde: nämlich der Verstand, der die Wirkung auf eine Ursache bezieht, und die reine Anschauung des Raumes, vermöge deren diese Ursache ausserhalb des empfindenden Organismus versetzt wird; auch die Anschauung der Zeit, weil nur in der Zeit ein Wirken und Verändern möglich ist... Also ist die Anschauung intellektual."(Vorl.1, 185)

"Intellektual" ist die Anschauung, insofern sie Produkt der vom Verstand bearbeiteten Sinnesempfindungen ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Anschauung abstrakt-begrifflich und damit durch einen bewussten Vorgang vermittelt ist. Bewusst vollzogene, begriffliche Schlüsse sind nicht Sache des Verstandes, sondern allein Sache der Vernunft.

"Daher ist man beim Anschauen sich nicht eines Schlusses von der gegebenen Wirkung auf ihre nach dem Gesetz der Kausalität nothwendige Ursach bewusst; sondern jener Uebergang der Erkenntniss von der Wirkung auf die Ursach kommt selbst nicht als solcher ins Bewusstseyn."(Vorl.1, 187)

Die Verstandesoperation verläuft "mit einem Schlage"(WW I/1, 39), reflexartig und völlig unabhängig von der reflektierenden Teilnahme der Vernunft. Der Verstand, als vernunftloser Teil des Intellekts, fasst die sinnlichen Empfindungen intuitiv als Wirkungen auf und projiziert die zeitlich vorgängige Ursache konstituierend in einen "vorgestellten" dreidimensionalen Raum.(WW II/1, 72ff., SG, 68)[25] Diese Fähigkeit entwickelt der Mensch in seiner frühsten Kindheit.

"Das Kind in den ersten Wochen seines Lebens empfindet mit allen Sinnen: aber es schaut nicht an, es apprehendirt nicht: daher starrt es dumm in die Welt hinein. Es muss erst die Apprehension, die Anwendung seines Verstandes erlernen wie die Sprache."(Vorl.1, 206)

In den ersten Wochen der Kindheit entwickelt der Mensch dieses Vermögen solchermassen, dass in der Folge sein Gebrauch sozusagen schematisch eingerastet ist.[26] Die Herstellung der kausalen Beziehungen durch das Verstandesvermögen geschieht daher fortan "unmittelbar, nothwendig und sicher"(WWI/1, 39).

[...]


[1] Aehnlich heisst es im Nachlass: "Meine Philosophie unterscheidet sich von allen andern dadurch, dass der Zusammenhang ihrer Theile kein architektonischer ist, in welchem ein Theil immer den andern trägt, nicht aber dieser auch jenen, und der Grundstein alle; - sondern ein organischer, wo das Ganze jeden Theil erhält und nothwendig macht und umgekehrt auch jeder Theil das Ganze und alle andern: daher kann kein wesentlicher Anfangspunkt ihrer Betrachtung seyn, sondern nur ein willkührlicher."(N I, 480; vergl.: N III, 200)

