Der Wandel der Tragödie

Tragödienformen und ihre Interpretationsspielräume im Ödipus


Seminararbeit, 2007

18 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Sophokles´ Ödipus
2.1 Ödipus´ tragische Geschichte
2.2 Ödipus´ Schicksal
2.3 „Tragödienartig“

3 Die Krise der Tragödie
3.1 Die Definitionen des Tragödienbegriffs
3.2 Krise und Hoffnung

4 Die moderne Tragödie: Gides´ Ödipus

5 Resümee

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Hat sich die Tragödie wirklich gewandelt über die Jahrhunderte? Anzunehmen ist es, aber dass die Tragödie tot ist, ist vielleicht zu viel gesagt. Im Folgenden soll anhand der sophokleischen Tragödie Ödipus gezeigt werden, worin die vielen tragischen Elemente des Stücks liegen und dass sich die Tragödie in ihrer Interpretation zwar gewandelt haben mag, tragödienartige Elemente aber je nach Sichtweise immer zu sehen sind.

2 Sophokles´ Ödipus

Sophokles, 496 v. Chr. in Colonus Hippius geboren, gestorben 406/405 v. Chr. in Athen, war ein klassischer griechischer Dichter und gilt neben Aischylos und Euripides als der größte der bekannten antiken, griechischen Tragödiendichter. Die Tragödie „König Ödipus“ ist Sophokles' dramatische Bearbeitung (436–433 v. Chr.) des Ödipus-Mythos und neben den weiteren Bearbeitungen durch Aischylos, Euripides, Xenokles, Meletos, Hölderlin, Gide u. a., die einzige aus der Antike in die Gegenwart überlieferte Fassung. Das Theaterstück ist in Sprache, Dramaturgie und Psychologie ein Meisterwerk der klassischen Weltliteratur aus der Blütezeit der altgriechischen Kultur.[1]

Ödipus, von seinen Eltern König Laios und Jokaste nach Bekanntwerden des Fluchs, dass er einmal seinen Vater erschlagen und seine Muter heiraten wird, ausgesetzt, wird vom korinthischen König Polybos aufgenommen. Nachdem er durch einen Orakelspruch erfährt, was er seinen Eltern antun wird, verlässt er seinen Ziehvater. Auf einer Wanderung erschlägt er in einem Streit einen Mann, nicht ahnend, dass es König Laios, sein Vater, ist. Somit ist der erste Teil der Prophezeiung erfüllt. Durch sein Wissen befreit er die Stadt Theben von der Sphinx und erhält als Belohnung Jokaste, Witwe des Laios und seine Mutter, zur Frau und wird König von Theben. Somit ist auch der zweite Teil der Prophezeiung erfüllt. Nun setzt der eigentliche Teil des Dramas ein. Da Theben schon längere Zeit von einer Seuche heimgesucht wird, wird das Orakel um Hilfe gefragt. Kreon überbringt seinen Spruch:

„Phoibos, der Herr: man soll des Landes Befleckung, als auf diesem Grund genährt, vertreiben, statt unheilbar fortzunähren“[2]

Daraufhin beschließt Ödipus eine Rechtsverhandlung zur Festsetzung von Laios Mörder

in dessen Verlauf er ihn verflucht, nicht wissend, dass er es ja selbst ist, dem er den Fluch auferlegt. Im weiteren Verlauf der Tragödie wird durch Befragung mehrerer Zeugen klar, wer Ödipus wirklich ist und was er getan hat. Ödipus wendet seine vorgesehene Bestrafung bei sich selbst an, indem er sich blendet und aus der Stadt vertreiben lässt.

Die Art und Weise, wie Ödipus die Untersuchung des Falls angeht, die im Folgenden für ihn so drastisch enden soll, ist der Punkt, an dem sich die wahre Tragik des Stückes entfaltet. Hier zeigt sich Tragik in ihrer reinsten Form, die Form, die diese Tragödie zu einer der bekanntesten, meistzitierten und behandelten überhaupt gemacht hat.

2.1 Ödipus´ tragische Geschichte

Im Folgenden beginnen wir an dem Punkt des Dramas, an dem Ödipus rechtliche Schritte zur Festsetzung des Schuldigen, wegen dessen Taten Theben von der Seuche heimgesucht wird, einleitet. Hier zeigt sich die Tragik in ihrer ganzen Größe und Tiefe.

Die Herleitung der geeigneten Form der Untersuchung, hat das Tragische in sich: Man muss urteilen, fordert das Orakel, und so zieht Ödipus daraus nicht nur die Berechtigung, ein Urteil zu fällen, sondern auch die Notwendigkeit, rechtliche Schritte einzuleiten.[3] Sophokles´ Stück zeigt, wie durch Ödipus Wahl der rechtlichen Untersuchung und seine darauf folgende Selbsterkenntnis, die Rechtsform an sich zusammenbricht. Nach Menke ist Ödipus´ Geschichte eine „Abfolge von Urteilsgestalten“[4]: Zunächst Ödipus´ Deutung des Orakelspruchs, dann die Wandlung der Untersuchungsform bis zu Ödipus´ Selbsterkenntnis zum Schluss. Diese Abfolge unterwirft ihn einem tragischen Wandel vom Richter, zum Verfluchten und dann Verdammten. Betrachtet man diese Abfolge genauer, dann beginnt Ödipus´ tragische Geschichte mit dem Moment, als er sich nach der Befragung Kreons dazu entscheidet, eine rechtliche Untersuchung des Falls durchzuführen:

