Der multiethnische, kanadische Föderalismus - Kompromissmodell oder Modell für kulturelle Vielfalt in einer Nation der Nationen?

Struktur, Reformbemühungen, Akteure und Ergebnisse


Trabajo, 2006

30 Páginas, Calificación: 1,7


Extracto


Gliederung

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1 Föderation oder Konföderation - Kanadas Entwicklung zu einer föderalen
Ordnung
2.2 Organisationsstruktur und Kompetenzen in der Pendelbewegung - zentrifugaler und zentripetaler Föderalismus in Kanada
2.3 Problemstellungen des kanadischen Föderalstaates - die Suche nach Identität in einem vereinten Kanada
2.4 Quebec zwischen Integration und Sezession
2.5 Konstitutionelle Reformen des Föderalstaates

3. Schlussfolgerung

4. Bibliographie
Primärquellen
Internetquellen

5. Anhang
Abbildung 1; Kanadas Regierungssystem - Organigramm;
Abbildung 2; Botschaft von Kanada in Deutschland, Über Kanada: Gesellschaft, Bevölkerung mit Englisch oder Französisch als Muttersprache (Census von 2001)
Abbildung 3; Quebec History - Canadian Federalism - Division of powers
Abbildung 4; Kanada - Landesübersicht

1. Einleitung

Wenngleich heute sicherlich feststeht, dass es keine eindeutige Definition des Begriffes Föderalismus gibt, da bestehende bundesstaatliche Ordnungen stets in Abhängigkeit von einer bestimmten Epoche/Zeitspanne und individuellen gesellschaftspolitischen Umständen[1] zu unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten geführt haben, herrscht dennoch Übereinstimmung darüber, was den Kern und die gemeinsamen Werte von Bundesstaatlichkeit ausmacht. So erschließt sich direkt aus dem Begriff Bundesstaat der duale Charakter eines solchen staatlichen System, der neben dem Bund auch die Gliedstaaten einschließt und keinen Bundesstaat ohne dieselben zulässt, sowie die geteilte Souveränität, die beiden Ebenen einen bestimmten Anteil an den Staatsfunktionen garantiert und unabhängig voneinander Hoheitsrechte überträgt und konstitutiv für bundesstaatliche Systeme ist. Diese bewusste Kompetenzverteilung bedingt allerdings, dass das Verhältnis zwischen Bund und Gliedstaaten als gleichberechtigte Ebenen auf Vermittlung und Konsensfindung hin angelegt ist, damit keine Kompetenz-Kompetenz bestehen kann, aufgrund derer eine Ebene über die andere ohne deren Zustimmung verfügen könnte. Trotz oder gerade wegen der sich hieraus ergebenden Konflikte verpflichten den Föderalstaat seine Strukturen zu Veränderung und Kontinuität, so dass er, falls das Prinzip der Gleichberechtigung gewahrt bleibt, synonym ist mit Integration[2], durch die in einem Prozess der Föderalisierung eine politische Gemeinschaft entsteht. In diesem Sinne kommt dem Bundesstaatsprinzip auch eine integrative Rolle bei der Berücksichtigung verschiedener Interessen zu. Dazu gehört insbesondere, die bestehende Vielfalt zu wahren, gleichzeitig aber eine gewisse Einheitlichkeit - wenn auch nicht Gleichheit - zu schaffen.

Mit Blick in die Geschichte des Föderalismus hat sich so gezeigt, dass für sein Gelingen die Gleichberechtigung der föderierten Teile Grundvoraussetzung war. Dies gilt im Zusammenhang mit der Thematik dieser Hausarbeit vor allem für die politische Struktur Kanadas, deren föderaler Aufbau nicht aus einem historischen Prozess hervorgegangen ist, sondern vielmehr das Ergebnis von politischen Kompromissen darstellt, eine multiethnische Nation in einem Staat zu erschaffen. So haben auch in Bezug auf die kanadische Verfassungswirklichkeit die föderalen Strukturen mit ihrer garantierten, regionalen Autonomie die seit Jahrhunderten bestehenden, ethnischen Spannungen zwischen anglophonen und frankophonen Kanadiern weitestgehend befrieden, wenn auch nicht völlig lösen können. Gerade die besonderen Merkmale des kanadischen Föderalismus - die Vielfalt der zehn Provinzen, sowie die hohe Komplexität der kanadischen Gesellschaft und ihre unterschiedlichen lokalen Kulturen – haben in der Vergangenheit die langfristige Existenz und Perspektive des kanadischen Föderalismus mehr und mehr in Frage gestellt, so dass sich eine institutionalisierte Ambivalenz herausgebildet hat, die auch entscheidend für das Verständnis des politischen Prozesses in Kanada und die Herausforderungen föderativer Ordnungen in multiethnischen Staaten allgemein ist.

