Der Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen am Beispiel der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion


Seminar Paper, 2001

19 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


1. Einleitung

Das Thema dieser Hausarbeit ist der Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen am Beispiel der europäi­schen Wirtschafts- und Währungsunion.

Das Ziel dieser Arbeit ist, die zunehmende Bedeutung des Konstruktivismus in den IB seit Beginn der 90er Jahre darzulegen.

Hierbei werde ich folgendermaßen vorgehen: im ersten Teil meiner Hausarbeit soll der Begriff „Konstruktivismus“ „de­finiert“[1] werden. Ich beziehe mich in diesem Teil auf keine konkrete theoretische Konstruktion, sondern versuche allgemeine Grundlagen herauszuarbeiten.

Danach werde ich mich mit dem Aufsatz „Die Relativität von Wahrheit dargestellt am Beg­riff der Entstehungsgeschichte der Wirtschafts- und Währungs­union“ aus der Zeitschrift für Internationale Beziehungen von Michael Merlingen auseinandersetzen. Diese Vorgehensweise soll dazu beitragen, eine Möglichkeit der praktischen Anwendung des Konstruktivismus darzulegen, um seine theoretische Basis auf diese Art und Weise begreifbar zu machen.

Abschließend werde ich zusammenfassend auf die vordergründigen Vor- und Nachteile des konstruktivistischen Ansatzes eingehen. Dadurch soll die Stellung die der Konstruktivismus in den IB hat, noch einmal erwähnt werden, um so die Frage beantworten zu können, ob dieser „neue Ansatz“ in der IB-Forschung als Alternative zu den vorherrschenden klassischen Ansätzen (wie z.B. Realismus und Liberalismus) dienen kann.

2. Der Konstruktivismus in den IB

Der Konstruktivismus als Theorie in der Disziplin der IB gewann mit Ende des Kalten Krieges an großer Bedeutung. Ursache hierfür war, daß die klassischen Theorien des Re­alismus und des Liberalismus nicht in der Lage waren die Ereignisse ausreichend zu erklären.[2] Dies war begründet durch das „Neue Denken“ von Michael Gorbatschow, wodurch die „dichotomische[...] Weltsicht des Klassenkampfes zugunsten einer Ideologie der Menschheitsinteressen“[3] aufgegeben wurde. Das Ende des Ost-West-Konfliktes hatte somit eine ideelle Veränderung zur Ursache und keine Veränderung in und durch materielle Strukturen (z.B. Macht, Militärpotentiale, Hegemoniestrukturen, wirtschaftlliche Abhängigkeit),[4] für welche beispielsweise der Realismus als Erklärungsansatz hätte dienen können.

Weiterhin läßt sich feststellen, daß in den IB neue und auch alte ethno-nationalistische Konflikte zunehmen, welche weniger Macht und Interessen als vielmehr kollektive Identitäten zum Inhalt haben. Diese Identitäten spielen besonders in konstruktivistischen Forschungsarbeiten eine vordergründige Rolle.[5]

Folglich ist die Disziplin der IB um eine neue Sichtweise erweitert worden, die Bereiche erschließen kann, welche von den klassischen Theorien nicht erfaßt wurden/werden konnten.

2.1 Grundzüge des Konstruktivismus

Grundsätzlich ist festzuhalten, daß es keine eindeutige Definition des Konstruktivismus gibt. Er selbst versteht sich nicht als eine umfassende Theorie sondern vielmehr als eine Forschungsperspektive. Laut Krell ist er ein „reines Produkt der Eigendynamik sozialwissenschaftlicher Reflexion.“[6]

Gemeinsamkeit aller konstruktivistischen Überlegungen ist die Grundannahme, daß die Akteure in der Welt (die Staaten) sich diese nicht nur durch Wahrnehmung und Deutung erschließen, son­dern sie auf Grundlage von Ideen und Interpretationen gestalten.[7] Somit wird die Wirklichkeit konstruiert.