„Nun denn! Von Grund auf abermals werd Ich es aufklären!“[5]

So nimmt er durch sein „Ich“ die Aufgabe auf sich, eine fatale Entscheidung natürlich. Denn so ist er Richter und Angeklagter in einer Person, Bestrafender und Bestrafter. Auch durchbricht er die herkömmliche Form der Rechtssprechung durch das Orakel, da er die Urteilspassivität der Thebaner beenden und ein klares Zeichen setzen möchte. Die herkömmliche Ritualpraktik des Orakels läuft wie folgt ab: Es wird ein Urteilsgeschehen exekutiert, daraufhin folgt die Wahl des Sündenbocks, der bestraft, obwohl er nicht der wahre Täter ist, und aus der Stadt getrieben wird und somit die Stadt gereinigt ist von den Sünden. Menke bringt in diesem Zusammenhang die Begriffe „Handlungssubjekt“ und „Urteilssubjekt“ auf[6]: Durch Ödipus´ Frage nach dem Opfer und auch nach der Handlung, wird die Tat gegenständlich, im Gegensatz zum Reinigungsritual der Orakelpraxis, wo Tat, Opfer und Täter diffus bleiben. Dort geht es nur um eine Befleckung, worauf eine Reinigung folgen muss, Ödipus jedoch fügt dem Untersuchungsablauf jedoch etwas Konkretes hinzu: Subjekte. Ein Opfer, einen Täter, eine Handlung. Indem Ödipus Kreon nach rechtlichen Gesichtspunkten zum Orakelspruch befragt, gibt er dem Spruch selbst eine rechtliche Form. Was zu Anfang noch ein Orakelspruch war, wandelt sich somit in eine Rechtsuntersuchung mit dem Auftrag zu dessen Untersuchung, Beurteilung und Bestrafung.[7] Ödipus fordert von sich selbst, das größtmögliche Wissen über die Tat zu gewinnen. Wissen aus zwei Perspektiven heraus: der des Opfers und der des Täters. Ödipus´ möchte nicht nur Wissen ansammeln, sondern gewinnen, verstehen und dann abwägen. Es zeigt sich immer wieder bei der Suche nach der geeigneten Rechtsform, wie Ödipus sich sozusagen „sein Grab selbst schaufelt“, indem er nur höchste Ansprüche an seine Aufgabe als Richter stellt. Tragisch ist hier, dass niemand ihn zu dieser Untersuchung gezwungen hat, denn, wie schon aufgezeigt, die übliche Praxis war die des Orakelspruchs und Sündenbocks. Noch dazu möchte er als Richter den Täter verstehen, er sieht den Mord an Laios nicht direkt als verdammungswürdig an, sondern lässt durchaus Gründe zu, die diese Tat entschuldigen würden. Auch hier wiederum zeigt sich die Tragik: nachdem Ödipus erfährt, dass er selbst der Täter ist, macht er diese Gründe nicht geltend, obwohl er selbst zugibt: „Kein Richter würde ihn verurteilen“[8]. Somit ist trotz Aufstellung rechtlicher Regeln bevor die Untersuchung überhaupt beginnt, das Urteil über ihn schon gefällt, und zwar in seiner härtesten Form, die keinerlei Verständnis mehr zulässt.

Doch auch diese Aufstellung der rechtsförmigen Praxis wird von Ödipus in der Szene, in der die Zeugen befragt werden, wieder revidiert. Denn als sich die Zeugen weigern, ihr Wissen preiszugeben, gebietet er ihnen, sie sollen keinen bei sich aufnehmen und jeden aus ihrem Haus verstoßen.[9] So kehrt er von den rechtlichen Strafbestimmungen wieder zurück zur rituellen Strafbestimmung des Orakels: Ein Akt der Selbstverurteilung und -bestrafung des Schuldigen.[10] Indem er Täter und Mitwisser aus der Gesellschaft ausschließt, verdammt und verflucht er sie. Hier kommt der nächste tragische Punkt ans Licht: Ödipus verdammt sich selbst. Indem er bei der Tatsachenfeststellung auf unüberwindbare Probleme stößt – die Weigerung der Zeugen, ihn als Täter zu enthüllen – geht er zurück zu den rituellen Reinigungspraktiken, ein Akt, den Hölderin „priesterlich“ genannt hat. Somit legt er sich aber selbst – unwissentlich selbst – auf einen Status fest: der subjektive Akt der Urteilspraxis wandelt sich zu einem schicksalhaften Eintreten von Verdammung. Tragischerweise nimmt Ödipus sich wiederum selbst so jede Möglichkeit zur Erklärung und zum Verständnis seiner Tat: „In einer Selbstverurteilung, zu der ich verflucht bin, stelle ich nur mehr fest, dass ich bereits verurteilt bin.“[11] Menke hat diese tragische Wandlung treffend formuliert:

„Bei Ödipus greifen Fluch und Recht doppelt ineinander: Zunächst steht die Verfluchung im Dienst der rechtlichen Untersuchung; [...] Auf diesen Status eines bloßen Mittels lässt sie sich jedoch nicht beschränken. [...]diese Verfluchung bestimmt, einmal ausgesprochen, den Sinn und die Logik der rechtlichen Untersuchung, die Ödipus im Folgenden durchführt: Es geht in ihr nicht mehr darum, die Identität eines Verbrechers, sondern die eines Verfluchten ausfindig zu machen. „Nicht: Wer hat Laios getötet und ist deshalb zu verurteilen und zu bestrafen?, sondern: „Wer ist verflucht, nämlich verflucht dazu, sich selbst zu verurteilen und zu bestrafen?“[12]

Somit ist Ödipus´ tragisches Schicksal nicht mehr abzuwenden. Durch Festlegung der Rechtsform und ihrer darauf folgenden Wandlung in eine Verfluchung, hat er sich selbst in die auswegloseste Situation überhaupt versetzt. Dies wird ihm auch klar: „ich Armer! Es scheint, mich selbst in böse Flüche hab ich gestürzt soeben und wußt es nicht!“[13]. An sich ist ein Fluch – der üblicherweise auf einem Geschlecht lastet, und von außen auferlegt wird – schon tragisch, aber auch hier ist die Tragik wiederum multipliziert und tritt in ihrer „reinen“, „höchsten“ Form zu Tage, da der Fluch selbst auferlegt ist. Ödipus gerät durch seine eigenen Handlungen in einen Teufelskreis, der sich nicht mehr durchbrechen lässt:

„In seiner Selbstverurteilung ist Ödipus sich selbst der Andere, der seinen eigenen Fluch an ihm vollstreckt. So wie sich seine Selbstverurteilung verwirklicht, so ist seine Selbstverurteilung keine freie, selbstbewusste Tat, sondern nichts als die Vollstreckung eines Fluchs“[14].

Das Urteil über Ödipus wird durch Ödipus selbst vollzogen, indem er zunächst den Orakelspruch durch Rechtsordnung, Rechtsordnung dann wiederum durch den Akt der Verfluchung ersetzt hat, zieht er die Schlinge um seinen Hals immer weiter zu. Er lässt bei sich keine Milde und kein Verständnis walten – was er bei einem anderen Täter durchaus getan hätte, zudem berücksichtigt er seine Absichten bei seiner Tat und seine Überlegungen beim gegenwärtigen Urteil absichtlich nicht. Noch dazu hat er sich selbst verflucht. Nach Menke sind diese drei Punkte „der Exzeß des Urteils[15] “. Er ist einzige Instanz und liefert sich dazu noch der fremden Macht des Verfluchens aus. Die Gewalt, mit der dieser Kreislauf sein Leben, sein Handeln und sein weiteres Sein bestimmt, ist total, da nicht zu lösen. Dermaßen aussichtslos, ist auch die Tragik Ödipus´ total.

Jeder einzelne Schritt in Ödipus´ Handeln, seine Befragung Kreons´, die Schlüsse, die er daraus zieht, die Wahl und der Wandel der Untersuchungsform, sie alle sind kleine, tragische Schritte, die an dem Punkt, an dem Ödipus´ erkennt, wen er verdammt, verflucht und verurteilt hat, zusammenlaufen in ihrer genialen, großartigen, alle Schichten durchwirkenden Tragik.

[...]


[1] Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/König_Ödipus und http://de.wikipedia.org/wiki/Sophokles. 20.03.2007.

[2] Sophokles: König Ödipus. Übersetzt von Schadewald, W.. Frankfurt / Main, 1955. 96 – 11.

[3] Vgl.: Menke, C.: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Schuld. Frankfurt / M. 2005. S. 28.

[4] Vgl.: Ebenda. S. 25.

[5] Sophokles: König Ödipus. 132– 13.

[6] Vgl.: Menke, C. S. 34.

[7] Vgl.: Ebenda. S. 30.

[8] Sophokles: König Ödipus. 745 – 45.

[9] Sophokles: König Ödipus. 241 – 18.

[10] Vgl.: Menke, C.: S. 38.

[11] Ebenda. S. 40.

[12] Ebenda. S. 40.

[13] Sophokles: König Ödipus. 745 – 45.

[14] Menke, C.: S. 43.

[15] Menke, C.: S. 12.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Der Wandel der Tragödie
Untertitel
Tragödienformen und ihre Interpretationsspielräume im Ödipus
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften)
Veranstaltung
Die Krise der Tragödie
Note
2.0
Autor
Jahr
2007
Seiten
18
Katalognummer
V116801
ISBN (eBook)
9783640191376
ISBN (Buch)
9783640191369
Dateigröße
422 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wandel, Tragödie, Krise, Tragödie
Arbeit zitieren
Stefanie Vomhof (Autor:in), 2007, Der Wandel der Tragödie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116801

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Der Wandel der Tragödie



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden