Die Offene Kinder- und Jugendarbeit als Bildungsakteur

Möglichkeiten bildungsorientierter Kinder-und Jugendarbeit


Tesis (Bachelor), 2018

86 Páginas, Calificación: 2,3


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

1. Einleitung

Teil 1: Theorie
2. Bildung
2.1 Der Bildungsbegriff
2.2 Formelle, informelle, non-formale Bildung
3. Offene Kinder- und Jugendarbeit
3.1 Prinzipien und Ziele
3.2 Gesetzliche Grundlagen
3.3 Bildung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit
4. Bildung und Teilhabe
4.1 Soziale/nationale Herkunft und Bildungschancen
4.2 Pierre Bourdieu: Kapital, Habitus, soziale Ungleichheit
4.3 Möglichkeiten und Grenzen des Abbaus von Benachteiligung

Teil 2: Empirie
5. Studien zum Thema Bildung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit
5.1 „Wahrnehmen können“ - Jugendarbeit und informelle Bildung
5.2 Bildung im Alltag der Offenen Kinder- und Jugendarbeit
5.3 Bildung in der Praxis Offener Kinder- und Jugendarbeit
5.4 Förderung gesellschaftlichen Engagements Benachteiligter in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit
5.5 Die Offene Kinder- und Jugendarbeit als Bildungsakteur

Teil 3: Praxis
6. Bildungsorientierte Konzepte und Ansätze
6.1 Partizipation und Demokratiebildung
6.2 Subjektorientierte Jugendarbeit
6.3 Sozialräumlich orientierte Jugendarbeit
6.4 Diversitätsbewusste, interkulturelle Jugendarbeit

Teil 4: Offene Kinder- und Jugendarbeit als Bildungsakteur
7. Beantwortung der Forschungsfrage und Ergebnisdiskussion
7.1 Möglichkeiten und Herausforderungen aus theoretischer Sicht
7.2 Möglichkeiten und Herausforderungen aus empirischer Sicht
7.3 Möglichkeiten und Herausforderungen aus praktischer Sicht

8. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Schulbesuch von 15-Jährigen im Jahr 2000

Abb. 2: Kapitalarten nach Bourdieu

Abb. 3: Funktionen des Habitus

Abb. 4: die wichtigsten Aufgaben der Offenen Kinder- und Jugendarbeit

Abb. 5: die wichtigsten Vorteile der OKJA im Vergleich zur Schule

Abb. 6: die wichtigsten Fortschritte der täglichen Arbeit

Abb. 7: Einschätzungen zur Wirksamkeit der OKJA

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Drei Formen der Bildung

Tab. 2: Ziele der OKJA

Tab. 3: Arbeitshypothesen

Tab. 4: Fragenkomplexe zum Leitfragebogen

Tab. 5: Projekte der beteiligten Einrichtungen

Tab. 6: Zielkategorien

Tab. 7: Schwierigkeiten von Jugendlichen und Fachkräften

Tab. 8: Handlungsziele von Partizipation

Tab. 9: Dimensionen von Subjekt-Bildung

Tab.10: Ziele im Anti-Bias-Ansatz

Tab.11: Problemfelder bei der Partizipation von Kindern und Jugendlichen

Tab.12: Entscheidungs- und Mitsprachemöglichkeiten von Jugendlichen

Einleitung

„Bildung ist mehr als Schule- die Bildungspotenziale der Jugendarbeit sind weit größer als die anderer erzieherischer Institutionen.“(Sturzenhecker 2008, S. 163).

Dieses Zitat soll auf das Thema dieser Arbeit einstimmen, welche sich mit der Fragestellung auseinandersetzt, ob und inwiefern die Offene Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) als Bildungsakteur agiert. Es sollen Möglichkeiten und Herausforderungen der OKJA aufgezeigt werden, sich als außerschulische Institution mit einem eigenen Bildungsauftrag in der deutschen Bildungslandschaft zu positionieren und zu etablieren. Dazu gehört auch die kritische Auseinandersetzung mit den Anforderungen an bildungsorientierte Kinder- und Jugendarbeit, basierend auf einer grundlagentheoretischen Reflexion wissenschaftlicher Texte und empirischer Studien. Der gesellschaftliche Stellenwert von Bildung und die Diskussion darüber haben sich in den letzten Jahren intensiviert- Wissen und Bildung sind heutzutage mehr denn je zentrale Ressourcen und wichtige Parameter für gesellschaftliches Ansehen und ökonomischen Erfolg (vgl. Sting/ Sturzenhecker 2013, S. 375). Im Zuge dessen zeichnete sich ein Paradigmenwechsel ab, indem vermehrt auch außerschulische Institutionen wie beispielsweise die OKJA als Bildungsorte anerkannt wurden. Im 15. Kinder- und Jugendbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wird festgestellt, dass Kinder- und Jugendarbeit einen vielfältigen Möglichkeitsraum für Lern- und Bildungsprozesse Jugendlicher darstellt (vgl. BMFSFJ 2017, S. 396). Dieser Möglichkeitsraum soll näher betrachtet und untersucht werden. Dabei wird besonders herausgearbeitet, inwiefern der Bildungsbereich des informellen und non-formalen Lernens, durch welchen die Arbeit in der OKJA gekennzeichnet ist, einen besonderen Beitrag zur Entwicklung und Bildung der Kinder und Jugendlichenliefern kann.Einweiterer Fokus wird auch auf das Thema gerichtet, inwiefern die OKJA zur Förderung von Teilhabe bzw. zum Abbau von Benachteiligung beitragen kann, da sich die Besucherstruktur der OKJA überwiegend aus Kindern und Jugendlichen aus prekären Lebensverhältnissen, mit Migrationshintergrund und jungen (männlichen) Geflüchteten zusammensetzt (vgl. Schmidt 2013, S. 15). Durch die Auseinandersetzung mit der theoretischen, der empirischen und der praktischen Perspektive auf die OKJA als Bildungsakteur wird erarbeitet, ob und inwieweit in der OKJA der Bildungsauftrag umgesetzt wird, an welcher Stelle es Schwierigkeiten und welche Möglichkeiten es zur Veränderung gibt. Vor dem Hintergrund, dass das Leben der heutigen Kinder und Jugendlichen zunehmend von verschulten institutionalisierten Bildungsangeboten (z.B. Ausbau von Ganztagsschulen) und Mediennutzung geprägt ist, sollte sich die OKJA vermehrt auf ihre Ressourcen beziehen, sich gesellschaftlich und bildungspolitisch positionieren und sich vermehrt ihrem Bildungsauftrag, der einem ganzheitlichen und humanistischen Bildungsverständnis entspringt, zuwenden (vgl. Delmas 2005, S. 81). Deshalb und auch aufgrund der immer wiederkehrenden politischen Debatten um die Wirksamkeit und den Nutzen von OKJA und des nach wie vor noch geringen öffentlichen Stellenwerts ist es bildungswissenschaftlich relevant, folgender Forschungsfrage nachzugehen:„Wie kann die Offene Kinder- und Jugendarbeit als Bildungsakteur auftreten? Welche Möglichkeiten und Herausforderungen ergeben sich aus theoretischer, empirischer und praktischer Sicht?“Zudem hat die Autorin, die seit 25 Jahren in der OKJA beruflich tätig ist, ein Erkenntnisinteresse an der Qualitätssteigerung und zukünftiger Sicherung dieser Institution.

Die Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: der erste Teil befasst sich mit der theoretischen Auseinandersetzung zu den Themen Bildung , Offene Kinder- und Jugendarbeit, Bildung und Teilhabe sowie der Einbettung von Bourdieus Gesellschaftstheorie. Der zweite Teil beinhaltet die Darstellung von empirischen Studien zum Thema OKJA und Bildung. Im dritten Teil werden bildungsorientierte praktische Ansätze und Konzepte für die OKJA vorgestellt und diskutiert. Der vierte Teil befasst sich dann mit der Beantwortung der Forschungsfrage, basierend auf den Erkenntnissen der ersten drei Teile sowie zukünftigen Herausforderungen für die OKJA. Die Arbeit endet mit einem abschließenden Fazit.

Teil 1: Theorie

2. Bildung

Bildung ist ein sprachlich, kulturell und historisch bedingter und gewachsener Begriff mit einer sehr komplexen Bedeutung. Es erweist sich als schwierig, eine präzise oder einheitliche Definition des Bildungsbegriffs zu finden, da je nach historischer, gesellschaftlicher oder politischer Ausrichtung und Interessenlage die Ansichten darüber, was unter Bildung verstanden werden soll, erheblich variieren (vgl. BBWF 2018, S. 1). An dieser Stelle wird nicht der Anspruch erhoben, alle Facetten des Bildungsbegriffs ausführlich darzustellen, das würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Die folgende Begriffsklärung ist daher schwerpunktmäßig angelegt auf die Darstellung eines Bildungsverständnisses, welches mit dem Thema dieser Arbeit einhergeht.

2.1 Der Bildungsbegriff

Was versteht man unter Bildung? Zunächst einmal ist erwähnenswert, dass Bildung ein deutscher Sonderbegriff ist, den es in dieser Bedeutung nicht in anderen Sprachen gibt. Er stammt vom althochdeutschen „bildunga“ (Schöpfung, Bildnis, Gestalt)abund bezeichnet die Formung des Menschen im Hinblick auf seine geistigen und menschlichen Fähigkeiten. Bildung schließt zwei Bedeutungsebenen ein: die Prozessebene (sich bilden) und die Zustandsebene (Bildung, gebildet sein). Ein entscheidender Faktor des Bildungsbegriffs ist das reflektierte Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt (vgl. BBWF 2018, S. 1).Seine Ursprünge hat der Bildungsbegriff unter anderem bereits in der Antike - zunächst einmal wird kurz das Bildungsverständnis des griechischen Philosophen Platon (427-347 v. Chr.) betrachtet. Sicherlich lässt sich hinterfragen, ob es notwendig ist, bis in die Antike und in frühere Epochen zurückzublicken, um den aktuellen Bildungsbegriff darzustellen. Doch es ist für das heutige Verständnis von Bildung und Bildungstheorien relevant, deren Ursprünge, Entstehung und Entwicklungslinien zu kennen und diese in aktuelle Diskussionen miteinzubeziehen (vgl. Dörpinghaus/Uphoff 2012, S. 43). Der Kerngedanke Platons ist, dass Bildung angeregt und begleitet werden muss und vorrangig ein individueller, mühevoller, eigenständiger Prozess ist, der zur Bildung des Selbst und zur Hinwendung zur „Idee des Guten“ führt (ebd. 2012, S.47ff). Es geht um die „befreiende Umwendung eines einzelnen Menschen in seiner Gesamtheit“ (ebd. 2012, S. 49).Dieser Kerngedankelässt sich durchaus auf heute übertragen, z.B. als Anregung, Bildung als Emanzipationsprozess zu verstehen, der den Menschen befähigt, kritisch und reflexiv mit sich selbst, der Umwelt und mit an ihn herangetragenen Informationen umzugehen und als soziale Komponente, diese Fähigkeit auch an andere weiterzugeben und Bildungsprozesse anzuregen. Hier lässt sich das Bildungsverständnis Kants (1724-1804), geprägt durch das Zeitalter der Aufklärung, anfügen. Laut Kant soll Bildung zu Autonomie und Mündigkeit führen. „Sapere aude!Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ gilt als Schlüsselkompetenz der Aufklärung (vgl. Dörpinghaus et al. 2012, S. 54f). Diese Kompetenzen sind auch im heutigen (sozialpädagogischen) Verständnis von Bildung und in dem der OKJA von Relevanz. Allerdings ist fraglich, ob der Anspruch, Bildung solle alle Menschen zu kritischem und selbstständigem Denken hinführen, auch tatsächlich in der Realität umgesetzt wird oder ob dieser lediglich als theoretisches Konstrukt und Ideal zu sehen ist. Abschließend wird der Blick auf das neuhumanistische Bildungskonzept Wilhelm von Humboldts (1767-1835) gerichtet: von Humboldt prägte den Bildungsbegriff der höchsten und proportionierlichsten Bildung, in dem Bildung der wahre Zweck an sich ist und nicht auf eine spezifische Tätigkeit oder Verwertbarkeit ausgerichtet sein sollte (vgl. Dörpinghaus/Uphoff 2012, S. 68). Der Mensch soll gefördert werden, seine Kräfte und Möglichkeiten zu einem Ganzen auszubilden und in der Wechselwirkung zwischen Ich und Welt eine Verknüpfung herstellen zu können. Besonders Letzteres gilt auch heute noch als eines der wichtigsten Bildungsziele. Um nun einige Aspekte des aktuellen Bildungsverständnisses aufzugreifen, ist zunächst zu erwähnen, dass die Thematisierung von Bildung im Zuge Adornos kritischer Gesellschaftstheorie neue Akzente erfahren hat. Es wird nicht nur die soziale Dimension und die gesellschaftliche Funktion von Bildung reflektiert, sondern auch die Bestimmung von Bildung im Kontext der Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. Zunehmend wird ein Verfall von Bildung konstatiert und beklagt, dass die zuständigen Institutionen (insbesondere Schule) nicht mehr Bildung vermitteln, sondern allenfalls Halbbildung fördern (ebd. 2012, S. 104). Die Auseinandersetzung mit und Vermittlung von Bildung steht vor neuen, vielfältigen Herausforderungen. Bildung muss, in Anlehnung an Klafki, heutzutage zur selbsttätig erarbeiteten Befähigung zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität führen (ebd. 2012, S. 117). Es gilt, um einige Aspekte aufzugreifen, die Entwicklung aller menschlichen Fähigkeiten zu fördern (kognitive, handwerklich-technische, soziale, ästhetische, ethische), persönliche und politische Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu ermöglichen und im Sinne einer neu gedachten (Allgemein-) Bildung eine Balance zu finden zwischen ökonomisch­berufsbezogenen Ebenen und den Dimensionen persönlicher Entfaltungsmöglichkeiten (vgl. Gruber 2018, S. 5). Als Überleitung zum nächsten Kapitel dient folgendes Zitat: „Was bildet den Menschen? Alles!“ (von Hentig 2004, S. 13). In diesem Sinne sollen neben dem formellen Lernen auch die Bildungsressourcen der informellen und der non- formalen Bildung betrachtet werden.