Ziel dieser wissenschaftlichen Arbeit soll es daher sein, anhand einer Analyse der Entwicklungsgeschichte Kanadas, der Organisationsstruktur und Kompetenzen seiner föderalstaatlichen Ordnung darzulegen, welches die grundlegenden Problemstellungen Kanadas als multiethnischem und grundlegend heterogen strukturiertem Staat sind, was Identität und Nation einem Staat bedeuten, der, stets von neuem durch konstitutionelle Krisen geschüttelt, zwischen stärkerer Integration seiner Glieder und dem durch Quebec geäußerten Wunsch nach Sezession pendelte und welchen Einfluss konstitutionelle Reformen des Föderalstaates auf diese Entwicklungen hatten.

2. Hauptteil

2.1 Föderation oder Konföderation - Kanadas Entwicklung zu einer föderalen Ordnung

Die Entwicklung des kanadischen Föderalismus ist keineswegs geradlinig verlaufen und hat erst durch zwei so genannte Dezentralisierungswellen seinen heutigen politisch-institutionellen, sowie gesellschaftlichen Charakter erlangt[3]. In der Entwicklungsphase noch durch den British North America 1867 als Dominion of Canada gegründet[4], vollzog sich die Föderalisierung - und mit ihr die Etablierung einer parlamentarischen Regierung, einer föderal-provinzialen Macht(ver)teilung und Garantien zur Wahrung von Sprachrechten[5] - sicherlich als geeignetes Mittel, um potenzielle multiethnische Konflikte auf demokratische Art und Weise zu entschärfen und zu regeln und Spannungen zwischen den dominierenden Volksgruppen zu vermeiden[6]. Dass die heutige Ausprägungsform des Föderalstaates dabei nicht explizit von den verschiedenen Kulturen und Bevölkerungsgruppen gewollt war, ist daher sicherlich dem Pragmatismus der handelnden Politiker der Anfangszeit zuzuordnen, die Kanada schnellstmöglich zu einem politisch handlungsfähigen Staat fernab von noch zu lösenden kulturellen Konfliktfeldern zu machen. Damit wohnen dem Föderalismus in Kanada ähnliche strukturelle, ideelle und funktionale Ordnungsprinzipien inne wie anderen Föderation auch (Belgien, Deutschland), die ihrerseits auch stärker einen Kompromiss hin zu einer evolutionären, politischen Struktur darstellen[7]. So mündeten durch den französisch-britischen Dualismus gewachsenen Identitäten mit ihren spezifisch ethnischen, religiösen und sozialen Anschauungen und Interessen im föderalistischen Ordnungsprinzip als Ausgleich und Konfliktlösungsmechanismus. Das heißt allerdings nicht, dass durch das föderale System der englisch-französisch Gegensatz endgültig beigelegt werden konnte. Zwar markiert die Niederlage der französischen Armee gegen die britische Armee 1759 strategisch und symbolisch die britische Eroberung von „Neu Frankreich“, die schließlich endgültig 1763 mit der Beendigung des Siebenjährigen Krieges im Vertrag von Paris besiegelt wurde, doch überlebten die Franzosen in Quebec als politische und kulturelle Nation[8].

Seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts spielten interne sowie externe Umstände eine Rolle, die es nötig machten, dass sich die Britischen Kolonien Nord Amerikas in irgendeiner Form unter einer gemeinsamen Regierung vereinen sollten. Ähnlich wie dies auch auf Australien und Neuseeland als Commonwealth-Staaten und ehemalige Kolonien Großbritanniens zutrifft, die zu verschiedenen Zeiten den Status selbständiger Staaten erlangten, erfolgte in Kanada eine weitreichende Übertragung der politischen Institutionen Großbritanniens[9]. Die Väter der Konföderation verbanden dabei das fundamentale Prinzip parlamentarischer Souveränität und verantwortlicher/ verantwortungsvoller Regierung innerhalb eines föderalen Systems und etablierten ein souveränes imperiales Parlament sowie abhängige Provinzlegislaturen[10]. Allerdings war der Weg zur Vereinigung steinig, stand doch eine Vielzahl der Kolonien dem Gedanken einer Union aller Provinzen skeptisch gegenüber, da dies eine entscheidende Einschränkung ihrer Souveränität bedeutete. Dass diese - wenngleich zu unterschiedlichen Zeiten[11] - dennoch ihre Zustimmung zur Unionsbildung gaben, beruht auf teils pragmatisch-wirtschaftlichen Erwägungen, da man sich durch eine engere zwischenstaatliche Bindung bessere Handelskontakte erhoffte, aber auch weil die Verteidigungsfähigkeit im Kriegsfall besser gewährleistet wäre - insbesondere durch die Bestrebungen der Vereinigten Staaten hin zu einer weiteren Nord-Expansion: “The threat of American expansion and the necessity of developing a strong economy suggested to some that all the colonies should unite under one government.”[12] Suspekt war der Unionsgedanke aber vor allem deshalb, da Kanada erst als die dritte Föderation überhaupt nach den USA und der Schweiz gegründet werden würde, dem Föderalprinzip nach den katastrophalen Erfahrungen des amerikanischen Bürgerkriegs aber der Ruf anhaftete, allgemein instabile Regierungen hervorzurufen. Grundgedanke der Väter der kanadischen Verfassung war daher, dass Kanada das gleiche Schicksal wie die USA ereilen könnte[13]. Als bewusster Gegensatz zum US-amerikanischen Föderalstaat, der keine derart starke Zentralregierung vorsah, sollten daher die Kompetenzen der Gliedstaaten bewusst beschränkt sein und die Verantwortlichkeiten zwischen den föderalen und den provinzialen Ebenen der Regierung eine scharfe Trennung aufweisen.

Mit diesen Erfahrungen im Hinterkopf, wurde das kanadische Verfassungsexperiment seit seinem Bestehen stets als Kompromiss zwischen einem Universalismus und einem Partikularismus gesehen und der Föderalstaat letztlich stets als Ergebnis eines politischen wie konstitutionellen Pragmatismus angesehen[14]. Daher gilt Kanada heute als Sonderform des Föderalismus, denn es vereint in sich zwei verschiedene Sprachgemeinschaften die gleichzeitig zwei verschiedene Nationen bilden, so dass eine klassische kanadische Identität im Sinne der Vorstellung einer einheitlichen Nation kaum existiert[15], sondern der Idee der Anerkennung vielfältiger Nationen unter dem einen neuen Nation gewichen ist. Grundlage dieser neuen Vorstellung einer Nation ist daher nicht allein die Sprache, die Kultur oder die Geschichte, sondern vielmehr der gemeinsame Wille[16]. Aus diesem Grund wird der Föderalismus von seinen Staatsbürgern nicht nur als bloßes Verfassungsprinzip verstanden, sondern auch Identifikationsangebot, da er politische wie kulturelle Akzeptanz garantiert: „Im Föderalismus […] finden sich Schutzzonen für eine stärker regionalspezifische Politik, die bestimmte Traditionen berücksichtigen kann.“[17]

