Scheitern in der Moderne. Eine theoretische Annäherung an Émile Durkheims Theorie "Der Selbstmord"


Bachelorarbeit, 2021

49 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Begriff des Scheiterns – eine soziologische Annäherung

3. Emile Durkheim „Der Selbstmord“
3.1 Die vier Selbstmordarten nach Emile Durkheim
3.2 Der anomische Selbstmord und das absolute Scheitern

4. Gemeinsamkeiten der Durkheimschen Methode und dem absoluten Scheitern als sozialer Tatbestand Exkurs: Anzahl der Suizide in Deutschland zwischen 1980 bis 2019

5. Thesen des Scheiterns – Ein Forschungsausblick

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Zusammenfassung temporäres und absolutes Scheitern

Abbildung 2: Zusammenfassung der drei Kern-Selbstmordarten nach Emile Durkheim

Abbildung 3: Anzahl der Suizide in Deutschland zwischen 1980 und 2019

1. Einleitung

Die hier vorliegende Bachelorarbeit mit dem Titel „Scheitern in der modernen Gesellschaft.1 Eine theoretische Annäherung an Emile2 Durkheims Theorie „Der Selbstmord“.“ stellt den Begriff des Scheiterns als soziale Tatsache in den Mittelpunkt einer eingehenden Betrachtung. Die Arbeit folgt der erkenntnisleitenden Frage, was von Emile Durkheims angewendeter Methode zum anomischen Selbstmord für das absolute Scheitern als soziale Tatsache gelernt werden kann. Der Begriff des Scheiterns soll unter Rückgriff auf methodische Überlegungen Emilie Durkheims im Folgenden hermeneutisch aufgearbeitet und als soziologische Kategorie nutzbar gemacht werden. Mit dem Versuch einer soziologischen Definition ist so auch der Anspruch verbunden einen Beitrag zur soziologischen Theoriebildung zu leisten.

Der Begriff des Scheiterns ist ein zuweilen vielbeachteter und nicht selten verwendeter Terminus in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen. Theorien aus der Philosophie, den Wirtschaftswissenschaften oder der Psychologie beschäftigen sich mit dem Begriff des Scheiterns und den daraus resultierenden Folgen für ihr jeweiliges Untersuchungsobjekt. Kaum bis gar nicht beachtet ist der Begriff des Scheiterns hingegen in der Soziologie. Scheitern wird zwar häufig als Konsequenz oder Folge sozialen Handelns in den Fokus genommen (z.B. in der Rational-Choice-Theorie), jedoch weder erschöpfend definiert, noch in seiner soziologischen Bedeutung und Konsequenz explizit ausgeführt. Die Soziologie des Scheiterns, so kann zunächst konstatiert werden, ist demnach ein vernachlässigtes Thema, und dies sowohl makro- als auch mikrosoziologisch.

Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, die sich mit einer möglichen Definition des Begriffs Scheitern auseinandersetzt, scheint vor diesem Hintergrund von besonderer Relevanz. Der Umstand, dass eine Unternehmung oder eine soziale Handlung scheitern könnte, übt erheblichen Einfluss auf ihre Form und Realisierung (z.B. Veränderung der Handlung bis hin zu einem Unterlassen einer Handlung) aus. Daher stellt die Möglichkeit des Scheiterns einen wichtigen Grundstein sozialer Interaktionen dar. Eine soziologische Untersuchung des Begriffs des Scheiterns eröffnet möglicherweise nicht nur neue Erkenntnisperspektiven, sondern erweitert darüber hinaus auch das Verständnis von Interaktionen unter dem Einfluss der Möglichkeit eines Scheiterns.

