Scham im Unterricht. Eine Adressierungsanalyse des Films "die Klasse" von Laurent Cantet


Masterarbeit, 2021

111 Seiten, Note: 1,5

Emma Hinz (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Forschungsanliegen und Forschungsfragen

3 Das Phänomen Scham aus sozialtheoretischer Perspektive
3.1 Eine Begriffsbestimmung
3.2 Nähe und Abgrenzung zu anderen Gefühlen
3.3 Formen und Funktionen von Scham
3.3.1 Schamauslöser
3.3.2 Schamanlässe und Beschämungsarten/-techniken
3.3.3 Schamabwehr und -folgen
3.4 Scham und Beschämung im Kontext von Schule und Unterricht

4 Die adressierungsanalytische Untersuchung
4.1 Darstellung und Begründung der Methodenwahl
4.2 Analyseschritte
4.3 Das Korpus
4.4 Die Datenerhebung
4.5 Sequenzielle Analyse zu Adressierungen und Positionierungen
4.5.1 Szene 01: Konjugieren
4.5.2 Szene 02: Einwohner Argentiniens

5 Diskussion der Ergebnisse

6 Ausblick und Reflexion

7 Literaturverzeichnis

8 Filmverzeichnis

9 Abbildungsverzeichnis

10 Tabellenverzeichnis

11 Anhang
11.1 Unterschied Scham und Schuld
11.2 Szenenverzeichnis
11.3 Sequenzprotokolle
11.3 Transkripte
11.4 Filmausschnitte

Die Stimme der Scham ist leise, ihre Sprache aber konkret“

Sighard Neckel (1991: 23).

1 Einleitung

„Das Gefühl der Scham drängt sich mit unmittelbarer Gewalt auf. Es gibt kein Entrinnen: Der Boden, in dem man versinken möchte, tut sich nicht auf. […] Und wenn das Schamgefühl auftritt, ist seine Kontrolle fast unmöglich. Der Scham ist man ausgeliefert“ (Schäfer & Thompson 2009: 7).

So beginnt der Sammelband von Alfred Schäfer und Christiane Thompson. Dieses Zitat macht bereits die Gewaltsamkeit und die Kraft des Gefühls deutlich. Für das Individuum wird unmittelbar erfahrbar, dass das eigene Selbstbild nicht (mehr) übereinstimmt mit einem Idealbild, welches im Vorhinein durch geteilte Normen und Werte vermittelt wurde (vgl. ebd.: 8 f.). Die beschämte Person nimmt sein Scheitern wahr. Dies kann sich auf das Aussehen, auf soziale Konventionen oder moralische Imperative beziehen (vgl. ebd.: 7). Die Scham ist nicht planbar, denn sie entsteht plötzlich und unerwartet. Sie tritt meistens dann auf, wenn etwas sichtbar wird, was die Person lieber verstecken oder geheim halten würde. Dem Gefühl werden meistens negative Elemente zugeschrieben und die Assoziation mit dem Machen von Fehlern oder Versagen tritt auf (vgl. Hell 2018: 7). Die Bedeutung des Zitats wird durch Hilgers (vgl. 2013: 33) unterstützt, indem auch er bestätigt, dass sich die beschämte Person vor allen verstecken möchte, um den Blicken anderer zu entkommen. Jedoch begünstigt die Scham starke physiologische Reaktionen, wie das beobachtbare Erröten, was dazu führt, dass es nicht möglich ist, das Unbehagen zu verstecken. Die Person schämt sich nicht nur für etwas, sondern auch vor jemandem (vgl. Landweer 1999: 2). Dies verweist auf die Sozialität der Scham und zeigt auf, dass sich das Gefühl immer auch auf andere relevante Personen bezieht (vgl. Magyar-Haas 2012: 196). Im pädagogischen Bereich wird die Scham wenig thematisiert, was laut Magyar-Haas (2012) damit zu erklären ist, dass Praktiken des Beschämens konträr zum professionellen Handeln verlaufen und dass dieses Handeln dann selbst in Frage gestellt wird (vgl. ebd.). Außerdem hat die Pädagogik das Ziel, moderne, rationale, selbstbestimmte Subjekte zu erzeugen und „diese Zielvorstellungen [erweisen sich] durch die Phänomene Scham und Schamgefühl als illusorisch“ (Magyar-Haas 2011: 276).

Die vorliegende Forschungsarbeit fokussiert im besonderen Maße den Umgang mit Scham in der Institution Schule, denn vor allem dort entstehen schamgenerierende Situationen. Beschämende Situationen dienen (auch) der Herstellung von hierarchischen Ordnungen und Subjektpositionen (vgl. Kämmerer 2001: 304). Die Subjektivation1 ist ein nicht lineares Geschehen und „an soziale Praktiken gebunden […]. Aus den Praktiken resultiert, wer man jeweilig in einem bestimmten Feld ist und welche Position man erwirbt“ (Reh & Ricken 2012: 39). Die Forschungsarbeit nutzt die Methode der Adressierungsanalyse, denn diese fragt immer danach, wie man von wem vor wem als wer angesprochen und explizit oder implizit adressiert wird (vgl. ebd.: 41). Adressierung wird hier als ein Mechanismus der Subjektivation gedacht (vgl. Hartung 2001 zit. n. Reh & Ricken 2012: 41). Des Weiteren können Beschämungen im Unterricht, Schüler*innen sozial ausschließen. Im alltäglichen Miteinander werden persönliche und verletzende Urteile über die Identität oft vermieden. Dieses ‚Taktgefühl‘ muss von Kindern jedoch erlernt werden, da diese oft Mängel oder Charakterzüge der anderen zur Bloßstellung nutzen (vgl. Schäfer & Thompson 2009: 13). Das beschämte Individuum erfährt somit „eine Festlegung seines Scheiterns“ (ebd.: 12). Aus diesem Grund ist es wichtig, danach zu fragen, was das mit schamempfindenden Personen machen kann und wie die Reaktionen aussehen können.

Es liegt außerdem die Hypothese zugrunde, dass die Subjektpositionen der Lehrer*innen und Schüler*innen asymmetrisch strukturiert sind. Die Beteiligten positionieren sich durch Sprechakte implizit wie auch explizit zueinander und auch zu den vorangegangenen Positionen und dem ‚Positioniertwerden‘ durch andere (vgl. Balzer & Bergner 2012: 258). Insofern ist es interessant, sich anzuschauen, inwiefern Positionierungen angenommen, eingenommen, anerkannt oder eben nicht anerkannt werden und wie sich dies mit dem Schamphänomen verbinden lässt.

Das Korpus besteht aus zwei Szenen aus dem Film „die Klasse“ von Laurent Cantet basierend auf dem gleichnamigen Roman von François Bégaudeau. Die Forschungsarbeit beschäftigt sich mit Fragen der Konstituierung von Ordnung in unterrichtlichen Praktiken sowie Fragen zur Herstellung und Abwendung von Schamgefühlen. Den Fragen wird dann exemplarisch anhand der Adressierungsanalyse zweier Szenen nachgegangen. Um die Fragestellungen zu beantworten, wurde sich für die Methode der Adressierungsanalyse nach Kuhlmann & Sotzek (2019) sowie Reh & Ricken (2012) und Rose & Ricken (2018) entschieden. Die Analyseschritte richten sich nach Rabenstein (2020). Die Monografien und Sammelbänder von Hilgers (2012), Wurmser (2017), Schäfer & Thompson (2009), Tiedemann (2013), Hell (2018), Landweer (1999), Haas (2013) und Marks (2019) dienen als breite Übersicht über das Phänomen Scham.

Es wird nun kurz dargelegt, mit welchen theoretischen Inhalten sich beschäftigt wird und wieso dies zur Beantwortung der Forschungsfrage beitragen kann. Da Scham ein komplexer und variabler Affekt ist und diesen anderen Affekten ähnelt (wie Verlegenheit oder Peinlichkeit), ist es besonders relevant, diese voneinander zu trennen (vgl. Wurmser 2017: 24). Nachdem Scham phänomenologisch betrachtet wird, erfolgt eine funktionelle Perspektive. Was bewirkt Scham und welche Situationen können Scham auslösen? In der Psychologie wird davon ausgegangen, dass Schamgefühle das Selbstwertgefühl beeinflussen und da ein pädagogisches Ziel darin besteht, mündige und selbstbewusste Subjekte hervorzubringen, ist es in der Schule sinnvoll, eine schamsensible Umgebung zu schaffen. Schamgefühle verhindern jedoch auch Grenzüberschreitungen (Haas 2013: 14). Daher ist es wichtig, einen gesunden Mittelweg zu finden.

Um im weiteren Verlauf zu erklären, warum das Phänomen Scham in der Schule und besonders in der Adoleszenz überhaupt so bedeutsam ist, wird Scham auch aus einem psychologischen Blickwinkel betrachtet. Es ist schwer, Scham auszuhalten. Aus diesem Grund reagieren betroffene Personen oft mit Schamabwehrreaktionen wie beispielsweise Beschämung anderer oder Zynismus, dissoziales Verhalten und weiteren Abwehrmechanismen (vgl. Marks 2005: 6 f.). Da durch das Auftreten von Schamgefühlen Ungleichheiten erkannt werden, dient die Beschämung als eine Machtdemonstration, welche wiederum auch Ungleichheiten produziert (vgl. Neckel 1991: 21). Gerade die Institution Schule ist geprägt von hierarchischen Strukturen und einer „ungleiche[n] Interaktionsmacht der Akteur*innen“ (Schulze & Witek 2014: 50). Die Beschämung ist außerdem ein soziales Geschehen, welche in konkreten Situationen und beim expliziten und impliziten Sprechen und Handeln sichtbar wird. Aus diesem Grund ist die Adressierungsanalyse besonders gut geeignet, um das Material hinsichtlich potenzieller Beschämungssituationen und (Re-)Produktion von Ordnungen zu analysieren. Der Fokus liegt dabei auf dem Gesprochenen. Gestik und Mimik werden als Ergänzung berücksichtigt.

2 Forschungsanliegen und Forschungsfragen

Eine Lehramtsstudentin übernahm eine Sachunterrichtsstunde in der dritten Klasse im Rahmen eines allgemeinen Schulpraktikums. Das Thema der Stunde hieß Gefühle erkennen und benennen. Die Studentin hatte eine Handpuppe mit dabei, welche eine außerirdische Figur darstellen sollte. Ziel der Unterrichtsstunde war es, dass die Kinder der Handpuppe (genannt Lubo) erklären sollten, was unterschiedliche Gefühle in unserer Welt bedeuten. Dabei konnten alle Kinder der Puppe Fragen stellen. Diese wurden alle spielerisch von der Studentin beantwortet. Die Atmosphäre war entspannt und alle Schüler*innen waren motiviert und neugierig. Ein Junge fragte daraufhin: „Lubo, wieso bist du so dick?“. Die Klassenlehrerin, welche den Unterricht die ganze Zeit beobachtet hatte, sagte ziemlich energisch: „Ben (Name geändert), was soll diese Frage? Wenn man im Glashaus sitzt, sollte man nicht mit Steinen werfen“. Daraufhin schreckte der Junge zurück und sagte kein Wort. Alle anderen Schüler*innen schauten ihn an und es entstand eine unangenehme Stille. Die Klassenlehrerin hackte nochmal nach: „Weißt du, was das bedeutet?“. Doch der Schüler war unfähig, zu kommunizieren und schaute nach unten. Alle anderen Schüler*innen waren ebenfalls ganz ruhig und niemand traute sich, die Stille zu brechen. Die Blicke waren auf den Schüler gerichtet und die motivierte Lernatmosphäre erlosch.

Abbildung 1: Erinnerungsprotokoll im Rahmen des allgemeinen Schulpraktikums an einer Grundschule (selbst erstellt)

Jene Situationen sind in dieser oder ähnlicher Form nicht selten in unterrichtlichen Zusammenhängen zu beobachten. So rief das geschilderte Szenario sowohl bei den anwesenden Schüler*innen als auch bei den Studierenden sichtbare Beschämung hervor. Aus diesem Setting entsprang das erste Erkenntnisinteresse für die vorliegende Arbeit. Hier lässt sich schon die erste Herausforderung erkennen, da hinterfragt werden muss, wieso die beschriebene Situation auch als Beschämungssituation gelesen wird. Dieser Frage wird in der Methodik nochmal aufgegriffen und erläutert.

Im Folgenden soll nun argumentativ dargelegt werden, wieso es erziehungswissenschaftlich interessant ist, sich dem Phänomen anzunähern und mit welchen theoretischen Zugängen dies geschieht.

Beschämungen beeinträchtigen nicht nur das Selbstwertgefühl, sondern auch die eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten (vgl. Marks 2005: 8). Die Person nimmt ihr Scheitern wahr und die Differenz zwischen dem Bild, was andere von ihr haben und ihrem Idealbild (vgl. Schäfer & Thompson 2009: 7). Psychosoziale Theorien2 gehen davon aus, dass ein wesentlicher Schritt im Schulalter (7-12 Jahren) darin besteht, Kompetenzen und Selbstbewusstsein aufzubauen und demnach Minderwertigkeitsgefühle entgegenzuhalten (vgl. Erikson 1988). Wenn Schüler*innen von ihrer eigenen Fähigkeit überzeugt sind, wirkt sich dies außerdem positiv auf die Motivation aus (vgl. Weiner 1994). Scham und auch Schamangst können in diesem Bereich tiefgreifende Probleme hervorrufen, denn Scham betrifft die Person in ihrer Gesamtheit. Sie kann als unerwartete Bloßstellung beschrieben werden und Minderwertigkeitsgefühle verursachen (vgl. Tiedemann 2013: 8). „Das Selbst fühlt sich den Blicken des Anderen wie unter einem Vergrößerungsglas ausgesetzt“ (ebd.). Da also Minderwertigkeitsgefühle vermieden werden sollten im Kontext Schule, erweist es sich als pädagogisch sinnvoll, sich mit der destruktiven Kraft des Phänomens auseinanderzusetzen. Kinder und Jugendliche sind besonders beschämungssensibel und Scham, aber auch Stolz, können als wichtige Aspekte in der Entwicklung des Selbstwertgefühls gesehen werden (vgl. ebd.). Bei Jugendlichen kommt noch hinzu, dass sie auf der Suche nach Zugehörigkeit sind und Körperlichkeit, auf die sich Scham oft bezieht, ein wesentlicher Bestandteil ihrer Lebenswelt darstellt (vgl. ebd.). Hieraus ergibt sich ebenfalls die Notwendigkeit der kritischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Scham in der Adoleszenz. Einer beschämten Person wird bewusst, dass die eigene Handlung „auf Basis der von einer sozialen Gruppe als verbindlich betrachteter Normen und Werte [bewertet wird]“ (Wertenbruch & Röttger-Rössler 2011: 2f.). Im oben genannten Fallbeispiel wäre es die unausgesprochene Norm, sportlich oder schlank zu sein und die Körperlichkeit anderer Subjekte sprachlich nicht zu markieren. Die bewusste erziehungswissenschaftliche Reflexion der Schamthematik kann unbewusste Bloßstellung zwar nicht gänzlich verhindern, diese jedoch aufarbeiten und thematisieren. Es steht fest, dass Scham immer ein Gefühl ist, welches als quälend empfunden wird und es auch für die sogenannten Scham-Zeugen unangenehm ist, wie das oben genannte Beispiel ebenfalls zeigt.

Diese Masterarbeit widmet sich einem ganzen Kapitel darüber, inwiefern Scham im Kontext Schule eine Rolle spielt. An dieser Stelle soll daher nur kurz verdeutlicht werden, inwiefern soziale Interaktionen und Machtgefüge in der Schule für Schüler*innen und Lehrkräfte bedeutsam werden.

Beschämung kann bei allen sozialen Interaktionen entstehen und es findet (in der Schule) häufig verbal, nonverbal und öffentlich statt, was das Leiden noch verstärken kann (vgl. Kohler, Bez & Hommel 2020: 8). Wie in der Einleitung erwähnt, ist der Affekt geprägt durch seine Sozialität. Hieraus ergibt sich, dass die soziale Interaktion als eine wichtige Bezugsgröße in der Analyse über Scham fungiert. Beschämung ist ein zutiefst soziales Geschehen, welches „in konkreten Situationen, beim konkreten Sprechen zwischen Menschen in einer Gesellschaft statt[findet]“ (Schulze & Witek 2014: 50). Obwohl es schwierig ist, den Schamaffekt bei Menschen zu beobachten, kann es trotzdem ergiebig sein, sich unterrichtliche Praktiken in Bezug auf dieses Phänomen genauer anzuschauen. Aus der Annahme heraus, dass Beschämungen auch Machtstrategien aufweisen und Ordnungen reproduzieren können, entstand die Idee, sich diese Prozesse in unterrichtlichen Interaktionen genauer anzuschauen. Es ist bekannt, dass aus Beschämungssituationen Kontroll- und Druckdynamiken entstehen können (vgl. Hafeneger 2013: 72). Für die Akteure in der Schule werden dadurch Differenzen sichtbar und hierarchische Strukturen werden erlernt und weitergegeben (vgl. ebd.: 105). Differenzen können demnach als Resultat pädagogischer Praxis begriffen werden (vgl. Balzer & Ricken 2010: 10 ff.). Diese werden dann in der Schüler*innen-Lehrer*innen-Kommunikation bedeutsam, welche mit der Adressierungsanalyse aufgeschlüsselt wird, denn „durch die Rekonstruktion von Positionierungen und Subjektivierungen lassen sich untererlegte Ordnungen und deren Differenzlogiken interpretativ ermitteln“ (Ricken 2014: 127). Nach Wurmser (2017) geht Schamempfinden außerdem immer mit der Frage einher: Was denken andere über einen? Daraus lässt sich auch schlussfolgern, dass eine adressierungsanalytische Auseinandersetzung mit Schamsituationen sehr ergiebig ist, denn auch hier wird sich gefragt: Wie positionieren einen andere im Sprechakt? Wie sehen die anderen einen dadurch? (vgl. Rose 2019: 79 ff.). Dies wird in Kapitel 4.1 Darstellung und Begründung der Methodenwahl nochmal aufgegriffen und erläutert.

Es wurde sich dafür entschieden, fiktionale Szenen aus dem französischen Film „Die Klasse“ adressierungsanalytisch in Bezug auf Schamerleben zu betrachten. Die Wahl des Mediums Films wird in der Reflexion ausführlich begründet. Die genaue Fragestellung lautet demnach:

Wie werden im Film „die Klasse“ während unterrichtlicher Praktiken Ordnungen (re-)konstituiert? Eine weitere Frage lautet: Wie werden potentielle Beschämungssituationen im Film „die Klasse“ erzeugt und behandelt und wie werden diese in Unterrichtsinteraktionen durch Adressierungen hervorgebracht?

Die Adressierungsanalyse interpretiert Strukturen in und von Interaktionen und es stellt sich immer die Frage, „wie man von wem vor wem als wer angesprochen und explizit oder implizit adressiert wird“ (Reh & Ricken 2012: 41). Dabei ist es nicht relevant, ob diese Adressierung als positiv oder negativ bezeichnet werden kann, was empirisch auch kaum analysierbar wäre.

Die Untersuchung richtet den Fokus auf die Adressaten der Schule: Die Schülerinnen und Schüler, denn beschämte Individuen haben häufiger Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, was in einer Bildungseinrichtung jedoch als unabdingbar erscheint. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass auch Lehrkräfte und pädagogisches Personal Opfer von Beschämungen sein können. Doch das Ziel des Forschungsvorhabens ist es, eine Sensibilität für eine schamsensible Gestaltung von Unterricht zu fördern, denn „jedes Lernen und jede – psychisch-emotionale, körperliche, intellektuelle – Entwicklung ist mit diesem Gefühl verbunden“ (Marks 2013: 38). In einer Schulklasse, in der eine Kultur der Anerkennung herrscht, kann auch gelingendes Lernen stattfinden. Der Fokus liegt außerdem auch mehr auf den Schüler*innen, da diese besonders durch das Machtgefälle in der Beziehung beeinträchtigt werden. Sie erfahren Fremdbestimmung durch die Schule, müssen sich an Regeln halten, erfahren Zwänge oder müssen ihre eigenen Wünsche zurückstecken (vgl. Hafeneger 2013: 109). Die meisten Vorgaben werden von Lehrkräften durchgesetzt, welchen also eine gewisse Verantwortlichkeit für beschämende Prozesse zugerechnet werden kann. Umso wichtiger scheint es, sich mit Beschämungssituationen in hierarchischen Beziehungen auseinanderzusetzen und auch, wie diese in sozialen Interaktionen erkannt und vermieden werden können. Im Verlauf dieser Forschungsarbeit wird gezeigt, dass „im Modus der Scham das menschliche Gehirn auf primitive Überlebensreaktionen zurückfällt: Angreifen, fliehen, verstecken“ (Marks 2013: 37). Daraus resultiert die Vorannahme, dass es in der pädagogischen Arbeit darum gehen muss, Scham-Erfahrungen konstruktiv zu begleiten. Dies gelingt nur durch eine achtbare und positive Beziehung zwischen Lehrkräften und Schüler*innen und demnach einem nicht-beschämenden Unterricht. Die konstruktive Aufarbeitung von Schamsituationen im Unterricht kann die Grundlage für relevante Lernschritte sein. Anderenfalls lernen Schüler*innen, Scham beispielsweise durch Aggressivität zu ersetzen (vgl. ebd.: 40).

Die Forschungsarbeit thematisiert eine „Emotion, die an die Substanz geht“, weswegen eine multiperspektivistische Betrachtungsweise unerlässlich ist (vgl. Haas 2013: 25). Einige Autoren sind der Meinung, dass das Phänomen Scham nicht ausreichend Gegenstand der Schul- und Unterrichtsforschung ist (vgl. Hunger & Böhlke 2017: 2; Seidler 2020: 142; Wurmser 2017). Auch Haas (vgl. 2013: 95) belegt, dass eine systematische Bearbeitung und Reflexion des Affekts fehlen. Sie postuliert an die Erziehungswissenschaften, dass die Auseinandersetzung mit dem Schamerleben bereits in der Lehramtsausbildung vermehrt stattfinden muss, damit die zukünftigen Lehrkräfte auf diesem Gebiet professionell handeln können (vgl. ebd.: 96). Magyar-Haas (vgl. 2012: 195) gibt den Hinweis, dass sich Scham in verschiedenen Disziplinen angeschaut wird wie beispielsweise: Psychoanalyse, Psychologie, Soziologie, Philosophie oder Kulturwissenschaften. Die Fragestellung bezieht hauptsächlich die psychologische und die sozialtheoretische Perspektive mit ein. Während sich mit Blicken und Mimik, Materialität oder der Entstehung von Körper-Raumordnung vielfach beschäftigt wurde, finden Emotionen in ethnographischen Studien weniger Beachtung (vgl. Rabenstein 2020: 179 f.). Sie können jedoch als Dimension von Praktiken und „als Gegenstand von pädagogischem Handeln im Unterricht untersucht werden“ (ebd.: 180). Die Voraussetzung dafür ist, dass „Emotionen im Zusammenhang mit dem, was – gestisch, mimisch und sprachlich-verbal – emotional in Praktiken zum Ausdruck gebracht wird, [stehen]“ (ebd.).

3 Das Phänomen Scham aus sozialtheoretischer Perspektive

In diesem Kapitel wird der Schamaffekt aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Zunächst werden die theoretischen Grundlagen dargelegt. Dazu zählen im Besonderen die Erkenntnisse nach Wurmser (2017), Marks (2019) und Lewis (1995), welche der vorliegenden Arbeit als Ausgangspunkt dienen. In diesem Kapitel geht es außerdem um die phänomenologischen Betrachtungsweisen von Scham, also wie wird sie konkret erlebt (im Unterschied zu anderen Affekten)? In den folgenden Kapiteln soll Scham präzise bestimmt werden. Dafür werden Strukturelemente und -merkmale der Scham untersucht. Dies hilft nicht nur, zu verstehen, wieso Schamgefühle im schulischen Kontext vermieden werden sollten, sondern auch, wie Vorstufen der Scham erkannt und vermieden werden können.

Das Schamgefühl

"stellt sich als unangenehmes, bedrängendes, gelegentlich das Verhalten kurzfristig blockierendes Gefühl ein, wenn der Betroffene meint, durch sein Verhalten gegen geltende Normen (Intimbereich, Umgangsregeln, Leistungserwartungen) verstoßen zu haben. Schamgefühl kann durch körperliche Begleiterscheinung wie Erröten, Schwitzen, kopflose Hektik auch für die Mitmenschen offenkundig werden. Schamgefühl setzt Selbstdistanz voraus und ist deshalb erst ab Ende des 2. Lebensjahres möglich. In seiner spezifischen Ausprägung ist es anerzogen und in verschiedenen Kulturen durchaus unterschiedlich entwickelt" (Köck 2008: 423).

Diese kurze Definition des Schambegriffs aus dem Wörterbuch für Erziehung und Unterricht macht bereits deutlich, wie vielschichtig das Phänomen sein kann. Auch Hass verdeutlicht in ihrer Monografie „Das Phänomen Scham – Impulse für einen lebensförderlichen Umgang mit Scham im Kontext von Schule und Unterricht“ (2013), die destruktive Kraft, die im Phänomen steckt: „Die Scham scheint dem Menschen die Lust am Dasein zu nehmen und ihn an die subjektiven Grenzen der Existenzfähigkeit führen zu können“ (Haas 2013: 16). Es ist physisch und psychisch für die beschämte Person ein Ausnahmezustand, welche zu Fluchtreaktionen führen können. Die Flucht aus dem Gefühl ist meistens nicht möglich, höchstens eine Flucht aus der Situation. Die Handlungsunfähigkeit und das unkontrollierbare Erröten, was wiederum selbst Anlass für Scham sein kann, scheinen die schmerzvollsten Elemente des Affekts zu sein (vgl. Landweer 1999: 41). Bereits mit 30 Monaten kann ein Kleinkind „die eigene Unzulänglichkeit bezüglich eines Wertmaßstabs im Angesicht anderer [wahrnehmen]“ (Holodynski & Oerter 2008: 556 f.) und somit Scham empfinden und zeigt dann gegebenenfalls auch Vermeidungsverhalten (vgl. ebd.).

Die Gegenstände Scham und Beschämung werden in verschiedenen Fachbereichen unterschiedlich, aber auch sehr umfänglich diskutiert. Zu grundlegenden Werken gehören Schäfer & Thompsons (2009) Scham ; Wurmsers (2017) Die Maske der Scham ; Seidlers (2020) Der Blick des Anderen ; Haas (2013) Das Phänomen Scham ; Marks (2019) Scham – die tabuisierte Emotion ; Hilgers (2012) Scham – Gesichter eines Affekts sowie Tiedemanns (2013) Scham. Da die Arbeitshypothese lautet, dass in unterrichtlichen Praktiken durchaus Beschämungspotentiale zu finden sind und diese eine dekonstruktive Wirkung aufweisen, wird zunächst ein breiter Überblick über das Phänomen geschaffen. Nur so kann in der Analyse auch ermittelt werden, welche Auslöser Scham verursachen können oder welche Handlungen sogar als Abwehrmechanismus verstanden werden können. Des Weiteren werden andere vergleichbare Gefühle differenziert, um nicht in einem alltagssprachlichen Verständnis von Scham zu bleiben. Um Beschämung und Scham voneinander abzugrenzen, werden diese im Folgenden unabhängig voneinander beschrieben. Die Fachliteratur hat teilweise ein unterschiedliches Verständnis von Schamempfänglichkeit, welche in dieser Arbeit referiert werden. Angesichts der möglichen Vielfalt an Schamauslösern oder Schamabwehrreaktionen werden in dieser Forschungsarbeit nur die für die Forschungsfrage wesentlichen Formen ausgewählt.

3.1 Eine Begriffsbestimmung

Eine terminologische Unterscheidung der Begriffe Scham und Beschämung ist unerlässlich. Obwohl einige Autoren diese synonym verwenden (unter anderem Wurmser 2017 oder Lewis 1999), wird darauf hingewiesen, dass mit Beschämung andere Aspekte gemeint sind als mit Scham. Scham ist eher „ein Gefühl (‚ich schäme mich‘), während Beschämung eine Handlung ist (‚ich beschäme jemanden‘)“ (Hell 2018: 59). Scham ist somit eine reflexive Emotion, in der ein Selbstbezug deutlich wird im Gegensatz zur Beschämung (‚ich werde beschämt‘). Die beschämte Person ist ein „passives Opfer der Umstände“ (ebd.: 60). Es ist aber auch möglich, sich selbst zu beschämen. Dann sieht die Person sich selbst eher als Objekt und mit dem Blick von außen. Der Psychologe und Psychiater Daniel Hell apostrophiert, dass die beschämte Person sich jedoch selbst als Subjekt erlebt und sich nicht mehr so erkennt wie sie es gerne möchte.

„Kein anderes Gefühl wirft einen Menschen so unausweichlich und so unangenehm auf sich selbst zurück wie das Schamgefühl. Wer sich schämt, kann sich selbst nicht entfliehen“ (ebd.).

Die Mitmenschen in der Umgebung können etwas erfahren, was die beschämte Person lieber verstecken möchte oder generell ablehnt. Daraus kann die Befürchtung resultieren, dass die relevanten Anderen einen nicht mehr akzeptieren aufgrund von Schamreaktionen (vgl. ebd.). Scham kann als „eine eigene Leistung des Sich-Schämenden, die es anzuerkennen, zu würdigen und zu begleiten gilt, [beschrieben werden]“ (Marks 2013: 39). Vorstellbar wäre in dieser Kategorie, dass die Person zu viel von ihrem Inneren preisgegeben hat und sich nun für das eigene Verhalten schämt (vgl. ebd.). Beschämung wiederum geschieht durch das Umfeld (Eltern, Peers, Lehrkräfte, …), indem eine Person „lächerlich gemacht, verhöhnt, […] ausgegrenzt etc. wird“ (ebd.). Viele Autoren sprechen von der natürlichen Scham, wenn eine Person registriert, „dass sie vor den Augen anderer – bezogen auf wichtige soziale Standards – nicht genügt und die anderen darum wissen“ (Wertenbruch & Röttger-Rössler 2011: 7). Wofür und wie intensiv sich die Person schämt, ist individuell und auch kulturell unterschiedlich. Jedoch kann festgehalten werden, dass körperliche Merkmale wie bspw. Körpergewicht, persönliche Eigenschaften aber auch die (Nicht-)Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe als Schamanlass kategorisiert werden können in 1. physische Scham bzw. Körperscham, 2. psychische Scham und 3. soziale Scham (vgl. Wiesche 2017: 21 ff.; zu Körperscham siehe auch Kämmerer 2001: 304 f. und Bohn 2015: 21).

Die Beschämung hat die Intention, das als unangemessen empfundene Verhalten bewusst öffentlich zu machen und die Schamgefühle der schamempfindenden Person vorsätzlich zu verstärken (vgl. Kohler, Bez & Hommel 2020: 8). Jemanden aufgrund eines Fehlers, einer Schwäche oder einer nicht erfüllten Forderung zu beschämen, auszulachen, auszugrenzen, zu kränken oder zu demütigen, kann als wirkungsvolles Machtmittel benutzt werden, um den eigenen sozialen Anschluss und die eigene Zugehörigkeit zu sichern (vgl. ebd.). „Wer andere beschämt, hat die Macht, die Norm zu bestimmen und das Verhalten anderer bzw. andere Personen zu bewerten und abzuwerten“ (ebd.).

Schlussfolgernd kann also konstatiert werden, dass nicht die natürliche Scham vermieden werden muss, sondern die Beschämung. Bei Haas (vgl. 2013: 20) ist die Rede von der destruktiven Scham, welche die Handlungsfähigkeit einschränkt, die es zu vermeiden gilt. Die Scham wird nicht nur als unerträglich empfunden, sondern macht die eigenen Defizite und die ungenügende Leistung sichtbar (vgl. ebd.). Die natürliche Scham bezeichnet Haas als prohibitive Scham. Sie kann als Wächterin der eigenen Grenzen gesehen werden. Sie verhindert somit negative intra- oder interpersonelle Folgen (vgl. ebd.: 21, 14).

3.2 Nähe und Abgrenzung zu anderen Gefühlen

Nachdem gezeigt wurde, dass das Phänomen Scham in unterschiedlichen Varianten auftreten kann, wird sich im Folgenden mit Emotionen beschäftigt, die in enger Verbindung zur Scham stehen. Haas (2013) spricht dabei von der Schamfamilie, welche „Verlegenheit, Befangenheit, Schüchternheit, Peinlichkeit, Kränkung, Gefühl der Minderwertigkeit oder Gedemütigtsein und Angst [einschließt]“ (Haas 2013: 33; siehe auch Wurmser 2017: 75 f.). Als Kontradiktion zum Schamaffekt nennt Marks (vgl. 2007a: 189 ff.) Stolz oder auch Gefühle des Angenommen- und Anerkanntseins. Angesichts der Fragestellung dieser Forschungsarbeit werden im Folgenden nicht alle verwandten Gefühle abgrenzend dargestellt. Es wurde sich für Schuld und Peinlichkeit/Verlegenheit entschieden, da diese am meisten mit dem Schamphänomen verwechselt werden.

Der Entwicklungspsychologe und Affektforscher Michael Lewis (1993) hat ein Modell der Scham in einer Ordnung der Emotionen eingeordnet. Dabei wird zwischen primären und sekundären Emotionen unterschieden. Zum ersteren gehören beispielsweise Freude, Traurigkeit, Ärger, Ekel, Interesse und Furcht. Zum letzteren Scham, Schuld und Stolz, da diese – vor allem Scham – als selbstbezogene Emotionen klassifiziert werden können (vgl. Lewis 1993: 32 f.). Diese Einteilung ist also mit der Vorstellung zum Aufbau von Bewusstsein verknüpft. Für eine Kategorisierung reicht es demnach nicht aus, sich nur anzuschauen, welche Emotionen im Leben als erstes eintreten. Die sekundären Emotionen nehmen auf das Selbst Bezug im Kontrast zu den früher eintretenden Gefühlen. Diese Selbstbezogenheit zeigt sich dann im emotionalen Erleben. Aus diesem Grund ist es auch erst ab dem zweiten Lebensjahr möglich, Scham zu empfinden, da die Fähigkeit zur Selbst-Reflexivität vorhanden sein muss3 (vgl. Lewis 1995: 120 ff.; siehe auch Seidler 2020: 103; Marks 2019: 60; Brumlik 2012). Lewis (vgl. 1995: 93 ff.) entwickelte aus diesem Kontext heraus das kognitive attributionstheoretische Strukturmodell, welches die Relationen der ichbewussten Emotionen Scham, Schuld, Hybris (Hochmut) und Stolz verdeutlicht. Die drei Subkategorien A) Normen und Regeln, B) Bewertung und C) Selbst-Attribuierung „stehen für kognitive Prozesse, die als Reiz für diese kognitiven Emotionen dienen“ (ebd.: 93).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Attributionstheoretisches Strukturmodell (Lewis 1995: 93)

Um Scham von Schuld und Stolz zu differenzieren und eine Vermischung der Begriffe zu vermeiden, kann dieses Modell besonders gut herangezogen werden. Dem Modell zufolge kommt es zu Scham, wenn ein Mensch sein Verhalten anhand seiner Normen als Misserfolg bewertet und sein Selbst global bewertet (vgl. ebd.). Eine Person kann sich beispielsweise dafür schämen, schlecht bei einem Test abgeschnitten zu haben, da sie die Fragen zu schwierig fand, während andere Mitschüler*innen den Test als sehr einfach beschreiben. Der Unterschied zur Schuld liegt darin, dass die Schuldigen das Tun bewerten. Beim Erfolg ist auch eine Parallele zwischen Scham und Schuld zu finden: Wenn das eigene Verhalten als Erfolg bewertet wird und eine spezifische Attribuierung vorgenommen wird, ist die Rede von Stolz, denn dann bedeutet dies für die Person, dass sie aufgrund ihrer Bemühungen Erfolg hatte. Hybris (Hochmut) ist bei einer globalen Attribuierung die Folge und somit das Gegenstück von Scham (vgl. ebd.). Die Person würde ihren Erfolg der eigenen Fähigkeit zuschreiben. Lehrkräfte, welche über dieses Wissen verfügen, können mithilfe subtiler Kommunikation Hilfeleistungen begleiten und somit die Selbstwirksamkeit von Schüler*innen fördern.

Abschließend lässt sich festhalten, dass „Scham […] das Ergebnis komplexer kognitiver Aktivitäten [ist]: Der Bewertung des Tuns eines Menschen anhand seiner Normen, Regeln und Ziele sowie seiner globalen Bewertungen des eigenen Selbst“ (ebd.: 107).

Wie bereits im obigen Kapiteln erläutert, ist Scham ein schmerzvoller Prozess, bei dem der/die Sich-Schämende schlimmstenfalls sterben, verschwinden und nicht mehr existieren möchte (vgl. Lewis 1993: 12; siehe auch Holodynski & Oerter 2008: 556 f.). Hinzu kommt außerdem noch die die Unfähigkeit, zu sprechen oder mit dem vorherigen Verhalten fortzuführen (vgl. Lewis 1995: 107). Physische Reaktionen der Scham sind ebenfalls akut und können unter anderem die Erhöhung der Körpertemperatur, das Erröten, die Beschleunigung des Herzschlages, Muskelanspannung oder die Veränderung in der Atemfrequenz beinhalten, um hier nur ein paar körperliche Auswirkungen zu nennen4 (vgl. Edelmann 1987: 68 f.). Seidler (vgl. 2020: 24) nennt weitere Kennzeichen wie die Veränderung der Stimme in der Lautstärke und Tonqualität und Veränderungen in der Mimik. So stellt er fest, dass sich-schämende Personen häufig lachen oder sich selbst berühren (vgl. ebd.). Eine Erklärung könnte hierfür auch das Streben nach Verstecken sein. Jedoch muss hier angemerkt werden, dass diese Ergebnisse in künstlich hergestellten Situationen gewonnen wurden (vgl. ebd.: 25). Seidler spricht von den „reflektorischen Gesten“ (ebd.), da der/die Sich-Schämende vermutlich einen Kontakt zu sich selbst herstellt durch die Berührung im Gesicht oder aber auch, wenn beide Hände ins Gesicht gehalten werden. Dies verdeutlicht auch nochmal die Tendenz, die Situation verlassen zu wollen. „Das Schamsubjekt ist ‚ganz bei sich‘ und gleichzeitig ‚außer sich‘“ (ebd.: 25 f.). Die Person hat die Intention, der Situation zu entkommen und dies zeigt sich wiederum in der Gestik und Mimik und dabei kann die Selbst-Bezogenheit des Phänomens beobachtet werden (vgl. ebd.: 26).

Schuld

Nachdem sich nun die phänomenologische Wirkungsweise von Scham angeschaut wurde, wird es nun auch nochmal um eine genauere Betrachtung der Schuld gehen. Autoren wie Tiedemann (2010; 2013), Wurmser (2019), Marks (2016; 2019) und auch Seidler (2020) betonen die Notwendigkeit der Abgrenzung, da diese oft verwechselt werden und auch ineinander übergehen können. Schuldgefühle treten dann auf, wenn die Person von moralischen Normen abweicht beziehungsweise diese übertritt. Jedoch liegt der wesentliche Unterschied zur Scham darin, dass der Fokus auf der Bewertung der eigenen Handlung oder deren Unterlassung liegt (vgl. Roos 2009: 654). „Das falsche Tun ist die Quelle und Ziel der Beschuldigung“ (ebd.). Folgender Satz würde ein Sich-Schuldiger sagen: „I did that horrible thing“ (Tangney & Dearing 2002: 25). Im Gegensatz dazu würde ein Sich-Schämender sagen: „ I did that horrible thing“ (ebd.). Der Fokus liegt bei der Schuld also auf der Handlung, welche im Widerspruch mit internen moralischen Werten steht (vgl. Roos 2009: 655). Signifikant dabei ist auch die „Gewissheit, dass man anders hätte handeln müssen“ (ebd.; siehe auch Holodynski & Oerter 2008: 556 f.). Dieses Gefühl kann zwar auch sehr quälend sein und auch das Selbstwertgefühl herabsetzen, doch es sind keine substanziellen Elemente wie bei der Scham zu finden (vgl. ebd.). Ein weiteres Kennzeichen von Schuld ist, dass anderen durch die eigenen Handlungen oder Unterlassungen ein Schaden zugefügt wurde (vgl. Schäfer & Thompson 2009: 19). Um Scham und Schuld zu unterscheiden, kann sich also gefragt werden, ob es Opfer gibt. Wenn diese verletzt sind oder leiden, können sich die Schuldgefühle noch verstärken (vgl. Roos 2009: 655). Mögliche Reaktionen bei Schuldgefühlen sind Ausreden finden oder sich rechtfertigen. Es wird die Intentionalität der Handlungen, die Verursachung oder die Vorhersehbarkeit bestritten (vgl. ebd.). Alternative Handlungen sind die Abgabe der eigenen Verantwortung an Dritte oder die Priorisierung von übergeordneten Zielen und Werten (vgl. ebd.). Auch Marks (vgl. 2007a: 59) betont, dass Scham ein Gefühl ist, Schuld dagegen eine Tatsache. Die Kontrollinstanz der Scham ist das Bild, das eine Person hat und welches sie auch nach außen tragen möchte. Die emotionale Sanktion ist damit der Ehrverlust (vgl. Bastian & Hilgers 1990: 1108). Abschließend kann also festgehalten werden, dass bei Schuld eine individuelle Verantwortung gesucht wird, dass sich Schuldgefühle aus der Schädigung Dritter ergeben und das Selbstverhältnis eher ausgeblendet wird (vgl. Schäfer & Thompson 2009: 19). Cyrulnik (2018) weist auch nochmal auf die inneren Prozesse der Schuld hin:

„Der Schuldige ist sich selbst feindlich gesinnt, weil er glaubt, eine Verfehlung, eine Schuld auf sich geladen zu haben […]. Der Beschämte sagt eher: ‚Ich fühle mich herabgesetzt, […] wenn er/sie mich anschaut‘“ (Cyrulnik 2018: 72 f.).