2.2 Organisationsstruktur und Kompetenzen in der Pendelbewegung - zentrifugaler und zentripetaler Föderalismus in Kanada

Die Balancefunktion des kanadischen Föderalismus ist früher wie heute Teil seiner Legitimation und gesellschaftspolitischen Sinnstiftung, da das Bewahren des kanadischen Staates Ziel und konstitutives Element des kanadischen Föderalismus ist und gerade vor dem Hintergrund seiner multiethnischen Zusammensetzung zu verstehen ist. Dies findet sich auch in den Prinzipen und Grundlagen des kanadischen Föderalstaates wieder; erstens bilden die Teilstaaten konstitutive Gebilde, die bereits vor dem Föderalstaat existierten und die dieser anerkennt, aber nicht selbst schaffen kann; zweitens bestehen ihre gesetzlichen und politischen Institutionen der Selbstverwaltung auch außerhalb des Föderalstaates; und drittens besitzen die Teilstaaten gleichrangige Souveränität wie die Föderalregierung[18]. Der Föderalstaat spiegelt daher die Notwendigkeit wider, nationale und regionale Unterschiede zu erhalten, was vor allem durch die Existenz nationaler und provinzialer Regierungsebenen und der Teilung der Judikative gewährleistet wird[19].

Kanada stellt sich heute als parlamentarisch-demokratische Monarchie in Gestalt eines Bundesstaates dar, deren Staatsoberhaupt zwar die britische Königin ist, die allerdings durch den Generalgouverneur vertreten wird. Dieser besitzt vorwiegend zeremonielle Funktionen und wird in Kanada auf Vorschlag des Premierministers gewählt[20]. Die enge Beziehung zum Mutterland zeigt sich heute noch immer im System parlamentarischer Kabinettsregierungen britischer Prägung auf Bundes- sowie auf Provinz- und Länderebene (Siehe Abb. 1). So besteht die kanadische Legislative formal aus dem britischen Monarchen, der durch den Generalgouverneur vertreten wird, und einem Zweikammerparlament, dem in direkter Volkswahl bestellten House of Commons und dem formal vom Generalgouverneur, de facto vom Premierminister ernannten Senat, der formal von seiner Zusammensetzung her dem britischen House of Lords ähnelt. Das Unterhaus als Volksvertretung der Provinzen (und 295 Abgeordneten[21] ) hat eine besondere Bedeutung und bestimmt gemäß den Sections 37 bis 57 des Constitution Acts die Wahl einer legitimen Regierung, die Kontrolle derselben, der Bereitstellung von materiellen wie immateriellen Ressourcen für die Regierung, aber auch insgesamt der Bündelung politischer Kommunikation[22]. Dabei sind seine Sitze nach geographischen Gesichtspunkten verteilt sind und richten sich quantitativ nach der Bevölkerungsanzahl der Provinzen; eine senatorische Klausel, die in Section 51A der Verfassung festgelegt ist und Senate floor rule genannt wird[23], besagt dabei, dass jeder Provinz mindestens so viele Sitze wie ihr Senatoren zustehen. Der Senat als dritte Säule der Legislative spielt eine eher untergeordnete Rolle, da zwar formal seine Zustimmung bei Gesetzesänderungen/-beschlüssen notwendig ist, dieser seine Kompetenzen im Grunde nur selten nutzt und kaum inhaltliche Vetos ausspricht; ebenso besitzt er kein Initiativrecht, wie das Unterhaus[24]. Zumeist werden Gesetzesvorschläge im Senat diskutiert, um diese zu vereinfachen oder mögliche Formfehler zu beseitigen[25]. Senatoren (maximal sind 112 möglich) sind meist ehemalige Minister oder Premiers aus den Provinzen werden durch den Governor General ernannt.

Die Exekutive als zweite Säule der horizontalen Gewaltenteilung sieht vor, dass die Staatsgewalt beim Monarchen, der Königin von England, liegt. Faktisch wird diese durch das Kabinett und durch den Governor General als Vertreter des Monarchen, den Generalgouverneur, ausgeübt. Gemäß des common law- Prinzips werden sämtliche, politischen Geschäfte den Ministern im Kabinett übergeben, die damit - wenn auch indirekt - die Staatsgewalt inne haben, doch können der Monarch und Generalgouverneur ihr Primat der Exekutive im Falle einer Verfassungskrise oder einem Krieg wahrnehmen. Der Premierminister hingegen spielt in Kanada eine übergeordnete Rolle in der Regierung und der politischen Wahrnehmung im Allgemeinen, da er über das Vorrecht der Parlamentsauflösung verfügt[26]. Als zumeist Vorsitzender jener Partei, die im Unterhaus die meisten Sitze hält, wird er vom Generalgouverneur eingesetzt und führt als Regierungschef das Kabinett an. Dennoch ist die Zusammensetzung des Kabinetts von ebenso großer Bedeutung, da der Premier bei der Besetzung von Ministerposten die regionalen Proportionen der Kulturgruppen und Ethnien beachten muss[27]. Daraus ergibt sich auch, dass die gewählten Minister in der öffentlichen Wahrnehmung stets auch als Repräsentanten ihres Herkunftslandes angesehen werden.

Die Judikative als dritte Säule sieht als oberste Instanz den Supreme Court vor, dessen Mitglieder auf Vorschlag des Premierministers und des Justizministers vom Governor General ernannt werden. Die Föderalregierung hingegen besitzt die Kompetenz, die Richter der Obersten Gerichte der Provinzen zu benennen, während die die Besetzung von Richterämtern auf den darunter liegenden Ebenen in den Kompetenzbereich der Provinzregierungen fällt.

Die vertikale Gewaltenteilung zwischen Föderalstaat und den Provinzen Kanadas verdient besondere Erwähnung, sieht doch gerade die Zuordnung legislativer Kompetenzen im Gegensatz zu anderen Föderationen eine ganze Reihe von exklusiven föderalen wie provinzialen Regelungen vor. Im Gegensatz zu z.B. dem deutschen Föderalismus existiert hierbei kaum eine konkurrierende Gesetzgebung, denn laut Section 95 der föderalen Charta beschränkt diese auf die Bereiche Agrarwirtschaft, Rentensystem und Einwanderungspolitik[28] (siehe auch Abb. 3). So weist Section 91 der Verfassung der föderalen Legislative klare Kompetenzen auf den Gebieten des Handels, den Postdiensten, der Verteidigung, dem Währungssystem und u.a. auch dem Bankensystem. Jeder Regierungsebene werden dabei Bereiche der Hoheitsgewalt nicht nur zugeteilt, sondern ihnen werden ebenso autonome Einnahmequellen gegeben, um Operationen zu finanzieren und überhaupt erst handlungsfähig sein zu können.

Strukturell stellt sich der kanadische Föderalismus damit ähnlich dar wie andere Föderationen, denn beide Regierungsebenen werden geschützt und von der Verfassung garantiert. Staatliche Souveränität wird dabei nicht von ein der beiden Ebenen allein garantiert, sondern verteilt sich zwischen den beiden Ebenen Es wird also keine Regierungsebene, weder die Föderal- noch die Provinzebene, völlig der anderen untergeordnet.

Heute kennzeichnet sich Kanadas föderale Struktur durch eine Mixtur aus zentralistischen und dezentralistischen Elementen. In Kanada besitzen die Gliedstaaten eine ähnlich hohe Autonomie wie in der Schweiz, haben dafür aber - im Gegensatz zu z.B. den deutschen Bundesländern, die mit ihre Verwaltungshoheit entscheidenden Einfluss auf die Bundespolitik ausüben können - relativ geringen Einfluss auf die bundesstaatliche Politik. Fiskalisch betrachtet ist Kanada heute sogar einer der dezentralisiertesten Föderationen in der Welt, denn die Steuereinkünfte der föderalen Ebene betrugen 1985 nur 54,6% der gesamten Regierungseinkünfte Kanadas, wohingegen es in Deutschland 68,1% und den USA 69,1% waren[29].

Dies war aber nicht immer so, denn die Gründerväter Kanadas hatten ursprünglich ein hoch zentralisiertes Föderalsystem geschaffen, indem die Föderalregierung sehr viel größere Kompetenzen besaß als die Provinzen und das Wort „föderal“ nur einmal in der Verfassung von 1867 auftauchte. Mit Gründung des Dominion of Canada 1867 wurde provinzialen Kompetenzen, die vor allem soziale und kulturelle Belange wie das Bildungssystem, das Gesundheitssystem, städtische Institutionen, das Wirtschaftsleben, sowie die Kontrolle über die Bildung, Krankenhäuser, die Infrastruktur, lokale Regierungen und der Administration der Justiz[30] umfassten, kein großer Einfluss bei föderalen Entscheidungsprozessen beigemessen. Hinzu kommt, dass Klauseln über föderale Bestimmungen, wie der Verteilung legislativer Kompetenzen, klar von der Föderalregierung überdeckt wurden, da die Regierung in Ottawa jederzeit das Recht hatte, legislative Entscheidungen der Provinzen zu überstimmen, so dass Kanadas Verfassung höchstens als quasi-föderal bezeichnet werden konnte[31]. Dennoch waren diese Verfassungsbeschränkungen nötig, um potentielle Sezessionsbewegungen einzelner Provinzen vorzubeugen, denn den Provinzregierungen wurde mit dem British North America Act die Macht darüber in der Verfassung ausdrücklich nicht zugestanden, hätte dies doch kaum eine langfristige Grundlage für einen kanadischen Staat ermöglicht.