[2] Ich habe diesen fundamentalen Deutungsansatz des Schopenhauerschen Werkes von Volker Spierling (Schopenhauers transzendentalidealistisches Selbstmissverständnis - Prolegomena zu einer vergessenen Dialektik, Diss., München 1977; hinfort zitiert als: "Selbstmissverständnis") übernommen. Spierling weist damit nach, dass zwischen Schopenhauers transzendentalidealistischer Erkenntnistheorie und seiner empirisch-materialistischen Betrachtung des Intellekts kein Widerspruch besteht, wie viele Interpreten meinten. Denn Schopenhauers Philosophie erweist sich nicht als Versuch, die Totalität der Welt auf einen letzten Grund zurückzuführen. "Die eigentliche Philosophie Schopenhauers offenbart sich als eine universale Theorie der Erfahrung, in der es weder ein geistig Erkennendes noch ein gegenständlich Seiendes noch ein metaphysisch Wollendes als absoluten Ausgangspunkt gibt. Schopenhauers philosophisches Werk ist ein System totaler Vermitteltheit ohne absolut Erstes."(Ebd., S.152; vergl.: Spierling, Volker., Die Drehwende der Moderne, Schopenhauer zwischen Skeptizismus und Dogmatismus, in: Spierling, Volker (Hg.), Materialien zu Schopenhauers 'Die Welt als Wille und Vorstellung', 1.Aufl., Frankfurt 1984, S.59; hinfort zitiert als: "Materialien".) Aehnlich wie Spierling stellt schon Cassirer als philosophiegeschichtlich originären Charakter der Erkenntnistheorie Schopenhauers die antinomische Verbindung der subjektiven Ansicht des Intellekts (Kant) mit der objekiven Ansicht des Intellekts (Cabanis) heraus.(Siehe: Cassirer, Ernst, Die Physiologie als Grundlage der Erkenntnistheorie, in: ders.: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd.3, Darmstadt 1971, S.414-419 und S.427-438.) Jenen methodischen Standpunktwechsel, jenes Drehen und Wenden von einer einseitigen Betrachtungsweise des Intellekts zur anderen, hat Spierling als "kopernikanische Drehwende"(Materialien, S.53) charakterisiert. "Sie ist der systematische Dreh- und Angelpunkt, das Scharniergelenk... [von Schopenhauers] Philosophie oder, anders gesagt, das Methodenmodell seines philosophischen Denkens, seiner Erkenntnistheorie, aber auch - wenngleich weniger offensichtlich - seiner Naturphilosophie, Aesthetik und Ethik. Mit diesem gezielten Perspektivenwechsel, der jedes angeblich voraussetzungslose Verfahren in der Philosophie als Einseitigkeit, als 'Windbeutelei' kritisiert, versucht Schopenhauer, der vorschnellen Unterstellung eines absolut Ersten, sei es ein Geistiges, sei es etwas Materielles, in seinem eigenen Denken Einhalt zu gebieten und sich über den einfältigen Standpunkt-Dogmatismus zu erheben."(Spierling, Volker, Erkenntnis und Ethik, in: Spierling, Volker (Hg.), Arthur Schopenhauer, Metaphysik der Sitten, Philosophische Vorlesungen, Teil 4, München 1985, S.33; hinfort zitiert als: "Erkenntnis und Ethik, Vorl.4".) Da Cassirer und Spierling bereits ausführlich Schopenhauers doppelte Betrachtungsweise des Intellekts thematisiert haben, werde ich in der Folge nicht mehr darauf eingehen.

[3] Hasse, Heinrich, Schopenhauer, München 1926, S.430f. (hinfort zitiert als: "Schopenhauer"); vergl.: Volkelt, Arthur Schopenhauer, Seine Persönlichkeit, Seine Lehre, Sein Glaube, Stuttgart 1907, S.147 (hinfort zitiert als: "Volkelt"); sowie Spierlings Kommentar zu: Heinrich Hasse, Die Metaphysik. Zur Würdigung Schopenhauer, in: Spierling, Materialien, S.304f.

[4] Vergl.: Spierling, Materialien, S.50-55.

[5] Spierling, Erkenntnis und Ethik, Vorl. 4, S.43.

[6] Ebd., S.44.

[7] Siehe dazu Teil II, Pt. 2.2.1., S.44-46 dieser Arbeit. Vergl.: Mollowitz, Gerhard, Die besondere Erkenntnisweise des Künstlers, Heiligen, Philosophen, in: Schirmacher, Wolfgang, 65. Schopenhauerjahrbuch für das Jahr 1984, Frankfurt 1984, S.209-232 (hinfort zitiert als: "Mollowitz").

[8] Hasse, Schopenhauer, S.78.

[9] Ich verwende an dieser Stelle den Begriff des "Vorurteils" im Sinne Gadamers (Wahrheit und Methode, 1.Aufl., Thübingen 1960, S.255ff.) Siehe dazu: S.66 dieser Arbeit.

[10] Vergl. dazu: Teil III, Pt. 3.2, S.64-68 dieser Arbeit.

[11] Vergl.: WW I/1, 11, WW I/2, 512ff.; WW II/1, 9; SG, 13.

[12] "Diese meist stillschweigend vollzogene Variation der Gesichtspunkte (welche dem unkritischen Leser zu entgehen pflegt) ist bisweilen von einer Willkürlichkeit, welche den Gedankengang folgenschwer verwirrt und das Ergebnis mit unheilbaren Gebrechen belastet."(Hasse, Schopenhauer, S.84)

[13] Titel von Schopenhauers Vorlesungsmanuskript zur Erkenntnistheorie, in: Vorl.1, 85.

