Poetry Slam im Deutschunterricht der Beruflichen Oberschule

Poesie (er)leben – im Rausch der Kreativität


Masterarbeit, 2020

159 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhalt

Glossar

Abkürzungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Von der Faszination lebendiger Poesie

2 Poetry Slam - eine moderne Kultur- und Literaturform
2.1 Poetry Slam: ein Überblick
2.2 Poetry Slam als Jugendsubkultur
2.3 Poetry Slam als Veranstaltungsformat
2.3.1 Geschichtlicher Hintergrund
2.3.2 Formen
2.3.3 Regeln und Ablauf
2.3.4 Drei Instanzen des Veranstaltungsformats
2.3.4.1 Die Poeten – Vortrag
2.3.4.2 Der MC – Koordination
2.3.4.3 Das Publikum – Bewertung
2.4 Slam Poetry als literarische Gattung

3 Poetry Slam - im Deutschunterricht der Beruflichen Oberschule Bayern
3.1 Didaktische Relevanz
3.1.1 Individuelle Bedeutsamkeit
3.1.2 Soziale Bedeutsamkeit
3.1.3 Kulturelle Bedeutsamkeit
3.2 Verankerung im Lehrplan der Beruflichen Oberschule Bayern
3.2.1 Bildungs- und Erziehungsauftrag
3.2.2 Fachprofil Deutsch
3.2.2.1 Sprechen und Zuhören
3.2.2.2 Lesen – mit Texten und weiteren Medien umgehen
3.2.2.3 Schreiben
3.2.2.4 Sprachgebrauch und Sprache untersuchen und reflektieren
3.3 Fokus: Textproduktion und Performance
3.3.1 Fokus Textproduktion: Planen, Experimentieren/Formulieren, Überarbeiten
3.3.1.1 Kreatives Schreiben
3.3.1.2 Prozessorientiertes Schreiben
3.3.2 Fokus Performance: Einprägen, Performen
3.3.2.1 Performance-Training
3.3.2.2 Präsentation
3.4 Überlegungen zum Lehr-Lernprozess
3.4.1 Projektunterricht
3.4.2 Die Rolle der Lehrkraft
3.4.3 Beurteilung und Bewertung

4 Poetry Slam - das Unterrichtsprojekt in der Praxis
4.1 Allgemeines und Vorbereitung
4.2 Gesamtüberblick
4.3 Stunde 1: Einführung
4.4 Stunde 2/3: Kreativübungen
4.4.1 B
4.4.2 A
4.5 Stunde 4/5: Schreiben des Poetry Slam-Textes
4.5.1 B
4.5.2 A
4.6 Stunde 6/7: „Klassen Slam“
4.7 Außerschulischer Poetry Slam
4.8 Stunde 8: Reflexion und Organisation
4.9 Generalprobe
4.10 Der „Schüler Slam“
4.11 Bewertung der Schülerleistung – Das Prozess-Portfolio
4.12 Auswertung des Fragebogens
4.13 Gesamtreflexion des Projekts

5 Lebendige Poesie als faszinierendes Unterrichtselement

6 Literaturverzeichnis
6.1 Bildungspläne
6.2 Primärliteratur
6.3 Sekundärliteratur
6.4 Internetquellen
6.5 Sonstige Quellen

7 Anhang
7.1 Unterrichtsmaterial
7.1.1 Stunde 1
7.1.2 Stunde 2 - B
7.1.3 Stunde 2 - A
7.1.4 Stunde 3 - 13 FS2
7.1.5 Stunde 3 - A
7.1.6 Stunde 4/5
7.1.7 Stunde 6/7
7.1.8 Stunde 8
7.1.9 Organisation „Schüler Slam“
7.1.10 Fragebogen für Schüler
7.1.11 Bewertungsraster Portfolio
7.2 Ergebnisse
7.2.1 Unterricht
7.2.2 „Schüler Slam“-Abend
7.2.3 Portfolio
7.3 Taxonomiestufen nach Bloom

Glossar

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Gesamtüberblick

Tab. 2: Stunde 1

Tab. 3: Stunde 2

Tab. 4: Stunde 3

Tab. 5: Stunde 4/5, B

Tab. 6: Stunde 4/5, A

Tab. 7: Stunde 6/7

Tab. 8: Stunde 8

„Meine Begeisterung, Texte zu schreiben, wuchs mit jeder Zeile, die ich zu Papier brachte und verleitete mich, auch zuhause an meinem Text zu feilen und zu schreiben. Es entwickelte sich eine Art Rausch, immer mehr Ideen in den Slamtext einfließen zu lassen. Am Ende konnte ich einen Text schaffen, der beim Vorlesen viele meiner Freunde und Familienmitglieder zum Nachdenken anregte und einige emotional sehr tief berührte. Diese Reaktionen stärkten mich in meinem Gefühl, einen wirklich guten, tiefgründigen Text geschaffen zu haben, und führten dazu, dass ich mir das Ziel setzte, weitere Texte zu schreiben, was ich zu Beginn des Projektes nicht für möglich hielt beziehungsweise nicht zu träumen wagte.“ (Zitat einer Schülerin, Januar 2020)

1 Von der Faszination lebendiger Poesie

Sowohl dieses passionierte Schülerzitat als auch der Titel der Arbeit lassen erahnen, worum es sich bei diesem literarischen Rausch handelt: die Rede ist von „Poetry Slam“. Die Schülerin beschreibt die Faszination, die sie beim Schreiben eines Textes für das moderne Veranstaltungsformat, das vor allem junge Menschen immer mehr in seinen Bann zieht, empfindet. Hierbei handelt es sich um einen Dichterwettstreit, bei dem mehr oder weniger bekannte Poeten innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens ihre Texte vortragen, um anschließend von einem Publikum bewertet zu werden (vgl. Anders/Abraham 2008, S. 6). Die Popularität des Formats wächst hierzulande: traten noch vor 20 Jahren Slam-Poeten ausschließlich in kleinen Clubs und Kneipen auf, so finden Poetry Slams inzwischen sogar in der Hamburger Elbphilharmonie vor ausverkauftem Publikum statt (vgl. Elbphilharmonie 2019).

Wie durch die Aussage der Schülerin ersichtlich wird, ist Poetry Slam nicht nur für den Rezipienten interessant, auch kann das Verfassen kreativer Texte zu einem beliebigen selbst gewählten Thema durchaus inspirierend und ein Gewinn für die persönliche Entwicklung sein. Sprache ist dabei ein Spiel, Schreiben kein kognitiver Akt, sondern eine subjektive Art, die eigene Fantasie auszuleben oder der eigenen Meinung Ausdruck zu verleihen (vgl. Goldschläger 2017a, S. 121).

Das oben angeführte Schülerzitat entstammt einer schriftlichen Reflexion über ein Poetry Slam-Projekt. Dieses Unterrichtsprojekt, bei dem Schüler das Phänomen Poetry Slam kennenlernten, einen eigenen Text verfassten und ihn schließlich auf einer öffentlichen Bühne performten, wurde im Rahmen des Deutschunterrichts an einer Beruflichen Oberschule Bayern (BOB) erprobt. Die Vorteile der Durchführung eines derartigen Projekts liegen auf der Hand: Bei Poetry Slam beziehungsweise dessen Textgattung „Slam Poetry“ verbindet sich kreatives Schreiben mit zeitgemäßer Präsentation und inhaltlicher Offenheit. Zudem ist es ein niedrigschwelliges Angebot, um Schüler jeden Alters, jeden Leistungsniveaus und jeder sozialen Herkunft für Literatur zu begeistern und ihnen durch das Verdichten ihrer Gedanken, Sorgen und Träume eine Möglichkeit zu geben, sich selbst auszudrücken (vgl. Goldschläger 2017b, S. 134). Die lebendige Praxis des Poetry Slams ist wirkliche Gegenwartsliteratur und könnte für junge Erwachsene ein Mittel der literarischen Sozialisation sowie ein attraktiver Zugang zur Literatur, speziell zur oralen Dichtung, sein (vgl. Anders 2019, S. 2). Um diese Argumente zu konkretisieren und um aufzeigen zu können, welchen didaktischen Wert Poetry Slam in höheren Klassenstufen erhält, sollen sich die Ausführungen der vorliegenden Arbeit der folgenden Frage widmen:

Wie und weshalb können literarische und kulturelle Komponenten von Poetry Slam im Deutschunterricht der Beruflichen Oberschule Bayern vermittelt werden?

Hierbei soll erörtert werden, wodurch sich Poetry Slam auszeichnet, inwiefern die Auseinandersetzung mit diesem Genre den Anforderungen des schulischen Curriculums entspricht und welche didaktischen Prozesse dabei eine Rolle spielen. Diese Aspekte sollen schließlich in einem Poetry Slam-Projekt an einer Beruflichen Fachoberschule Bayern (FOS), einer Abzweigung der BOB, Anwendung finden. Denn auch wenn Materialien und Konzepte für den Einsatz von Poetry Slam im Deutschunterricht vorhanden sind (vgl. Anders 2019; Willrich 2010; Schütz 2013), existiert noch keine fundierte Literatur zu Unterrichts- und Projektversuchen in höheren Klassenstufen.

