Warum werden Menschen abhängig von Substanzen wie Alkohol?

Wie entsteht diese Abhängigkeit, ihre Funktion, und wie können sich Menschen schützen?


Tesis (Diplomatura), 2004

55 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Abhängigkeit/ Sucht, was ist das?
1.1. Alkoholabhängigkeit
1.2. Verlauf, Diagnose und Behandlung
1.3. Die Wirkung von Alkohol auf den menschlichen Organismus
1.4. Schlussbemerkungen zu Kapitel 1

2. Multifaktorielle Bedingtheit süchtigen Verhaltens beim Individuum – 4 Theorien
2.1 Das Individuum – Genetisch bedingte Dispositionen (Vulnerabilität)
2.2. Das Individuum – Pränatale und postnatale Einflüsse
2.3. Das Individuum - Hirnphysiologische Aspekte
2.4. Das Individuum – verhaltenspsychologische Aspekte
2.4.1 Sucht, ein Lernprozess

3. Die Funktionen des Suchtmittels und der Sucht für die Lebensbewältigung des Individuums oder die Kultur des Substanzgebrauchs
3.1. Die Jugendphase als kritische Entwicklungsphase für den Einstieg in den Gebrauch psychotroper Substanzen
3.2 Konsum und Sucht

4. Diskussion über die gewonnenen Erkenntnisse und Konsequenzen für die soziale Arbeit
4.1 Prävention, ein Ansatz für den Schutz vor Abhängigkeit
4.1.1. Begriffsdefinition
4.1.2 Moderne Suchtprävention = Konzept zur Entwicklung und Stärkung von Lebenskompetenz
4.2 Möglichkeiten für die soziale Arbeit

5. Schlussbemerkung

Quellen- und Literaturverzeichnis

Anhang

„Verständnis von Sucht ermöglicht Verständnis für Sucht.“ (Koller)

0. Einleitung

Alkohol, Nikotin, Tabletten - wir haben uns daran gewöhnt, chemische Substanzen einzusetzen, um unsere Laune zu heben, um Ärger, Frust und kleine Beschwerden zu vertreiben. Keine Party ohne Zigaretten, Sekt, Wein, Bier oder Champagner.

Forscher wissen, dass Süchtige entgegen den Klischees in allen Gesellschafts-schichten vorkommen. Aber ob Maurer oder Professor: Nicht jeder, der mit Alkohol häufig in Berührung kommt, entwickelt eine Abhängigkeit. Wie kommt es, dass mancher sein Leben lang gedankenlos Bordeauxwein trinken kann und ein anderer dem Stoff verfällt? Warum fällt es manchen Menschen leicht, von heute auf morgen mit dem Trinken (oder Rauchen) aufzuhören, während andere sich jahrzehntelang damit quälen? Selbst Experten haben darauf noch keine erschöpfende Antwort. Doch inzwischen fügen sich immer mehr Puzzleteile zu einem Bild.

Hinsichtlich unserer „Kulturdroge Nr.1“, dem Alkohol, haben wir in der heutigen Gesellschaft zunehmend den verantwortlichen Umgang verloren. Es ist von ca. 1,6 Millionen suchtkranken Menschen zwischen 18 und 69 Jahren auszugehen, die sich psychisch, körperlich und vor allem sozial tief greifend schädigen. 2,4 Millionen praktizieren einen ebenfalls schädlichen Missbrauch, und nochmals 4,7 Millionen sind unter der Kategorie „riskanter Konsum“ von gesundheitlicher Relevanz. Nach neuesten Berechnungen muss man von jährlich 73.000 Toten ausgehen als direkte und indirekte Folgen des Alkoholkonsums. Den unmittelbaren Schaden von jährlich mindestens 20 Milliarden Euro muss die Solidargemeinschaft tragen. Dabei lässt sich das Leiden der Abhängigen beziehungsweise der Vielkonsumenten und das ihrer Angehörigen überhaupt nicht in Zahlen fassen. (vgl. #1, 2004, S. 74)

Angesichts dieser dramatischen Fakten bewegt mich die Frage, warum? Warum konsumieren Menschen scheinbar freiwillig Gift? Das widerspricht allen Gesetzmäßigkeiten der Natur. Das Ziel meiner Arbeit ist es, einen Erklärungsansatz dafür zu finden. Ebenso wichtig erscheint mir, den Blick darauf zu richten, was Sucht im Vorfeld verhindern kann, was Menschen stark macht, damit Abhängigkeit, Missbrauchsverhalten und Sucht gar nicht erst entstehen.