[14] Zur Rekonstruktion von Schopenhauers Erkenntnistheorie halte ich mich vor allem an den Gedankengang seiner Vorlesungsmanuskripte und nicht, wie dies gemeinhin geschieht, nur an das erste Buch seines Hauptwerks. Dies rechtfertigt sich dadurch, dass die erkenntnistheoretischen Vorlesungen gegenüber dem ersten Band der "Welt als Wille und Vorstellung", erheblich erweitert wurden, da Schopenhauer nicht mehr wie dort seine Dissertation "Ueber die vierfacht Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde", das erste Kapitel seiner Studie "Ueber das Sehn und die Farben" sowie die Hauptschriften Kants als gelesen voraussetzen konnte. Der Vorlesungstext stellt vielmehr einen "partiellen, integrativen Systementwurf dar, der die Thematiken aller erkenntnistheoretischen Schriften umfasst, die Schopenhauer sonst nur relativ zusammenhangloser verfasst und vereinzelt veröffentlicht hat"(Volker Spierling, Zur Neuausgabe, in: Spierling, Volker (Hg.), Arthur Schopenhauer, Theorie des gesammten Vorstellens, Denkens und Erkennens, Philosophische Vorlesungen, Teil 1, S.13f.). Ich folge damit im Wesentlichen den Ausführungen Spierlings, in: Selbstmissverständnis, S.26-73.

[15] Mit diesem erkenntnistheoretischen Grundgedanken greift Schopenhauer nicht etwa auf Kant, sondern auf Berkeley zurück. Schopenhauer bezeichnet Berkeley denn auch als den "Urheber des eigentlichen und wahren Idealismus"(P I/1, 22; vergl.: Vorl.1, 487f.). "Der Einfluss, den der gebürtige Ire auf Schopenhauer hatte, kann kaum überschätzt werden."(Spierling, Volker, Erkenntnis und Natur, in: Spierling, Volker (Hg.), Arthur Schopenhauer, Metaphysik der Natur, Philosophische Vorlesuchen, Teil 2, S.25; vergl.: Richter, Raoul, Schopenhauer's Verhältnis zu Kant in seinen Grundzügen, Diss., Leipzig-Reudnitz 1893, S.129 und S.131; hinfort zitiert als: "Richter").

[16] "Glauben Sie etwa eine Sonne, eine Erde zu erkennen, wie diese dasind, an und für sich? Glauben Sie von einem solchen Daseyn derselben nur irgend eine Vorstellung zu haben? - Das wäre sehr irrig. Sie haben bloss die Vorstellung von einem Auge, das eine Sonne sieht. Ein solches Auge kennen Sie; eine Sonne nimmermehr. Mit dem Auge verschwindet auch die Sonne, die Erde, die Welt. Zu sagen, sie wären noch da, auch wenn sie keiner wahrnehme, ist eine leere Rede, ohne Sinn und Bedeutung: denn ein solches Daseyn einer objektiven Welt ohne ein Subjekt in dessen Erkenntniss sie da ist, ist etwas völlig unvorstellbares, ist ein Ausdruck, der sich selbst aufhebt. Die Welt ist Vorstellung: und Vorstellung setzt ein Vorstellendes voraus. Was wir Daseyn nennen, heisst Vorgestelltwerden: solches Daseyn ist also durchgängig mit einer Bedingung behaftet, dem Subjekt, für welches es allein da ist."(Vorl.1, 127; siehe auch: WW II/1, 12 und N III, 149)

[17] Anstelle des "komplizierten Räderwerks"(WW I/2, 552) der Kantischen Kategorien sieht Schopenhauer im Satz vom zureichenden Grund "de[n] gemeinschaftliche[n] Ausdruck für alle... uns a priori bewussten Formen des Objekts ..., und daher [ist] Alles, was wir rein a priori wissen, nichts, als eben der Inhalt jenes Satzes und was aus diesem folgt, in ihm [ist] also eigentlich unsere ganze a priori gewisse Erkenntniss ausgesprochen..."(WW I/1, 32) "Ich verlange demnach, dass wir von den Kategorien elf zum Fenster hinauswerfen und allein die der Kausalität behalten..."(WW I/2, 550)

[18] Die heuristische Grundlage bei der Untersuchung der Bereiche der Erfahrung bildet einerseits das "Gesetz der Specifikation"(SG, 13 und 175), gemäss welchem die Mannigfaltigkeit der Anschauung nicht voreilig vermindert werden sollte, sowie das "Gesetz der Homogenität"(Ebd.), welches vor dem Uebel des Gegenteils, d.h. der unnötigen Vergrösserung der Zahl der Bestimmungen warnt.

[19] Im Folgenden werden wir uns ausschliesslich mit den ersten drei Klassen des Satzes vom Grund beschäftigen, weil es uns im ersten Teil der Arbeit einzig darum geht, die Bedingungen der Möglichkeit der äusseren Erkenntnis zu besprechen. Die Willenserkenntnis im Selbstbewusstsein bezeichnet Schopenhauer hingegen als eine "innere Erkenntnis" und diese vollzieht sich auf unmittelbare Weise, weshalb wir sie erst im zweiten Teil der Arbeit untersuchen.

