Datafizierung und Datengesellschaft. Über die Stellung des Subjekts im Überwachungskapitalismus


Akademische Arbeit, 2021

26 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Die schöne neue Welt des Überwachungskapitalismus
1.1 Eine kurzer Blick auf die Mechanismen des Überwachungskapitalismus
1.2 Das Subjekt im Zeitalter des Überwachungskapitalismus

2. Öffentlichkeit und Privatheit in der dritten Moderne
2.1 Die digitale Transformation als dritter Strukturwandel der Öffentlichkeit
2.2 Philosophisch-soziologische Konsequenzen des dritten Strukturwandels

3. Die Datengesellschaft: Eine kritische Betrachtung
3.1 Erkenntnistheoretische Überlegungen zur Datafizierung

4. Schlussbemerkungen

5. Literaturverzeichnis

1. Die schöne neue Welt des Überwachungskapitalismus

Mit Beginn des 21. Jahrhunderts, als sich die westlich-industrialisierte Welt inmitten einer informationstechnischen Revolution und einem daraus resultierenden gesellschaftlichen Wandel befand, bildete sich im Zuge dessen eine in ihrem Wesen historisch beispiellose Strömung des Kapitalismus heraus. Diese, seit mehr als einem Jahrzehnt vorherrschende Strömung des Kapitalismus, nennt die amerikanische Autorin Shoshana Zuboff in ihrem einschlägigen Werk Überwachungskapitalismus.1 Dies wirft zunächst folgende zentralen Fragen auf: Wie lässt sich das Wesen des Überwachungskapitalismus beschreiben, was sind seine wichtigsten Mechanismen, und wie schaut die ihm zugrundeliegende Logik, nach welcher er operiert, aus? Zuboff fasst die fundamentale Logik und Funktionsweise des Überwachungskapitalismus mit den folgenden Worten, wie ich finde, treffend, zusammen: „Überwachungskapitalismus beansprucht einseitig menschliche Erfahrung als Rohstoff zur Umwandlung in Verhaltensdaten. Ein Teil dieser Daten dient der Verbesserung von Produkten und Diensten, den Rest erklärt man zu proprietärem Verhaltensüberschuss, aus dem man mithilfe fortgeschrittener Fabrikationsprozesse Vorhersageprodukte fertigt, die erahnen, was sie jetzt, in Kürze oder irgendwann tun. Und schliesslich werden diese Vorhersageprodukte auf einer neuen Art von Marktplatz für Verhaltensvorhersagen, den ich als Verhaltensterminkontraktmarkt bezeichne, gehandelt.“2

Mit diesen fundamentalen Mechanismen des Überwachungskapitalismus werde ich mich im folgenden Kapitel noch ausführlicher befassen. Bemerkenswert ist zunächst folgender Aspekt an Zuboffs Hauptwerk, „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“, der an die von Aldous Huxley in seinem Roman „Schöne neue Welt“ skizzierte Dystopie einer kollektivistisch konditionierten Gesellschaft, erinnert3 : In Huxleys „schöner neuer Welt“ finden sich durch biologische Verfahren gezüchtete und manipulierte Menschen in einer totalitären Kollektivgesellschaft, die unter dem schönfärberischen Deckmantel des nationalen Mottos von „Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit“ in Erscheinung tritt, wieder. Es herrscht Frieden, die Menschen haben genug Arbeit, Krankheiten oder Nahrungsknappheit sind längt beseitigt, sodass die Strukturen jener Gesellschaft auf den ersten Blick insgesamt relativ positiv erscheinen. In Tat und Wahrheit werden die Menschen aber ihrer persönlichen Freiheit und Autonomie beraubt, ohne dass diese sich darüber beklagen würden, geschweige denn davon überhaupt Kenntnis nehmen. Die Menschen werden stattdessen mittels ideologischer Manipulation und durch die regelmässige Einnahme sogenannter „Glückspillen“ in einen geistigen Rauschzustand versetzt, der sie davon abhält, sich kritisch mit den teilweise zutiefst inhumanen Mechanismen des herrschenden Systems auseinanderzusetzen. Die Individuen jener Gesellschaft gleichen in ihrer Summe einem Maschinenschwarm und werden vom herrschenden Regime auch als solcher betrachtet. Genau dieser Schein von Freiheit ist es, der gemäss Zuboff den Überwachungskapitalismus in seine Hülle durchdringt. Die Reize der digitalen Welt fungieren dabei als unsere persönlichen Glückspillen, die uns in einen euphorischen Zustand der Reizüberflutung versetzen, wodurch gezielt unsere menschlichen Urtriebe4 getriggert werden sollen. Sobald wir uns im digitalen Schwarm der schönen neuen Welt des Überwachungskapitalismus befinden, gestaltet sich es schwierig, den Schleier der Unfreiheit zu lüften und einen Blick dahinter werfen. Um es mit den Worten Zuboffs auszudrücken: „In diesem menschlichen Schwarm opfert man die individuelle Freiheit dem kollektiven Wissen und Handeln. Nicht harmonisierende Elemente nimmt man präventiv und unter Einsatz der geballten Kraft sozialer Überredung und Beeinflussung mit hohen Dosen Tuning, Herding und Konditionierung aufs Korn. So marschieren wir wie smarte Maschinen der Gewissheit entgegen. Wir lernen unsere Freiheit dem kollektiven Wissen zu opfern, das uns von anderen, um ihrer garantierten Ergebnisse willen, aufgedrängt wird“.5