Allerdings änderte sich die Machtbalance zwischen dem Nationalstaat und den Provinzen mit Etablierung des Wohlfahrtstaates und seiner sozialen Sicherungssysteme bereits zu Beginn des 20. Jahrhundert recht schnell, so dass es zu einer grundlegenden Kompetenzausweitung der Provinzen und einer stärkeren politischen Gewichtung der Provinzen bei staatlichen Entscheidungsprozessen kam.[32] Trotz dieser Dezentralisierungstendenzen, die sich, bezogen auf bestehende Kompetenz-streitigkeiten durch eine Reihe von Urteilen des Supreme Courts zugunsten der Provinzen sogar noch verstärkten, konnten „die zentripetalen, auf Integration hin orientierten Kräfte die zentrifugalen noch überlagern.“[33], denn dieses Muster in den Beziehungen zwischen Föderalstaat und den Provinzen setzte sich in den 30 Jahren bis zu den 60er Jahren des 20. Jahrhundert fort. Diese Phase des „kooperativen Föderalismus“ folgte einer pragmatischeren, politischen Praxis zwischen Bund und Gliedstaaten und sah vor, dass sich beide bei der jeweiligen Aufgabenerfüllung gegenseitig unterstützen, Absprachen treffen und üblicherweise in Übereinstimmung miteinander entscheiden sollten. Der sich in diesen Jahren wieder verstärkende Integrationsprozess geht dabei vor allem auf Herausforderungen, wie der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg[34] zurück, die stärker koordiniertes Handeln auf gesamtstaatlicher Ebene erforderte und die Provinzen überfordert hätte. Neue wirtschafts- und sozialpolitische Konzepte waren in Zeiten rascher Inflation, hoher Arbeitslosigkeit gefordert, so dass wohlfahrtstaatliche Programme zur Abfederung sozialer Härten entwickelt wurden, eine angepasste Fiskal- und Geldpolitik nach keynesianischer Prägung und eine Liberalisierung des Handels initiiert wurden, die allein der Bund mit seinen großen Fiskalmitteln stemmen konnte[35].

Nach einem Höhepunkt des kooperativen Föderalismus unter der Regierung von Lester Pearson zwischen 1963 und 1968, machte die Entwicklung der Parti Quebecois 1968 bzw. ihrer Regierungsübernahme 1976 in Quebec und die Regierungszeit von Pierre E. Trudeau[36] größtenteils mit dem kooperativen Föderalismus früherer Jahre Schluss und wich einer neuen Entwicklungsphase des Föderalismus, dem „contested federalism“[37]. Seit dieser Zeit etablierten sich stärker asymmetrische Strukturen hin zu einer stärkeren Rolle der Gliedstaaten, die seitdem in einem Machtgleichgewicht zwischen den Provinzen und der Föderalregierung in Ottawa mündeten[38]. Asymmetrisch heißt hierbei, dass einige Provinzen andere und vor allem größere Kompetenzen für sich einforderten als andere. Dass diese vielfältige Ursache haben, werde ich im folgenden Abschnitt verdeutlichen.