Es ist auf den interessanten Umstand hinzuweisen, dass es in den letzten 20 Jahren durchaus Sozialwissenschaftler gegeben hat, die sich immer mal wieder an einer Soziologie des Scheiterns versucht, dabei allerdings keine besondere Aufmerksamkeit gefunden haben. Einer dieser Wissenschaftler ist Matthias Junge, der in verschiedenen Aufsätzen versucht hat, sich dem Begriff des Scheiterns soziologisch anzunähern. Hierfür grenzt Junge das Scheitern auf ein soziales Scheitern ein und bedient sich einer vergleichbaren Methode wie Emile Durkheim in seinen Arbeiten zum Selbstmord und zur Arbeitsteilung. Auch Junge versucht Scheitern als gesellschaftliches Phänomen zu begreifen. Wesentlicher Aspekt in seinen Arbeiten ist es, Scheitern nach seinen Konsequenzen in andauernde und an das Scheitern anschließende Handlungsfähigkeiten bzw. Handlungsunfähigkeiten zu verstehen. Er unterscheidet hierbei das temporäre Scheitern von einem absoluten Scheitern. Ersteres ist zeitlich begrenzt und ermöglicht dem Individuum nach dem Scheitern weiterhin handlungsfähig zu sein, bzw. Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen, wohingegen das absolute Scheitern zeitlich unbegrenzt zu verstehen ist und bei dem Individuum keine Folgehandlungen mehr zulässt. (Vgl. Junge 2004: 16f).

Junges Ansatz erscheint vielversprechend für eine eingehendere Untersuchung und eingrenzende Definition des Begriffs des Scheiterns. Die von ihm geschaffene Grundlage lässt das Scheitern als eine soziale Tatsache realistisch erscheinen. In Bezug auf das absolute Scheitern ist seine Betrachtung mit der von Durkheim verwendeten Methode in seiner Arbeit zum Selbstmord darüber hinaus sicher ein Mehrgewinn für die Soziologie. Dass ein kontinuierliches Scheitern des Individuums an den gesellschaftlichen Normen und Bedingungen letztlich in einem Suizid münden kann, erscheint logisch; dass gesellschaftliche Bedingungen bzw. Konstitutionsmerkmale einen Selbstmord begünstigen können, ebenso.

Emile Durkheim zählt zu den Klassikern der soziologischen Theorie. Seine grundlegenden Überlegungen zu gesellschaftlichen Konstitutionsmerkmalen werden bis heute als Grundlage diverser Theoriebildungen herangezogen.. Seine prominenteste Arbeit ist die der sozialen Arbeitsteilung, welche sich mit der Entwicklung moderner Gesellschaften beschäftigt und daher auch als wichtiger Bestandteil von Individualisierungstheorien verwendet wird. Fast ebenso bekannt ist seine Theorie zum Selbstmord. In dieser versucht Durkheim ein scheinbar individuelles Phänomen wie den Suizid als soziale Tatsache zu verstehen und die Sozialwissenschaften in ihrer Bedeutung zu belegen, sowie diese von der bis dato ungleich stärker etablierten Psychologie und Philosophie abzugrenzen. In seiner Analyse definiert Durkheim vier verschiedene Selbstmordtypen (egoistisch, altruistisch, anomisch und fatalistisch), deren Ursprünge nach Durkheim erstmals vorrangig in spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen und weniger in individualpsychologischen Determinierungen gesehen werden.

Der Selbstmord in der Moderne ist nach Durkheim der anomische Selbstmord, der durch maßloses Wollen und einer Nicht-Befriedigung von Bedürfnissen entsteht. Dieser anomische Selbstmord stellt auch die Grundlage der vorliegenden Betrachtung dar. Begründet ist die Wahl zum einen dadurch, dass der anomische Selbstmord in Zusammenhang mit beschleunigten sozialen Wandlungsprozessen in Zusammenhang gebracht werden kann, welche sich in der heutigen Zeit, u.a. bedingt durch Globalisierungsprozesse und rasanten technischen Fortschritt, in immer kürzerer Abfolge beobachten lassen. Zum anderen setzt der anomische Selbstmord einen Individualisierungsprozess voraus, was ihn für die vorliegende Untersuchung interessant macht.

Das absolute Scheitern, also ein Scheitern, welches das Individuum handlungsunfähig macht, am Beispiel des Selbstmordes zu betrachten und dieses Phänomen auf Gemeinsamkeiten mit dem anomischen Selbstmordtyp Durkheims zu untersuchen, erscheint vielversprechend. Den Nachweis, dass es sich beim Selbstmord um einen sozialen Tatbestand handelt, hat Durkheim mit seiner Arbeit bereits geliefert und somit ein vermeintlich individualpsychologisches Phänomen zu einem gesellschaftlichen Tatbestand, sprich zu einem untersuchbaren Gegenstand der Soziologie, gemacht. Das absolute Scheitern als scheinbar ebenfalls individuellen Tatbestand unter ähnlichen theoretischen Prämissen wie Durkheim zu betrachten und es als sozialen Tatbestand zu verstehen, ist Ziel dieser Arbeit.

Natürlich ist das Scheitern nicht nur ein Phänomen von Individuen. Scheitern können ebenso Unternehmungen, Konzerne oder ganze Staaten. Einen entsprechend erweiterten Bogen der Betrachtung unter Einbeziehung dieser Dimensionen kann die vorliegende Arbeit nicht spannen, da dies den gesetzten Rahmen sprengen würde. Auch auf eine intensive Betrachtung des Begriffs des Scheiterns im Lichte weiterer Geisteswissenschaften (z.B. Psychologie oder Erziehungswissenschaften) muss aus Gründen einer schnell ausufernden Komplexität verzichtet werden. Darüber hinaus soll diese Arbeit auch keine Einzelschicksale oder -motive eines individuellen Scheiterns untersuchen, sondern herausfinden, welche Elemente in einer modernen Gesellschaft einzelne Teilgruppen in ihrem Scheitern verbindet. Natürlich spielen gesellschaftliche Unterschiede auch in Bezug auf die Konsequenzen des Scheiterns eine nicht unwesentliche Rolle. Auch diese können jedoch allenfalls am Rande dieser Arbeit betrachtet werden. Ein aktueller Bezug auf die Anzahl der Suizide nach der Durkheimschen Typisierung kann in dieser Arbeit ebenfalls nicht vorgenommen werden, da zwar Zahlen zur Selbsttötung sowie die Todesursache erhoben werden, Gründe dafür aber nicht belegt sind und damit nur vage Vermutungen getroffen werden, die einer wissenschaftlichen Prüfung nicht standhalten könnten. Mögliche Gründe für Selbstmorde unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen mit der Durkheimschen Methode abzuleiten und zu überprüfen, würde einer eigenständigen Arbeit gleichkommen und kann von daher im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Auch auf Entfremdungstheorien kann nur am Rande eingegangen werden. Die Arbeit stellt vielmehr Individualisierungsprozesse in den Fokus, um absolutes Scheitern und den anomischen Selbstmord zu erläutern und zu begründen. Aus diesem Grund steht auch die moderne, sprich die heute demokratisch geprägte Gesellschaft westeuropäischen Zuschnitts im Zentrum der Betrachtung. Ein Rekurrieren auf den anomischen Selbstmord und den Begriff des absoluten Scheiterns setzt einen gewissen Mindeststandard an individueller Autonomie voraus, der vorrangig in demokratisch strukturierten und säkularisierten Gesellschaften anzutreffen ist und in stärker autoritär ausgerichteten Gesellschaftsformen nicht grundsätzlich vorausgesetzt werden kann. Die im folgenden dokumentierten Aussagen und Ergebnisse sind vor dem Hintergrund individualisierter, marktwirtschaftlich-kapitalistisch geprägter und demokratischer Gesellschaften westlicher Prägung zu interpretieren.

