Der "Neue Mensch" und die sozialistische Revolution. Zur Kritischen Theorie von Herbert Marcuse


Hausarbeit, 2021

30 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Ausgang des Menschen aus dem Spätkapitalismus
2.1 Zur spätkapitalistischen Kulturindustrie: Der eindimensionale Mensch (1964)
2.2 Das eindimensionale Denken
2.3 Der spätkapitalistische Mensch in der marxistischen Geschichtsphilosophie
2.4 Exkurs: Das revolutionäre Subjekt

3. Marcuses Anthropologie aus seinem Hauptwerk Triebstruktur und Gesellschaft (1957)

4. Kritische Würdigung des „Neuen Menschen“ Marcuses
4.1 Der „Neue Mensch“ vor dem Hintergrund der marxistischen Geschichtsphilosophie
4.2 Herbert Marcuses als Hauptvertreter des Freudo-Marxismus in der Kritischen Theorie

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Als einer der Hauptvertreter der Kritischen Theorie, die im Frankfurt der 1930er Jahre ihren Ausgang nahm, gilt der gebürtige Berliner Herbert Marcuse. Seit 1917 Mitglied der SPD und 1918 in einen Soldatenrat gewählt, der kurze Zeit später von Freikorpstruppen zerschlagen wird, wendet sich Marcuse nach der Ermordung Rosa Luxemburgs von der „systemtreuen“ SPD ab.1 1922 habilitiert er sich mit einer wenig beachteten Schrift über den deutschen Künstlerroman, später wendet er sich vollends der Philosophie zu und wird Assistent von Heidegger in Freiburg. In den frühen 30er Jahren werden die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte Marxens aus dem Jahre 1844 veröffentlicht, die zu einem Wendepunkt in der Genese des philosophischen Denkens Marcuses werden. Um der drohenden Gefahr der nationalsozialistischen Massenbewegung zu entgehen, flüchtet Marcuse mit seiner Familie über Genf nach New York und schließt sich dem Frankfurter Institut für Sozialforschung an, einem neomarxistisch orientierten Intellektuellenzirkel deutscher Emigranten um Horkheimer und Adorno.2 Deren Hauptanliegen ist die Frage, wie der Nationalsozialismus trotz fortschreitender Aufklärung möglich wurde, warum die proletarische Revolution unter den ökonomischen Bedingungen der kapitalistischen Hochindustrie ausblieb und die Arbeiterschaft politischen Parteien zustrebte, die ihrem „objektivem Klasseninteresse“ entgegenstehen. Ihre Ergebnisse kulminieren in der Dialektik der Aufklärung3, einer esoterischen und schwer verständlichen Aufsatzsammlung, und den Studien zum autoritären Charakter4, die Adorno maßgeblich unter Mitwirkung von Mitarbeitern der Universität Berkeley verfasste. Dreh- und Angelpunkt dieser Arbeiten ist ein erweiterter Analyserahmen, der die bloß ökonomische Schlagseite des Marxismus zugunsten einer kulturtheoretischen Ausrichtung überwindet.5 Herbert Marcuse kommt im Wirkungskreis der Frankfurter Schule das Verdienst zu, den Marxismus durch die freudianische Psychoanalyse bereichert zu haben. Seine Programmschriften Triebstruktur und Gesellschaft6 sowie Der eindimensionale Mensch7 gelten heute als Klassiker der psychoanalytisch angehauchten Sozialwissenschaft. Sie trugen außerdem maßgeblich zur Politisierung der deutschen Studentenbewegung der Nachkriegszeit bei. Im Unterschied zu Adorno und Horkheimer ließ Marcuse nie vom Gedanken der Notwendigkeit einer umfassenden Revolution menschlich-sozialer Verhältnisse ab. Eine Beschäftigung mit Marcuses Revolutionstheorie lohnt sich daher allein aufgrund der Tatsache, dass er wie kein anderer kritischer Theoretiker eine klare sozialistische Marschrichtung vorgab und zum Übervater der revoltierenden Studenten der späten 1960er Jahre wurde.8 Darüber hinaus haben sich seine innovativen Gedanken in der interdisziplinären Sozialwissenschaft festgesetzt – so rekurrieren insbesondere soziologische Zeitdiagnostiker auf Grundzüge der Kulturkritik Marcuses, exemplarisch etwa in Byung Chul-Hans kulturpessimistischem Essay Müdigkeitsgesellschaft9.

Im Zentrum dieser Arbeit die Frage, auf welchem Menschenbild Marcuses Kritische Theorie beruht und inwiefern dieses aus einer skeptischen Perspektive zu bewerten ist. Im ersten Kapitel werden wir die Hintergründe der sozialistischen Revolutionstheorie erörtern. Hierfür wirft der Verfasser dieser Arbeit einen Blick auf den „spätkapitalistischen“ Kulturmenschen, der für Marcuse zivilisationskrank, von der Arbeit entfremdet und einer absatzorientierten Kulturindustrie schutzlos ausgeliefert ist. Anschließend beschreiben wir das „eindimensionale“ Denken, das nicht jenseits des Bestehend denke und in einem affirmativen Positivismus gefangen sei. Schließlich soll die marxistische Geschichtsphilosophie und die Stellung des spätkapitalistischen Menschen in ihr beleuchtet werden. Seinen Abschluss findet das Kapitel im Exkurs über „Das revolutionäre Subjekt“. Dort steht im Vordergrund, welcher gesellschaftlichen Strömung, Klasse oder organisierten Gruppierung Marcuse die Umwälzung der menschlich-sozialen Verhältnisse zutraut. Das Herzstück der Arbeit bilden die Kapitel 3 und 4, in denen zuerst Marcuses Anthropologie aus seinem psychoanalytischen Werk herausgestellt wird und darauf aufbauend eine kritische Würdigung des „Neuen Menschen geleistet werden soll. Der „Neue Mensch“ wird einerseits im Rahmen der materialistischen Geschichtsauffassung Marxens beleuchtet, andererseits soll Marcuses anthropologisches Fundament, das man allgemein als Freudo-Marxismus bezeichnet, aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive kritisiert werden. Den Abschluss bildet ein Fazit.

2. Der Ausgang des Menschen aus dem Spätkapitalismus

Im Jahre 1964 erschien in englischsprachiger Erstauflage Marcuses gesellschaftstheoretische Zeitdiagnose One-Dimensional Man, in der er zum Rundumschlag gegen den spätkapitalistischen Zeitgeist und die kulturindustrielle Gesellschaft ausholte. Es avancierte nach seiner deutschsprachigen Veröffentlichung 1967 schnell zum Hauptwerk der psychoanalytischen kritischen Theorie.10 In den folgenden Punkten werden die zentralen Argumentationslinien von Marcuses Kulturkritik nachgezeichnet. Dabei muss berücksichtigt werden, dass diese aus forschungspraktischen Gründen nur skizzen- und überblicksartig bleiben.11

2.1 Zur spätkapitalistischen Kulturindustrie: Der eindimensionale Mensch (1964)

Bereits in der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer findet sich ein philosophisches Fragment, das den Titel Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug trägt: Wo im bürgerlich-liberalen Zeitalter die Kunst und Kultur noch die Funktion hatten, gesellschaftliche Debatten entweder zu reflektieren oder evozieren, seien diese im Spätkapitalismus zur konsumierbaren Massenkultur entartet, die die Wirkung hätten, die institutionelle Herrschaftsstrukturen zu zementieren und das herrschaftskritische Denken zu betäuben.12 Auch in Marcuses Werken finden sich zahlreiche Anknüpfpunkte zur Kulturkritik Adornos und Horkheimers. Allerdings radikalisiert er deren Gesellschaftskritik und befruchtet sie politisch. Die aggressivste Anprangerung der sozialökonomischen Verhältnisse im Spätkapitalismus findet sich in seinem Opus Magnum Der eindimensionale Mensch. Brennpunkt der dortigen Ausführungen ist die Feststellung, dass das Proletariat, die ausgebeutete Klasse in Marxens Klassentheorie, und die Bourgeoisie, die ausbeutende Klasse, auch im späten Kapitalismus die basalen Klassen bildeten, deren Gegensätzlichkeit jedoch durch technische Errungenschaften und erhöhten Lebensstandard nicht erkenntlich sei, sondern vernebelt werde.13 Wie Marx nimmt Marcuse an, dass der „Ausschluß von der Kontrolle über die Produktionsmittel die gemeinsame objektive [Hervorh. i. O.] Lage aller Lohn- und Gehaltsempfänger“14 bestimmt. Im Spätkapitalismus, in dem sich die gegenwärtige Gesellschaft befinde, seien die kapitalistischen Produktivkräfte bereits umfänglich entwickelt. Dem Geist der Frankfurter Schule entsprechend befasst sich Marcuse daher mit der Frage, wieso das Bewusstsein der Arbeiterklasse hinter dem ökonomischen Sein (d. h. der gesellschaftlichen Akkumulation der Produktivkräfte und Produktionsmittel, die den Sozialismus bereits erlaube) zurückbleibt. Diese Problematik nutzt Marcuse, um seine Ideologiekritik zu entfalten. So liegt Marcuses primäres Angriffsziel auch nicht im Produktionsprozess, sondern in der Ideologie, die „im Produktionsprozeß selbst steckt“15. Wie ist nun diese Ideologie verfasst? Marcuse geht axiomatisch davon aus, dass sich „wahre“ menschliche Bedürfnisse und artifizielle, also durch die fortgeschrittene Industriegesellschaft künstlich erzeugte „falsche“ Bedürfnisse unterscheiden lassen. So definiert er die „falschen“ Bedürfnisse:

“Falsch“ sind diejenigen, die dem Individuum durch partikuläre gesellschaftliche Mächte, die an seiner Unterdrückung interessiert sind, auferlegt werden: diejenigen Bedürfnisse, die harte Arbeit, Aggressivität, Elend und Ungerechtigkeit verewigen.16

Die „wahren“ Bedürfnisse definiert er hingegen als die „einzigen Bedürfnisse, die einen uneingeschränkten Anspruch auf Befriedigung haben, […] die vitalen – Nahrung, Kleidung und Wohnung auf dem erreichbaren Kulturniveau.“17. Die kapitalistische Ideologie verschleiere diesen Gegensatz wahr – falsch, sodass die Menschen irrtümlicherweise davon ausgehen, dass die künstlich geschaffenen Bedürfnisse ihre natürlichen Bedürfnisse sind. Die Befriedigung der „falschen“ Bedürfnisse setzten sie wiederrum mit individueller Freiheit, Glück und Wohlstand gleich. Infolgedessen introjizieren sie die gesellschaftlichen Werte, die mit der kapitalistischen Herrschaftsstruktur verbunden sind. Mit anderen Worten: Der Produktionsapparat erhält sich nicht durch die materielle Gewalt seines Zwangscharakters, sondern durch die Identifizierung des Individuums mit der gesellschaftlichen Produktionsweise, die ihm Bedürfnisbefriedigung verschafft – Marcuse nennt dieses Phänomen die „Mimesis“18. Somit werden die menschlichen Bedürfnisse am Maßstab des ökonomischen Systems gemessen und nicht an den vitalen Bedürfnissen des einzelnen. Unterstützend wirkten die Rationalität der Technik und die Bürokratie, die die Menschen die „Irrationalität des Ganzen“ nicht erscheinen ließen. In diesem Punkt radikalisiert Marcuse die Rationalisierungsthese Max Webers, der im bürokratischen Apparat ein „stahlhartes Gehäuse“19 sah, das die Individuen in die Zwangsjacke der zweckgebundenen Rationalität stecke. In der mit der Bürokratie Hand in Hand gehenden Technik sieht Marcuse das Vehikel, den Menschen als Objekt der gesellschaftlichen Organisierung ersetzen zu können. Ökonomische Hörigkeit, die für Marx in der bürgerlichen Gesellschaft zentral war, avanciert für Marcuse in der hochindustriellen Gesellschaft in die technisch-rationale Hörigkeit.20

Der innovative Impuls Marcuses, der ihn von den bloß ökonomistisch denkenden Vulgärmarxisten unterscheidet, liegt darin, dass er das Konsumverhalten der produktionsmittelabhängigen Klasse mit einer Zustimmung für den politischen, sozialen und ökonomischen Unterdrückungsapparats gleichsetzt. Wie Marcuse vor diesem Hintergrund in seinem Vortrag Das Ende der Utopie (1967) verdeutlicht, werden Bedürfnisse somit zu Produktivkräften im marxistischen Sinne.21 Werden die „falschen“ Bedürfnisse sublimiert (auf eine höhere Stufe gebracht), kann auch die gesellschaftliche Produktionsweise zum Positiven verändert werden. Dieser Gedanke ist die Achillessehne von Marcuses Kulturtheorie und der raison d’être des repressiven Apparats. Bildende Kunst, politische Talkshows, Radio-Musik und sonstige kulturelle Angebote haben nach Marcuse einen „gemeinsamen Nenner“22: den Warencharakter. Solange die unterdrückten Menschen nicht hinter den Vorhang des Produktionssystems schauen und den Blick auf die Befriedigung „wahrer“ Bedürfnisse richten, könne es keine gesellschaftliche und ökonomische Fundamentalrevolution geben. Das heißt im Umkehrschluss, dass die spätkapitalistische Konsummoral die repressive Gesellschaft reproduziert: der Mensch legt sich selbst in Ketten.23

Was in diesem Kapitel bewusst vernachlässigt wurde, ist der freudianische Einschlag, den Marcuse seiner Zeitdiagnose einimpft. Es kann allerdings vorweggenommen werden, dass der Bedürfnisbegriff bei Marcuse sehr eng an den Begriff des Triebes in der Psychoanalyse Freuds gekoppelt ist. Der Autor dieser Arbeit sieht den Trieb allerdings hauptsächlich im Kontext von Marcuses Gesellschafts therapie auftreten, wohingegen das Bedürfnis eine Kategorie seiner Zeit diagnos e ist. Aus diesem Grunde soll insbesondere Kapitel 3.1 entscheidende Anmerkungen zur Möglichkeit einer sublimierten Triebstruktur enthalten. Im Anschluss an dieses Kapitel soll das eindimensionale Denken beleuchtet werden, das die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse forcierte und eine Revolution verunmögliche.

2.2 Das eindimensionale Denken

Im letzten Kapitel sollte deutlich geworden sein, dass die Abnahme von Waren und Gütern durch die Arbeitermassen, die der Befriedigung künstlich erzeugter Bedürfnisse dienen, die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse zementieren. Doch auch auf der Ebene des Diskurses und kritischen Denkens finden sich nach Marcuse „neue Formen der Kontrolle“24. In der Auseinandersetzung mit dem „eindimensionalen“ Denken unterscheidet sich Marcuse stark von seinem Frankfurter Kollegen Adorno, der als sehr resignativ, teilweise sogar defätistisch galt. Schon der Untertitel seines Werkes Minima Moralia zeugt von seiner tiefen Depression: Reflexionen aus dem beschädigtes Leben.25 Wo Adorno im Rahmen seiner melancholischen Grundhaltung einen methodologischen Negationismus befürwortete, er der kritischen Theorie also primär die Rolle einer Ideologie dechiffrierenden Theorie zusprach, wollte Marcuse seine Polemik gegen das „eindimensionale“ Denken nutzen, um das Bild einer neuen, revolutionär geschaffenen Gesellschaft zu malen.26 Das grenzt ihn fundamental von Adorno ab, der strikt auf das „Bilderverbot“ der Frankfurter Schule beharrte.27 Im Folgenden soll Marcuses tiefe Ablehnung gegen das von ihm so bezeichnete eindimensionale Denken, das nicht jenseits des Bestehenden hinausdenke, beschrieben werden. Ein zentraler Unterschied in der Philosophiegeschichte ist nach Marcuse die Differenz zwischen Schein und Sein. Diese Differenz schaffe einen antagonistischen Kosmos, eine Welt der Zweidimensionalität, die den Dichotomien „Erscheinung und Wirklichkeit, Unwahrheit und Wahrheit […] Unfreiheit und Freiheit […]“28 folge. Aufgabe der Philosophie – das unterscheide sie von der empirisch-analytisch ausgerichteten Wissenschaft (Positivismus) – sei es, wahre Aussagen über Wirklichkeit, Wahrheit und Freiheit zu treffen.29 Im Sinne der dialektischen Logik müsse der Philosoph die Kontingenz des gegenwärtigen Zustands x postulieren und sich für ein fundamental Anderes einsetzen, wenn er erkennt, dass x unwahr sei und die Unfreiheit begünstige. Mit anderen Worten: Der „umstürzende Charakter der Wahrheit [lege] dem Denken eine imperativische [Hervorh. i. O.] Qualität auf“30. Das heißt, dass sich Theorie und Praxis nicht trennen lassen. Dies bekräftigend führt Marcuse aus:

Das Denken hat keine Macht, einen solchen Wandel herbeizuführen, wenn es nicht in Praxis übergeht, und gerade die Abspaltung von der materiellen Praxis, in der die Philosophie ihren Ursprung hat, verleiht dem philosophischen Denken seine abstrakte und ideologische Qualität.31

Unter den Bedingungen der spätkapitalistischen Zivilisation sei das kritische, also potenziell umstürzlerische Denken, jedoch in den Hintergrund gerückt. Der Mensch – auch der denkende – sei der Logik der Herrschaft unterworfen und dem Effizienzbestreben der Bürokratie ausgeliefert. Somit bestehe die Herausforderung darin, auf einer epistemologischen Ebene Souveränität zu erlangen und jenseits des Bestehenden zu denken: „Es gibt eine logische Mimesis, die die Gesetze des Denkens in vorsorglicher Übereinstimmung mit den Gesetzen der Gesellschaft formuliert“32. Die logische Mimesis führe in vorauseilendem Gehorsam dazu, dass kritische Ideen, die die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Verhältnisse potenziell revolutionierten, vom konsumistischen Unterdrückungsapparat absorbiert werden. Somit verkomme die verfassungsrechtlich verbriefte Rede- und Denkfreiheit zur formaljuristischen Farce.33 In seinem Essay Versuch über die Befreiung (1969) schlägt er deshalb eine „linguistische Therapie“ vor: „das heißt: die Anstrengung, Wörter (und damit Begriffe) von der nahezu totalen Erstellung ihres Sinns zu befreien“34.

2.3 Der spätkapitalistische Mensch in der marxistischen Geschichtsphilosophie

In den vorangegangenen Kapiteln haben wir den zeitdiagnostischen Rahmen abgesteckt, den Marcuse in seinem politökonomischen Hauptwerk entwickelte. Nun soll die marxistische Geschichtsphilosophie, in deren geistige Tradition sich Marcuse stellt, skizziert werden.

Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“35, formulierten Marx/Engels im Kommunistischen Manifest. Dies ist einer der berühmtesten Sätze des Kommunistischen Manifestes, dem Grundlagendokument der revolutionären Marxismus36, und begründet den historischen Materialismus37, die materialistische Geschichtsauffassung, wonach der Sozialismus respektive die „Diktatur des Proletariats“notwendigerweise auf den Kapitalismus folgt. Mit dieser Notwendigkeit ist zugleich ein teleologisches Geschichtsbild verbunden, das heißt die philosophische Auffassung, wonach geschichtliche Epochen an Zwecke gebunden sind.

[...]


1 Vgl. Brunkhorst, Hauke/Koch, Gertrud: Herbert Marcuse zur Einführung. Hamburg: Junius, 1987, S. 7.

2 Vgl. Breuer, Stefan: Kritische Theorie. Schlüsselbegriffe, Kontroversen, Grenzen. Tübingen: Mohr Siebeck, 2016, S. 158-159. Vgl. Brunkhorst/Koch, 1987, S. 7.

3 Vgl. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 23. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer, 2017.

4 Vgl. Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter, 2. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976.

5 Neben der Frankfurter Schule beschäftigte sich auch der österreichische Psychiater und bekannte Freudo-Marxist Wilhelm Reich mit dem Phänomen der Kultur, die als „ideologischer Zement“ zur Erhaltung der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Verhältnisse beitrage. Vgl. Reich, Wilhelm: Massenpsychologie des Faschismus, 2. Auflage. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1972.

6 Vgl. Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Bd. 158, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977.

7 Vgl. Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Bd. 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989.

8 Marx, Mao, Marcuse lautete ein geflügeltes Wort der Studentenbewegung. Das verdeutlicht etwa der gleichnamige Titel des Buches von Wolfgang Kupsch. Vgl. Kupsch, Wolfgang: Mao Marx Marcuse. Hamburg: Herbert Reich, 1974. Die Worte des Vorsitzenden Mao Tse-Tung, auch als „Rote Bibel“ bekannt, erfreute sich großer Beliebtheit in der neulinken Szene der frühen Bundesrepublik. Vgl. Tse-Tung, Mao: Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung. Essen: Neuer Weg, o. J.

9 Vgl. Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz, 2010.

10 Vgl. Breuer, 2016, S. 184.

11 In unserer Darstellung von Marcuses zentralen Argumentationssträngen wird etwa die Tatsache vernachlässigt, dass Marcuse die spätkapitalistische Gesellschaft Gefahr laufen sah, in den Faschismus abzudriften: „Ihre [der Kritischen Theoretiker, Anm. d. Verf.] Grunderfahrung aber bildete der Faschismus, den sie nicht als ‚Betriebsunfall‘ der Geschichte, sondern als den Kulminationspunkt westlicher Zivilisation und ihrer rein formalen Rationalität auffaßte.“ (Gmünder, Ulrich: Kritische Theorie: Horkheimer, Adorno, Marcuse, Habermas. Stuttgart: Metzler, 1985, S. 8.)

12 Vgl. Adorno/Horkheimer, 2017, S. 128-176. Dazu außerdem das Hauptwerk des Kritischen Theoretikers Benjamin. Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 1936, 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2020.

13 Vgl. Lipp, Wolfang: Apparat und Gewalt: Über Herbert Marcuse, in: Soziale Welt, 20. Jahrg., 1969, S. 280. Vgl. Marcuse, 1989, S. 12-15.

14 Marcuse, Herbert: Konterrevolution und Revolte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973, S. 23.

15 Marcuse, 1989, S. 31.

16 Ebd., S. 25.

17 Ebd.

18 Vgl. ebd., S. 30. An anderer Stelle formuliert er: „Denn der gegenwärtige Kapitalismus reproduziert sich zunehmend über die Introjektion seiner Bedürfnisse und deren Befriedigungsmöglichkeiten durch die Individuen selber, die ihn zu ihrem eigenen Bedürfnis machen und die Gesellschaft, die sie unterdrückt, auf diese Weise reproduzieren.“ (Marcuse, Herbert: Gespräche mit Herbert Marcuse. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996, S. 127.) In Versuch über die Befreiung schreibt er: „Der Produktionsprozeß des fortgeschrittenen Kapitalismus hat jedoch die Herrschaftsform geändert: der technologische Schleier verdeckt die Anwesenheit und die Wirksamkeit des Klasseninteresses in der Ware.“ (Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969, S. 27.)

19 Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 9. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck, 1988, S. 203.

20 Neben Marcuse kritisierten auch Adorno/Horkheimer die „verwaltete Welt“, die bürokratische Organisierung, materielle Automation und Anonymisierung der Herrschaft bedeute und ein faschistisches Potenzial habe. Vgl. Adorno/Horkheimer, 2017, S. 2.

21 Vgl. Marcuse, Herbert: Das Ende der Utopie. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967. Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik, 1980, S. 16.

22 Marcuse, 1989, S. 77.

23 Der französische Staatstheoretiker Jean-Jacques Rousseau formulierte in seinem Gesellschaftsvertrag eine ähnliche Metapher: „Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Ketten.“ (Rousseau, Jean-Jacques: Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts 1758. Hamburg: Nikol Verlagsgesellschaft, 2016, S. 11.)

24 Marcuse, 1989, S. 21.

25 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969.

26 Das wichtigste ideologie- und sprachkritische Werk Adornos ist die Schrift Jargon der Eigentlichkeit, das in der formalen Sprache von Funktionsträgern bei zeremoniellen Anlässen Reminiszenzen an faschistischen Sprachgebrauch der NS-Zeit erkannte. Als prominente Negativfolien nutzte Adorno die Philosophen Karl Jaspers und Martin Heidegger. Vgl. Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1964.

27 Vgl. Gmünder, 1985, S. 7.

28 Marcuse, 1989, S. 141.

29 Im Geiste des Linkshegelianismus wird die Vernunft in Marcuses kritischer Theorie zur „bewegenden Kraft“ (Gmünder, 1985, S. 5). Im Eindimensionalen Menschen führt er dazu aus: „In der Gleichung Vernunft = Wahrheit = Wirklichkeit, welche die subjektive und objektive Welt zu einer antagonistischen Einheit verbindet, ist die Vernunft die umstürzende Macht, die ‚Macht des Negativen‘, die als theoretische und praktische Vernunft die Wahrheit für die Menschen und Dinge darlegt – das heißt die Bedingungen, unter denen die Menschen und Dinge zu dem werden, was sie wirklich sind.“ (Marcuse, 1989, S. 139.)

30 Ebd., S. 148.

31 Ebd., S. 149-150.

32 Ebd., S. 154.

33 Diese Kritik eint Marcuse und Horkheimer/Adorno. Man kann außerdem, davon ausgehen, dass Marcuse in der Konzeption des eindimensionalen Denkens maßgeblich von ihnen beeinflusst wurde. So Adorno/Horkheimer zum positivistischen Denken: „Wären es nur Hindernisse, die sich aus der selbstvergessenen Instrumentalisierung der Wissenschaft ergeben, so könnte das Denken über gesellschaftliche Fragen wenigstens an die Richtungen anknüpfen, die zur offiziellen Wissenschaft oppositionell sich verhalten. Aber auch diese sind von dem Gesamtprozeß der Produktion ergriffen.“ (Adorno/Horkheimer, 2017, S. 2.)

34 Marcuse, 1969, S. 22.

35 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, 2. Auflage. Hamburg: Nikol Verlagsgesellschaft, 2013, S. 42. Weiter heißt es wörtlich, dass „die ganze Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen ist, Kämpfen zwischen ausgebeuteten und ausbeutenden, beherrschten und herrschenden Klassen auf verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung; daß dieser Kampf aber jetzt [im Kapitalismus; Anmerk. d. Verf.] eine Stufe erreicht hat, wo die ausgebeutete und unterdrückte Klasse […] sich nicht mehr von der sie ausbeutenden und unterdrückenden Klasse […] befreien kann, ohne zugleich die ganze Gesellschaft für immer von Ausbeutung […] zu befreien“ (Ebd., S. 14.)

36 Der sozialistische Gegenspieler des revolutionären Marxismus sind die sogenannten „Frühsozialisten“. Sie der Glaube an die Einsicht der Kapitalisten, dem Proletariat ein Leben in Gleichheit und Freiheit zu ermöglichen. Sie lehnen revolutionäre Maßnahmen demnach ab und bevorzugen sozialreformerische Ansätze. Dies veranlasste revolutionär eingestellte Kommunisten, dem Frühsozialismus den Stempel „utopisch“ aufzudrücken. Vgl. Beyme, Klaus von: Sozialismus: Theorien des Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus im Zeitalter der Ideologien 1789-1945. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2013, S. 19-20.

37 Hegel, den Marx „vom Kopf auf die Füße stellte“, hatte im Gegensatz zu Marx‘ Materialismus eine idealistische Geschichtsauffassung und sah im „Weltgeist“ und der „Vernunft“ die treibenden geschichtlichen Kräfte. Vgl. Thiele, Ulrich: Verfassung, Volksgeist und Religion. Hegels Überlegungen zur Weltgeschichte des Staatsrechts. Berlin: Duncker & Humblot, 2008.

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Details

Titel
Der "Neue Mensch" und die sozialistische Revolution. Zur Kritischen Theorie von Herbert Marcuse
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Institut für Politikwissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
30
Katalognummer
V1170814
ISBN (eBook)
9783346588272
ISBN (Buch)
9783346588289
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kritische Theorie, Herbert Marcuse, Revolutionstheorie, Sigmund Freud, Marxistische Geschichtsphilosophie, Der eindimensionale Mensch, Triebstruktur, 68er
Arbeit zitieren
Hendrik Maier (Autor:in), 2021, Der "Neue Mensch" und die sozialistische Revolution. Zur Kritischen Theorie von Herbert Marcuse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1170814

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