2.3 Problemstellungen des kanadischen Föderalstaates - die Suche nach Identität in einem vereinten Kanada

Wenngleich der Föderalstaat seit seinem Bestehen den kulturellen Gegensatz nie vollständig beilegen konnte, haben sich die Bedingungen für das politische System seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts noch weiter verschlechtert. Zum einen ist dies begründet durch einen sich weiter gesteigerten Separatismus unter der französischsprachigen Gemeinschaft im Gebiet Quebecs, ihr verändertes Selbstverständnis von einer grundlegend eigenständigen Gesellschaft innerhalb Kanadas[39], aber auch einer insgesamt stärkeren ethnischen Heterogenisierung Kanadas, die wiederum nicht mit einer weiter zu entwickelnden politischen Gestaltung hin zu einer echten, multikulturellen Gesellschaft einher ging[40]. Zwar besteht für viele Föderationen die hauptsächliche Herausforderung darin, der Diversität seiner Glieder Rechnung zu tragen und gleichzeitig eine stärkeres Gemeinwesen zu schaffen, da gegenseitige Anerkennung, multilaterale Verhandlungen und der Wille zur Konsensfindung zur Wahrung des föderalen Geistes elementar sind[41], doch sind gerade in Kanada die ethnisch-kulturellen wie ökonomisch-strukturellen Disparitäten enorm stark. Der Begriff Nation hat daher kaum eine echte nationale Basis, so dass in Kanada Nation und Staat zwiespältig gesehen werden[42].

So sehen die anglophonen Kanadier ihr Land als eine Nation allein auf staatlicher Souveränität begründet bzw. dem Willen, Kanada als ganzes zu erhalten. Bei den frankophonen Kanadiern - und in ähnlicher Weise bei den indigen Ethnien[43] - hat der Begriff hingegen eine sehr viel stärkere soziokulturelle Bedeutung, so dass sie zwar von einem Staat Kanada sprechen, aber von zwei Nationen. Daher gilt es im kanadischen Fall zwischen der juristischen, weniger auf die eigentlichen Charakteristika bezogene Nation, sondern eher einem pragmatischeren Verständnis folgende, sowie den föderalen Gedanken und Zweck beschreibende Definition hin zu einer bürgerlichen Nation[44] und der soziologischen Nation im Sinne einer Kulturnation mit eigener Religion, Sprache, Tradition und Geschichte zu unterscheiden[45]. Diese Unterschidung wird so dem Umstand gerecht, dass im Grunde keine typische Region oder Provinz existiert, da jeder Teilstaat seine eigene Geschichte, Geographie, Bevölkerungscharakteristik hat und unterschiedliche Ressourcen besitzt[46], was u.a. dazu führte, dass jede Provinz danach strebt, den Status Quo zu erhalten und seine Position innerhalb des Föderalstaates zu beschützen, aber auch auszubauen.

[...]


[1] Darunter fallen ethnische, sprachliche, kulturelle aber auch religiöse Disparitäten

[2] Görner, Rüdiger. Einheit durch Vielfalt - Föderalismus als politische Lebensform 236

[3] Broschek, Jörg. Föderalismus und Wohlfahrtstaat im historischen Kontext: Der Fall Kanada 242/243

[4] Als Dominion wurden ab Anfang des 20. Jahrhunderts offiziell die sich selbst verwaltenden Kolonien des British Commonwealth of Nations bezeichnet

[5] Tuohy, Carolyn J. Policy and Politics in Canada - Institutionalized Ambivalence 26

[6] MacPherson. James C. The Future of Federalism 10

[7] Görner, Rüdiger. Einheit durch Vielfalt - Föderalismus als politische Lebensform 13

[8] Tuohy 14

[9] Das so genannte „britische, imperiale Kolonialsystem“; Röhrich, Wolfgang, Die Politischen Systeme der Welt 18/19

[10] Williams, Colin H. A Requiem for Canada 32

[11] Mit Gründung der Kanadischen Föderation 1867 bestand diese nicht wie heute aus 10, sondern nur aus den Provinzen New Brunswick, Nova Scotia, sowie der Provinz Kanada, die erst später in Ontario und Québec aufgeteilt wurde; 1870 kam Manitoba erst 1870 hinzu, British Columbia 1871, Prince Edward Island 1872, Alberta und Saskatchewan 1905, sowie 1949 Neufundland

[12] Saywell 73

[13] „The Fathers of Confederation […] recognized the inevitability of federalism, [but[ they could not help regarding it as a suspect and sinister form of government.“ LaSelva, Samuel V. The Moral Foundations of Canadian Federalism - Paradoxes, Achievements, and Tragedies of Nationhood 31