Um die eingangs definierte Forschungsfrage adäquat beantworten zu können, soll im folgenden Kapitel zunächst der Begriff des Scheiterns betrachtet und definiert werden. An dieses schließt sich die Theoriebetrachtung Emile Durkheims zum Selbstmord an, wobei diese im ersten Unterkapitel in ihren groben Zügen erläutert und im zweiten Unterkapitel der Zusammenhang zwischen dem anomischen Selbstmord und dem absoluten Scheitern beleuchtet werden soll. Die Beantwortung der Forschungsfrage und die damit zusammenhängende Anwendung der Durkheimschen Methode finden sich in Kapitel vier, welche mit Hilfe der Gegenwartsdiagnosen von Ulrich Beck („Risikogesellschaft“), Uwe Schimank („Entscheidungsgesellschaft“) und Peter Gross („Multioptionsgesellschaft“) untermauert werden sollen. Ein Exkurs zu den Selbstmordzahlen in Deutschland zwischen 1980 und 2019 soll eine exemplarische Interpretation vor dem Hintergrund der verwendeten Theorien skizzieren. Das fünfte Kapitel wird dann auf der Grundlage von Kapitel vier Thesen zum Scheitern in modernen Gesellschaften formulieren, aus denen sich zukünftige Untersuchungen ergeben könnten. Die Arbeit schließt mit dem Fazit, in welchem das Hergeleitete zusammengefasst und ein Forschungsausblick gegeben wird, in dem festgestellt wird, dass der Begriff des Scheiterns in Form der Durkheimschen Methode nicht nur gedacht, sondern auch als soziale Tatsache analysiert werden kann. Allerdings gilt es hierbei zu beachten, dass es sich um Idealtypen handelt, die in der Gesellschaft nicht exakt wiederzufinden sind. Anschlussuntersuchungen in theoretischer sowie empirischer Formen könnten die hier vorliegende Annäherung ergänzen und erscheinen vielversprechend.

2. Der Begriff des Scheiterns – eine soziologische Annäherung

Im alltäglichen Sprachgebrauch umschreibt der Begriff des Scheiterns zunächst einen Terminus mit - auf den ersten Blick - vielfältigen Bedeutungen. Zwischenmenschliche Beziehungen oder Ehen können scheitern, Bildungsbiographien, Unternehmungen und Konzerne scheitern oder sogar ganze Staaten scheinen scheitern zu können. Wenn wir vom Scheitern sprechen, meinen wir damit zumeist eine wie auch immer geartete Handlung, die uns nicht geglückt ist, von der wir jedoch zunächst dachten, sie könnte erfolgsversprechend sein. Auch der Wunsch nach Gruppenzugehörigkeit (z.B. zu der Gruppe der Akademiker, der Reichen, der Erfolgreichen etc.) kann ein Motiv für Bemühungen sein, an denen wir scheitern. Demnach ist die alltagssprachliche Definition zum Begriff des Scheiterns erst einmal recht allgemein gefasst und oberflächlich. Es handelt sich um ein wenig prägnantes Verb, das soviel bedeutet wie: „ein angestrebtes Ziel o. Ä. nicht [zu] erreichen, keinen Erfolg [zu] haben.“ (Duden 2021: Scheitern). Das Wort Scheitern stammt aus dem 17. Jahrhundert und leitet sich von dem Begriff „Scheit“ ab und beinhaltet demnach ein Element das in Teile zerfällt (Vgl. ebd.).

Beim Scheitern handelt es sich zunächst um einen Begriff, unter dem fast jeder meint zu wissen, was damit gemeint ist. Da davon ausgegangen werden kann, dass der Begriff jedoch individuell mit sehr unterschiedlichen Gegebenheiten in Verbindung gebracht wird, fällt eine verbindliche, bzw. allgemeingültige definitorische Ableitung vergleichsweise schwer. Ferner ist Scheitern ein Begriff, der zum einen eine Wertung in sich trägt und zum anderen situativ ist. Genau aus dieser Perspektive heraus ist der Begriff auf den ersten Blick auch kaum soziologisch denkbar und eher eine Begriffskategorie aus der Psychologie. Dennoch findet sich der Begriff des Scheiterns regelmäßig in den Wirtschafts- oder Politikwissenschaften wieder, was bedeutet, dass Scheitern auch in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen denkbar und als Kategorie eines Kollektivs anwendbar sein müsste. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann der Begriff „Scheitern“ dann auch in den Fokus einer soziologischen Betrachtung rücken, auch wenn dieser meist nur passiv, als negative Handlung bezeichnet wird (Vgl. Dombrowsky 1983: 969f).

Eine eingehendere Begriffsannäherung an den Terminus „Scheitern“ ist auf verschiedenen Ebenen denkbar. Die hier vorliegende theoretische Arbeit unternimmt den Versuch das Scheitern als ein gesellschaftliches Phänomen aufzugreifen, d.h. Scheitern soll als ein sozialer Tatbestand untersucht werden. Weiter konkretisiert, soll es u.a. um die Frage gehen, was für gesellschaftliche Prozesse und Eigenschaften Einfluss auf das Scheitern der ihr innewohnenden Individuen haben, bzw. was gemeinsame Faktoren von Gescheiterten sein könnten.

Ein erstes Problem einer solchen Untersuchung ist die Tatsache, dass Scheitern sowohl dem Individuum selbst, aber auch - von außen - der Gesellschaft zugeschrieben werden kann. Bei näherer Betrachtung ist aber eben genau diese Tatsache ein Hinweis darauf, dass es sich beim Scheitern um eine soziologische Kategorie handeln kann. Eine Zuschreibung von außen, die gleichzeitig dem Individuum innewohnt und nach der es sich verhält und sie reproduziert, kann als ein erster Anhaltspunkt dafür herangezogen werden, dass es sich beim Scheitern um eine soziale Tatsache handelt (Vgl. John / Langhof 2014: 5). Auch der Wandel im gesellschaftlichen Exkurs, wie ein Scheitern zu bewerten ist, ob nun mit Schande behaftet oder als Chance, unterstützt diese Vermutung.3 Der Wandel in der Begriffsdeutung geht zwischenzeitlich soweit, dass es mittlerweile so genannte „Fuck up Partys“ gibt, auf denen Gescheiterte ihr Scheitern einer breiten Masse zugänglich machen. Das Scheitern wird also aus einer Dunkelheit der Schande ins Licht der Gesellschaft gezogen und erfährt so zunehmend eine positivere Wahrnehmung. (Vgl. Breit 2018).

Für die folgenden Kapitel und als Grundlage der Betrachtung soll an dieser Stelle also der Versuch unternommen werden, den Begriff des Scheiterns als einen sozialen Tatbestand zu definieren. Für ein solches Unterfangen kann zunächst festgehalten werden, dass es bislang kaum soziologische Literatur gibt, die sich mit dem Begriff des Scheiterns eingehender auseinandersetzt. Scheitern wird lediglich mitgedacht und findet sich so in mittelbarer Form bereits bei Max Weber. Scheitern ist nach Weber als ein mögliches Ergebnis einer Handlung zu verstehen und wird im Rahmen handlungstheoretischer Überlegungen zwar mit einkalkuliert, wobei es im Kern jedoch vermieden werden soll. Konkret heißt das, dass eine Handlung nur unternommen wird, wenn sie für das handelnde Individuum erfolgversprechend scheint (Rational-Choice-Theorie), das Risiko des Scheiterns also geringer wahrgenommen wird als der gewünschte Erfolg (Vgl. Braun 2009: 400f). Scheitern kann also, zunächst vereinfacht ausgedrückt, als Gegenteil von Erfolg verstanden werden.

Da die Möglichkeit zu scheitern immer besteht, auch wenn das Risiko einer Handlung vorher abgeschätzt wurde, und sich aus dem Scheitern immer eine Konsequenz für das Individuum ergibt, wird der Begriff des Scheiterns in verschiedenen gesellschaftstheoretischen Betrachtungen nicht selten mitgedacht und findet sich bereits bei manch einem Klassiker der Soziologie. Für Georg Simmel z.B. scheitert ein Individuum an der Kulturentwicklung, wenn diese nicht mehr deckungsgleich mit der eigenen Entwicklung ist und auch nicht mehr übernommen werden kann. Dadurch kann sich das Individuum nicht mehr in die Gesellschaft integrieren. (Vgl. Simmel 2018: 723ff. Junge 2004: 18f). Für Bourdieu liegt das Scheitern u.a. darin begründet, dass ein Habituswechsel4 für das Individuum nicht mehr möglich ist (Vgl. Junge 2004: 22). Für Durkheim ist Scheitern eine Folge von Unverfügbarkeit. Diese ergibt sich aus den zunehmenden Möglichkeiten der Lebensgestaltung bei gleichzeitigem Wegfall von orientierungsstiftenden Wertvorstellungen. Das Individuum verliert sich in Wünschen und Bedürfnissen, die es sich nicht erfüllen kann. (Vgl. Durkheim 2014: 293f).5

Trotz möglicher, hier nur kursiv angesprochener Anknüpfungspunkte hat sich bisher, so scheint es, weder eine originäre Soziologie des Scheiterns etabliert, noch existiert eine Definition, die eine gesellschaftliche Dimension des Scheiterns näher in den Fokus rückt. Eine mögliche Definition des Scheiterns, die sich einer gesellschaftlichen Dimension zumindest nähert, kann mit Hilfe von Matthias Junge herangezogen werden. Grundsätzlich kann Scheitern als eine erfolglose Handlung verstanden werden, aus der sich eine: „[…] temporäre oder dauerhafte Handlungsunfähigkeit [.]“ (Junge 2004: 16) ergibt. Es handelt sich beim Scheitern also um eine Nebenfolge des Handelns, da das Scheitern selbst in der Regel nicht das Ziel einer Handlung darstellt. Das Ziel der Handlung wird also verfehlt. (Vgl. ebd.: 15). Es handelt sich um: „[…] ein Nichtgelingen, ein Nichtkönnen, ein Nichtvermögen, eine nicht aufgegangene Planung, Fehler, Hindernisse in der Handlungsaufführung, Probleme der Handlungsrealisierung, Schwierigkeiten.“ (Junge 2014: 11). Scheitern kann entstehen, wenn „[…] die Mittel unzureichend oder aber die Ziele nicht den Mitteln angepasst formuliert [.]“ (ebd.) werden.

Aus den hier wiedergegebenen Definitionsansätzen lässt sich bereits erahnen, dass es bestimmte soziale Bedingungen geben muss, die ein Scheitern erst möglich machen. In den Fokus der weiteren Betrachtung rückt hierbei der Begriff der Handlung, der von Max Weber in seinen verschiedenen Facetten definiert worden ist. Für das Scheitern als soziale Tatsache sind v.a. die Definitionen der sozialen Handlung und die des zweckrationalen Handelns interessant. Weber geht davon aus, dass eine soziale Handlung einen subjektiven Sinn beinhaltet und auf das Verhalten anderer bezogen ist. Verhalten ist nach Weber instinktiv besetzt. Dieses kann sowohl aktiv oder passiv vonstattengehen, d.h. auch ein bewusstes Unterlassen einer aktiven Handlung ist als soziale Handlung zu verstehen. (Vgl. Weber. 1984: 41f). Es bedarf zusätzlich einer Wechselseitigkeit. Eine Handlung kann nicht ohne eine Umwelt, die reagiert, erfolgen. Das reine Zur-Kenntnis-Nehmen der Handlung reicht dabei als Reaktion bereits aus. (Vgl. ebd.). Auf das Scheitern bezogen bedeutet dies, dass eine gescheiterte Handlung durch die Gesellschaft zur Kenntnis genommen wird, dieser Handlung durch die Gesellschaft ein Scheitern zugeschrieben wird oder die Gesellschaft gar, z.B. durch Sanktionen, direkt auf das Scheitern reagiert. Zweckrationales Handeln kann nach Weber als Scheiternvermeidung verstanden werden; es ist die Grundlage der Rational-Choice-Theorie, die davon ausgeht, dass einer Handlung immer eine Kosten-Nutzen-Kalkulation vorangeht (Vgl. Braun 2009: 402f. Weber 1984: 45). Scheitern kann also nur aus einer sozialen Handlung (aktiv wie passiv) heraus entstehen; letztere braucht ein Minimum an Erfolgsaussicht, um eben dieses Scheitern verhindern zu können.