Die vorliegende Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Die ersten beiden basieren auf theoretischen Ausführungen, der letzte Teil erschließt sich aus diesen beiden Teilen durch die Konzeption eines Praxisprojekts.

Die beiden theoretischen Teile beziehen sich an vielen Stellen auf die Literatur von Petra Anders, einer Professorin für Deutschdidaktik, die sich seit einigen Jahren intensiv mit der Einbettung von Poetry Slam in den Deutschunterricht auseinander-setzt. Weiterhin basiert die theoretische Ausführung auf der Literatur von Alexander Willrich, der sowohl als Poet und Workshopleiter als auch durch sein Lehramtsstudium bezüglich der Didaktik von Poetry Slam auf einen großen Erfahrungs- und Wissensschatz greifen kann. Die weitere Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass sie überwiegend von Slam-Poeten verfasst wurde, wodurch der Sachverhalt aus der Sicht der Akteure selbst beleuchtet wird. Um aktuelle Bestandteile der schnelllebigen Poetry Slam-Forschung darstellen zu können, basieren einige Informationen auf Internetquellen.

Im ersten Theorieteil wird das kulturelle Phänomen „Poetry Slam“ wissenschaftlich fundiert. Ein grober Überblick über das Genre eröffnet die Arbeit und führt in wesentliche Themenaspekte ein, die im Folgenden detaillierter ausgeführt werden.

Dass Poetry Slam in den schulischen Kontext eingebettet werden kann, liegt nicht zuletzt daran, dass viele junge Menschen ein hohes Interesse daran haben. Dieses wird im darauffolgenden Kapitel begründet. Nachfolgend soll das Veranstaltungsformat genauer beleuchtet werden. Nach einem Einblick in die geschichtliche Entwicklung werden Abwandlungen des Formats dargestellt, die für den Deutschunterricht interessant sind. Im Weiteren wird explizit auf verschiedene Instanzen des Veranstaltungsabends eingegangen. Zuletzt soll die literarische Gattung „Slam Poetry“ fokussiert werden, indem häufig wiederkehrende Merkmale identifiziert und beschrieben werden.

Dieser Theorieteil ist insgesamt so gehalten, dass er nicht nur einen bloßen Überblick über die kulturelle beziehungsweise literarische Gattung bietet, sondern bereits hier immer wieder Bezug zum Deutschunterricht nimmt.

Eine differenzierte didaktische Einordnung, vor allem in Bezug auf die BOB, wird jedoch im zweiten Theorieteil vorgenommen. Dabei soll vorerst festgestellt werden, wie bedeutsam das Phänomen aus literaturdidaktischer Sicht ist. Um das Genre in die Schulart einzuordnen, wird aufgeführt, welche Erziehungs- und Bildungsziele der BOB durch Poetry Slam realisiert und welche Lernbereiche des Faches Deutsch gefördert werden können. Der Prozess von der ersten Idee hin zum Bühnenauftritt ist bei dieser Unterrichtseinheit besonders wichtig und soll mit Fokus auf die zentralen Bestandteile Textproduktion und Performance beschrieben werden.

Wesentlich, auch für die praktische Ausführung, sind drei zentrale Überlegungen zum Lehr-Lernprozess. Eine Poetry Slam-Einheit lässt sich am sinnvollsten in Form eines Projekts durchführen, welches sowohl durch einen externen Workshopleiter als auch durch eine Deutschlehrkraft gesteuert werden kann. Da diese Arbeit im Rahmen eines lehramtsgleichwertigen Studiums verfasst ist, wird die Rolle der Lehrkraft hinsichtlich der nötigen Kompetenzen für ein derartiges Projekt erörtert, wobei auch Beurteilung und Bewertung impliziert sind.

In den Theorieteilen wird bewusst auf Beispiele zu den Ausführungen, wie beispielsweise zu Übungen des rhetorischen Trainings, verzichtet, da diese im praktischen Teil der Arbeit beschrieben werden.

In der dritten Ausführung werden die theoretischen Erkenntnisse in die Praxis umgesetzt. Hierzu wurde ein Poetry Slam-Projekt eigens konzipiert und im Deutschunterricht zweier 13. Klassen einer FOS durchgeführt. Neben der Projektbeschreibung und der Begründung der einzelnen didaktischen Überlegungen enthält dieser Teil eine Reflexion der Verfasserin der vorliegenden Arbeit und Leitung des Projekts. Dabei werden Ansichten der Schüler einbezogen, die dem Projekt- und Unterrichtsgeschehen, den Portfolio-Reflexionen und einem Schülerfragebogen entnommen sind. Dem Fragebogen ist anzumerken, dass die Erstellung und Auswertung keinen wissenschaftlichen Kriterien entsprechen, sondern lediglich als quantitative Zusatzeinschätzung neben den ausformulierten Reflexionen abgefragt wurde.

Das Projekt ist in drei Phasen gegliedert: in einen Überblick des Genres, in die Phase der Textproduktion und in die Performancephase. Neben den acht Unterrichtsstunden, die für das Projekt pro Klasse beansprucht werden, fällt der Besuch eines Poetry Slams, eine Generalprobe und schließlich der öffentliche „Schüler Slam“ an. Durch Schreibübungen und theaterpädagogische Spiele sollen Motivation und Authentizität gefördert werden. Das gesamte erstellte Unterrichtsmaterial, auf das immer wieder Bezug genommen wird, ist dem Anhang zu entnehmen. Dort finden sich ebenso die Projektergebnisse.

Abschließend werden Methoden, Gründe sowie Vor- und Nachteile eines Poetry Slam-Projekts an einer BOB zusammenfassend dargelegt.

Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden hauptsächlich das generische Maskulinum verwendet.

2 Poetry Slam - eine moderne Kultur- und Literaturform

2.1 Poetry Slam: ein Überblick

"Ein Poetry Slam ist eine regelmäßig stattfindende Literaturveranstaltung, die meist von einem festen Veranstalter organisiert wird und in der ein Moderator (Master of Ceremony oder MC) das Publikum zur Applaus- oder Punkte-Bewertung von Texten anleitet, die von mehr oder weniger bekannten Poeten innerhalb eines Zeitlimits (ca. 5 bis 7 Minuten) auswendig oder abgelesen vorgetragen werden." (Anders/Abraham 2008, S. 6)

Diese Definition fasst das Veranstaltungsformat Poetry Slam kurz und treffend zusammen. Um jedoch den Basisbegriff hinsichtlich einer fundierten Wissensvermittlung im Unterricht wissenschaftlich zu beleuchten, soll eine ausführlichere Umschreibung des „jungen literarischen Phänomens“ (Felis 2013, S. 16) folgen.

Poetry Slam (auch: der Slam) umschreibt die Veranstaltung eines literarischen Wettbewerbs, welcher im Deutschen mit „Dichterschlacht“ oder „Dichterwettkampf“ übersetzt wird (vgl. Anders 2010, S. 18). Im Einzelnen setzt sich die Wortbedeutung folgendermaßen zusammen:

Das englische „poetry“ kann mit Poesie übersetzt werden und entstammt dem Griechischen [poiesis: ‚machen‘, ‚schaffen‘ ‚dichten‘ oder auch ‚Gemachtes‘]. Laut Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft bedeutet Poesie ‚Gedichte‘ oder auch ‚Texte in schöner oder gehobener Sprache‘. Demnach lassen sich fünf Hauptbedeutungen des Wortes Poesie unterscheiden: (1) Texte in metrisch gebundener Sprache (2) Gesamtheit (kürzerer) Verstexte (3) kürzerer Verstext (4) Schreiben von literarischen Texten (5) stimmungsvoller Zauber, Schönheit (vgl. Weimar 2007, S. 96). Inwieweit Slam-Texte dieser Bedeutung entsprechen, wird nachfolgend erarbeitet.

"Slemma" und "Slämma" stammt aus dem norwegischen beziehungsweise schwedischen Sprachraum, steht lautmalerisch für das Zuknallen einer Tür und ging als "slam" in die englische Sprache ein (vgl. Anders 2019, S. 9). Ab 1984 notierten Wörterbücher Slam als Wettbewerbsform. Bekannt ist beispielsweise der Grand Slam im Tennis. Die Veranstalter der "Dichterschlachten" übernahmen dieses Wort und formten daraus den „Poetry Slam“ (vgl. Willrich 2010, S. 13).

Als Gegenentwurf zu den als „Wasserglas-Lesungen“ bezeichneten, hauptsächlich von Akademikern besuchten, Poesie-Lesungen, entwickelte Marc-Kelley Smith 1986 in Chicago das Veranstaltungskonzept, bei dem das Publikum durch Zwischenrufe und Wertungen einen aktiveren Part spielen sollte (vgl. Strack/Ruddock 2017, S. 8f). Das verwendete literarische Genre, bezeichnet als „Slam Poetry“, ist dabei frei wähl- und kombinierbar: auf einer Slam-Bühne finden sich neben Rap, Spoken Word1, Kurzprosa, essayistischen Streitreden und klassischer Lyrik auch Mischformen und experimentelle Beispiele eines Slam-Textes (vgl. Strack/Ruddock 2017, S. 8f). Die fünf bis sieben Minuten erreichen eine äußerst große stilistische, qualitative und inhaltliche Bandbreite.