[14] “Paradoxically, in fact, Confederation was a response to the demand in the Canadas for a divorce and subsequent marriage under a new contract. While a unitary state seemed impossible, the question was, what kind of federal system could best meet the conflicting demands of unity and diversity” Saywell 73

[15] Laselva 84

[16] „Canada was a nation because Canada had demonstrated the will to live together.“ Laselva 85

[17] Görner, Rüdiger. Einheit durch Vielfalt - Föderalismus als politische Lebensform 31

[18] Tully, Multirow Federalism and the Charter 185

[19] „Federalism is embodied concretely in the division of jurisdiction sections of the Constitution and as interpreted in judicial decisions, but, is also reflected in or modified by unwritten rules, such as constitutional convention” Taucar, Christopher Edward. Canadian Federalism and Quebec Sovereignty 12

[20] Sautter, Udo. Geschichte Kanadas. 63ff.

[21] von 187 bis 1981 waren es nur 81 Abgeordnete; Funston, Bernard et al. Canada’s Constitutional Law In a Nutshell 64/65

[22] Bredow, Wilfried von. Das politische System 81

[23] Funston 65

[24] Dennoch haben die Vetos des Senats bei der Gesetzgebung seit den 80er Jahren zugenommen; so wurde ein Freihandelsabkommen mit den USA blockiert

[25] Funston 63/64

[26] Röhrich 19; Funston 98/99

[27] Smiley, Donald V. The Structural Problem of Canadian Federalism 59

[28] Brown-John 251

[29] Tuohy 6

[30] Saywell 74

[31] Brown-John 258

[32] „In large measure, the growth of importance of legislative competence has defined both the direction of change in the Canadian federal system and the tone of intergovernmental relations.“ Brown-John 251

[33] Broschek 244

[34] Trotz Protesten seitens der Provinzen, dass die der Bund seine Kompetenzen überschritten hätte, entschieden die Gerichte, dass der Krieg vergrößerte Mächte seitens Bundesbehörden brauchten, so dass die Bestimmungen der Chapter 91 und 92 der Verfassung übergangen werden konnten.

[35] Allerdings verletzten einige dieser Maßnahmen das Verfassungsrecht

[36] Diese war von häufigen, letzten Endes gescheiterten Bemühungen geprägt, eine weitere Dezentralisierung durch Verfassungsreformen zu verhindern und den Status Quebecs in Kanada neu zu definieren; sieh hierzu Kapitel

[37] Broschek 245

[38] von Bredow 78

[39] von Bredow 86

[40] Ibid 87

[41] Gagnon, Alain-G., La Forest, Guy. The Future of Federalism: Lessons from Canada ad Québec 128

[42] Tuohy 17

[43] Zu diesen zählen neben den Inuit, den Métis, vor allem die so genannten First Nations als Ureinwohner Kanadas

[44] Der wiederum einen Nationalpatriotismus umfasst, der neben der ethnischen Nation gleichbedeutend für das Kanadische bzw. die kanadische Nation stehen sollte.

[45] Gagnon/ Laforest 116/118

[46] Taucar 16

Final del extracto de 30 páginas

Detalles

Título
Der multiethnische, kanadische Föderalismus - Kompromissmodell oder Modell für kulturelle Vielfalt in einer Nation der Nationen?
Subtítulo
Struktur, Reformbemühungen, Akteure und Ergebnisse
Universidad
Otto-von-Guericke-University Magdeburg  (Fakultät für Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften - Institut für Politikwissenschaft)
Curso
Politisches System der BRD - Föderalismus in vergleichender Perspektive
Calificación
1,7
Autor
Año
2006
Páginas
30
No. de catálogo
V116785
ISBN (Ebook)
9783640191000
ISBN (Libro)
9783640191055
Tamaño de fichero
714 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Föderalismus, Kompromissmodell, Modell, Vielfalt, Nation, Nationen, Politisches, System, Föderalismus, Perspektive
Citar trabajo
Matthias Schollmeyer (Autor), 2006, Der multiethnische, kanadische Föderalismus - Kompromissmodell oder Modell für kulturelle Vielfalt in einer Nation der Nationen?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116785

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