2.2 Formelle, informelle, non- formale Bildung

Im international stattfindenden Bildungsdiskurs setzt sich die Annahme durch, dass sich ganzheitliche Bildung im Zusammenspiel von drei Formen der Bildung konstituiert: formeller, informeller und non-formaler Bildung. Das Bundesjugendkuratorium (BJK) forderte in seiner Streitschrift 2001, dass alle drei Formen in Deutschland aufeinander bezogen und in ihrer Wertigkeit als gleichrangig anerkannt werden (vgl. Linßer 2011, S. 31). Der Bereich der informellen Bildung umfasst alle Prozesse kindlicher/jugendlicher Selbstbildung und Sozialisation, die unabhängig und außerhalb pädagogischer Bildungsangebote stattfinden, beispielsweise in der Familie, im Spiel und in der Interaktion mit anderen Kindern bzw. innerhalb der Peer- Gruppe. Der informelle Bildungsprozess setzt ein hohes Maß an Eigentätigkeit des Subjekts in Form von Bildsamkeit voraus, welche individuell erworben werden muss und als Grundlage für alle Formen der Lernprozesse gesehen wird (vgl. Müller et al. 2008, S. 12). Diese Voraussetzung ist nicht selbstverständlich. Sie kann auch versagt bleiben, woraufhin sich bereits an dieser Stelle unterschiedliche Ausgangslagen und mögliche Benachteiligungen abzeichnen können. Zum Bereich der non- formalen Bildung zählen alle pädagogisch intendierten Angebote zur Förderung oder Initiierung informeller Prozesse der Selbstbildung, sofern sie außerhalb formal strukturierter schulischer Veranstaltungen stattfinden (ebd. 2008, S. 12).

Tab. 1: drei Formen der Bildung, eigene Darstellung 2018, Quelle: BJK 2001, S. 5

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Basierend auf dieser Definition des Bundesjugendkuratoriums, wird die OKJA im Bereich der informellen und non- formalen Bildung verortet (vgl. Fehrlen/Koss 2009, S. 11f). In der aktuellen Fachdebatte wurde inzwischen ein Konsens dahingehend erreicht, dass neben den formalen Bildungsangeboten der Schule die non- formalen Bildungsangebote der OKJA einen erheblichen Beitrag zur Förderung und Unterstützung kindlicher und jugendlicher Selbstbildungsprozesse beitragen. In den konzeptionellen Grundlagen des Nationalen Bildungsberichts 2004 wird hervorgehoben, dass non- formale Bildung elementare Erfahrungen wie Teilhabe und Verantwortung, Wirksamkeit des eigenen Handelns, Aneignung und Gestaltung von Räumen, eigene kulturelle Praxis, Körpererleben und gelingende Lebensbewältigung ermöglicht (vgl. Rauschenbach et al. 2004, S. 24f). Das nächste Kapitel befasst sich mit der Darstellung der pädagogischen, non- formalen Bildungsarbeit in der OKJA und beleuchtet die spezifischen Chancen und Möglichkeiten, aber auch die Grenzen, die der OKJA bei der Vermittlung von Bildungsprozessen gesetzt sind.

3. Offene Kinder- und Jugendarbeit

Die OKJA eröffnet als freiwillige, jugendspezifische und nicht- kommerzielle Institution Kindern und Jugendlichen Gelegenheiten, sich in einem organisierten Rahmen außerhalb von Familie und Schule mit Gleichaltrigen zu treffen, sich ohne Leistungsdruck einbringen und ausprobieren zu dürfen, neue Erfahrungen zu machen und Verantwortung zu übernehmen (vgl. BMFSFJ 2017, S. 365). Das Praxisfeld der OKJA ist breit gefächert und umfasst beispielsweise die klassische Jugendarbeit in Jugendzentren, Häusern der offenen Tür und Jugendclubs, aber auch Mobile Kinder- und Jugendarbeit, Streetwork, Internationale und Verbandliche Jugendarbeit sowie Außerschulische und Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (ebd. 2017, S. 366). Im Folgenden werden zunächst die Prinzipien und gesetzlichen Grundlagen der OKJA dargestellt, um anschließend den sich darauf aufbauenden Bildungsauftrag und dessen Umsetzung zu betrachten.