Zuallerletzt ist auch noch ein temporärer Unterschied zwischen Schuld- und Schamgefühlen zu finden. Schuldgefühle beziehen sich zumeist auf eine begrenzte Situation und es kann eventuell ‚wieder gut gemacht‘ werden. Das Individuum kann „Strategien der seelischen Erlösung, der Sühne und der Selbstbestrafung [entwickeln]“ (Cyrulnik 2018: 72). Doch bei dem Schamaffekt stellt sich die ganze Person in Frage und es erfolgt keine „Entschämung“ (Marks 2007a: 59). Das Gefühl, herabgesetzt worden zu sein, begünstigt eher Ausweichverhalten, Abkapselung oder verzweifelte Wut (vgl. Cyrulnik 2018: 72).

Peinlichkeit und Verlegenheit

Scham ist auch eng verbunden mit den Emotionen Peinlichkeit und Verlegenheit. Das Vorhandensein eines Fehlverhaltens ist die Voraussetzung für das Auftreten von Peinlichkeit (vgl. Kienbaum & Schuhrke 2010: 208). Scham, Verlegenheit, Peinlichkeit treten dann auf, wenn „ein Fehlverhalten von mindestens einer als wichtig angesehene Person gesehen wird“ (Haas 2013: 44; siehe auch Bohn 2015: 19). Andere wissen von der peinlichen Handlung/dem Normverstoß oder haben es sogar beobachtet (vgl. Bohn 2015: 19). Auch bei Peinlichkeitsgefühlen wollen die Individuen „ihr Selbstbild kontrollieren und den Verlust von sozialer Anerkennung vermeiden“ (Roos 2009: 653). Ähnlich wie bei Scham entsteht hier eine Diskrepanz zwischen dem erwartenden Verhalten und dem realen Verhalten. Um peinliche Situationen bestimmen zu können, spielen zwei Aspekte eine Rolle: Die Selbstwertrelevanz und die Öffentlichkeit. Jedoch ist zu betonen, dass Peinlichkeitsgefühle keine weitreichenden Konsequenzen für das Selbstkonzept haben (vgl. ebd.). Die Selbstdarstellungsprobleme beziehen sich hauptsächlich auf Situationen, in denen Peinlichkeitsgefühle auftreten und es wird nicht – wie bei der Scham – die Person im Ganzen abgewertet (vgl. ebd.; siehe auch Neckel 1991: 109). Der Aspekt der Öffentlichkeit beinhaltet die Voraussetzung für das Entstehen von Peinlichkeit, dass andere soziale Kontakte anwesend sein müssen, um das gezeigte Verhalten zu bewerten. Verhalten, welches Peinlichkeit hervorrufen kann, könnte beispielsweise die Verletzung von Konventionen, schlechte Manieren oder ein Verstoß gegen gängige gesellschaftliche Umgangsformen sein (vgl. Roos 2009: 653; siehe auch Landweer 1999: 43, 51). Die Fremdbewertung der anwesenden Dritten muss nicht verbal geäußert werden, sondern kann auch nur in der Vorstellung der Person vorhanden sein. Ein weiteres Unterscheidungskriterium ist außerdem, dass das Verhalten – zumindest teilweise – nicht intentional/absichtlich war. Patzer, Ausrutscher, Versehen können als Musterbeispiele für peinliche Situationen gesehen werden (vgl. Roos 2009: 653). Außerdem ist die Schilderung peinlicher Situationen auch einfacher und das Gefühl wird mit einem zeitlichen Abstand als nicht mehr ganz so einnehmend wahrgenommen, wohingegen die Erinnerung an schambehaftete Situationen auch noch Jahre später schmerzvoll sein kann (vgl. Bohn 2015: 14). Phänomenologisch wirkt Peinlichkeit ähnlich – wenn auch nicht in so einem extremen Ausmaß – wie die Scham. Die betroffene Person hat ebenfalls das Bedürfnis, zu verschwinden, möchte sich gerne ablenken oder sie versucht, die Situationen zu neutralisieren (beispielsweise durch Belächeln) (vgl. Roos 2009: 653). Andere mögliche Reaktionen sind Entschuldigungen oder „Rechtfertigungen für die missglückte Selbstdarstellung“ (ebd.). Weswegen Peinlichkeits- und Schamgefühle oftmals verwechselt werden, liegt auch an den ähnlichen physischen Reaktionen. Bei beiden Affekten kann das Erröten als erstes Anzeichen beobachtet werden. Jedoch ist dies auch bei den Emotionen Stolz oder Freude zu sehen (vgl. ebd.). Allerdings ist das Peinlichkeitsgefühl nicht zwangsläufig mit einem Senken des Blickes verbunden, was wiederum bei der Scham häufig vorkommt (vgl. Landweer 1999: 43). Zuallerletzt können Peinlichkeitsgefühle auch stellvertretend erlebt werden, wenn die Person, welche sich scheinbar peinlich verhält, eine enge Bezugsperson ist oder diese als Identifikationsfigur wahrgenommen wird (vgl. Roos 2009: 653; siehe auch Landweer 1999: 43). Schäfer & Thompson (vgl. 2009: 24) stellen außerdem heraus, dass vermeintliche Schamsituationen auch in Peinlichkeit transformiert werden können, damit der Anschein erweckt wird, „man könne mit der Scham souverän umgehen“ (ebd.). Dies zeigt auch, warum viele Autoren bei der Scham vom ‚heimlichen Gefühl’ sprechen (vgl. Neckel 2009: 117; siehe auch Neckel 1991; Marks 2005: 6; Wurmser 1997). Die Scham soll kontrolliert und versteckt werden.

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass sich das Peinlichkeitsgefühl weniger intensiv und erschütternd anfühlt als die Scham. Die Person bleibt handlungsfähig. Bohn (vgl. 2015: 15) nennt das Beispiel des Nationalsozialismus, um den Unterschied zwischen Scham und Peinlichkeit zu verdeutlichen. Es wird eine tiefe Scham empfunden, aber keine Peinlichkeit über die Vergangenheit. Dass Peinlichkeit sozusagen eine Vorstufe der Scham ist, lässt sich auch dadurch belegen, dass ein peinliches Gefühl schnell in Schamgefühle übergehen kann, „wohingegen tiefe Scham sich kaum mehr in die mildere Peinlichkeit verwandeln kann“ (ebd.: 16). Durch eine Situationsveränderung kann peinliches Gefühl also schnell aufgelöst werden, da der Fehler in der Situation lokalisiert ist und kein absolutes, kritisches Urteil über das Schamsubjekt erfolgt (vgl. Taylor 1985: 69 ff.). Das Gefühl der Verlegenheit ist noch schwächer in der Wahrnehmung als die Peinlichkeit. Verlegenheit kann schon allein durch das Gefühl der „bloße[n], oft sogar positive[n] Aufmerksamkeit anderer auf einen selbst ausgelöst [werden]“ (Landweer 1999: 43). Verlegenheit „bezieht sich auf die bewusste Wahrnehmung der Bedeutung einer Situation, eines Erlebens und der dabei vorkommende, vorhandene oder eventuelle auch nur vorgestellte Interaktionspartner“ (Hilgers 2012: 25).

Verlegenheit kann also auch als unangenehm beschrieben werden, aber es ist zeitlich begrenzt und nicht annähernd so schmerzhaft wie die Scham. Andere Personen bewusst in Verlegenheit zu bringen, kann jedoch auch eine Technik sein, um die eigene Macht zu stärken (vgl. Landweer 1999: 203). Auch subtile Formen der Beschämung macht „das Machtverhältnis zwischen sozialen Gruppen und Hierarchien (Über- und Unterlegenheit) sichtbar […]“ (Hafeneger 2013: 61). Aus diesem Grund ist es forschungsrelevant, sich das Ausagieren von Macht in unterrichtlichen Praktiken genauer anzusehen.

3.3 Formen und Funktionen von Scham

Im Folgenden wird sich genauer mit Schamformen und deren Funktionen beschäftigt, da im empirischen Teil dieser Arbeit nach Erzeugung von potentiellen Beschämungssituationen gefragt wird. Um jedoch festzustellen, ab wann eine Situation Beschämungspotential aufweist, muss sich mit den verschiedenen Positionen zum Entstehungsprozess beschäftigt werden. Für die Interpretation der (Re-)Adressierungen in den Schüler*innen-Lehrer*innen-Interaktion hinsichtlich des Umgangs mit potentiellen Beschämungssituationen, ist es erforderlich, sich mit typischen Schamreaktionen zu befassen. Es ist denkbar, dass keine Typisierung von Schamreaktionen vorgenommen werden kann anhand der Videodaten, doch das entspricht auch nicht der Forschungsintention.

3.3.1 Schamauslöser

Schamauslösende Situationen können sehr vielfältig sein und der begrenzte Umfang dieser Masterarbeit lässt es nicht zu, alle schamverursachenden Situationen zu thematisieren. Es wurde sich für einige Auslöser entschieden, welche die Fülle an Möglichkeiten verdeutlichen sollen. In der Fachliteratur gibt es Versuche, Schamanlässe zu kategorisieren. Einer davon ist von dem Psychoanalytiker Micha Hilgers, welcher acht verschiedene Schamanlässe voneinander differenziert hat. Der Sozialwissenschaftler Stephan Marks ergänzt dazu noch zwei weitere Schamanlässe. Im Folgenden werden diese insgesamt zehn möglichen schamverursachenden Situationen vorgestellt, um einen breiten Überblick dafür zu bekommen, in welchen Kontexten die Wahrnehmung von Ungleichheit verstärkt wird (vgl. Neckel 1991: 21).

1. Existenzielle Scham5

Dieser Schamaffekt kann auftreten, wenn

a) die betroffene Person das Gefühl hat, „grundsätzlich unerwünscht oder mit einem Makel behaftet zu sein“ (Hilgers 2012: 26). Hierzu würde auch die bereits genannte Körperscham zählen, wenn die eigene Körperlichkeit „ grundsätzlich negativ oder makelbehaftet6 erlebt wird“ (ebd.) oder wenn

b) die betroffene Person das Gefühl hat, nicht wahrgenommen zu werden (vgl. ebd.).

2. Kompetenzscham [7]

Diese entsteht bei „abbrechenden Kompetenzerfahrungen und (öffentlich sichtbaren) Misserfolgen oder Kontrollverlusten der Ich-Funktionen (z.B. bei Erwachsenen Weinen, Schreien)“ (Hilgers 2012: 27). Kompetenzscham ist besonders hoch, wenn die Vergleichsgruppe (beispielsweise eine Klassengemeinschaft) mehr Erfolg hat.

3. Intimitätsscham

Diese Scham tritt auf, wenn die eigenen Selbst- oder Intimitätsgrenzen verletzt werden (beispielsweise durch Übergriffe oder das ungewollte Sichtbarwerden der eigenen Körperlichkeit, welche die Person lieber verborgen hätte). Der Unterschied zur existenziellen Scham besteht darin, dass der eigene Körper nicht grundsätzlich negativ bewertet wird, sondern nur in der spezifischen Situation nicht gezeigt werden soll (vgl. ebd.; siehe auch Tiedemann 2013: 78). Scham wird oft als „Wächterin des intimen Raumes“ (Prettentahler 2020: 230) bezeichnet, da sie „Impulse [auslöst], das Innere, Verborgene, das ganz Persönliche […] zu schützen“ (ebd.; siehe auch Brumlik 2012: 161 f.; Baer & Frick-Baer 2008).

4. Schande

Diese Scham tritt auf, wenn eine „aktive Demütigung von außen erlebt wird (z.B. Folter)“ (Hilgers 2012: 27). Der Verlust der eigenen Würde oder einer (Groß-) Gruppe geht damit einher (religiöse Gemeinschaft, Ethnie oder soziale Schicht). Die Integrität ist beschädigt (vgl. ebd.). An dieser Stelle kann wiederholt der Unterschied zwischen Scham und Beschämung verdeutlicht werden: „Scham ist [die] Wahrnehmung von Ungleichheit, Beschämung eine Machtausübung, die Ungleichheit produziert“ (Neckel 1991: 21).

5. Idealitätsscham

Diese tritt auf, wenn

a) eine Diskrepanz zwischen dem Selbst und dem Ideal entsteht oder wenn

b) eine Person schuldhaft gehandelt hat. Diese Person empfindet dann auch Schuldgefühle aber auch dafür, dass sie sich allgemein schuldhaft verhalten hat. Es entsteht eine „Diskrepanz zwischen Ich-Ideal und Selbst“ (ebd.).

6. Abhängigkeitsscham

Diese Scham kann auftreten, wenn Personen aus gewünschten Beziehungen herausfallen oder wenn die eigene Abhängigkeit in Beziehung zu anderen sichtbar wird. Beispielsweise kann die unerwiderte Liebe oder die „empfundene Abhängigkeit von subjektiv bedeutsamen Personen“ (ebd.) als Schamanlass gelten.

7. Ödipale Scham

Hilgers (2012) beschreibt diese Scham als „das Gefühl, ausgeschlossener Dritter, zu klein oder zu minderwertig zu sein, nicht dazuzugehören oder aktiv ausgeschlossen zu werden“ (ebd.: 28).

8. Scham-Schuld-Dilemmata

Dies tritt auf, wenn „widersprüchliche Über-Ich-Forderungen […] zu einem unlösbaren intrasystemischen Konflikt [führen], bei dem entweder Schuld oder Scham gefühlt wird“ (ebd.). Als Beispiel nennt Hilgers (vgl. 2012: 28) hier Abschlussprüfungen. Wenn die Person nicht besteht, kann dies Scham gegenüber den eigenen Ansprüchen auslösen. Beim Bestehen kann jedoch Schuld gegenüber Eltern ausgelöst werden, weil diese aus einfachen Verhältnisse stammen und sich gegenüber Akademikern unterlegen fühlen (vgl. ebd.). Eine mögliche Ablösung von den Eltern durch das Bestehen der Prüfung kann Trennungsschuld herbeiführen (vgl. ebd.).

Hilgers bezieht sich bei der Einteilung der Schamaffekte auf die eigene Person. Stephan Marks weist darauf hin, dass sich Personen auch für andere schämen können und fügt noch zwei Schamgruppen hinzu:

9. Gruppenscham

Jene tritt auf, wenn sich Menschen für eine oder mehrere Personen aus ihrem Umfeld schämen (vgl. Marks 2019: 26). Beispiel: Eine Lehrerin schämt sich, weil ihre Schüler*innen so laut sind beim Schulgottesdienst.

10. Empathische Scham

Diese tritt auf, wenn sich Menschen mit anderen schämen (vgl. ebd.: 27). Beispiel: Eine Lehrkraft beschämt einzelne Schüler*innen vor der ganzen Klasse und andere Klassenkamerad*innen leiden mit. Das Teilhaben an einer Schamszene löst gleichfalls Scham aus (vgl. Bastian & Hilgers 1990: 1108).

Auch Wurmser (vgl. 2017: 46) stellt fest, dass schamverursachende Situationen oftmals durch Kontrollverlust oder Versagen gekennzeichnet sind. Beispiele dafür wären soziale Schwäche, Armut, Abhängigkeit von anderen, Annahmen von Almosen oder den Ruf eines Verlierers (vgl. ebd.: 46 f.). Weiter heißt es auch: „man schämt sich für einen sichtbaren, auffallenden Mangel in seinem physischen oder sozialen Bild, wie Stottern, eine körperliche Entstellung, Häßlichkeit [sic!], die Zugehörigkeit zu einer Minderheit oder einer Ausgestoßenenfamilie […]“ (ebd.: 46).

Er weist darauf hin, dass Individuen auch mit schamauslösenden Charakterzügen ausgestattet sein können. Mängel im Charakter oder im Benehmen spiegeln Schwäche wider. Wenn daraufhin die Akzeptanz der relevanten Anderen wegbleibt, können menschliche Merkmale zu Scham führen (Beispiel: ‚der Schwächling‘, ‚Feigheit‘, ‚gefühlsbetont‘, …) (vgl. ebd.: 47).

Wurmser eröffnet außerdem noch eine weitere Schamgruppe: Die Schamangst . Das ist die Angst vor bevorstehenden Bloßstellungen (vgl. ebd.: 74 f.). Diese Angst tritt in pädagogischen Kontexten am häufigsten auf (vgl. Hafeneger 2013: 59). Der eigentliche Schamaffekt beinhaltet den notwendigen Bezug zu etwas bereits Eingetretenem. Die Bloßstellung, die Demütigung oder das Sichtbarwerden einer Schwäche ist bereits geschehen (vgl. Wurmser 2017: 75).

Relevant für die vorliegende Forschungsarbeit kann die leistungsbezogene Scham sein, da dies ein wiederkehrender Aspekt im Kontext Schule und Unterricht ist. Hier spielt auch das attributionstheoretische Strukturmodell von Lewis (1995) eine Rolle, denn Erfolge beim Leistungshandeln sind oft verbunden mit Stolz, Misserfolge mit Scham. Stolz und Scham können also in Leistungssituationen auftreten und entscheiden darüber, „ob eine Person sich einer Herausforderung stellt oder vor ihr zurückschreckt“ (Haas 2013: 48). Lewis würde also gegen schamauslösende Situationen argumentieren, denn laut ihm wird Scham nur durch die Interpretation einer Situation hervorgerufen (vgl. Lewis 1995: 107). Auch die Motivationsforscher*innen Heinz und Jutta Heckhausen (vgl. 2018: 148 f.) identifizieren Scham und Stolz als einen der wichtigsten positiven oder negativen Anreize beim Lernen. Sie thematisieren, dass Schüler*innen sich schampräventiv verhalten können, indem sie beispielsweise in Leistungssituationen häufig extrem leichte Aufgaben wählen, damit sie keinen Misserfolg erleiden oder extrem schwierige Aufgaben, damit sie extern attribuieren können: ‚Diese Aufgabe war zu schwierig, die hätte niemand geschafft‘ (vgl. ebd.).

3.3.2 Schamanlässe und Beschämungsarten/-techniken

Wie bereits erläutert, ist die soziale Schwäche der häufigste Mangel, weswegen sich eine Person vor relevanten oder verinnerlichten Anderen schämt (vgl. Hilgers 2006b: 46 f.). „Menschen schämen sich für ihr Aussehen [oder] für tatsächliche oder aber nur subjektiv empfundene körperliche Makel“ (Bohn 2009: 17). Andere Schamanlässe können sich auf die soziale Herkunft8, Arbeitslosigkeit, Armut oder auch das eigene Altern beziehen (vgl. ebd.). Die Gründe für Schamanlässe sind nicht immer klar zu erkennen und nicht jede Person versteht die Gründe der Anderen, doch es ist unerlässlich, die Schamgrenzen von anderen zu respektieren. Wie intensiv eine Person das Schamgefühl wahrnimmt, kann mit der eigenen Schambiografie korrelieren (vgl. Bohn 2015: 17). Außerdem plädiert Bohn (vgl. ebd.: 18) dafür, die eigene Schamempfänglichkeit zu ergründen. Dabei hilft es, bewusst zu reflektieren, welche Beschämungsthemen und -techniken (nicht nur in pädagogischen Settings) auftreten können. Die Beschämungsarten beziehen sich oft auf die gleichen Themen. So nennt Daniel Hell (vgl. 2018: 61) folgende Beispiele:

- Erniedrigung , um andere Personen herabzusetzen oder zu entwerten;
- Beziehungsabbrüche durch einen Ausschluss aus der Gruppe. Dies wirkt beschämender, je mehr die betroffene Person ein Gruppenmitglied sein möchte;
- Bloßstellungen , um Privates und Intimes öffentlich zu machen (geschieht oft durch Gerüchte) (vgl. ebd.: 62);
- „ Übergriffe [als] psychische und körperliche Grenzüberschreitungen“ (ebd.). Diese haben traumatische Folgen.

Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass Beschämungen nicht zwangsläufig Schamgefühle zur Folge haben (vgl. ebd.). Beschämungen lösen meistens dann Scham aus, „wenn jemand die beschämende Vorhaltung als teilweise berechtigt einschätzt oder zur Beschämung selbst beigetragen hat und sich nun selbst in Frage stellt“ (ebd.: 63). Beschämungen beziehen sich immer auf sechs verschiedene Themen, welcher der Kinder- und Jugendpsychiater Günter (2008) zusammenfasste. In diesem Forschungskontext sind nur zwei Themenbereiche relevant:

1) Schwäche, Versagen in Rivalitätssituationen (schulische, sportliche Erfolge, sexuelle Kompetenz) (vgl. Günter 2008: 889) und
2) das Gefühl der eigenen Defekthaftigkeit und der mangelhaften geistigen und physischen Ausstattung (Ohnmachts- und Wutgefühle, Entidealisierung von Bezugspersonen) (vgl. ebd.: 891);

Um von einer gezielten Schamproduktion zu sprechen, muss die Beschämung von einem äußeren Verursacher „aktiv, bewusst und gezielt hergestellt werden“ (Hafeneger 2013: 73). Dies kann durch den strafenden Blick, einen verächtlichen Ausdruck (beispielsweise Stirnrunzeln), ein demütigendes Wort, den spöttischen Ton, das hämische Kichern oder durch eine zurückweisende Geste (Naserümpfen, Herausstrecken der Zunge) geschehen (vgl. Wurmser 2017: 141). Diese Verhaltensweisen können Identitätskrisen herausfordern und haben Bloßstellung und Erniedrigung als Ziel (vgl. Hafeneger 2013: 73). Aus diesem Grund „stellen Beschämungsakte gewollte Verletzungen dar, deren Opfer das Schamsubjekt in der Scham wird“ (Lietzmann 2003: 173).

Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass auf der phänomenologischen Seite und in allen pädagogischen Umgebungen

„Beschämungen hauptsächlich über sprachliche Äußerungen und/oder weniger verbalisierte – aber mimisch und gestenreich eindeutige – Verhaltensweisen mitgeteilt [werden], die sich […] als soziale Praktiken […] darstellen lassen“ (Hafeneger 2013: 73).

Vorstellbar wären im Kontext Schule verächtliche Bemerkungen über die (schlechten) Schulleistungen, den individuellen Merkmalen der Schüler*innen, deren Outfit, Verhaltensweisen oder deren Lebensstil (vgl. ebd.: 74). Durch abwertende und entwertende Äußerungen wird den Kindern/Jugendlichen gezeigt, dass sie nicht den Normen/Erwartungen entsprechen (vgl. ebd.).

Die Erziehungswissenschaftlerin Veronika Magyar-Haas (2012) hat sich ebenfalls umfangreich mit sozialen Beschämungstechniken beschäftigt und hat diese in vier Techniken zusammengefasst:

1. „Die Technik sozialer Abwertung im Sinne einer ‚Verweigerung einer achtbaren materiellen Existenz‘,
2. Die Strategie der Prüfung mit der Dokumentation des Unwissens ,
3. Die Technik der Degradierung und
4. Die Technik des Ausschlusses hinsichtlich sozialer, körperlicher oder kultureller Merkmale“ (Magyar-Haas 2012: 209).

Für die Forschungsfrage ist es nicht relevant, genau diese Techniken in dem Korpus zu finden und nicht alle hier aufgezählten Beschämungsarten und -anlässe müssen zwangsläufig auch zu Scham führen.

[...]


1 Subjektivation bezieht sich auf Arbeiten von Judith Butler (Theorie zur Performativität) und wird in dieser Forschungsarbeit in Anbetracht der thematischen Eingrenzung nur kurz erläutert.

2 Darunter fallen beispielsweise das Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung nach Erik H. Erikson (1902-1994) und Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung (1856-1939) (vgl. Freud 1923). Beide Theorien thematisieren Phasen, welches ein Individuum im Leben durchlaufen muss.

3 Haas (vgl. 2013: 45) verweist darauf, dass erste Anzeichen von Verlegenheitsreaktionen schon bei 1 ½-Jährigen zu beobachten sind. Dies ist jedoch keine ‚echte‘ Scham, da die Herausbildung des Ich-Bewusstseins noch nicht vollständig abgeschlossen ist und somit auch noch nicht die Fähigkeit zu selbstbewertenden Emotionen (vgl. Lewis 1995: 120 ff.). Der Psychotherapeut Daniel Hell (vgl. 2018: 55) geht sogar noch weiter und vermerkt, dass sich ‚echtes‘ Schamgefühl erst mit dem dritten und vierten Lebensjahr manifestiert.

4 Selbst Charles Darwin hat bereits 1872 festgestellt, dass das Erröten auf Gesicht, Hals und Brustbereich eine typische Schamreaktion ist. Außerdem kennzeichnet die Scham, dass der Blick vermieden wird (vgl. Darwin 1872: 320 f.).

5 Bei Tiedemann (2013) ist die Rede von der Urscham. Sie entsteht, „wenn ein Kind unwillkommen, abgelehnt oder in seiner Existenz verachtet wird“ (Tiedemann 2013: 79). Diese Schamform kann zu starken Minderwertigkeitsgefühlen beitragen.

6 Tiedemann (vgl. 2013: 78) spricht davon, dass Scham sich auf einen körperlichen Defekt oder eine Schwäche beziehen kann.

7 Ebenfalls zu finden bei Tiedemann (vgl. ebd.).

8 Zu Herkunft siehe auch Hilgers (2012: 236 ff.).

Ende der Leseprobe aus 111 Seiten

Details

Titel
Scham im Unterricht. Eine Adressierungsanalyse des Films "die Klasse" von Laurent Cantet
Hochschule
Universität Hildesheim (Stiftung)
Note
1,5
Autor
Jahr
2021
Seiten
111
Katalognummer
V1167157
ISBN (eBook)
9783346585455
ISBN (eBook)
9783346585455
ISBN (eBook)
9783346585455
ISBN (Buch)
9783346585462
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Adressierungsanalyse, Film, Die Klasse, Unterricht, Praktiken
Arbeit zitieren
Emma Hinz (Autor:in), 2021, Scham im Unterricht. Eine Adressierungsanalyse des Films "die Klasse" von Laurent Cantet, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1167157

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