[20] Auf der reinen Anschauung der Zeit beruht "alles Zählen und in folge davon alle Arithmetik so wie auf der Anschauung des Raumes alle Geometrie"(Vorl.1, 152).

[21] Schopenhauer zitiert hier Aristoteles, De anima, III, 8, 432a.

[22] Schopenhauer unterscheidet den Begriff der "reinen Anschauung" von dem der "Wahrnehmung". Raum und Zeit leer, d.h. ohne Empfindungsinhalte sind zwar in Form der Arithmetik und Geometrie je für sich selbst rein anschaubar, nicht aber wahrnehmbar. "Raum und Zeit sind zwar Objekte mathematischer Konstruktion mittelst reiner Anschauung a priori, aber nicht eigentliche Wahrnehmung: nur als erfüllt sind sie wahrnehmbar."(Vorl.1, 161; vergl.: 163) Die Wahrnehmung existiert immer nur als sinnlich vermittelte.

[23] Schopenhauer verweist darauf, dass es "Zustände" und nicht "Objekte" sind, welche als Ursachen und Wirkungen bezeichnet werden. Entzünden wir beispielsweise ein Stück Papier mit Hilfe eines Brennglases, so hat es keinen Sinn, zu sagen, dass das Objekt "Sonne" oder "Brennspiegel" die Ursache des Brennens sei, sondern nur, der ganze Zustand, welcher dem des Brennens vorausgeht.(siehe dazu ausführlich: Vorl.1, 168f.)

[24] Schopenhauer betont dies mit kritischem Blick auf Kant, welcher bei der Erörterung des materialen Gehalts der empirischen Anschauung "den ersten falschen Schritt, das prwton yeudoz [den Fehler in der Prämisse: Aristoteles, Analytica posteriors, cap.18]"(WW I/2, 538) begangen habe. Schopenhauer zitiert zunächst Kant: "'Unsere Erkenntnis', sagt er [Kant], 'hat zwei Quellen, nämlich Receptivität der Eindrücke und Spontaneität der Begriffe: die erste ist die Fähigkeit Vorstellungen zu empfangen, die zweite die, einen Gegenstand durch diese Vorstellungen zu erkennen: durch die erste wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird er gedacht.'"(WW I/2, 538f.) Schopenhauers kritischer Kommentar: "Das ist falsch: denn danach wäre der Eindruck, für den allein wir blosse Receptivität haben, der also von aussen kommt und allein eigentlich ' gegeben ' ist, schon eine Vorstellung, ja sogar schon ein Gegenstand. Er ist aber nichts weiter, als eine blosse Empfindung im Sinnesorgan, und erst durch Anwendung des Verstandes (d.i. des Gesetzes der Kausalität) und der Anschauungsformen des Raumes und der Zeit wandelt unser Intellekt diese blosse Emfindung in eine Vorstellung um, welche nunmehr als Gegenstand in Raum und Zeit dasteht und von letzterem (dem Gegenstand) nicht anders unterschieden werden kann, als sofern man nach dem Dinge an sich frägt..."(WW I/2, 538f.)

[25] Mit dieser Feststellung kritisiert Schopenhauer an Kant, dass er die Anschauung aus einer urteilenden Verstandeshandlung hervorgehen lässt.(WW I/2, 549f). "Hiernach müssten die Thiere, da sie nicht urtheilen, auch gar keine Objekte erkennen. Ueberhaupt giebt es, nach Kant, von den Objekten bloss Begriffe, keine Anschauungen."(WW I/2, 550) "Ein wesentlicher Unterschied zwischen Kants Methode und der, welche ich befolge, liegt darin, dass er von der mittelbaren, der reflektirten Erkenntniss ausgeht, ich dagegen von der unmittelbaren, der intuitiven."(WW I/2, 555)

[26] Vergl.: Spierling, Materialien, S. 44.

Excerpt out of 82 pages

Details

Title
Drei Zugangsweisen zur Welt bei Arthur Schopenhauer
Subtitle
Transzendentallogische Erkenntnistheorie, Empirische Metaphysik und Mystik
College
University of Basel  (Philosophisches Seminar)
Grade
cum laude
Author
Year
1994
Pages
82
Catalog Number
V116229
ISBN (eBook)
9783640181728
ISBN (Book)
9783640181759
File size
849 KB
Language
German
Keywords
Drei, Zugangsweisen, Welt, Arthur, Schopenhauer
Quote paper
Dr. phil. Peter Widmer (Author), 1994, Drei Zugangsweisen zur Welt bei Arthur Schopenhauer, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116229

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