Dieser Betrachtung folgend liegt die Ursache der real existierenden Unfreiheit darin, dass uns unsere persönlichen Daten entrissen und einem Enteignungsprozess unterworfen werden, mit dem Ziel, unser zukünftiges Verhalten vorauszusagen und es letztlich auch zu beeinflussen. Gewissheit ist das Schlagwort der Überwachungskapitalisten. Ihr Geschäftsmodell, wie an einigen Stellen dieser Arbeit noch gezeigt wird, ist auf ständige Gewissheit programmiert, was aus philosophischer Perspektive höchst problematisch ist. Shoshana Zuboffs Werk kann als ein meines Erachtens sehr gelungener Versuch, den Schleier der digitalen Unfreiheit ganzheitlich zu lüften, angesehen werden. Weitere Versuche ähnlicher Art werden jedoch, um die grundlegende Logik des Überwachungskapitalismus ausreichend zu durchleuchten, und, darüber hinaus, als Grundvoraussetzung für die Formation eines breiten gesellschaftlichen wie politischen Widerstands gegen die Praktiken des Überwachungskapitalismus, folgen müssen.

1.1 Mechanismen des Überwachungskapitalismus

Der Vergleich mit Huxleys „Schöne neuer Welt“ ist vielleicht überspitzt, aber bewusst gewählt, denn bereits seine nun bereits rund 80 Jahre alte Dystopie nimmt die Gefahr des Überwachungskapitalismus vorweg. Die Umwälzungen, welche mit dem Aufstieg des Überwachungskapitalismus in Gang gesetzt wurden, sind rechtlicher, politischer, und sozioökonomischer Natur. Mit anderen Worten: Es gibt kaum einen Bereich in unserer heutigen Gesellschaft, der nicht direkt oder indirekt von den Operationen des Überwachungskapitalismus tangiert ist. Um einen kurzen Überblick über die zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten zu erhalten, ist das Ziel dieses Kapitels, eine kurze Einführung in die Mechanismen des Überwachungskapitalismus zu geben. Diese Einführung kann auch als Zusammenfassung der wichtigsten Thesen aus Shoshana Zuboffs „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ dienen. Die folgenden Ausführungen sind dabei bewusst kurzgehalten, da eine intensivere Auseinandersetzung mit Zuboffs sehr umfassenden Werk weit über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen würde. Die Grundsätze des Überwachungskapitalismus zu verstehen, ist für die fortlaufende Untersuchung jedoch unabdingbar, zumal in den weiteren Kapiteln, wo es vor allem um die Stellung des Subjekts im Zeitalter des Überwachungskapitalismus geht, maßgeblich auf Zuboffs Werk Bezug genommen wird. „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ dient mithin als Referenzrahmen, an dem sich die vorliegende Arbeit orientiert.