Um den Begriff des Scheiterns präziser zu bestimmen, bzw. weiter einzugrenzen, ist es wichtig, diesen vom Misserfolg abzugrenzen. Nicht jede missglückte Handlung ist gleich als ein Scheitern zu verstehen. In der Theorie findet sich eine Abgrenzung bei Junge und Lechner. Die Autoren definieren ein Scheitern v.a. durch die Tatsache, dass eine Wiederholung nicht möglich ist. Das durch eine Handlung angestrebte Ziel wurde nicht erreicht und kann auch zukünftig nicht mehr erreicht werden. (Vgl. Junge 2004: 15; Lechner 2004: 33). In diesem Sinne wäre eine nicht bestandene Prüfung ein Misserfolg - unter der Bedingung, dass diese wiederholt werden kann. Fällt jemand jedoch mehrmals durch die Prüfung und wird die Person dadurch, gemäß entsprechender Ordnung, vom Studium ausgeschlossen, dann liegt ein Scheitern vor. Nach dieser Definition ist also das Ausmaß bzw. die Folge für zukünftiges Handeln ausschlaggebend.

Eine weitere Dimension einer Bestimmung des Scheiterns bildet die Unterscheidung zwischen einem absoluten und einem temporären bzw. graduellen Scheitern. Der Kern dieser Unterscheidung liegt v.a. in der Zeit, d.h. wie lange ein Individuum nach dem Moment des Scheiterns handlungsunfähig wird bzw. bleibt. Temporäres Scheitern ist hierbei die häufigste Form des Scheiterns. Es bildet zumeist die Grundlage, um Erfahrungen zu machen und aus dem Scheitern etwas zu lernen. Im Kern steht hier eine vorübergehende Handlungsunfähigkeit. (Vgl. Junge 2004: 16f). Dies kann z.B. der Fall sein, wenn ein Studium nicht fortgeführt werden kann, weil eine Prüfung endgültig nicht bestanden wurde (Moment des Scheiterns und Handlungsunfähigkeit), dann aber eine Ausbildung begonnen und diese erfolgreich abgeschlossen wird. Das Individuum ist also wieder handlungsfähig, nimmt eine andere Ausbildung auf und hat darüber hinaus evtl. aus dem Scheitern gelernt, indem es sich nun besser auf Prüfungen vorbereitet. Temporäres Scheitern kann also auch als grundlegend notwendig verstanden werden, da aus dem Moment des Scheiterns, den Gründen für das Scheitern und aus den damit verbundenen Konsequenzen Erfahrungen gebildet werden, welche elementar für das zukünftige Vermeiden von "Scheitersituationen" sind (Reinhard. 2017: 7f). Das temporäre Scheitern ist es auch, dass in der heutigen Zeit einen Bewertungswandel erfährt, da es auch Innovationen und Weiterentwicklung nach sich ziehen kann (Vgl.: John / Langhof 2014: 4).