Im Zentrum konstruktivistischer Überlegungen und „Wirklichkeitskonstruktionen“ stehen Ideen, Interessen, kollektive Identitäten, Normen und die Kommunikation. Somit ist dieser Ansatz ein sozialer, seine Konstruktionen sind „soziale Wirklichkeitskonstruktionen“.

Außerdem wird generell davon ausgegangen, daß sich die reale Welt nicht nur aus einer materiellen Wirklichkeit (z.B. physikalische Gesetze, biologische Funktionen u. Produktiv­kräfte) zusammensetzt, sondern daß vielmehr die ideelle Wirklichkeit eine zentrale Funktion hat.[8] Hierzu schreibt Emanuel Adler: „While accepting the notion that there is a real world out there, they nevertheless believe that it is not entirely determined by physical reality and is socially emergent. More important, they believe that the identities, interests and behavior of political agents are socially constructed by collective meanings, interpretations and assumptions about the world.”[9]

Um näher auf die Gestaltung der sozialen Wirklichkeit eingehen zu können, ist es erforderlich die Kernpunkte und Überlegungen des Konstruktivismus darzustellen. Wie ist also sein Verhältnis zu Ideen, Interessen, Identitäten, Normen und Kommunikation? Wie versteht er diese Begriffe?

Obwohl diese Begriffe und deren Verständnis unmittelbar verknüpft sind, möchte ich versuchen sie möglichst isoliert zu betrachten:

Ideen werden vom Konstruktivismus als Wissen über die Wirklichkeit verstanden (kollektives Wissen). Sie schließen neben „harten Fakten“ auch Normen, ästhetische Urteile und Vorstellungen über Akteurskonstellationen ein.[10] Ideen „ermöglichen und rechtfertigen Handlungen, Handlungsspielräume und Strategien.“[11] Folglich ist vor allem die Positionierung der Akteure mit und durch Ideen bestimmt. Nach Emanuel Adler sind Ideen das „medium and propellant of social action; they define the limits of what is cognitively possible and impossible for individuals.”[12] Man kann also feststellen, daß den Ideen im Konstruktivismus eine zentrale Bedeutung beigemessen wird.

Auch Interessen, deren Bildung besonders von Ideen beeinflußt wird (allerdings auch von materiellen Interessen), gehören zu den Untersuchungsschwerpunkten des Konstruktivismus. Diese werden als Annahmen über Möglichkeiten zur Befriedigung von Bedürfnissen definiert und ihre wichtigste Eigenschaft ist ihre Variabilität.[13] Aufgrund dessen sind Interessen von Staaten in den IB aus der Sicht des Konstruktivismus keine Fixpunkte, sondern die Erzeugnisse von historischen Prozessen. Vorteil dieser Eigenschaft ist die daraus resultierende Anpassungsfähigkeit.[14]

In engem Zusammenhang mit den Interessen von Staaten stehen natürlich auch deren Identitäten. Diese werden beispielsweise in einem Aufsatz von Alexander Wendt („Anarchy is what states make of it“) in den Mittelpunkt gestellt. Wendt sieht dabei die Hauptfunktion der Identitäten folgendermaßen: „unsere Vorstellungen in Bezug auf uns selbst und unsere Umwelt formen unsere Interaktionen und werden von unseren Interaktionen geformt.“[15] Die Handlungen von Staaten sind somit Ergebnis ihres eigenen Identitätsverständnisses, durch welches sich ihre Interessen herausgebildet haben. Laut den amerikanischen Wissenschaftlern Richard Price and Christian Reus-Schmidt kann durch das Verstehen des Bildungsprozesses von Interessen auf einen Großteil internationaler Phänomene geschlossen werden die beispielsweise von Rationalisten entweder falsch verstanden oder ignoriert worden sind.[16]

Welche Rolle nehmen nun Normen in konstruktivistischen Ansätzen ein? Allgemein läßt sich hier feststellen, daß ihre Funktion eine konstitutive ist. Sie werden als erforderlicher Bestandteil des internationalen Systems betrachtet und haben einen großen Einfluß auf das Rollenverständnis der Akteure. Sie wirken demzufolge rollenbestimmend. Außerdem bestimmen besonders die Normen das Verhältnis der Akteure in den IB zueinander.[17] Grundsätzlich werden die Handlungen der Akteure entscheidend von Normen und Regeln mitbestimmt, da diese als Basis dienen.

Im Gegensatz zum Realismus oder Liberalismus beispielsweise legt der Konstruktivismus großen Wert auf Kommunikation bzw. Verständigungshandeln. In den IB spielt interessengeleitetes strategisches Handeln eine wichtige Rolle, wie dies auch der Konstruktivismus bestätigt, allerdings sind die Interessen aufgrund des Kommunikationsprozesses veränderbar. Die Akteure handeln verständigungsorientiert und gehen somit die „Gefahr“ ein, daß sich bei diesem Prozeß ihre Präferenzen durch Infragestellung, Aufhebung oder Relativierung usw. ändern können. Begleitet wird dieser Prozeß durch das Lernen oder die „kognitive Evolution“, was die Möglichkeit einschließt sich eine neue Interpretation der Wirklichkeit anzueignen, in einen kreativen Entwicklungsverlauf einzusteigen, der dann neue Interessen bzw. Präferenzen zur Folge haben kann.[18] Durch die aufgewertete Rolle der Sprache in den IB hat sich eine Diskussion zwischen den unterschiedlichen Vertretern des Konstruktivismus entwickelt, da diese Sprache und Kommunikation jeweils unterschiedlichen Wert beimessen.[19]

Zusammenfassend sollte noch einmal betont werden, daß die verschiedenen Sichtweisen bzw. Schwerpunkte, die in den Wirklichkeitskonstruktionen behandelt werden, es unmöglich machen, eine konkrete Definition des Begriffes selbst zu geben. Die mag allerdings auch vorteilhaft sein, da somit eine gewisse Flexibilität und Offenheit erreicht werden kann. Um diese theoretischen Ausführungen praktisch untermauern zu können, möchte ich jetzt das eingangs genannte Beispiel von Michael Merlingen eingehen:

3. Die Konstruktion der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion nach Merlingen

3.1 Methode und Anliegen des Konstrukteurs

Merlingen gestaltet seinen Aufsatz aus der Sicht des epistemologischen bzw. Radikalen Konstruktivismus[21]. Im Gegensatz zum moderaten Konstruktivismus wird im RK davon ausgegangen, daß es keine materielle („Ding-an-sich-Welt“) gibt, bzw. wird besagt, daß es keinen Zugang zu ihr gibt.[22] Somit vertreten die Konstruktivisten dieser Ausprägung die Vorstellung, daß „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, [...] unsere Erfindung [sei].“[23] Aber auch bei diesem Ansatz wird das Ziel verfolgt, die soziale Wirklichkeit durch einen selbstreferentiellen Prozeß zu konstruieren.[24][20]

Die Methode, die Merlingen bei seiner Konstruktion verwendet ist die der „therapeutischen Neubeschreibung“. Das Ziel dieser Vorgehensweise ist, beim Leser bzw. Forscher das Konstruktivitätsbewußtsein zu formen und fördern, um so das konstruktive Können der Forschergemeinde zu stärken.[25]

Merlingen untersucht die Entstehungsgeschichte der WWU im Zeitraum von 1987 bis 1991, wobei er diesen in 4 verschiedene Phasen einteilt. Die Phasen erklärt er im Laufe seines Aufsatzes mit verschiedenen Theorien und Ansätzen, um so seine Leserinnen und Leser dazu anzuregen, sich von den alten „bevorzugten“ Integrationstheorien im Bezug auf die EU u. WWU zu lösen und neue in Betracht zu ziehen. Dadurch soll ermöglicht werden, „theorieimmanent zu beobachten, wie die in diesem Aufsatz verwendeten Integrationstheorien ihre je spezifischen […] Konstruktionen von Realität in die Welt bringen.[26]

Ich werde also anlehnend an die von Merlingen konstruierten Phasen der Entstehung der WWU seine verwendeten Theorien zur Realitätskonstruktion in Abschnitt 3.2 zusammenfassen und versuche hierbei nur auf die Hauptargumente einzugehen.

[...]


[1] Die Definition des Begriffes soll nur einen Versuch darstellen, da die konstruktivistische Theorie nicht als homogen betrachtet werden kann, wie ich später noch herausstellen werde.

[2] Vgl. Stephen M. Walt, International Relations: One World, Many Theories, in: Foreign Policy 110, Spring 1998. S. 41

[3] Gert Krell, Konstruktivismus in: Weltbilder und Weltordnung, Nomos Verlagsgesellschaft, 2000 Baden-Baden, 1. Auflage, S. 250

[4] Vgl., ebd. S. 240/250

[5] Vgl., ebd. S. 240

[6] ebd., S. 240

[7] Vgl., ebd., S. 241

[8] Vgl., ebd., S. 242-244

[9] Emanuel Adler, Seizing the Middle Ground: Constructivism in World Politics, in: European Journal of International Relations, Vol. 3, Nr. 2, June 1997, S.324

[10] Vgl., Gert Krell: a.a.O., S. 241

[11] ebd., S. 241

[12] Emanuel Adler: a.a.O., S. 325

[13] Vgl., Gert Krell: a.a.O. S., 242

[14] Vgl., Stephen Walt: a.a.O., S. 40

[15] Maja Zehfuß, Sprachlosigkeit schränkt ein. Zur Bedeutung der Sprache in konstruktivistischen Theorien, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 5, 1998, 1, S. 111

[16] Vgl., Richard Price/Christian Reus-Schmidt, Dangerous Liaisons? Critical International Theory and Constructivism, in: European Journal of International Relations, Vol. 3, 1998, S. 267

[17] Gert Krell, a.a.O., S. 246

[18] Vgl., ebd., S. 252

[19] Vgl., Maja Zehfuß, a.a.O., S. 109,110

[20] Michael Merlingen in seinem Aufsatz: „Die Relativität von Wahrheit dargestellt an der Entstehungsgeschichte der Wirtschafts- und Währungsunion“. Ein Beitrag zur Integrationsforschung aus der Sicht des epistemologischen Konstruktivismus, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 6, 1999, 1, S. 93-128

[21] Diese Forschungsperspektive wurde von Ernst von Glasersfeld begründet bzw. prägnant formuliert.

Siehe dazu: Ernst von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme, Suhrkamp, 1997 Frankfurt am Main, 1. Auflage.

[22] Carsten Allefeld, Radikaler Konstruktivismus, http:userpage.fu-berlin.de/~murfit/radkon.htm, 14.06.01

[23] Heinz von Foerster, Das Konstruieren einer Wirklichkeit, in: Walzlawick, Paul (Hrsg.): Die Erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wird zu wissen glauben? Beiträge zur Monetary Union, 1998 Boulder, Colo, S. 40

[24] Vgl., Michael Merlingen, a.a.O., S. 94

[25] Vgl., ebd., S. 118

[26] ebd., S. 94

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Details

Title
Der Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen am Beispiel der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion
College
Martin Luther University  (Institut für Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften)
Course
Einführung in die Internationalen Beziehungen
Grade
1,7
Author
Year
2001
Pages
19
Catalog Number
V11740
ISBN (eBook)
9783638178112
ISBN (Book)
9783656209065
File size
538 KB
Language
German
Keywords
Konstruktivismus, Internationalen, Beziehungen, Beispiel, Europäischen, Wirtschafts-, Währungsunion, Einführung, Internationalen, Beziehungen
Quote paper
Julia Schubert (Author), 2001, Der Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen am Beispiel der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11740

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