Die Suche nach der Antwort auf die Frage nach den Ursachen, der Genese von Sucht, süchtigem Verhalten, suggeriert Therapiemöglichkeiten und Heilung. Meine Erwartung an diese Arbeit ist, wenn man mehr über die Entstehung weiß, ist Suchtentwicklung besser vorhersehbar, beziehungsweise man kann ihr entgegenwirken, sie sogar verhindern… Es ist primär zu hinterfragen: Welche Menschen werden überhaupt süchtig?

Sind es eher die Menschen, die eine genetische Anlage dazu haben, eine allgemeine Suchtpersönlichkeit beziehungsweise bestimmte psychischen Störungen oder schlechte psychosoziale Bedingungen in der Biografie, mit traumatischen Erfahrungen, unbefriedigten Sehnsüchten oder bedenkenlosem Risikoverhalten? Sind sie Opfer oder Sündenböcke einer Suchtgesellschaft, der gesellschaftlichen Ungleichheit und Ausgrenzung, des zugespitzten Leistungswettbewerbs, einer unbefriedigenden Beziehung oder einer krank machenden Familiendynamik, der Verführung durch andere Menschen oder der Werbung, der Orientierungslosigkeit im Wertepluralismus oder der modernen Vernunftorientierung oder sind es die sensibleren, fantasievolleren, kreativeren und daher verletzlicheren Menschen?

Diese unterschiedlichen Erklärungen weisen auf eine multifaktorielle Genese bei der Entwicklung einer Suchterkrankung hin. Sie gehen von einem Ursachenbündel aus. Diese multifaktorielle Kausalität (siehe auch Anhang 1) wird dabei als ein komplexes Geschehen definiert, in dem sich individuelle physio-psycho-genetische, sozial-soziogenetische und substanzspezifische Faktoren gegenseitig beeinflussen. (vgl. #10, 1999)

Eine der bekanntesten und akzeptierten, aber auch ältesten Erklärungsansätze ist die "Trias der Entstehungsursachen von Abhängigkeit" (nach Ladewig, 1979, in #10, 1999). In diesem Modell werden die Faktoren Mensch, Mittel und Milieu/Gesellschaft miteinander verbunden:

Ein Spannungsdreieck der Sucht:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ich werde in meiner Arbeit das „Ursachenbündel“ aus einer Ebene dieses Spannungsfeldes bearbeiten, die des Individuums. Dabei betrachte ich die individuelle Suchtentwicklung des Menschen im Kontakt mit der Substanz Alkohol und die Gefährdung durch die individuelle Vulnerabilität, die in die Manifestierung der Diagnose: Alkoholkrank, münden kann (siehe Kategorie III der medizinischen Unterscheidungen des Suchtmittelgebrauchs, S.4). Anhand kognitiver, verhaltenspsychologischer Prozesse, neurobiologischer Abläufe und genetischer Dispositionen versuche ich im Kapitel 2 und 3 der Frage nachzugehen, warum Menschen krank machende Substanzen, wie Alkohol immer wieder konsumieren müssen. Welche Funktion erfüllt die Sucht in der Alltagsbewältigung? Das klingt absurdum ist jedoch eine mittlerweile bewiesene Tatsache der ganzheitlichen Medizin, das jede Krankheit einen Sinn erfüllt, einen momentanen „Vorteil“ hat. Ich möchte darstellen, dass die Entwicklungsgeschichte des Individuums als wesentlicher Auslöser der Krankheit zu betrachten ist. Allerdings kann diese Betrachtung nicht losgelöst von den sozial gesellschaftlichen Einflussfaktoren und der Substanz selbst ein komplexes Ergebnis liefern. Auf Grund des Umfangs dieser Arbeit ist es mir jedoch nicht möglich darauf spezifisch einzugehen. Ich werde es nur am Rande im Kapitel 3 erwähnen. Zum Abschluss werde ich in Kapitel 4 auf die Konsequenzen für die soziale Arbeit hinweisen und mögliche Präventionsansätze in diesem Arbeitsfeld diskutieren.

1. Abhängigkeit/ Sucht, was ist das?

"Sucht" leitet sich aus dem griechischen Wort "siech" ab und weist auf Siechtum und Krankheit hin. 1957 definierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Begriff der Sucht als einen Zustand wiederkehrender oder anhaltender Vergiftung, die durch wiederholten Gebrauch von natürlichen oder synthetischen Substanzen hervorgerufen wird. Suchtstoffe rufen ein immer stärker werdendes körperliches und psychisches Konsumverlangen mit zwingender Dosissteigerung hervor und machen den Konsumenten abhängig, schädigen ihn. Die ausgeprägte Abhängigkeit stellt dabei das Endstadium einer Krankheitsentwicklung dar, die schon im Vorfeld krank machend ist. Um dieser Bandbreite Rechnung zu tragen, unterscheiden heute Mediziner zwischen drei Kategorien:

I. dem aufgrund der Menge und/ oder der Häufigkeit riskanten Konsum, der die Gesundheit beeinträchtigt;
II. dem Missbrauch, definiert als ein Konsummuster, bei dem die Betreffenden trotz wiederholt auftretender negativer Konsequenzen Suchtstoffe regelmäßig konsumieren; und
III. der psychischen und physischen Abhängigkeit. (vgl. #14, 2004)

Kriterien für Missbrauch und Abhängigkeit von psychotropen Substanzen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(1) Wiederholter Substanzgebrauch, der zu einem Versagen bei der Erfüllung wichtiger Verpflichtungen bei der Arbeit, in der Schule oder Zuhause führt.
(2) Wiederholter Substanzgebrauch in Situationen, in denen es aufgrund des Konsums zu einer körperlichen Gefährdung kommen kann.
(3) Wiederkehrende Probleme mit dem Gesetz in Zusammenhang mit dem Substanzgebrauch.
(4) Fortgesetzter Substanzgebrauch trotz ständiger oder wiederholter sozialer und interpersonelle Probleme, die durch die Auswirkung der psychotropen Substanzen verursacht oder verstärkt werden. Die Kriterien für eine Abhängigkeit sind noch nicht erfüllt.

(1) Manifeste Toleranzentwicklung
(2) Entzugssymptome oder Substanzgebrauch zur Milderung, Linderung oder zur Vermeidung von Entzugsproblemen.
(3) Einnahme der Substanz in großen Mengen und länger als beabsichtigt.
(4) Anhaltender Wunsch, oder erfolglose Versuche, den Substanzgebrauch zu verringern oder zu kontrollieren.
(5) Hoher Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu sich zu nehmen oder sich von ihren Wirkungen zu erholen.
(6) Wichtige soziale, berufliche oder Freizeitaktivitäten werden aufgrund des Substanzmissbrauchs aufgegeben oder eingeschränkt.
(7) Fortgesetzter Substanzmissbrauch trotz Kenntnis eines anhaltenden oder wiederkehrenden körperlichen oder psychischen Problems, das wahrscheinlich durch den Substanzmissbrauch verursacht oder verstärkt wurde.

Diese Unterscheidung bedeutet, das mit der Abhängigkeit die „Suchtproblematik“ nicht anfängt, sondern endet. (vgl. #1, 2004, S. 11-13). Die Kategorien spielen allerdings in dieser Bearbeitung des Themas nur eine sehr untergeordnete Rolle. Ich verwende grundsätzlich die Bezeichnung Abhängigkeit oder Sucht und kann nicht speziell auf die genannten Stufen eingehen. Sie sollten nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden.

Der Begriff Abhängigkeit wurde von Experten der WHO an die Stelle des Begriffs Sucht gesetzt und wie folgt definiert: „Es handelt sich um eine Gruppe körperlicher, verhaltens- und kognitiver Phänomene, bei denen der Konsum einer Substanz … für die betreffende Person Vorrang hat gegenüber anderen Verhaltensweisen, die … von ihr früher höher bewertet wurden.“

(#11, 2004, S. 37)

Abhängigkeit ist ein Prozess, der sich im Laufe des Substanzgebrauchs entwickelt und der am Beispiel des Alkoholismus gut zu erklären ist.

1.1. Alkoholabhängigkeit

Alkoholabhängigkeit wird nach den Richtlinien der WHO auch als Alkoholkrankheit definiert. 1992 wurde in den USA von führenden Fachinstanzen folgende zusammenfassende Definition des Alkoholismus formuliert: „A. ist eine primäre, chronische Krankheit, deren Entstehung und Manifestation durch genetische, psychosoziale und umfeldbedingte Faktoren beeinflusst wird. Sie schreitet häufig fort und kann tödlich enden. A. wird durch eine Reihe von dauernd oder zeitweilig auftretenden Kennzeichen charakterisiert: durch die Verschlechterung des Kontrollvermögens beim Trinken und durch die vermehrte gedankliche Beschäftigung mit Alkohol, der trotz besseren Wissens um seine schädlichen Folgen getrunken und dessen Konsum häufig verleugnet wird.“

(vgl. #2, 1998, S. 7)

Alkoholkranke sind keineswegs eine asoziale Randgruppe unserer Gesellschaft, sondern sie leben mitten in ihr. Jeden kann es treffen. Alkohol ist eine legale Droge, gesellschaftlich anerkannt und allgemein verfügbar. Sie gehört quasi zum gesellschaftlichen Leben und seinen Interaktionen in allen Bereichen, ob Trauer, Freude, Erfolg oder Misserfolg, beruflich oder privat, u.s.w. dazu. Der Gebrauch von Alkohol hat demnach ganz viel mit den Emotionen der Menschen zu tun. Und trotzdem hat sich im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung in der globalen Welt gezeigt, dass kein anderes Verhaltensmuster so viele medizinische, soziale und rechtliche Probleme mit sich bringt, wie der Konsum von Alkohol.

Im Gegensatz zu anderen toxischen Substanzen mit hohem Missbrauchpotenzial, wie z.B. Tabak, kommt es im Verlauf einer Alkoholikerkarriere zunächst meist nicht primär zu gesundheitlichen Schädigungen, sondern zu negativen sozialen Auswirkungen, weil Alkohol eine bewusstseins-verändernde Droge ist. Sie betreffen sowohl den Konsumenten selbst (z.B. Führerscheinverlust), wie auch das soziale Umfeld (Familie und Beruf). Außerdem werden ca. 80% aller verübten Straftaten unter Alkoholeinfluss begangen. (vgl. #12, 2004)

Nach dem Konsum von größeren Mengen Alkohol werden Denkprozesse, Sprache und Wahrnehmung beeinträchtigt. Weiter können Koordinationsstörungen und Gedächtnisverlust auftreten. Manche Menschen werden unter Alkoholeinfluss depressiv, andere werden aggressiv. Alkohol erzeugt eine individuelle Wirkung, sein Gebrauch äußert sich euphorisierend, erheiternd, anregend. Verstärkter übermäßiger Alkoholkonsum führt zu einer Trennung der Affekte. Auf der einen Affektseite kommt es zu aggressiver Redseligkeit, überzogener Selbstüberzeugtheit und nicht selten Handgreiflichkeit, auf der anderen Affektseite erzeugt Alkohol eine Entwicklung von Rührseligkeit (Weltschmerz) und Depressionen bis hin zum Verstummen. (vgl. #13, 2004)

Weitere Auswirkungen können sein: Enthemmung, Streitbarkeit, Aggressivität, Affektlabilität, Aufmerksamkeitsstörungen, Lauf- & Standunsicherheit, verwaschene Sprache und Bewusstseinsstörungen, sowie im toxischen Konsumbereich, Koordinationsstörungen (Lallen, Taumeln) bis hin zur Bewusstlosigkeit, Atemstillstand, Unterkühlung, Erfrieren usw. Alkoholiker haben außerdem eine besonders hohe Suizidgefährdung. Etwa 20% aller Suizidtoten sind alkoholkrank. Das bedeutet, dass bei ihnen die Lebenssuizidrate 60 bis 120 Mal so hoch ist, wie bei Nichtalkoholikern. (vgl. #12, 2004)

Der Übergang von dem normalen Genusstrinker zum Alkoholgefährdeten ist fließend und gerade darum rutschen wohl so viele Menschen in die Alkoholabhängigkeit hinein. Häufig fängt es damit an, dass sie versuchen Stress oder andere Belastungen durch den Alkohol erträglicher zu gestalten oder nicht aufzufallen, nicht abseits zu stehen. Das ist besonders in der Adoleszenzphase der Entwicklung Jugendlicher der Fall. „Jugendliche haben früh die Lektion zu erfüllen, ihre unverwechselbare Identität und Individualisierung aufzubauen…“, schreibt der Bielefelder Jugendforscher Klaus Hurrelmann und meint weiter, dass Jugend heute „…so stark wie vielleicht noch nie eine Phase der Selbstsuche ist“ (vgl. in #19, 2004, Hurrelmann, 2001).

Diese Selbstsuche ist eingebettet in ein gesellschaftliches Umfeld, in dem die berufliche Orientierung angesichts unklarer Zukunftsperspektiven schwieriger wird, soziale und wirtschaftliche Bedingungen sich verschlechtern und Chancengleichheit eher abnimmt. Auf der anderen Seite stehen eine Fülle von scheinbaren und verlockenden Möglichkeiten. Unter diesen komplexer werdenden Bedingungen, die eigene Orientierung zu finden, erfordert eine hohe Eigenleistung. Jugendliche erleben in dieser Zeit Frustration, Angst und Unsicherheiten. Den meisten Jugendlichen gelingen die erforderlichen Entwicklungsprozesse und sie finden ihre eigene, ihnen gemäße Identität, entwickeln ihren Selbstwert, Vertrauen in ihre Fähigkeiten und ihre Selbstwirksamkeit. Aber nicht alle bringen die Voraussetzungen dafür mit, den Prozess des Erwachsenwerdens produktiv zu bewältigen. Aber nicht nur Jugendliche geraten durch Stress Angst und Unsicherheit in diesen Teufelskreis, es werden jedoch in dieser Phase der menschlichen Entwicklung die Fundamente für eine spätere Alkoholkrankheit gelegt. (vgl. #19, 2004)

Im Laufe der Zeit greifen dann Menschen immer öfter zur Flasche und brauchen immer größere Alkoholmengen. Schließlich kommt es zu einem Kontrollverlust nach Trinkbeginn, d.h., die Betroffenen trinken weiter, obwohl sie sich vielleicht fest vorgenommen hatten, an diesem Abend nur ein Bier zu trinken. Sie denken häufiger an Alkohol, versuchen in einer Unterhaltung nicht über ihren Konsum zu sprechen und trinken heimlich. Es bauen sich Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle auf, die zu einer depressiven Verstimmung oder sogar zu einer Selbstmordgefährdung führen können. Es bildet sich eine körperliche Abhängigkeit heraus, die schließlich dazu führen kann, dass der Betroffene einen gewissen Alkoholspiegel benötigt, damit sein Gehirn und sein Körper regelrecht funktionieren. Er kann zu einem so genannten Spiegeltrinker werden, der schon am Morgen zur Flasche greift und während des Tages immer wieder Alkohol zu sich nimmt. Alkoholiker befinden sich in einem Teufelskreis; einerseits trinken sie, um sich das Leben angenehmer zu gestalten, andererseits führt gerade das Trinken immer wieder zu unangenehmen Situationen, Auseinandersetzungen und Schuldgefühlen, die sie wiederum im Alkohol ertränken. (vgl. #13, 2004)

Kurz formuliert: „Sie trinken, um zu vergessen, dass sie trinken.“

Der Alkoholkonsum entzieht sich zunehmend der willentlichen Kontrolle und damit der Verantwortung des Betroffenen. Er muss sein immer wiederkehrendes Verlangen von neuem befriedigen und kann nicht mehr frei entscheiden, ohne Alkohol zu leben. Es gibt kaum ein Organsystem, das dabei nicht geschädigt wird.

Die meisten Alkoholiker sind erst unter großem Leidensdruck zu einem Entzug bereit, da ihnen im Anfangsstadium des Verlaufs die Krankheitseinsicht fehlt.

Man schätzt, dass in Deutschland 3-5% der Bevölkerung, das bedeutet bis zu über 4 Millionen Menschen alkoholabhängig sind. Der Gesellschaft entsteht durch die Folgen des Alkoholismus, wie Produktionsausfall, Frühberentung und Behandlungskosten jährlich ca. ein Schaden von 40 Milliarden Euro. Etwa die Hälfte aller Straftaten wird unter Alkohol verübt und jedes Jahr werden ca. 280 000 Führerscheine eingezogen. Schon alleine durch diese Zahlen ist ersichtlich, welche große Bedeutung die "Trinksucht" für unsere Gesellschaft hat. Unter den Alkoholabhängigen gibt es etwa 700 000 Kinder und Jugendliche bis 21 Jahre. (vgl. #12, 2004)

Sucht gehört vermutlich zum Wesen des Menschen, denn zu allen Zeiten und in allen Ländern waren Menschen davon betroffen. Immer versuchten Menschen, sich den Nöten, Qualen und Mühen des Alltags zu entziehen und in eine Euphorie zu entweichen, wenigsten für eine kurze Zeit. Dieses Verhalten war eingebettet in ihre Kultur und vollzog sich im Rahmen von Ritualen, Anlässen, Religionen und gemeinschaftlicher Lebensbewältigung. Die Menschen waren sich dabei immer der damit verbundenen Gefahren und Risiken bewusst und warnten vor den Folgen eines unkontrollierten und aus diesem Kontext losgelösten Gebrauchs. Heute sind Menschen in unserer Gesellschaft nicht mehr naturorientiert, wie ihre Vorfahren sondern konsumorientiert und losgelöst von ihren Ursprüngen, ihren anthroposophischen Fähigkeiten, die Orientierung und Sicherheit geben können.

Die entscheidenden Unterschiede zwischen ausweichendem Verhalten, Gewöhnung und süchtigem Verhalten bestehen in der Zwanghaftigkeit, in der Intensität und Maßlosigkeit und darin, dass Sucht eine Eigendynamik entwickelt, die die ursprünglichen Auslöser in den Hintergrund treten lässt. Eine Steuerung und Kontrolle wird somit immer schwieriger und die Folgen (siehe genannte Zahlen) sind nicht wirklich absehbar. Die Kulturdroge Alkohol ist zum „Selbstläufer“ avanciert und hat sich auf Grund der hedonistischen Grundmentalität der Menschheit zu einer Bedrohung für einen vulnerabel veranlagten Prozentsatz der Bürger innerhalb der modernen Wohlstandsgesellschaft herausgebildet.

(Hedonismus = Sinnlust und Genuss)

1.2. Verlauf, Diagnose und Behandlung

Da sich die Suchtkrankheit allmählich über einen langen Zeitraum entwickelt, unterscheidet man mehrere Phasen der Abhängigkeit (vgl. #13, 2004):

1. Präalkoholische Phase: Die Betroffenen trinken, um Spannungen abzubauen oder um anderer Wirkungen willen. Sie trinken allmählich immer mehr.
2. Prodromalphase: Es kommt zu ersten Erinnerungslücken schon nach geringen Mengen Alkohol. Die Betroffenen trinken heimlich und auch schon morgens und vermeiden das Thema Alkohol.
3. In der kritischen Phase der Alkoholabhängigkeit verlieren die Betroffenen die Kontrolle über ihren Alkoholkonsum. Sie sind häufig betrunken oder unfähig, den Alkohol wegzulassen, da sie ein starkes Verlangen nach Alkohol haben. Aufgrund des Alkoholkonsums kommt es zu Schwierigkeiten im sozialen Umfeld der Betroffenen.
4. Die chronische Phase der Alkoholabhängigkeit ist erreicht, wenn mehrtägige Rauschzustände vorkommen. Alkohol wird zum wichtigsten Lebensinhalt, und es besteht eine schwere körperliche Abhängigkeit, die sich in Alkoholentzugssyndromen äußert. Gegen Entzugssymptome wie z.B. morgendliches Händezittern wird angetrunken. Es bestehen ausgeprägte psychosoziale Folgeschäden, Gedächtniseinbußen und Wesensverände-rungen.

Innerhalb dieser Phasen kommt es zu einem Abhängigkeitsprozess. Der sich in seinen psychischen und physischen Symptomen zunehmend steigert, bis hin zur Irreversibilität und zum Tod.

Eine voll ausgebildete Alkoholabhängigkeit besteht, wenn mindestens 3 der folgenden Kriterien zutreffen (vgl. #13, 2004):

- Der Alkoholabhängige kann nicht auf Alkohol verzichten.
- Er kann den Alkoholkonsum nicht mehr steuern.
- Wenn er aufhört zu trinken, leidet er unter körperlichen Entzugssymptomen.
- Der Alkoholabhängige muss immer mehr trinken, um die von ihm erwünschte Wirkung des Alkohols zu spüren.
- Er vernachlässigt andere Interessen zugunsten des Alkoholkonsums.
- Er hört nicht auf zu trinken, wenn schädliche Folgen seines Alkoholkonsums nachgewiesen sind.

Auch wenn es zu periodischen Trinkexzessen kommt, sind die Betroffenen alkoholabhängig. Wie bei vielen Suchterkrankungen verleugnet oder bagatellisiert der Alkoholabhängige seinen Alkoholmissbrauch. Besonders in der Anfangszeit, wenn sich die Auswirkungen noch nicht so deutlich zeigen, hat er deshalb vor sich selbst und vor anderen Menschen damit Erfolg. Deshalb werden Abhängigkeiten häufig erst sehr spät bemerkt.

Grundlage der Behandlung ist, dass der Alkoholabhängige erkannt hat, dass er alkoholkrank ist. Nur dann kann eine Behandlung beginnen. Allerdings können auch ohne diese Einsicht schon Hilfen gegeben werden, die möglicherweise eine Entzugsbehandlung herbeiführen.

Die Alkoholabhängigkeit selbst ist nicht heilbar. Auch wenn ein Alkoholiker sein weiteres Leben lang "trocken" bleibt, er bleibt dennoch Alkoholiker und ist immer anfällig für einen Rückfall. Allerdings können die Folgeschäden durch lebenslange Enthaltsamkeit vom Alkohol (Abstinenz) verhindert werden.

Zunächst muss der Alkoholabhängige zur Alkoholabstinenz motiviert werden. Darauf folgt eine ein- bis zweiwöchige Entgiftungsphase in einer internistischen oder psychiatrischen Abteilung, selten auch ambulant. Entzugserscheinungen werden medikamentös abgefangen. Möglichst eng an den Krankenhausaufenthalt sollte sich die Entwöhnungsphase von vier Wochen bis mehreren Monaten anschließen, welche ambulant oder in Spezialkliniken erfolgt. Manchmal werden zusätzlich Medikamente zur Vorbeugung eines Rückfalls eingesetzt (vgl. #13, 2004)

Die Psychotherapie ist der Kernpunkt einer jeden Suchtbehandlung. Hier lernt der Alkoholkranke seine Probleme ohne Alkohol und andere Drogen zu lösen, dabei hat sich der wöchentliche Besuch von Selbsthilfegruppen als besonders hilfreich erwiesen. In regelmäßig stattfindenden Treffen tauschen die Betroffenen dort ihre Erfahrungen im Umgang mit ihrer Krankheit offen aus. Betroffene, die während der manchmal lebenslangen Nachsorgephase von Fachambulanzen oder Beratungs-stellen ambulant weiter betreut werden oder die regelmäßig Selbsthilfegruppen (z.B. Anonyme Alkoholiker, Blaues Kreuz) besuchen, haben eine deutlich bessere Prognose. Ebenso verbessert es die Erfolgsaussichten, wenn die Bezugspersonen aktiv in die Behandlung einbezogen werden. In so genannten Angehörigengruppen lernen die Angehörigen der Alkoholabhängigen, mit deren Suchtverhalten besser umzugehen. Therapiewillige Patienten können durch eine optimale Behandlung, in der die einzelnen Behandlungsphasen miteinander verzahnt sind und Rückfalle gleich erkannt und aufgefangen werden, in bis zu 70 Prozent der Fälle sozial und beruflich rehabilitiert werden. Je früher eine effektive Behandlung einsetzt, umso günstiger sind die Erfolgsaussichten. (vgl. #13, 2004)

1.3. Die Wirkung von Alkohol auf den menschlichen Organismus

Alkohol, seine chemische Bezeichnung ist Ethanol (C2H5OH), ist eine farblose brennend schmeckende Flüssigkeit, sowohl in Wasser als auch in Fett löslich. Alkohol bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch den zur Gruppe der Alkohole gehörenden Äthylalkohol, der durch Vergärung von Zucker aus unterschiedlichen Grundstoffen gewonnen wird und berauschende Wirkung hat. Alkohol zählt zu den Suchtmitteln, deren Erwerb, Besitz und Handel legal sind.

Er wird überwiegend, zu 80% über den Dünndarm und 20% durch den Magen vom menschlichen Organismus resorbiert. Etwa 30-60 Minuten nach oraler Alkoholaufnahme ist die höchste Blutalkoholkonzentration erreicht. Die Verteilung erfolgt demzufolge sehr rasch innerhalb des Körpers. Darum entspricht nach 60-90 Minuten die Alkoholkonzentration des Gewebes, der des Blutes. Diese Mechanismen sind individuell etwas unterschiedlich und hängen von verschiedenen Faktoren ab, wie von der Alkoholmenge, der individuellen Konstitution des Menschen, dem Geschlecht und dem Kontext zum Zeitpunkt der Einnahme. Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist dabei, dass der Alkoholgehalt des Gehirns dem Blutalkoholspiegel entspricht, denn die Substanz Alkohol passiert ungehemmt die Blut-Hirn-Schranke und beeinflusst damit direkt die Hirnfunktion. Der hohe Wassergehalt des ZNS (Zentrales Nervensystem) ermöglicht zudem eine rasche Verteilung im Hirngewebe. In der Hirnrinde ist die Alkoholkonzentration am höchsten.

Der Abbau erfolgt in drei Schritten über Oxidationsvorgänge. Hauptsächlich über den Leberstoffwechsel und Enzymstoffwechsel (95%), ein Teil wird über die Atmung, den Urin und die Transpiration (5%) ausgeschieden. Dabei entstehen Zwischenprodukte, die für negative somatische Folgen (z.B. Kopfschmerzen, Magenbeschwerden, Kreislaufprobleme) verantwortlich sind.

(vgl.#2, 1998, S.25-29)

Weiterhin hat Alkohol eine pharmakologisch-toxische Wirkung direkt oder indirekt auf alle Organsysteme des Organismus:

- durch direkte toxische Wirkung auf Zellen und ihre Übertragungssysteme,
- durch lokale Gewebeschädigung,
- durch Veränderung des Stoffwechsels (Energiezufuhr, Eiweiß-, Vitamin- und Mineralstoffwechsel),
- durch unkontrollierte Bildung von Metaboliten, das sind Substanzen (Enzyme und Hormone) die für den Ablauf von Stoffwechselprozessen unentbehrlich sind, durch die Alkoholeinwirkung jedoch den natürlichen Haushalt „stören“, quasi aus seinem Gleichgewicht bringen und
- durch physiologische Wirkungen, wie Durchblutungsstörungen und Depressionen.

[...]

Final del extracto de 55 páginas

Detalles

Título
Warum werden Menschen abhängig von Substanzen wie Alkohol?
Subtítulo
Wie entsteht diese Abhängigkeit, ihre Funktion, und wie können sich Menschen schützen?
Universidad
University of Applied Sciences Jena
Curso
Soziale Medizin
Calificación
1,3
Autor
Año
2004
Páginas
55
No. de catálogo
V117250
ISBN (Ebook)
9783640193738
ISBN (Libro)
9783640205189
Tamaño de fichero
1181 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Warum, Menschen, Substanzen, Alkohol, Soziale, Medizin
Citar trabajo
Sabine Prager (Autor), 2004, Warum werden Menschen abhängig von Substanzen wie Alkohol?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117250

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