Den clubähnlichen Rahmen, in dem die Beiträge wie in einer Diskothek in Fünf-Minuten-Abfolge wechseln, runden mitunter DJs oder Liedermacher ab. Auch der Moderator trägt wesentlich zur Stimmung bei (vgl. Willrich 2010, S. 13; Anders 2019, S. 1). Der Übertragungsort ist meist eine Kleinkunstbühne, eine Kneipe oder ein Club. Poetry Slams finden in einem ungezwungenen Rahmen statt, wobei manchmal auch geredet wird, wenn der Poet das Publikum nicht komplett in seinen Bann zieht (vgl. Willrich 2010, S. 13). Eine Bühne sowie technische Voraussetzungen wie Bühnenlicht, Mikrophon und Verstärker sollten in jedem Fall vorhanden sein (vgl. Westermayr 2010, S. 37). Mittlerweile erreicht Poetry Slam auch größere Dimensionen, insbesondere finden sie in Theatersälen (beispielsweise Stadttheaterfürth 2018) statt (vgl. Willrich 2010, S. 67; Westermayr 2010, S. 38f). Seit Neuestem wird Slam-Poeten sogar die Ehre zuteil, ein Publikum in der Hamburger Elbphilharmonie (vgl. Elbphilharmonie 2020) zu begeistern.

Aufgrund der Aktualität der vorgetragenen Texte und nicht zuletzt wegen der ‚coolen‘ Performance der Slam-Poeten ist Poetry Slam für Erwachsene und Jugendliche gleichermaßen reizvoll (vgl. Anders 2019, S. 1). Weshalb sich Poetry Slam jedoch vor allem für ein junges Publikum etabliert hat, wird im folgenden Abschnitt begründet.

2.2 Poetry Slam als Jugendsubkultur

Willrich zufolge hat es Poetry Slam geschafft, eine große Masse von Jugendlichen wieder für Literatur zu begeistern (vgl. Willrich 2010, S. 66). Analysiert man das Alter der aktuell (Stand: 07.03.2020, Analyse nach Youtube-Video-Klicks der meist gesehenen Videos) erfolgreichsten Poeten Julia Engelmann (12 Mio. Klicks), Patrick Salmen (3,1 Mio. Klicks), Hazel Brugger (2,9 Mio. Klicks) und Felix Lobrecht (1,7 Mio. Klicks), fällt auf, dass die meisten Poeten im Alter von Anfang/Mitte Zwanzig ihren Durchbruch zum Erfolg hatten, der bis heute anhält (vgl. Youtube.de 2020). Auch das Publikum besteht überwiegend aus Studenten und Schülern (vgl. Willrich 2010, S. 66).

Willrich beobachtete auch, dass an der Hochkultur interessierte Besucher mitunter kopfschüttelnd einen Poetry Slam verlassen, da die vorgetragenen Texte mit deren Verständnis von Literatur nichts gemein haben (vgl. ebd.). Dies bestätigt auch Masomi, welcher Poetry Slam als Bestandteil der Popkultur beziehungsweise der Popliteratur sieht, der schon von seinen Vertretern der Anfangszeit über seinen Kontrast gegenüber der Hochkultur definiert wird (vgl. Masomi 2012, S. 67). Genau dies macht das Format für Schüler und Studenten interessant. Durch das Abschütteln des biederen Charmes einer Literatenvorlesung ist man Teil einer Sub- und nicht einer Hochkultur (vgl. Willrich 2010, S. 66).

Nicht nur die Stimmung entspricht einem Rock-Konzert, auch das Ambiente ist derartig gewählt. Klassische Poetry Slams finden in besetzten Häusern, in urigen Kneipen, Jugendhäusern oder Clubs statt, der klischeehafte Rotwein wird durch Bier ersetzt. Auch wenn Poetry Slams heute ebenso in festlichere Lokalitäten abwandern, bleibt zumindest die Stimmung eines Rock-Konzertes: Zwischenrufe bereichern die Performances, es wird geschrien, mit den Füßen gestampft und applaudiert. Das macht Poetry Slam lebendig und interaktiv (vgl. ebd.).

Diese Interaktivität besteht darin, dass der Zuschauer in die Abendgestaltung aktiv eingebunden ist und sowohl in den Pausen als auch nach einem Poetry Slam jederzeit zwanglos mit den Poeten ins Gespräch kommen kann. Eine geringe Distanz der beiden Gruppen besteht dadurch, dass sie nahezu gleichgestellt und gleichermaßen Teil eines Poetry Slams sind (vgl. ebd., S. 66f).

Poetry Slam ist auch deshalb interessant für junge Menschen, weil die jungen SlamPoeten und Zuschauer im Regelfall einer Generation angehören. Gewissermaßen steht „einer von ihnen“ auf der Bühne (vgl. Willrich 2010, S. 68).

Da Poet und Zuschauer sich in ähnlichen Lebenswelten bewegen, können sich die Rezipienten mit den Texten leicht identifizieren. So bestätigt in vielen Fällen das Publikum den Slam-Poeten in seinen Aussagen, da die breite Masse diese persönlich nachvollziehen kann. Dies steht meist in Verbindung mit der eher im linken Spektrum angesiedelten, politischen Haltung, die das Publikum und die Auftretenden gemein haben (vgl. Willrich 2010, S. 69; Westermayr 2010, S. 48). Auch die Sprache der Slam-Poeten zeichnet sich durch einen zeitgemäßen Charakter aus, oft werden populäre Begriffe der Jugendsprache eingebunden (vgl. Westermeyer 2010, S. 98f).

Doch so „normal“ der Slam-Poet als Mensch auch sein mag – seine Texte stechen hervor und sind oft bewundernswert. Dieser Spagat zwischen Normalität und dem besonderen Talent wirkt auf Jugendliche und junge Erwachsene anziehend (vgl. Willrich 2010, S. 68).

Einen letzten Grund für den großen Anklang von Poetry Slam bei Jugendlichen führt Masomi an. Er verweist darauf, dass Slam „perfekt an die Medienwelt angepasst“ (Masomi 2012, S. 27) ist, was daran erkennbar ist, dass viele Slam-interessierte Jugendliche Videoaufnahmen von Slam-Poeten auf Facebook [heute eher auf sozialen Netzwerken wie Instagram oder Tiktok] posten und/oder Zitate in ihren Profilen teilen. Aufgrund der Kürze der Texte und der teilweise reduzierten, prägnanten Sprache, gibt es viele zitierfähige Stellen, die einen hohen Punchline-Charakter2 haben. Auch deshalb ist der mediale Konsum von Slam-Literatur in der gegenwärtigen, schnelllebigen Internetwelt weit verbreitet (vgl. Masomi 2012, S. 27).

Wie erkenntlich wurde, stellt Poetry Slam ein Phänomen der gegenwärtigen Jugendkultur dar. Dies ist einer der hinreichenden Gründe, weshalb das Format ein tragbares Konzept für den Literaturunterricht bietet (vgl. Anders 2019, S. 2). Nach dieser Erkenntnis lohnt es sich, das Veranstaltungskonzept genauer zu betrachten.

2.3 Poetry Slam als Veranstaltungsformat

Die deutschsprachige Slam-Szene gehört neben der englischen und amerikanischen zu den größten Poetry-Slam-Szenen weltweit (vgl. Strack/Ruddock 2017, S. 11). Auch deshalb ist Poetry Slam ein kulturelles Phänomen, mit dem es sich im (Deutsch-) Unterricht zu befassen gilt. In Kapitel 2.2 ist zu erkennen, dass das Veranstaltungsformat aktuell sehr beliebt ist. Grund dafür ist auch, dass das Format seine Stärke aus drei grundlegenden Ideen bezieht: Netzwerk, Wettbewerb und Partizipation, wobei das Netzwerk eine fundamentale Bedeutung aufweist. Die freundschaftlichen und geschäftlichen Verknüpfungen innerhalb der Slam-Szene, auch „Slamily“ genannt, ermöglichen qualitativ hochwertige Veranstaltungen unter minimalem Aufwand und geringen Kosten. Jeder, der sich an gewisse Regeln hält und den Poetry Slam bereichert, wird integriert (vgl. Masomi 2012, S. 27).

2.3.1 Geschichtlicher Hintergrund

Wirklich „neu“ ist die Idee des Dichterwettstreites jedoch nicht. Böttcher und Pekes verweisen dazu auf das Meistersingertum im 16. Jahrhundert (vgl. Böttcher/Pekes 2009, S. 88) und Gans blickt auf die Rhetorik der griechischen Antike um 700 v. Chr. Er weist darauf hin, dass dort bereits viele Ähnlichkeiten zum heutigen Format beziehungsweise zum Verfassen von Slam Poetry zu finden sind (vgl. Gans 2008, S. 24). Doch auch wenn sich die Geschichte des Dichterwettstreits weit in die Vergangenheit zurückverfolgen lässt, stellt sich eine jüngere Geschichte des Poetry Slams in seiner etablierten heutigen Form heraus, die in den USA verwurzelt ist.