Als Ausgangspunkt ist zunächst auf eine bedeutende Entdeckung, die den Aufstieg des Überwachungskapitalismus überhaupt erst ermöglicht hat, hinzuweisen: Die Entdeckung des Verhaltensüberschusses. Zuboff weist darauf hin, dass der Überwachungskapitalismus sich von jeder Art menschlicher Erfahrung nährt, anstelle von Arbeit. Das unterscheide den Überwachungskapitalismus grundlegend von früheren kapitalistischen Strömungen.6 Die drei klassischen Produktionsmittel, nämlich Arbeit, Boden und Kapital, werden nun also um ein viertes Produktionsmittel ergänzt: Der Rohstoff des menschlichen Verhaltens. Während die sog. „erste Moderne“ durch eine Revolution der Produktionsweisen geprägt war, welche schlussendlich den Fordismus und die frühe Industrie- und Massengesellschaft ins Leben gerufen hat, zeichnete sich die Generation der sog. „zweite Moderne“ Zuboffs Analyse zufolge vor allem durch die tiefe Sehnsucht nach einem effektiveren Leben innerhalb des neoliberalen Biotops aus, das seit den 1970er Jahren gedieh und die herrschende Wirtschaftsideologie für viele Jahre festigt. Eben jenes neoliberale Biotop der zweiten Moderne war es schliesslich, das den Überwachungskapitalismus aufsteigen ließ und ihm den Weg zur Entdeckung des Verhaltensüberschusses offenbarte. So schreibt Zuboff an entsprechender Stelle: „Diese Ideologie (des Neoliberalismus) und ihre praktische Umsetzung zwingen die Individuen der zweiten Moderne unter das Joch des drakonischen „Quidproquos“ im Herzen der Akkumulationslogik des Überwachungskapitalismus, bei der Information und Konnektivität als Geiseln im Austausch gegen lukrative Verhaltensdaten dienen, die hinter dem immensen Wachstum und den Profiten der neuen Marktform stehen.“7 Google ist als Pionier dieser neuen Marktform und nicht zuletzt auch als treibende Kraft des Überwachungskapitalismus auszumachen, wobei der Google-Nutzer dieser neuen Logik gemäss nicht als gewöhnlicher Kunde agiert, zumal von keinem wirtschaftlichen Austausch, keinem Preis und keinem Profit die Rede sein kann. In der traditionellen Logik des Kapitalismus stellt ein Kapitalist Arbeiter ein, stellt ihnen die notwendigen Produktionsmittel zur Verfügung, und entlohnt sie daraufhin entsprechend. Die hergestellten Produkte gehören dem Kapitalisten, welcher sie gegen Profit zu verkaufen sucht.

In der Ägide des Überwachungskapitalismus schauen die Dinge jedoch fundamental verschieden aus. Kunden werden weder für ihre Arbeit bezahlt, noch bedienen sie irgendwelche Produktionsmittel. Nutzer sind darüber hinaus keine Produkte, sondern die schöpferische Quelle der Rohstoffversorgung für grosse überwachungskapitalistische Unternehmen wie Google oder Facebook. Günter Voss spricht in diesem Zusammenhang vom „arbeitenden Nutzer“, der pro-aktiv überwachungskapitalistische Beihilfe leistet. Würde die aktive Mitarbeit der Nutzer an jenem Enteignungsprozess nicht stattfinden, gäbe es, so Voss, diesen neuartigen Rohstoff erst gar nicht.8

Letztlich waren es gem. dieser Theorie demnach wir selbst, die digitalen Nutzer, die den Aufstieg des Überwachungskapitalismus ermöglichten, indem wir ihm den benötigten Nachschub an zu verarbeitenden Verhaltensdaten als Rohstoff lieferten. Während Google in seinen unternehmerischen Anfängen die Daten seiner Nutzer vor allem zu Zwecken der Verbesserung der internen Suchmaschine verwendete, stellte sich im Laufe der Zeit fest, dass man nicht alle Daten zur Verbesserung der eigenen Suchdienste einzusetzen brauchte, weshalb sich so nebenbei ein gewaltiger Überschuss an Nutzerdaten herausbildete, der bis anhin nicht für kommerzielle Marktzwecke verwendet worden ist. Diesen Überschuss bezeichnet Zuboff als Verhaltensüberschuss. Der Übergang vom „Verhaltenswert-Reinvestitionszyklus“, also der blossen Verwendung von Nutzerdaten zu Zwecken der Suchmaschinenverbesserung, hin zur Inbesitznahme und kommerziellen Weiterverarbeitung aller digitalen „Abgase“ und Spuren, mithin eben der Verhaltensüberschuss, markierte rückblickend die Blaupause für ein neues Zeitalter überwachungskapitalistischer Prägung.9 Die Entdeckung des Verhaltensüberschusses könnte für das Zeitalter des Überwachungskapitalismus eine ähnliche Dynamik entfachen, wie es die Entdeckung des Erdöls zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts rückblickend für das moderne Industrie- und Konsumzeitalter getan hat. Nach einer kurzen Rekonstruktion einiger zentraler historischer Entwicklungsfaktoren, welche das Aufkommen des Überwachungskapitalismus begünstigten, in erster Linie ist diesbezüglich vor allem die Entdeckung des Verhaltensüberschusses genannt worden, werden im Folgenden die beiden elementaren, dem Überwachungskapitalismus zugrundliegenden ökonomischen Imperative, kritisch beleuchtet.