3.1 Prinzipien und Ziele

Die Arbeitsprinzipien, die das Fundament der pädagogischen Arbeit in der OKJA bilden und im Hinblick auf gesellschaftspolitische und soziale Entwicklungen auf der Basis theoretischer und empirischer Erkenntnisse formuliert wurden, sind Offenheit, Freiwilligkeit, Partizipation, Lebenswelt- und Sozialraumorientierung, Geschlechtergerechtigkeit (vgl. AGJF 2018, S. 12ff) sowie Vertraulichkeit, Parteilichkeit und Verlässlichkeit. Das Prinzip der Offenheit umfasst mehrere Aspekte: 1. OKJA ist grundsätzlich offen für alle Menschen, unabhängig von sozialer und kultureller Herkunft und beschränkt sich nicht auf bestimmte Zielgruppen. 2. Die Themen und Inhalte der Arbeit sind nicht vorgegeben, sondern orientieren sich an den Themen der Kinder und Jugendlichen und an deren Lebenslagen und -bedingungen. 3. Die Zielsetzung der pädagogischen Praxis ist auch offen und flexibel, was die Ressource birgt, relativ schnell auf Veränderungen reagieren zu können (ebd. 2018, S. 14). Es lässt sich folgender Konsens an Zielsetzungen in der OKJA zusammenfassen.

Tab. 2: Ziele der OKJA, eigene Darstellung 2018, Quelle: AGJF 2018, S. 4

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Prinzip der Freiwilligkeit beinhaltet, dass die Kinder und Jugendlichen selbst entscheiden dürfen, ob und wann sie die jeweilige Einrichtung aufsuchen möchten, ob sie Angebote annehmen oder einfach nur „chillen“ möchten, ob sie sich aktiv einbringen wollen oder nicht. Dieses Prinzip ermöglicht einerseits Motivation, Selbstbestimmung und das Erkennen eigener Bedürfnisse, steht andererseits aber auch der für bestimmte Prozesse erforderlichen Verbindlichkeit und Kontinuität im Wege. Das Prinzip der Partizipation ermöglicht den Kindern und Jugendlichen, Inhalte und Methoden der OKJA mitzubestimmen und sich aktiv einzubringen. Partizipationserfahrungen sind als wesentlicher Bestandteil politischer Bildung zu werten (vgl. AGJF 2018, S. 14). Das Prinzip der Lebenswelt- und Sozialraumorientierung stellt sicher, dass die jeweiligen Lebenslagen, Erfahrungen und Perspektiven der Kinder und Jugendlichen auf sich selber und auf ihre Umwelt wahr- und ernstgenommen werden (Bedarfsorientierung) und dass der Sozialraum der Umgebung in die Arbeit miteinbezogen und von den BesucherInnen erschlossen und angeeignet werden kann (ebd. 2018, S. 16). Die Prinzipien und Ziele werden untermauert durch die gesetzlichen Grundlagen, auf denen die OKJA als Einrichtung der Jugendhilfe basiert.

3.2 Gesetzliche Grundlagen

„Die Offene Kinder- und Jugendarbeit ist heute unentbehrlicher Bestandteil der sozialen Infrastruktur von Städten und Gemeinden und erfüllt gemeinsam mit anderen Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit den Auftrag des SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz, KJHG), die erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen.“ (AGJF 2018, S. 5). Die gesetzlichen Regelungen der OKJA sind zum größten Teil im Sozialgesetzbuch der Kinder- und Jugendhilfe, SGB VIII, verankert. OKJA hat den gesetzlichen Auftrag, Kinder und Jugendliche mit ihrem Recht auf Förderung ihrer Entwicklung und auf Erziehung zu eigenverantwortlichen, selbstständig handelnden und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu unterstützen (SGB VIII §1, Abs.1). OKJA soll Anerkennung, Wertschätzung und das Recht auf eigene Meinung vermitteln sowie die Selbstorganisation von Kindern und Jugendlichen in ihrer Freizeit fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden und abzubauen (SGB VIII §1, Abs. 3). Die Inhalte der Arbeit sind allgemeine, politische, soziale, gesundheitliche, kulturelle, naturkundliche und technische Bildung, Sport, Spiel und Geselligkeit, arbeitswelt-, schul- und familienbezogene und internationale Kinder- und Jugendarbeit sowie Beratung (SGB VIII, §11, Abs. 3). Die gesetzlichen Grundlagen und die Arbeitsprinzipien sind das Fundament, auf dem die pädagogische Arbeit, der Bildungsauftrag sowie die Bildungspotenziale der OKJA aufbauen.

3.3 Bildung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit

„Kinder- und Jugendarbeit ist eine ausgesprochen erfolgreiche Institution. Sie erreicht mit sehr wenigen Fachkräften eine sehr große Zahl von freiwillig und motiviert teilnehmenden Kindern und Jugendlichen und fördert Bildung als Entwicklung von eigenverantwortlicher Persönlichkeit und Demokratiekompetenz.“(Sturzenhecker 2007, S. 18). Bildung ist mehr als Schule- diese Formulierung weist darauf hin, dass das Üben mitverantwortlicher Selbstbestimmung von Jugendlichen oft außerhalb von Schule stattfindet (vgl. Sturzenhecker 2003, S. 51). Die im Dezember 2001 veröffentlichte Streitschrift des Bundesjugendkuratoriums (BJK) „Zukunft sichern! - Für ein neues Verhältnis von Bildung und Jugendhilfe“ löste eine intensive Fachdebatte zum Verhältnis von Jugendhilfe und Bildung aus. Das BJK kritisierte, dass in der öffentlichen Debatte überwiegend die Zweckmäßigkeit und Verwertbarkeit von Bildung mit Fokus auf Qualifikationserfordernisse der Arbeitskräfte und auf schulische Institutionen diskutiert wurden und forderte eine Erweiterung des Bildungsverständnisses und -begriffs. Im Hinblick auf die Entwicklung der Gesellschaft zu einer Wissens-, Risiko-, Einwanderungs-, Zivil- und Arbeitsgesellschaft plädierte das BJK dafür, dass Bildung der Selbstentfaltung des Individuums und der Humanisierung und Demokratisierung der Gesellschaft dienen sollte und dass Ressourcen wie Neugier, Problemlöseorientierung, Kreativität sowie die Stärkung von Partizipation und Solidarität in Zukunft eine immer wichtigere Rolle einnehmen werden (vgl. BJK 2001, S. 1ff). In einer zunehmend komplexeren Gesellschaft wird Bildung im Sinne des Erwerbs personaler Fähigkeiten, Selbst- und Lebenskompetenz für die alltägliche Lebensbewältigung der Kinder und Jugendlichen zu einer unverzichtbaren Ressource (ebd. 2001, S. 3f). Ganz im Sinne des in Kapitel 2 dargestellten Bildungsbegriffs setzt an dieser Stelle die OKJA als bildungsvermittelnde Institution an, die aufgrund ihrer spezifischen Bildungspotenziale durch Alltagsnähe, flexible Lernformen und erfahrungsfördernde Felder die Chance zu einem hohen Maß an Selbstbestimmung und vielfältigen Gelegenheiten der Aneignung kognitiver, sozialer, ästhetischer und moralischer Kompetenzen bietet (ebd. 2001, S. 6). Inzwischen ist die OKJA als eigenständige Bildungsinstitution mit eigenem Bildungsauftrag und -anspruch zumindest in sozialpädagogischen Fachkreisen anerkannt. Die gesellschaftliche, öffentliche und politische Anerkennung ist noch ausbaufähig, was in Kapitel 7 näher erläutert wird. OKJA stellt einen vielfältigen Möglichkeitsraum für Lern- und Bildungsprozesse Jugendlicher dar, die die Bearbeitung der Kernherausforderungen Selbstpositionierung, Verselbstständigung und Qualifikation ermöglichen (vgl. BMFSFJ 2017, S. 399). Die Stärken des Bildungspotenzials der OKJA liegen in der Stärkung der Persönlichkeiten der BesucherInnen durch die Entwicklung von Selbstachtung, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung als zentrale Dimensionen der Subjektbildung (vgl. Fehrlen/Koss 2009, S. 26).Durch Aneignung von Welt und Partizipation werden Selbstbildungsprozesse angeregt und „wie kein anderer Sozialisationsort eröffnet die Kinder- und Jugendarbeit zahlreiche Möglichkeiten der Verantwortungsübernahme“(BMFSFJ2017, S. 366).Als besondere Ressource der OKJA sind die Möglichkeiten des Abbaus von Benachteiligung hervorzuheben, weshalb diesem Thema nachfolgend ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Im Gegensatz zur Schule, die laut 12. Kinder- und Jugendbericht als zweiter zentraler Bildungsort im Alltagsleben der 6-16jährigen viele prekäre Bildungsbiographien produziert, unter denen Arbeiterkinder und Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund überproportional vertreten sind, sind es die Bildungsangebote der Jugendarbeit, die ihre Stärken in der Förderung der sozialen und personalen Kompetenzen der Heranwachsenden haben (vgl. BMFSFJ 2005, S. 35).

4. Bildung und Teilhabe

Das nachfolgende Kapitel befasst sich mit den Einflüssen, die sich aus der sozialen bzw. nationalen Herkunft auf Bildungs- und Teilhabechancen ergeben, mit den Ursachen dieser Mechanismen sowie mit Möglichkeiten, die sich in der OKJA bieten, diese Auswirkungen zu kompensieren oder zu verringern.

4.1 Soziale/nationale Herkunft und Bildungschancen

Bildung bzw. die Abschlusszertifikate von Schulen und Hochschulen stellen in modernen Gesellschaften eine zentrale Ressource für individuelle Lebenschancen dar. Gute Bildungsabschlüsse sind (nicht die einzige, aber eine wichtige) Voraussetzung, um gesellschaftliche Chancen, beruflichen Erfolg, guten Lebensstandard, soziale Sicherheit sowie Selbstbestimmung und Freiheit zu erreichen und um ökonomische, gesundheitliche und soziale Risiken zu minimieren (vgl. Geißler 2006, S. 34). Eine gute Ausbildung bietet zwar keine absolute Garantie auf ein gutes Leben, ist jedoch als Risikoschutz davor zu werten, unter die Sozialhilfe- oder Armutsgrenze zu geraten. Beispielsweise lag 2006 das Risiko der Ungelernten, arbeitslos zu werden, um etwa das 3-6fache über dem der Studierten (ebd. 2006, S. 35). Ein moderner demokratischer Staat wie Deutschland steht in der Pflicht, allen Bürgern Chancengleichheit zur Wahrnehmung und Entwicklung ihrer Potenziale zu bieten, da gleichberechtigte Bildungschancen wesentlich für gesellschaftlichen Zusammenhalt und inneren Frieden sind. Weder die soziale noch die nationale Herkunft eines Menschen sollten eine entscheidende Determinante für den weiteren Lebensverlauf darstellen. Soviel zur Theorie- aber wie sieht die Praxis aus? Seit 2001 wird in den Hauptbefunden der PISA- Studien bekanntgegeben, dass es in keinem anderen Land einen so engen Zusammenhang gibt zwischen der sozialen Stellung der Familie und dem Schulerfolg der Kinder dieser Familien (vgl. Valtin 2008, S. 12). Valtin erläutert in ihrem Bericht zur sozialen Ungleichheit in Deutschland, dass Kinder aus unteren Sozialschichten und/ oder mit Migrationshintergrund einer vierfachen Benachteiligung ausgesetzt sind (ebd. 2008, S. 12). Als primäre Benachteiligung ist zu benennen, dass Kinder aus bildungsfernen Milieus schlechtere Voraussetzungen mitbringen und im Elternhaus weniger Unterstützung erfahren (beispielsweise ungünstige Bedingungen der Lesesozialisation). Die sekundäre und tertiäre Benachteiligung ergibt sich beim Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen, der in Deutschland vergleichsweise früh erfolgt. Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern erhalten sowohl von ihren LehrerInnen als auch von ihren Eltern erst bei wesentlich höheren Leistungswerten eine Gymnasialpräferenz als Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern. Selbst bei gleicher Leistung fallen die Entscheidungen beim Schulübergang tendenziell nachteilig für erstere aus.Die vierte Benachteiligung ist im internationalen Vergleich nahezu einmalig und ergibt sich aus der frühen Aufteilung in die hierarchisch gegliederten Schulformen. An dieser Stelle wird die soziale Segregation gefördert, indem sich die an den unterschiedlichen Schulformen herrschenden unterschiedlichen Entwicklungsmilieus jeweils vorteilhaft bzw. negativ auf dasLernklima und Niveau auswirken. In Schulen mit einem hohen Anteil an benachteiligten SchülerInnen leisten diese weniger, als sie eigentlich könnten und umgekehrt (vgl. Valtin 2008, S. 12).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Schulbesuch von 15-Jährigen im Jahr 2000, Quelle: Geißler 2006, S. 38

Der aktuelle Bildungsbericht von 2018 zeigt auf, dass nach wie vor der Anteil der Kinder, die in bildungsbezogenen Risikolagen aufwachsen (Haushalte mit erwerbslosen oder formal gering qualifizierten Eltern, armutsgefährdete Haushalte, Kinder von Alleinerziehenden und Kinder mit Migrationshintergrund) bei 30% liegt (vgl. ABB 2018, S. 4f). Nach wie vor beeinflusst die soziale und leistungsbezogene Klassenzusammensetzung die Unterrichtsprozesse. Ein Großteil der Hauptschulen ist mit einer Schülerschaft mit niedrigem Sozialstatus, hohem Migrationsanteil und geringem Leistungsniveau konfrontiert, während es sich beispielsweise an Gymnasien entgegengesetzt verhält (vgl. ABB 2018, S. 7). Noch extremer wirkt sich der soziale Filter bei den Studienanfängerquoten aus. Geißler zeigt auf, dass im Jahr 2000 beispielsweise 53% der Kinder aus einem Beamtenhaushalt ein Studium begannen, während es bei Kindern aus einem Arbeiterhaushalt lediglich 7% waren (vgl. Geißler 2006, S. 39). Er schlussfolgert, dass durch die Bildungsexpansion zwar die Bildungschancen für alle Schichten erhöht, dass aber dennoch schichttypische Ungleichheiten nicht beseitigt wurden (ebd. 2006, S. 40). Geißler bezeichnet die hohe soziale Selektivität aufgrund der vermeintlichen Auslese nach Leistung als „meritokratische Illusion“ und konstatiert, dass es im Bereich der Forschung nach den Ursachen der ungleichen Bildungschancen bislang noch keine aktuelle, umfassende, in sich schlüssige Theorie gäbe, sondern lediglich empirisch belegte Hinweise auf verschiedene Ursachen und Mechanismen, wie z.B. die ungleiche Entwicklung des Leistungspotenzials und die ungleiche Umsetzung von Leistungen in Bildungskapital (ebd. 2006, S. 40). Als eine mögliche Theorie zur Analyse der Wirkmechanismen, die in einer Gesellschaft zur Ungleichheit und zur Reproduktion der Ungleichheit von Teilhabe- und Bildungschancen führen können, gilt die im folgenden Kapitel dargestellte Theorie von Pierre Bourdieu.

4.2 Pierre Bourdieu- Kapital, Habitus, soziale Ungleichheit

Die in Kapitel 4.1 dargestellten Zusammenhänge zwischen sozialer/nationaler Herkunft und Bildungs(miss-)erfolgen lassen sich anhand der Gesellschaftstheorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930­2002) gut belegen. Bourdieus in den 1960er-1980er Jahren in Frankreich durchgeführten Studien lassen sich auch auf Deutschland und das deutsche Gesellschafts- und Bildungssystem übertragen und sind heute noch relevant. Bourdieu erforschte und analysierte soziale und gesellschaftliche Strukturen vor dem Hintergrund symbolischer Formen der Macht, die sich in Form von Kapital und habitualisierten, durch Sozialisation erworbenen Geschmäckern und Lebensstilen abzeichnen und einen lebenslangen Einfluss auf Hierarchisierung, Standes- bzw. Klassenzugehörigkeiten und die Reproduktion sozialer Unterschiede und Ungleichheit haben. „Dafür, daß die soziale Ordnung sich fortschreitend in den Köpfen und Gehirnen der Menschen fortsetzt, sorgen neben den mit den jeweiligen sozialen Verhältnissen gegebenen unterschiedlichen und Unterschiede produzierenden Konditionierungsprozessen die der Sozialstruktur und deren strukturierender Wirkung zugrundeliegenden Ein- und Ausschließungen [...] zuletzt auch die Bewertungen, Urteile, Rangzuweisungen und Maßregelungen, die [...] von den eigens dafür eingerichteten Institutionen wie Familie und Schule aufoktroyiert werden.“ (Bourdieu 1987, S. 734). Laut Bourdieu ist ein entscheidender Faktor für soziale Ungleichheit die nachhaltig wirkende Ausstattung einer Familie mit Kapital. „Das Kapital ist eine der Objektivität der Dinge innewohnende Kraft, die dafür sorgt, daß nicht alles gleich möglich oder gleich unmöglich ist.“ (ebd. 1992, S.49). Das Kapital bestimmt gleichermaßen über Strukturen und Funktionieren der Gesellschaft wie über Erfolgschancen jedes Einzelnen. Bourdieu unterteilt das Kapital in drei Kapitalarten: ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital, wobei das Kulturkapital nochmals in inkorporiertes, objektiviertes und institutionalisiertes Kapital aufgeteilt ist (ebd. 1992, S. 52ff). Alle Kapitalarten stehen miteinander in Zusammenhang. Wer über viel ökonomisches Kapital verfügt, hat besseren Zugang zu kulturellem und sozialem Kapital. Besonders dem kulturellen Kapital schreibt Bourdieu Auswirkungen sozialer Distinktion zu. Das inkorporierte Kulturkapital muss erarbeitet werden, bedeutet Bildung, Lern- und Unterrichtszeit. Je mehr Zeit, Anregungen und Unterstützung eine Familie ihren Kindern für Bildung bieten kann, desto leichter fällt es diesen, schulische Erfolge zu erzielen. Umgekehrt gilt, dass es für Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien wesentlich schwieriger ist, dasselbe Niveau zu erreichen, da diese andere Ausgangsvoraussetzungen haben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Kapitalarten nach Bourdieu, eigene Darstellung 2018, Quelle: Bourdieu 1992, S. 52ff

Insofern wird diese Kapitalform durch „soziale Vererbung“ weitergegeben und führt nachhaltig zu einer Reproduktion von sozialer Ungleichheit (vgl. Bourdieu 1992, S. 58). Die gesamte Kapitalausstattung der Herkunftsfamilie wirkt sogar doppelt ungleichheitsgenerierend, und zwar bereits vor Eintritt in Bildungsinstitutionen als bessere Startchance durch inkorporierte Primärsozialisation und für die Verweildauer in der Bildungseinrichtung durch entsprechendes ökonomisches, objektiviertes und soziales Kapital der Familie als sogenannter Multiplikatoreffekt (vgl. Popp et al. 2013, S. 71). Selbst bei gleicher Leistung werden Kinder, abhängig von ihrer sozialen Herkunft, unterschiedlich beurteilt, was mit der Auswirkung des jeweiligen Habitus eines Kindes auf die Lehrkraft erklärt werden kann. Somit lassen sich die Distinktionsmechanismen des Habitus als sehr wirksam und soziale Aufstiege als erschwert betrachten (ebd. 2013, S. 71). Die in der Herkunftsfamilie und dem sozialen Umfeld erworbenen Handlungsformen, Wahrnehmungsweisen und Denkschemata wirken sich als sogenannter Habitus prägend und in einem großen, aber nicht endgültigen Maße determinierend aus. Nach Bourdieu umfasst der Habitus das gesamte Auftreten einer Person, den Lebensstil, Sprache, Kleidung und Geschmack. Der Habitus bezeichnet die klassenspezifisch erworbene, unbewusste Angepasstheit der Dispositionen, Verhaltensmuster und Einstellungen einer Person an das jeweilige soziale Umfeld, wodurch sich auch der Rang oder Status einer Person in der Gesellschaft erkennen lässt (vgl. Stangl 2018, S.1). Der Habitus ist durch die Sozialisationserfahrungen strukturiert, wirkt zugleich auch strukturierend und wirkt ebenso als System von Grenzen. „Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist.“ (Bourdieu 1992, S. 33). Somit fungiert der Habitus als Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft, indem er als vielschichtiges System von Denk-, Wahrnehmungs­und Handlungsmustern das individuelle Handeln und Verhalten mitbestimmt und zugleich gesellschaftlichen Ursprungs ist (vgl. Korte 2010, S. 74). Die Konsequenzen, die der im Herkunftsland und in der Herkunftsfamilie erworbene Habitus für den Lebenslauf eines Menschen haben kann, sind demnach leicht zu erkennen. Wer in einer von der Gesellschaft hoch angesehenen und anerkannten Schicht aufwächst, hat qua Geburt bessere Chancen, unter seinesgleichen und von den anderen als solches erkannt und anerkannt zu werden und einen hohen Lebensstandard zu erreichen, als jemand, der im unteren Schichtmilieu aufwächst oder in einem anderen Land sozialisiert wurde, was zur Ungleichheit von Chancen und Teilhabe führt. Dennoch ist der Habitus nicht vollkommen determinierend. Trotz des Habitus ist es möglich, subjektive individuelle Handlungsstrategien zu entwickeln, die Veränderungen ermöglichen, allerdings immer im Rahmen bzw. in den Grenzen der eigenen Biographie und Sozialisation (vgl. Dörpinghaus/Uphoff 2012, S. 154). Bourdieu räumt ein, dass es möglich ist, trotz einer statistischen Wahrscheinlichkeit, aufgrund des Habitus und des ökonomischen sowie kulturellen Anfangskapitals zu einer sozialen und schulischen Laufbahn verurteilt zu sein, abweichende, also für die Klasse höhere oder niedere Laufbahnen einzuschlagen (vgl. Bourdieu 1987, S. 190).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Funktionen des Habitus, Quelle: Bourdieu 1987, S. 280

An dieser Stelle liegt die Verbindung zwischen Bourdieus Theorie und dem Thema dieser Arbeit. Die OKJA bietet spezifische Möglichkeiten, den BesucherInnen zumindest Chancen und Wege aufzuzeigen, sich aus ihrer vermeintlichen Determinierung zu lösen und andere Wege zu gehen, als ihnen in ihrer Herkunftsfamilie vorgelebt werden. Damit befasst sich das nächste Kapitel.

4.3 Möglichkeiten und Grenzen des Abbaus von Benachteiligung in der OKJA

Als Schlussfolgerung der Kapitel 4.1 und 4.2 ist erkennbar, dass die soziale und die nationale Herkunft erheblichen Einfluss auf Bildungschancen, -potenziale und -wege von Kindern und Jugendlichen hat. Aufgrund der besonderen Strukturen und der vielfältigen Möglichkeiten der OKJA als non-formale und informelle Bildungsinstitution kann diese nachhaltig zur Unterstützung benachteiligter Kinder und Jugendlicher beitragen. Die Ziele der OKJA orientieren sich grundsätzlich an dem Maßstab, junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung zu fördern und dazu beizutragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen sowie positive Lebensbedingungen zu schaffen oder zu erhalten (vgl. AGJ 2005, S. 2). Die OKJA leistet einen wesentlichen Beitrag zur Aufrechterhaltung einer ausgewogenen sozialen Infrastruktur und trägt zur Vermeidung von Ausgrenzung sowie der Integration von bildungs- und sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen bei (ebd. 2005, S.1). Die pädagogischen Fachkräfte in der OKJA sind in ihrer Arbeit besonders gefordert, im Umgang mit verschiedenen Differenzlinien innerhalb der Besucherklientel den Balanceakt zwischen Fordern und Fördern, zwischen Toleranz und Akzeptanz individueller Ausgangs- und Lebenslagen sowie Erkennen und Ausschöpfen des Bildungspotenzials jedes Einzelnen zu leisten. Eine besondere Chance für den Abbau von Benachteiligung liegt in der Tatsache begründet, dass die OKJA durch ihre niedrigschwellige Struktur und ihre Prinzipien besonders gut benachteiligte Kinder und Jugendliche erreichen kann. Die Analyse der Besucherstruktur der OKJA ergibt, dass die BesucherInnen überwiegend aus sozial schwierigen, belasteten und/oder bildungsfernen Milieus stammen und überproportional einen Migrationshintergrund haben (vgl. Schmidt 2013, S. 15). Hinzu kommt noch seit 2015 der hohe Anteil an jungen Geflüchteten, deren Integration und Bildung auch als Aufgabe und Herausforderung der OKJA zu werten ist. Diese BesucherInnen sind in ihrem Lebensalltag und sozialen Umfeld oftmals hochbelastet und erleben häufig in der Schule negative Erfahrungen mit Bildung in Form von Stress, Versagen, Misserfolgen, Überforderung und wenig Anerkennung. Sie können sich schlecht konzentrieren, haben oftmals intellektuell und/oder sprachlich bedingte Verständnisschwierigkeiten, sind desinteressiert, unmotiviert und bekommen selten die Unterstützung seitens der Schule oder des Elternhauses, die sie benötigen. Ein derart belastetes Lernklima verhindert, dass Ressourcen und Potenziale erkannt und freigesetzt werden können, dass die Kinder und Jugendlichen Erfolgserlebnisse haben, positive Erfahrungen mit Lernen machen können oder ihr Selbstwertgefühl gestärkt wird. Genau an dieser Stelle leistet die OKJA einen wichtigen Beitrag zur Bildung besonders der benachteiligten Kinder und Jugendlichen und damit zugleich zum Abbau von Benachteiligung. Durch Verzicht auf vorgegebene Lernziele und damit verbundene Kontrollen und Selektionen, orientiert sich die OKJA an den Interessen und Lebenswelten ihrer AdressatInnen.

„In der Schule lernen Kinder und Jugendliche, weil sie sollen. In der Kinder- und Jugendarbeit lernen sie, weil sie wollen.“ (Delmas 2005, S.81). Viele Kinder und Jugendliche erleben im Jugendhaus erstmalig im Verlauf ihrer Biographie einen respektvollen und wertschätzenden Umgang mit ihrer Person, werden ermutigt und motiviert, sich auszuprobieren und sich einzubringen, haben Erfolgserlebnisse, dürfen Fehler machen und erleben sich positiv. Marginalisierte Kinder und Jugendliche sind in besonderem Maße bedürftig. Es gilt, ihnen durch Sicherheit, Kontinuität, Anerkennung und die Vertrautheit sozialer Beziehungen überhaupt eine Basis und Voraussetzung für selbsttätige Bildung und Aneignung von Welt zu schaffen. „Jugendarbeit bietet den „Habenichtsen“ eine soziale und räumliche „Heimatbasis“, in der sie sich so finden und stärken können, dass sie es wagen können, ihre Potentiale von Selbstbestimmung zu erschließen und zu erweitern. Das eigene Leben selbst- und mitverantwortlich in die Hand zu nehmen, lernen viele (benachteiligte) Mädchen und Jungen im Wesentlichen außerhalb von Schule.“ (Sturzenhecker 2003, S. 52). Jedoch muss auch kritisch erwähnt werden, dass der OKJA beim Abbau von Benachteiligung durchaus Grenzen gesetzt sind. Diese basieren zum einen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Was also einerseits Voraussetzung für den spezifischen Bildungsprozess in der OKJA ist, ist andererseits auch als Hindernis zu werten. „Du kannst das Pferd zum Wasser führen, aber trinken muss es alleine“- die Kinder und Jugendlichen entscheiden letztendlich selbst, ob und wann sie die Einrichtung besuchen und ob und inwiefern sie sich auf Angebote und Bildungsprozesse einlassen. Zum anderen sind auf gesellschaftlicher und bildungspolitischer Ebene Grenzen erkennbar. Solange wir in einer Gesellschaft leben, in der die dominante Leitorientierung für Bildungsprozesse trotz aller Pluralisierung der Lebensstile nach wie vor auf einem bürgerlichen Lebensmodell mit Anforderungen wie Lernbereitschaft, Leistungs- und Kommunikationsfähigkeit, rationaler Selbstkontrolle und kognitiver Wissensorientierung beruht, kann die OKJA zwar Bewältigungsprozesse für die jeweilige soziale Lebenslage initiieren, nicht aber direkt zum Erwerb erfolgreicher Bildungsabschlüsse und damit verbundener Chancen beitragen (vgl. Sting/Sturzenhecker 2013, S. 380f).

[...]

Final del extracto de 86 páginas

Detalles

Título
Die Offene Kinder- und Jugendarbeit als Bildungsakteur
Subtítulo
Möglichkeiten bildungsorientierter Kinder-und Jugendarbeit
Universidad
University of Hagen
Calificación
2,3
Autor
Año
2018
Páginas
86
No. de catálogo
V1170627
ISBN (Ebook)
9783346591647
Idioma
Alemán
Palabras clave
Offene Kinder-und Jugendarbeit, Jugendarbeit, Bildung
Citar trabajo
Kerstin Boos (Autor), 2018, Die Offene Kinder- und Jugendarbeit als Bildungsakteur, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1170627

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Título: Die Offene Kinder- und Jugendarbeit als Bildungsakteur



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