1975 legten Dichter der „Beat Generation“3im New Yorker Nuyorican Poets Cafe erstmals einen Grundstein in Richtung Poetry Slam. Davon wurde der Bauarbeiter Marc-Kelly Smith inspiriert, welcher im Jahre 1985 in der Get Me High Lounge mit weiteren Poeten und einer Jazzband das Performance-Poetry-Team Chicago Poetry Ensemble gründete. Ein Jahr später zog das Ensemble in den Green Mill Jazz Club um, in dem Smith alle zwei Wochen den ersten Poetry Slam der Welt mit dem Namen The Uptown Poetry Slam veranstaltete (vgl. Hager 2006, S. 7). Ab 1987 entwickelten sich in den USA durch den Marketingspezialisten und Slam-Poeten Bob Holman weitere Poetry Slams in New York. Die Beliebtheit von Slams wuchs stetig und weckte auch das Interesse diverser Medienanstalten wie MTV (vgl. Bylanzky/Patzak 2004, S. 166f).

In Deutschland entstand der erste Kontakt mit Poetry Slam im Jahre 1992, als das Literaturhaus Hamburg Bob Holman zu einer Lesung einlud (Westermayr 2010, S. 27). Davon inspiriert veranstaltete der deutsche Poet Wolf Hogekamp mit weiteren Interessierten 1994 den ersten regelmäßige Poetry Slam im Berliner Ex’n Pop (vgl. Bylanzky/Patzak 2004, S. 170). Im Oktober 1997 findet der erste deutsche National Poetry Slam in Berlin statt, wodurch Poetry Slam jedes Jahr bekannter wird. Es erscheinen zahlreiche Anthologien, die Teilnehmerzahlen nehmen jährlich zu, bis 2004 in Stuttgart sogar erstmals ein U20-Wettbewerb für Nachwuchspoeten durchgeführt wurde (vgl. Bylanzky/Patzak 2004, S. 170 f).

2007 gelang der Sprung in die deutschen Massenmedien. Im WDR wurde der WDR-Slam produziert, der namhafte Vertreter der Slam-Szene zu einem Fernseh-Slam in Köln einlud (vgl. ebd.). Neben den Live-Veranstaltungen erobert Poetry Slam inzwischen auch das Internet, allen voran die Videoplattform Youtube.de (vgl. Hoffmeister 2017, S. 207). Die Psychologiestudentin Julia Engelmann, die 2013 mit ihrem One Day Reckoning Text („Eines Tages, Baby“) beim Bielefelder Campus-Slam antrat, gewann den Wettbewerb zwar nicht, wurde aber ein paar Monate später durch acht Millionen (Stand Februar 2020: 12, 9 Millionen) Klicks bei Youtube zur bekanntesten Slam-Poetin Deutschlands (Pyka 2019, S. 10).

Seit 1994 hat sich Poetry Slam in der Größenordnung deutlich verändert. Nachdem es zunächst nur wenige regelmäßig auftretende Poeten gab und sich auch die Publikumszahlen in überschaubaren Grenzen hielten, nehmen mittlerweile deutschlandweit mehrere Hunderte aktiv an Veranstaltungen in fast jeder größeren Stadt teil (vgl. Strack/Ruddock 2017, S. 9). Gerade im urbanen, universitären Milieu ist Poetry Slam ein fester Bestandteil der kulturellen Abendgestaltung geworden. Allmählich erreicht das Veranstaltungsformat durch geförderte Projekte in Jugendzentren und Schulen auch Kleinstädte und Dörfer (vgl. Strack/Ruddock 2017, S. 9f).

Auch wenn die Gattung amerikanischen Ursprungs ist, soll sich diese Arbeit, aufgrund der Schülerveranstaltung auf einer deutschen Bühne, ausschließlich auf die deutsche Slam-Szene beziehen. Deren Regeln werden im Folgenden aufgeführt.

2.3.2 Formen

Seit über 20 Jahren ist die kulturelle Praxis des Poetry Slam nicht nur ein stabiles Veranstaltungsformat, sondern auch Ausgangspunkt für ähnliche Veranstaltungen, die dem Präsentieren und dem Austausch von Texten dienen (vgl. Anders 2019, S. 16). Mottos und Abwandlungen sind vielfältig, denn der kreativen Interpretation der Veranstaltung sind keine Grenzen gesetzt (vgl. Westermayr 2010, S. 79-84; vgl. Willrich 2010, S. 76-88; vgl. Anders 2019, S. 18-20). Einige dieser Poetry Slam-ähnlichen Formen können auch interessant für den Deutschunterricht sein:

Bei dem „Dead-or-Alive-Slam“ treten Slam-Poeten, die ihre eigenen Texte vortragen (alive), gegen Schauspieler an, die Texte von verstorbenen Dichtern (dead) performen (vgl. Willrich 2010, S. 77). Dadurch haben Schüler die Möglichkeit, auf Texte anderer Autoren zurückzugreifen und sich dadurch vor der Kritik am eigenen literarischen Produkt zu schützen (vgl. Anders 2019, S. 6).

Das „Open Mic“ ist wie ein Poetry Slam konzipiert, jedoch entfällt hierbei eine Bewertung durch das Publikum. Die Poeten können ihre eigenen Texte vor Publikum ausprobieren, ohne sich im Wettbewerb mit anderen messen zu müssen (vgl. ebd.).

Je nach Unterrichtseinheit und Interesse der Schüler kann auch ein Thema vorgegeben werden, in dessen Rahmen Slam-Texte verfasst werden sollen. Dies kann auch in einem fächerübergreifenden Projekt stattfinden, beispielsweise in Form eines „Preacher Slams“ in Kooperation mit dem Fach Religion (vgl. Pyka 2019, S.11), eines „Queer Slams“ bei einem Toleranz-Projekttag (vgl. Uferlos 2019; LBST*-Referat 2019) oder eines „Gründer Slams“ in Kooperation mit dem Fach Wirtschaft und Recht (Universität Bamberg 2019).

Westermayr führt bei den Sonderformen besonders ausführlich den „Science Slam“ an, der auch im schulischen Kontext insofern relevant sein kann, als vermeintlich trockene, wissenschaftliche Themen in Form von Slam-Texten informativ und unterhaltsam dargestellt werden (vgl. Westermayr 2010, S. 84). Hierbei ist Kreativität gewünscht, jedoch nie auf Kosten des Inhalts (vgl. Scienceslam 2019). Die Science Slam-Szene wird inzwischen sogar als eigenständige Szene wahrgenommen (vgl. Strack/Ruddock 2017, S. 10).

Im Zuge eines Slam-Projekts in der BOB ist besonders der „U20-Slam“ zu erwähnen, da bei diesem vor allem Poeten zwischen 17 und 19 Jahren teilnehmen (vgl. Anders 2019, S. 57). Der U20-Slam funktioniert nach den gleichen Regeln wie ein regulärer Slam, jedoch unter der Prämisse, dass alle Poeten jünger als 20 Jahre alt sind. Poetry Slam an sich ist für jede Person zugänglich (vgl. Anders 2019, S. 55), der U20-Slam bietet jedoch den Nachwuchstalenten einen würdigen Rahmen, um sich nicht im direkten Wettkampf mit den ‚großen Namen‘ der Szene messen zu müssen. Oft gehen den U20-Slams Workshops voraus, um Schüler entsprechend darauf vorzubereiten (vgl. Willrich 2010, S. 76). Seit 2004 ist die Organisation des U20-Poetry Slam im deutschsprachigen Raum kontinuierlich im Aufbau, wobei ‚U20’ mit Absicht auf die Assoziation zu Jugendsportmannschaften gewählt wurde, um die Motivation von Jugendlichen zu wecken. In einigen Städten findet diese Sonderform inzwischen regelmäßig statt, erfolgreich wird beispielweise der U20 Slam im E-Werk in Erlangen durchgeführt (vgl. Kulturzentraum E-Werk 2019). Einige wenige Poetry Slams werden von Jugendlichen für Jugendliche organisiert und moderiert, in der Regel finden diese jedoch im Rahmen von Schulworkshops oder erwachsenen Veranstaltern statt (vgl. Anders 2019, S. 56). Um an der regulären Meisterschaft teilnehmen zu können, benötigt jeder Poet einen Startplatz, mit dem er sich bei den jährlich wechselnden Veranstaltern der Meisterschaften meldet (vgl. Anders 2019, S. 54).

Auch wenn Motto Slams und Abwandlungen von Poetry Slam eine „willkommene Abwechslung und Herausforderung“ (Westermayr 2010, S. 83) darstellen, findet Poetry Slam am häufigsten in seiner ursprünglichen Form ohne jeglichen Themen- und Stilrahmen statt. Um Schülern das Kulturformat Poetry Slam im Unterricht nahezubringen, ist es deshalb dort sowie im Rahmen dieser Arbeit vorerst sinnvoll, Poetry Slam in seiner originalen Form ausführlich durchzunehmen.

2.3.3 Regeln und Ablauf

Im Laufe der Jahre haben sich bestimmte Regeln herauskristallisiert, welche weltweit wettbewerbsähnliche Bedingungen schaffen und die Aufmerksamkeit des Publikums auf das selbstverfasste gesprochene Wort lenken sollen (vgl. Anders 2010, S. 23, vgl. Felis 2013, S. 22).

Regel 1) besagt, dass die Texte des Poeten selbstverfasst sein müssen.

Regel 2) zufolge sollen diese Texte innerhalb eines vorgeschriebenen Zeitrahmens, meist fünf bis sieben Minuten, vorgetragen werden.

Regel 3) verbietet jegliche Form von Requisiten oder Kostümierungen. Allein das Mikrophon und ein Textblatt, inzwischen auch in digitaler Form erlaubt, bilden hierbei eine Ausnahme. Im Zuge dieser Regel kann zusätzlich erwähnt werden, dass Gesangseinlagen nur in einem kurzen Zeitrahmen erlaubt sind.

Regel 4) betont die Bewertung der Performance durch eine willkürliche Jury (Felis 2013, S. 22; Masomi 2012, S. 22; Smith 2004, S. 32). Bei manchen Veranstaltungen zählt der „Master of Ceremony“ (MC) statt der oder zusätzlich zur vierten Regel auch eine weitere auf, welche für die vorliegende Arbeit aufgrund des pädagogischen Auftrages der Schule besonders hervorzuheben ist: die Regel, jeden Poeten zu respektieren. Diese zieht sich durch viele Veranstaltungen mit dem Spruch „Respect the poets!“ (Zwergriese 2019).

Die Veranstaltung besteht oft aus mehreren Vorrundengruppen und einem Finale, in dem die Vorrundensieger aufeinandertreffen. Am Ende jeder Vorrunde oder nach jedem Vortrag stimmt das Publikum über die Finalisten ab und kürt im Anschluss an die Finalrunde den Sieger des Abends (vgl. Willrich 2010, S. 14).

Laut Anders‘ Beobachtung (vgl. Anders 2019, S. 7f), der Eigenanalyse einiger besuchter Poetry Slams im Zeitraum Januar 2018 bis Februar 2020 und dem Interview mit A. F. am 07.11.2019 sind folgende zehn Schritte üblich: Teilnehmeranmeldung – Begrüßung des Publikums durch MC (eventuell musikalische Untermalung) – Erklärung der Regeln – Erklärung der Abstimmung, Verteilen der Stimmtafeln – Auftritt des „Featured Poets“ – Vorrunde: Performances der Poeten, dazwischen Pause mit Musik – Finale: Zweiter Textvortrag der Vorrundensieger – Siegerehrung mit symbolischen Preisen – Abschied mit Ankündigung von weiteren Terminen.

2.3.4 Drei Instanzen des Veranstaltungsformats

Die Dynamik eines Poetry Slams wird durch die aktive Beteiligung aller Teilnehmer ins Rollen gebracht. Dabei sind drei personale Faktoren, die voneinander abhängen und gleichgewichtig sind, für den Erfolg der Veranstaltung entscheidend: die Poeten, der Master of Ceremony und das Publikum (vgl. Westermayr 2010, S. 39). Auch wenn Westermayr als vierte „Kategorie“ den Veranstalter aufführt, beschränkt sich diese Arbeit auf drei Faktoren, da Veranstalter und Moderator in den meisten Fällen dieselbe Person sind. Die drei Instanzen sollen an dieser Stelle mit deren Aufgaben und Sinnhaftigkeit beschrieben werden.

2.3.4.1 Die Poeten – Vortrag

Es wirkt etwas altertümlich, dass sich die Vortragenden als ‚Poeten‘ bezeichnen, da dies kaum dem modernen Charakter der Veranstaltung entspricht. Vermutlich ist dieser Begriff direkt aus dem englischsprachigen Raum in die deutsche Sprache übernommen worden (vgl. Anders 2019, S. 10). Im Wettkampf treten meist acht bis vierzehn Slam-Poeten, auch „Slammer“ genannt, verschiedener Kategorien gegeneinander an:

1. Die „ursprüngliche“ Gruppe bilden Teilnehmer, die „spontan“ antreten, indem sie sich an der Kasse in die offene Liste eintragen oder sich beim Veranstalter im Vorhinein anmelden (vgl. Anders 2019, S. 7).
2. Der Veranstalter kann auch selbst Slam-Poeten einladen, die für den Poetry Slam anreisen. Diese oft bekannten, „professionellen“ Poeten haben in der Regel eine hohe Zahl an Auftritten im gesamten deutschsprachigen Raum. Manche von ihnen verdienen sich gelegentlich oder dauerhaft durch Poetry Slam Geld, indem sie Workshops geben, eigene Slams veranstalten oder bezahlte Lesungen abhalten (vgl. Willrich 2010, S. 13f).
3. Dem „Featured Poet“ kommt eine Sonderstellung zu, indem er außerhalb des Wettbewerbs auftritt (vgl. Anders 2019, S. 2). Der bekannte Slam-Poet stimmt durch seine Texte das gesamte Publikum, vor allem in Hinblick auf die Jurywertung, ein und profitiert von einem solchen Auftritt, indem er für seinen Auftritt mehr Zeit zur Verfügung gestellt bekommt und sein Auftritt mit einem Pauschalhonorar bezahlt wird (vgl. Anders 2010, S. 22).

Auf der Bühne finden sich auch Schauspieler, Comedians oder Buchautoren wieder (vgl. Westermayr 2010, S. 48). Einige Comedians, beispielsweise Felix Lobrecht, entwickelten sich aus der Slam-Szene und treten inzwischen in ausverkauften Stadien auf (vgl. Lobrecht 2020).

Auffallend ist das Geschlechterverhältnis der Poeten, das sich im Laufe der Jahre kaum zu verändern scheint. Auch wenn inzwischen Julia Engelmann als Prototyp für Poetry Slam im deutschen Raum gilt (vgl. Pyka 2019, S. 10) und sich weitere Frauen wie Hazel Brugger oder Nora Gomringer in der Szene etabliert haben (vgl. Hoffmeister 2017, S. 208f), wurde die Männerdominanz bisher nicht gebrochen (vgl. Hoffmeister 2017, S. 208f; Westermayr 2010, S. 43f). Westermayr führte einige Interviews und folgert daraus, dass häufige Gründe für überwiegende Präsenz männlicher Slammer interessanterweise im mangelnden Selbstbewusstsein von Frauen im kreativen Bereich liegen (vgl. Westermayr 2010, S. 44).

Neben Einzelbeiträgen erlaubt das Format auch Team-Vorträge. Dies ist, zusammen mit der Performance, ein Abgrenzungsmerkmal zu herkömmlichen Dichter-Lesungen und interessant für den Unterricht, da Schüler auch im Team schreiben und auftreten können (vgl. Anders 2019, S. 11; Westermayr 2010, S. 47).

2.3.4.2 Der MC – Koordination

Neben den Slam-Poeten kommt auch der moderierenden Person, dem M (aster of) C (eremony) oder „Slam Master“, eine wichtige Funktion zu. Im Gegensatz zu üblichen Autorenlesungen trägt der MC, der in der Regel als Erster die Bühne betritt, wesentlich zur Atmosphäre der Veranstaltung bei. Allgemein besteht seine Aufgabe darin, die Veranstaltung zu moderieren, die Regeln zu erklären und auf deren Einhaltung zu achten, ebenso wie das Publikum einzustimmen und dieses bei Laune zu halten (vgl. Willrich 2010, S. 14; Westermayr 2010, S. 41). Auch legt der MC die Jury-Art (siehe 2.3.4.3) fest und gewährleistet deren Fairness (vgl. Westermayr 2010, S. 41). Die auftretenden Poeten stellt er meist nicht nur namentlich vor, sondern auch durch kleine Anekdoten, die beispielsweise Auszeichnungen oder besondere Auffälligkeiten der Poetencharaktere sein können. Nach der Endabstimmung überreicht er dem Gewinner einen Preis und beendet den Abend in der Regel mit Ankündigungen und/oder Danksagungen (vgl. ebd. 2010, S. 41f).

Bei einem „Schüler Slam“ übernimmt diese Rolle in der Regel die Workshopleitung oder die Lehrkraft, da diese den Prozess der Schüler über lange Zeit begleitet und dadurch die Poeten auf der Bühne passend ankündigen kann.

2.3.4.3 Das Publikum – Bewertung

Stimmung und Publikum sind immer eine unbekannte Variable. So hängt der vakante Erfolg eines Poetry Slams auch wesentlich von den stark involvierten Zuschauern ab. Diese sind eingeladen, sich einzubringen, Stellung zu beziehen, zu kommentieren und Spaß zu haben (vgl. Westermayr 2010, S. 48). Bei den meisten deutschen Poetry Slams handelt es sich um eine mehrheitlich studentische Zuhörerschaft, weitere Besucher kommen meist aus einem Berufsbereich, der mit Sprache zu tun hat, wie aus der Werbe- oder Medienbrache (vgl. Westermayr 2010, S. 48).

Während Smith und Kraynak das Einbringen des Publikums in den USA durch Fingerschnipsen, Fußtrampeln und Jaulen als äußerst lebendig einstufen (vgl. Smith/Kraynak 2004, S. 23), stellt Anders im deutschsprachigen Raum hingegen fest, dass die Zuhörerschaft hier eher eine passive Haltung einnimmt. Die aktive Rolle des Publikums ist auf lautstarken Beifall, Jury-Wertungen und ein paar Zwischenrufe beschränkt (vgl. Anders 2019, S. 12).

Neben der Funktion des Publikums als aktiver Rezipient (vgl. Anders 2019, S. 11; vgl. Westermayr 2010, S. 48) zählt zum basisdemokratischen Charakter der Veranstaltung auch die Jury im Publikum (vgl. Westermayr 2010, S. 48). Die Jury ist häufig willkürlich gewählt und deshalb erfahrungstechnisch sehr heterogen nach Kenntnissen und Einstellungen zusammengestellt. Dadurch wird immer wieder deutlich, dass die Bewertung eine äußerst subjektive Angelegenheit ist (vgl. Westermayr 2010, S. 49).

Bezüglich des Wertungssystems sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt (vgl. Willrich 2010, S. 14f). Habert beschreibt die häufigsten drei Ansätze der Abstimmung, die in unterschiedlichen Variationen eingesetzt werden können. Welches System eingesetzt wird, entscheidet in der Regel der MC (vgl. Habert 2018).

1. Zuerst führt Habert die Applausabstimmung an, der er die größte und temperamentvollste Publikumsstimmung zuschreibt. Hierbei „eicht“ eine gute Moderation das Publikum vorab, indem der Applaus geprobt wird. Die Abstimmung findet meist am Ende einer Runde in Auftrittsreihenfolge statt. Diese Wertungsmethode wird oft auch in Kombination mit anderen Methoden oder im Finale eingesetzt. Ein Vorteil der Methode ist die hohe Euphorie im Publikum. Da die Wertung oft unpräzise und schwer messbar ist, werden aber meist andere Wertungssysteme eingesetzt (vgl. Habert 2018).
2. Ein häufig verwendetes System ist die sogenannte Publikumsjury. Eine fünf- bis siebenköpfige Jury wird vom MC ausgewählt und erhält eine Einweisung in die Regeln. Die Wertungsskala, die meist in Form von Stimmtafeln vom MC mitgebracht wird, geht in der Regel von 1 (sehr schlecht) bis 10 (sehr gut), wahlweise auch mit Kommanoten. Um Ausreißer von befangenen Personen zu vermeiden, wird die höchste und die niedrigste Wertung gestrichen (vgl. Habert 2018). Die Abstimmung findet direkt nach den jeweiligen Auftritten statt, die Ergebnisse werden notiert und am Gruppen- oder Einzelperformanceende verglichen. Vorteile dieser Abstimmung sind die Autonomie des Publikums sowie eine schnelle und exakte Durchführung. Ein Nachteil besteht darin, dass nicht alle Zuschauer beteiligt werden und somit das Gewinnschicksal der Poeten von einzelnen Ausgewählten abhängt (vgl. Willrich 2010, S. 15).
3. Die dritte Abstimmungsform stellt die Urnen-Wahl dar. Dies ist die demokratischste, jedoch auch aufwendigste Methode. Jeder Zuschauer hat gleich viele Stimmen, die auf einen oder mehrere Auftretende verteilt werden können. Das Abstimmungsmedium kann alles sein, was zählbar ist. Hier werden beispielsweise Chips, Hände, Zettel oder digitale Methoden in Form von Apps eingesetzt. In der Regel findet die Abstimmung vor oder in der Pause statt, sodass das Team im Anschluss auszählen kann. Dieses Abstimmungssystem hat den Vorteil der fairsten Publikumsrepräsentanz. Große Nachteile sind der hohe Aufwand und/oder Materialkosten, eine hohe Zeitintensität und die geringe Stimmungsförderung (vgl. Habert 2018).

Die Abstimmungsform bei einem „Schüler Slam“ kann variabel angepasst werden. Findet ein Poetry Slam zum ersten Mal in der Klasse statt, bietet es sich an, keine dieser Abstimmungsformen anzuwenden, sondern erst einmal die Textperformance durch begründete Kritik zu beurteilen (genauer s. 3.3.2.2 / 3.4.3)

2.4 Slam Poetry als literarische Gattung

„Als Text in gebundener Rede ist es gut vortragbar; es knüpft an Alltags- und Medienerfahrungen der Zuhörerinnen und Zuhörer an […]; es ist sprachspielerisch ambitioniert, unter anderem lautmalerisch und neologistisch; und es ist unterhaltsam“ (Anders/Abraham 2008, S. 6).

Nachdem die Veranstaltungsform des Poetry Slams veranschaulicht wurde, gilt es nun, sich den (vorgetragenen) Texten der Poeten zu widmen.

Auch wenn Anders und Abraham diese knappe Beschreibung von Slam Poetry vorschlagen, galt es lange Zeit in der Slam-Szene als unausgesprochenes Gesetz, dass es keine literarische Gattung namens Slam Poetry geben kann, da ein Poetry Slam ein kulturelles Format darstellt, bei dem alles vorgetragen werden darf, sofern es selbstverfasst ist (vgl. Anders 2019, S. 21). In der Literatur finden sich daher verschiedene Annäherungsversuche zur Beschreibung und Kategorisierung.

So definiert Holzheimer Slam Poetry in Abgrenzung zu anderen Genres als eine Gattung, die sich durch text- und performance-immanente Merkmale als Folge von wettbewerbsorientierten Schreiben und Performen auszeichnet. Besonders betont die Autorin die Authentizität des Genres, die durch sogenannte „Authentizitätsstrategien“, beispielsweise die Perspektive der Ich-Form oder der Bezug zum Privatleben des Poeten, hervorgebracht wird (vgl. Holzheimer 2017, S. 55; Holzheimer 2014).

Auch für Masomi, der auch in seinen Workshops häufig auf die Unklarheit von Slam Poetry als literarisches Genre stößt, ist es nicht unbedingt eine geschlossen definierte Gattung. Da sich Slam Poeten die „Aufmerksamkeit der Zuhörer verdienen müssen, um ihre Herzen gewinnen zu können“ (Masomi 2012, S. 94), gilt es beim Verfassen einige Kriterien zu beachten, was auf eine gewisse Genre-Spezifität hinweist. Doch gerade die Tatsache, dass eine bestimmte Form gefordert wird, spricht gegen die Betrachtung des Slam Poetry als Genre (vgl. ebd. S. 94f). Masomi beschreibt dennoch vier „Grundtendenzen“ von Slam Poetry: 1. Die Zeit; 2. Der akustische Raum; 3. Der performative Charakter; 4. Der Wettbewerbscharakter (vgl. ebd. S. 97).

Die bisher beschriebenen Erkenntnisse scheinen Slam Poetry aufgrund der stilistischen Vielfalt nicht eindeutig einzuordnen. Dennoch wird ersichtlich, dass Slam-Texte und -Performances einige gemeinsame Nenner aufweisen. Um diese, auch im Hinblick auf die Einbettung von Slam Poetry in den Deutschunterricht, darzustellen, soll in dieser Arbeit aus Analyseergebnissen von Anders (vgl. 2019, S. 21-33) und Willrich (vgl. 2010, S. 30-56) ein genauerer Umschreibungsversuch gewagt werden.

Da Slam-Texte – gerade die humoristischen und klangorientierten Stücke – erst durch ihre Aufführung ihre vollständige Ausdruckskraft und Wirkung entfalten, macht es durchaus Sinn, bei Slam Poetry nicht von einem originären Text-Genre auszugehen, sondern von einem „zeitgenössischen Veranstaltungs- oder Auftritts-Genre“ (Stahl 2003, S. 262) zu sprechen (vgl. ebd; Anders 2019, S. 21).

Abgesehen von der Länge sind die Texte äußerst vielfältig: Erzähltexte, Lyrik, gesprochener A-capella-Rap, klassische Verse und Klangspiele wechseln sich ab. Freestyle-Texte sind eher selten – die Darbietungen von Slam Poetry beruhen meist auf auswendig gelernten oder abgelesenen Texten, die für den Vortrag gründlich vorbereitet und daher medial mündlich und konzeptionell schriftlich sind (vgl. Anders/Abraham 2008, S. 8).

Auch wenn die Vielfalt der Texte stilistisch weitreichend scheint, kennzeichnet Anders die Charakteristika von Slam Poetry bezüglich des Stils, der Sprechsituation und der Themenwahl durch fünf Kernmerkmale, welche hier im Detail durch weitere Literaturquellen ergänzt werden:

1. Aktualität

Slam Poetry nimmt aktuelles Tagesgeschehen auf, überformt Alltägliches und reflektiert aus einer scheinbar authentischen Perspektive heikle, diskussionswürdige und persönliche Themen, die gesellschaftliche Relevanz beziehungsweise Nähe zum menschlichen Leben haben. Die zeitnahen Gedanken sind durch Beispiele illustriert und situativ verordnet, wodurch sie für den Rezipienten leicht nachvollziehbar werden (vgl. Anders/Abraham 2008, S. 8; Willrich 2010, S. 35-44).

2. Klanglichkeit

Durch einen fließenden Lese- oder Vortragsstil, bezeichnet als „vocal delivery style“, wirken Slam-Texte oft liedartig, sind durch Arrangements von originellen Artikulationsmöglichkeiten besonders expressiv oder durch Alliterationen und Binnenreime dem Rap nahe. Auch durch inhaltliche Kompositionen und den schnellen Vortrag werden nahezu rhythmische Einheiten gebildet.

3. Interaktion

Um einen Kontakt zu Rezipienten zu ermöglichen und deren Interesse zu gewährleisten, nutzen viele Slam-Poeten die Interaktion mit dem Publikum. Die Anrede verwendet nahezu jeder Poet in seiner Anmoderation, einige Poeten auch in ihren Texten (vgl. Willrich 2010, S. 49f). Einerseits kann Anschlusskommunikation explizit durch den Poeten initiiert werden, indem dieser die Zuhörer zum Mitsprechen oder Zurufen animiert oder einen ‚kämpferischen Ton‘ anschlägt. Andererseits gelingt sie innerhalb des Textes thematisch, wenn wiedererkennbare Gefühle oder Situationen das Publikum den Plot miterleben lassen. Rhetorische Elemente (z.B. Appelle, rhetorische Fragen) sind hierfür interaktionsbildend (vgl. Anders 2019, S. 23).

4. Intertextualität

Weniger speist Slam Poetry aus dem ‚Archiv‘ von Alltagsbegriffen als vielmehr aus allen gängigen Medien wie dem Internet oder der Literatur. Auffällig sind Wörter oder Textmuster, die auf andere Slam-Texte verweisen beziehungsweise diese direkt zitieren. Der Poet kann mit bekannten Zitaten und Querverweisen überraschen und Assoziationen auslösen (vgl. Anders 2019, S. 23; Willrich 2010, S. 48).

5. Kürze

Das auf fünf bis sieben Minuten pro Text reduzierte Veranstaltungsformat Poetry Slam ist stilbildend für Slam Poetry (vgl. Anders 2019, S. 22f).

Reine Erzählungen sind circa 600 Wörter lang, wobei lyrische Texte mit weniger auskommen (vgl. ebd., S. 21).

Wenngleich die vier letztgenannten Merkmale schon als stilistische Mittel kategorisiert werden können, werden nachfolgend weitere Stilmittel der deutschen Slam Poetry aufgeführt, mit welchen sich insbesondere Willrich befasst hat (vgl. Willrich 2010, S. 44-56):

- Anmoderation: Nachdem der MC den Slam-Poeten angekündigt hat (siehe Kapitel 2.3.4.2) moderiert der Slam-Poet noch einmal seinen Text und seine Perfomance selbst an. Folgende Arten sind dabei möglich: keine Begrü-ßung, Einleitung zum Text, Bezug zum Ort/Thema, Selbsterklärung/Positionierung, Reaktionen auf den Slam (vgl. Burki 2003, S. 53).
- Alltagssprache: Sie gibt dem Zuhörer überhaupt erst die Möglichkeit, dem Text während des erstmaligen Zuhörens unmittelbar folgen zu können. Auch ist auf diesen Bühnen häufig Fäkalsprache zu finden.
- Reime: Reimformen werden variabel eingesetzt. So reicht die Spanne vom einsilbigen zum Mehrfachreim über End- und Stabreime hin zu Assonanzen als Form des unreinen Reims. Je ungewöhnlicher das Reimschema, desto interessanter kann es für den Rezipienten sein.
- Onomatopöie: Die Produktion von Lauten zählt zu dem wichtigsten Stilmittel der Lautgedichte. Lautmalereien werden in Slam Poetry sowohl wortbildend verwendet (z.B. rauschen) als auch lautnachahmend (z.B. Kikeriki).
- Metapher: Als eines der gängigsten Stilmittel in Lyrik und Prosa wird auch in der Slam Poetry an Metaphern nicht gespart.
- Personifikation: Dinge zu personifizieren, verbildlicht bestimmte Sachverhalte. Ebenso kann es Humor erzeugen.
- Hyperbel: In der Slam Poetry wird oft stark übertrieben, sodass es regelrecht abstrus wirkt und somit Gelächter aus dem Publikum gesichert ist.
- Repetition/Refrain: Beide Stilmittel haben den Vorteil, dass sie dem „Ohr schmeicheln, bestenfalls eine für den Text wichtige Aussage wieder aufgreifen und dem Publikum eine Konzentrationspause gönnen“ (Schütz 2013, S. 57). Sie sind strukturgebend und können dem Rezipienten durch Mitsprechen die Möglichkeit geben, sich mit dem Vortrag zu identifizieren.
- Ironie, Sarkasmus und Zynismus: Durch die Verkehrung der Realität mittels dieser Stilmittel kann recht einfach auf Probleme oder seltsame Situationen aufmerksam gemacht und gegebenenfalls Humor erzeugt werden.
- Klischees: Die Vorurteile und Klischees unserer heutigen Gesellschaft aufzugreifen, erfolgt in Slam-Texten häufig. Für einen humoristischen Effekt werden diese Vorurteile oft übertrieben.
- Rhythmik: Eine wechselnde Rhythmik kann unterschiedliche Positionen und Situationen verdeutlichen. Der musikalische Charakter, den Poesie dadurch bekommt, erleichtert vielen Menschen die Textzugänglichkeit.
- Satzbau: Aufgrund der alltagssprachlichen Nähe von Slam Poetry ist der Satzbau sehr einfach gehalten ist. Verschachtelte Sätze kommen nur vor, wenn der Poet damit sprachlich spielt.
- Dialekte und Dialoge aus dem Alltag: Durch die Beherrschung von Dialekten schafft es ein Poet einfach, das Publikum zu begeistern. Er kann dadurch beispielsweise einen beschränkten Horizont ausdrücken.
- Beatbox: Beatbox-Elemente werden oft als Beiwerk hinzugefügt, sie unterhalten und faszinieren das Publikum.

Slam Poetry wird meist aus der Ich-Perspektive erzählt, wodurch das Publikum oft annimmt, die Texte seien Verarbeitungen von Situationen aus dem eigenen Leben des Slam-Poeten. Die Grenze zwischen Rolle und Sprecher, zwischen Verfasser und Erzähler, verschwimmt somit (vgl. Anders 2019, S. 22).

Auch wenn Slam Poetry ebenso gedruckt in Form von Anthologien und Monografien vorzufinden ist (vgl. beispielsweise Salmen 2018; Simon 2019), wird sie für gewöhnlich auf Bühnen vorgetragen. Deshalb sind auch Oralität und Performance stilbildend für die literarische Gattung. Slam-Texte werden von den Poeten als Schrifttexte sorgfältig vorbereitet und erst nach Fertigstellung in die orale Version übertragen. Die Texte werden dann entweder auswendig vorgetragen oder ganz beziehungsweise teilweise abgelesen (vgl. Anders 2019, S. 25f).

Der Erfolg der Performance hängt beim Poetry Slam maßgeblich vom Publikum ab. Der performative Akt vollzieht sich nicht nach dem Muster von richtig und falsch, sondern von Gelingen und Scheitern. Wenn das Publikum den Aufforderungen nicht folgt, ist der Auftritt missglückt (vgl. Klein/Friedrich 2003, S. 198). Mimik und Gestik sowie prosodische Mittel wie Sprechgeschwindigkeit, Pausen und Lautstärke sind dabei wesentliche Mittel (vgl. Anders 2019, S. 29f).

Wenngleich der Gattung einige stilistische Mittel zugeschrieben wurden, sollen Schüler möglichst unbefangen an ihre Textproduktion herangehen und, wenn nötig, mit diesen Mitteln erst bei der Überarbeitung ihrer Texte konfrontiert werden.

Nachdem das Phänomen Poetry Slam umfassend dargestellt wurde, wird im folgenden theoretischen Kapitel ein konkreter Bezug zum Deutschunterricht der BOB hergestellt und ausführlich didaktisch begründet.

3 Poetry Slam - im Deutschunterricht der Beruflichen Oberschule Bayern

Bestrebungen, Jugendliche für Poetry Slam zu begeistern und Slam Poetry als Teil der Gegenwartsliteratur an Schulen zu vermitteln, gibt es in Deutschland von der Poetry Slam-Szene und von schulischer Seite aus seit dem Jahr 2004 (vgl. Anders 2019, S. 65). Da Durchführungen von Poetry Slam an einer BOB in der Literatur nur ansatzweise vorhanden sind, wird sich diesen im Folgenden gewidmet. Vorerst wird die didaktische Relevanz von Poetry Slam im Deutschunterricht allgemein begründet.

3.1 Didaktische Relevanz

Slam Poetry ist ein aktuelles literarisches Phänomen – das ist im vorhergehenden Kapitel deutlich geworden. Weshalb dem kulturellen und literarischen Genre im Deutsch- beziehungsweise Literaturunterricht, eine Berechtigung zukommt, bedarf einer genaueren Erklärung. Abraham und Kepser führen hierzu die Bedeutsamkeit von Literatur im individuellen, sozialen und kulturellen Lebensbereich von Schülern an (vgl. Abraham/Kepser 2016, S. 21-25). Anders greift diese Kategorisierung hinsichtlich Poetry Slam auf und zeigt damit, dass auch dies in den zentralen Bereichen des Individuums und der Gesellschaft bedeutsam ist. Da dadurch die Relevanz von Poetry Slam im Deutschunterricht begründet werden kann (vgl. Anders 2019, S. 67-70), soll diese Einteilung im Folgenden genauer erläutert werden.

3.1.1 Individuelle Bedeutsamkeit

Bezugnehmend auf Abrahams und Kepsers vielseitiger Ausführung, ist Literatur vor allem im individuellen Kontext bedeutsam (vgl. Abraham/Kepser 2016, S. 20-22). Durch Slam Poetry werden junge Erwachsene auf der Suche nach einer eigenen Ich-Identität unterstützt, indem sie mit Lebensentwürfen Gleichaltriger konfrontiert werden. So können und sollen Jugendliche diese Lebensentwürfe mit ihrer eigenen Situation vergleichen und sich dazu eine Haltung aneignen (vgl. ebd. 2019, S. 67). Durch die unterschiedliche Qualität der Texte beginnen Schüler, eine literarische Urteilsfähigkeit zu entwickeln (vgl. Bismarck 2014, S. 186). In Interviews mit Jugendlichen fand Anders (vgl. 2010, S. 149) auch die Genussfähigkeit von Literatur durch die Beschäftigung mit Poetry Slam bestätigt. Die Schüler nehmen sich als Kunstschaffende wahr, genießen ihre künstlerische Freiheit, entwickeln ihren eigenen Stil und beginnen „lyrisch zu denken“. Die Textproduktion geschieht hierbei besonders schnell und spontan, Schreibblockaden werden gelöst, die Motivation zum Weiterschreiben wird gefördert und das Verfassen bereitet Freude. Vor allem aber wird das selbstständige, persönliche und authentische Schreiben wie auch die Auswahl aus einer großen Themenvielfalt als positiv erlebt (vgl. Anders 2019, S. 67). Zur Persönlichkeitsentwicklung gehört außerdem der Mut, sich öffentlich mitzuteilen und eigene Gedanken und Gefühle selbstbewusst zu vertreten. Viele Jugendliche machen die Erfahrung, dass sich das eigene Auftreten, das freie Sprechen wie auch das Selbstbewusstsein im Umgang mit eigenen Ideen durch die Teilnahme an Poetry Slams verbesserte. Auch können Schüler durch Slam-Erfahrung lernen, fremde Perspektiven besser nachzuvollziehen (vgl. ebd., S. 67f).

3.1.2 Soziale Bedeutsamkeit

Auch sozial erfüllt Poetry Slam eine bedeutende Funktion. Aufgrund der kollektiven Rezeptionssituation (vgl. Abraham/Kepser 2016, S. 23) ist Poetry Slam eine soziale Veranstaltung, in der die beteiligten Personen ästhetischen Genuss, Freude und Missbehagen teilen. Ein regelmäßig stattfindender Poetry Slam fördert das Gemeinschaftsgefühl, da man andere Menschen kennenlernt, Zusammenhänge innerhalb des kulturellen Netzwerkes besser versteht und ein ähnliches Ziel verfolgt. Auch Freundschaften können durch die gegenseitige Unterstützung und ein persönliches Feedback gestärkt werden (vgl. Anders 2019, S. 68f). Jugendliche lernen außerdem durch das Vortragen den Geschmack des Publikums besser einzuschätzen. Gruppenprozesse, zwischenmenschliche Beziehungen und (vermeintliche) Reaktionen des Publikums dienen zudem als themengebende Impulse für das Schreiben (vgl. ebd. S. 69). Das Veranstaltungsformat sieht vor, dass literarische Texte im Zentrum eines Dialogs stehen, der zwischen den Zuschauern einerseits und zwischen den Zuschauern und Auftretenden andererseits stattfindet. Dieser Dialog kann die pragmatisch-kommunikativen Kompetenzen, wie Meinungen zu tolerieren, zuzuhören oder andere in das Gespräch einzubeziehen, die bei Abraham und Kepser unter dem Aspekt des medienbezogenen Dialogs aufgeführt sind (vgl. Abraham/Kepser 2016, S. 22), fördern.

3.1.3 Kulturelle Bedeutsamkeit

Zur „Teilhabe am gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozess über und mit Hilfe von Literatur“ (Abraham/Kepser 2016, S. 24) gehört, dass Jugendliche literarische Angebote nicht nur auf sich selbst oder den unmittelbaren Lebensraum beziehen, sondern auch deren kollektive Bedeutsamkeit begreifen (vgl. ebd. S. 24f). Diesen Schritt vollziehen Jugendliche, die außerhalb einer didaktischen Rahmung mit Poetry Slam zu tun hatten, in der Regel jedoch nicht. Dazu bedarf es Anleitung in Workshops oder im Unterricht, zum Beispiel durch Transfer auf andere literarische Epochen (wie Gelegenheitsdichtung oder „Beat Generation“) oder auf mediengeschichtliche Besonderheiten (z.B. auf die Verfilmung von Texten) (vgl. Anders 2019, S. 69f). Zu den Voraussetzungen für die Teilhabe an kultureller Praxis gehört auch, dass sich Personen auf prototypische Texte beziehen. Laut Anders zeugen jedoch Slam-Texte von Jugendlichen nur sehr selten von Intertextualität, häufiger werden Medieninhalte zitiert, die allgemein zur Jugendkultur gehören (vgl. ebd.) Jedoch wird mithilfe von Slam Poetry Anschluss an die literarische Tradition gesucht, wenn Poeten beispielsweise ein literarisches Zitat in die Schlusspointe setzen. Viel stärker machen die jungen Autoren allerdings gegenwärtige und eigene Erfahrungen deutlich und entwickeln Ansätze von Zukunftsperspektiven (vgl. ebd.). Einige Jugendliche nehmen in ihren Slam-Texten einen kritischen, anklagenden Beobachtungsmodus ein und behandeln Themen, von denen sie wissen oder ahnen, dass diese die Rezipienten emotional berühren (vgl. ebd., S. 70).

Zusammenfassend hält Anders fest, dass das Handlungsfeld des Poetry Slams im Jugendalter – unterschiedlich intensiv – zur Individuation, Sozialisation und Enkulturation von jugendlichen Schülern beiträgt (vgl. Anders 2019, S. 70).

Widerstände werden jedoch dann deutlich, wenn die Jugendlichen in Situationen gebracht werden, die sie nicht selbst einschätzen können, wie beispielsweise bei der Planung eines Slams. Eine pädagogische Betreuung und Verbindlichkeit der Workshopleiter, wie eine Rückendeckung der Schule, ist bei einem Poetry Slam-Projekt notwendig (vgl. ebd.).

Neben der Bedeutsamkeit in der Literaturdidaktik soll Poetry Slam im Folgenden nun bezüglich des Lehrplans eine Berechtigung erfahren.

[...]


1 Genre der Darstellenden Kunst, bei dem eine Erzählung vor Publikum vorgetragen wird. Auch wenn der Auftritt musikalisch untermalt werden kann, ist das gesprochene Wort vorrangig (vgl. Urban Dictionary 2020).

2 Punchline: Herkunft aus dem Rap-Bereich. Aussagekräftige Zeile, die zum einen das Angreifen oder Diffamieren einer anderen Person, zum anderen das Betonen der eigenen Stärken in den Mittelpunkt stellt (vgl. Wortwuchs 2020)

3 Richtung einer US-amerikanischen Literatur, die in den 1950ern entstanden ist und Werte wie Freiheit und Anti-Kommunismus vertritt (vgl. Gallmayer 2016)

Ende der Leseprobe aus 159 Seiten

Details

Titel
Poetry Slam im Deutschunterricht der Beruflichen Oberschule
Untertitel
Poesie (er)leben – im Rausch der Kreativität
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Didaktik der deutschen Literatur und Sprache)
Note
1,1
Autor
Jahr
2020
Seiten
159
Katalognummer
V1163297
ISBN (eBook)
9783346584809
ISBN (eBook)
9783346584809
ISBN (eBook)
9783346584809
ISBN (Buch)
9783346584816
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
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Schlagworte
Poetry Slam, Deutschunterricht, Kreativität, Theater, Theaterpädagogik, Dichtung, Bühne, Schreiben, Darstellendes Spiel, Stilmittel, Projekt, Unterrichtsprojekt, Projektarbeit, Inspiration
Arbeit zitieren
Alexandra Plechinger (Autor:in), 2020, Poetry Slam im Deutschunterricht der Beruflichen Oberschule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1163297

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