Im Falle des absoluten Scheiterns ist jedoch genau solch eine Innovation bzw. Weiterentwicklung nicht mehr möglich. Absolutes Scheitern ist als ein Scheitern zu verstehen, an das sich keine Handlung mehr anschließen kann. Das Scheitern kann nicht nur nicht mehr ausgeglichen werden, sondern macht alle nachstehenden Handlungen auf allen Ebenen unmöglich. (Vgl. Junge 2004: 16f.). Der Tod, als Folge aus einer Handlung selbst oder von außen zugefügt, ist nach dieser Definition als ein absolutes und dauerhaftes Scheitern zu verstehen und wird daher auch zu vermeiden versucht: „Unangenehmer als ein bloßes Scheitern scheint [...] ein Scheitern zu sein, zu dem keine regulativen Ideen der Reflexion auf dieses Scheitern mehr denkbar sind.“ (ebd.). Das Handeln kann generell als der Versuch verstanden werden, Momente des Scheiterns zu verhindern; das absolute Scheitern hingegen macht jede weitere Handlung unmöglich: „Die Grenze des Handelns dringt in die Handlungsbedingungen ein und zerstört von innen die Voraussetzung für das Handeln.“ (ebd.: 16). Absolutes Scheitern kann nach Junge auch als ein „absoluter Strukturverlust“ definiert werden (Vgl. Junge 2004: 3).

Abbildung 1 : Zusammenfassung temporäres und absolutes Scheitern

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wie bereits in der Einleitung beschrieben, steht in dieser Arbeit das hier abgeleitete absolute Scheitern im Mittelpunkt. Grundlegender Gedanke hierfür bildet der Umstand, dass es sich um einen klar abgrenzbaren Begriff und Zustand handelt, der als eine reine Form des Scheiterns verstanden werden kann. In der Gesellschaft finden sich häufig Mischformen, die eine rein theoretische Untersuchung und klare Abgrenzung zum Begriff des Misserfolgs schwierig machen. Das absolute Scheitern ist hingegen besser bzw. eindeutiger abzugrenzen und als sozialer Tatbestand untersuchbar.

[...]


1 Aus Gründen der Leserlichkeit ist diese Bachelorarbeit im Maskulinum verfasst.

2 Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird Émile Durkheim in dieser Arbeit immer Emile Durkheim geschrieben; in der verwendeten Theorie kommen beide Varianten vor.

3 Siehe hierzu die zunehmende Ratgeberliteratur, die sich mit dem Scheitern als Chance auseinandersetzt.

4 Habitus: Nach Bourdieu alles, was ein Individuum ausmacht (Auftreten, Beruf, politische Ansichten, Vorlieben etc.). Der Habitus ist als strukturgebend zu verstehen, ohne dass dieser dabei einen Pflichterfüllungscharakter haben muss. Darüber hinaus bezieht sich der Habitus auf die Unterschiede einzelner Gesellschaftsakteure, die sich über diese Unterschiede definieren, und bindet die Individuen so in unterschiedliche Klassensysteme. Der Habitus ist nicht festgeschrieben und kann verändert werden (z.B. kann sich die politische Ansicht wandeln und damit auch der Habitus). (Vgl.: Bourdieu 1982: 242ff, 277ff. Bourdieu 1998: 21ff.).

5 Hierauf wird im Folgenden noch näher eingegangen.

Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Scheitern in der Moderne. Eine theoretische Annäherung an Émile Durkheims Theorie "Der Selbstmord"
Hochschule
Universität Bremen
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
49
Katalognummer
V1167285
ISBN (eBook)
9783346576545
ISBN (Buch)
9783346576552
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Scheiter, Émile Durkheim, Soziologie, Theorie, der Selbstmord, Moderne
Arbeit zitieren
Hannah Marie Schnee (Autor:in), 2021, Scheitern in der Moderne. Eine theoretische Annäherung an Émile Durkheims Theorie "Der Selbstmord", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1167285

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