Den ersten ökonomischen Imperativ des Überwachungskapitalismus bezeichnet Zuboff als „Extraktionsimperativ“: „Fords Entwicklungen revolutionierten die Produktion. Googles Erfindungen revolutionierten die Extraktion. Der Extraktionsimperativ besagt, dass der Nachschub an Rohstoff stetig zu steigen hat. Der Industriekapitalismus hatte Grössenvorteile bei der Produktion verlangt, um einen höheren Durchsatz zu geringeren Stückkosten zu erreichen. Im Gegensatz dazu verlangt der Überwachungskapitalismus Grössen- bzw. Massenvorteile bei der Extraktion von Verhaltensüberschuss.“10 Im Zuge dieser neuen Operation würden Nutzer folglich nicht länger Selbstzweck bleiben, „sondern Mittel zu anderer Leute Zielen“. Die primären Ziele dieser Leute würden, führt Zuboff weiter aus, im Wesentlichen darin bestehen, Verhaltensüberschuss von ausserhalb des Marktes in diesen zu übertragen, um damit aus Investitionen Erträge bzw. Gewinne zu erwirtschaften. Dass dabei keinerlei Grenzkosten anfallen, erweist sich als willkommener Nebeneffekt. Diesen neu entstandenen Markt für Verhaltensdaten bezeichnet die amerikanische Autorin als „Verhaltensterminkontraktmarkt“, auf dem die aus den unzähligen Nutzerdaten extrahierten „Vorhersageprodukte“, die unser Denken und Handeln möglichst genau prognostizieren sollten, gehandelt werden.11 Es lässt sich also festhalten, dass der überwachungskapitalistische Extraktionsimperativ auf die ständige Zufuhr an neuen Nutzerdaten angewiesen ist, um diese dann, getrieben vom Motiv der kapitalistischen Akkumulationslogik, als umgewandelte Vorhersageprodukte auf einschlägigen Märkten verkaufen zu können.

Als zweiter grundlegender ökonomischer Imperativ des Überwachungskapitalismus ist daneben der Vorhersageimperativ zu erwähnen. Die durch den Extraktionsimperativ gewonnene Menge an Verhaltensdaten führte wenig überraschend zu enormen Grössenvorteilen, sprich Skalierungseffekten, und, wie Zuboff es nennt, auch zu Diversifikationsvorteilen.12

[...]


1 Zuboff Shoshana, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, 2018, S. 21.

2 Ebd., S.22.

3 Vgl. Huxley Aldous, Schöne Neue Welt, 2015.

4 Vgl. Jung Carl Gustav, Das kollektive Unbewusste, 1978.

5 Zuboff Shoshana, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, 2018, S.479.

6 Zuboff Shoshana, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, 2018, S. 24.

7 Zuboff Shoshana, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, 2018, S. 74.

8 Voss Günter, Der arbeitende Nutzer – Über den Rohstoff des Überwachungskapitalismus, 2020, S.14.

9 Zuboff Shoshana, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, 2018, S. 100.

10 Ebd., S. 110.

11 Ebd., S. 117.

12 Zuboff Shoshana, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, 2018, S.233.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Datafizierung und Datengesellschaft. Über die Stellung des Subjekts im Überwachungskapitalismus
Hochschule
Universität Luzern  (Philosophisches Institut)
Veranstaltung
Praktische Philosophie
Note
1,5
Autor
Jahr
2021
Seiten
26
Katalognummer
V1169865
ISBN (eBook)
9783346586919
ISBN (Buch)
9783346586926
Sprache
Deutsch
Schlagworte
datafizierung, datengesellschaft, über, stellung, subjekts, überwachungskapitalismus
Arbeit zitieren
Lukas Zwiefelhofer (Autor:in), 2021, Datafizierung und Datengesellschaft. Über die Stellung des Subjekts im Überwachungskapitalismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1169865

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Datafizierung und Datengesellschaft. Über die Stellung des Subjekts im Überwachungskapitalismus



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden