Die Auswirkungen der Großimmigration russischer Juden in Israel seit 10 Jahren


Thesis (M.A.), 2000

108 Pages, Grade: sehr gut


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einführung

2 Politische und gesellschaftliche Situation in Israel als Basis für die Immigration
2.1 Israels Immigrationspolitik
2.2 Die israelische Gesellschaft
2.3 Die Immigration russischer Juden seit den siebziger Jahren

3 Auswirkungen der russischen Immigranten auf die israelische Kultur..
3.1 Die jüdische Identität der russischen Immigranten
3.2 Motive für die Immigrationsentscheidung
3.3 Spezifische Demographie
3.3.1 Anzahl und Herkunftsregionen
3.3.2 Altersstruktur
3.3.3 Berufsstruktur
3.4 Wandel des israelischen Integrationskonzepts
3.5 Beeinflussung der Wirtschaft
3.5.1 Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt
3.5.2 Veränderung der Erwerbs- und Wirtschaftsstruktur
3.6 Veränderung der politischen Lage
3.7 Beeinflussung der ideologischen Grundlagen Israels
3.8 Ursachen für soziale Spannungsfelder
3.9 Spezifische Ausprägungen russischer Kultur

4 Schlußbetrachtung

5 Glossar

6 Bibliographie

7 Anhang
7.1 Karte von Israel

1 Einführung

Seit dem Jahre 1989 sind Schätzungen zufolge 840.000 russische Juden in Israel eingewandert. Diese Großimmigration hält bis heute an und ist beispiellos in ihren Dimensionen. Der jüdische Bevölkerungsanteil ist dadurch innerhalb einer kurzen Zeitspanne um ca. 20 Prozent auf knapp fünf Millionen Einwohner gestiegen. Zusammen mit den 170.000 russischen Einwanderern, die während den siebziger Jahren eintrafen, stammt inzwischen fast ein Fünftel der ethnisch überaus heterogenen Bevölkerung Israels aus der früheren Sowjetunion.

Die Integration einer solch großen Anzahl von Immigranten würde wohl für jede Gesellschaft eine beträchtliche Herausforderung darstellen. Hinsichtlich des relativ kleinen israelischen Staates, der mit einer Kernfläche von 22.770 km2 dem Bundesland Hessen entspricht, ist dies jedoch als ein einzigartiges Phänomen zu erachten.

Israel verlangt aus ideologischen Gründen eine weitgehende Assimilierung seiner Immigranten in die national-jüdische Kultur. Durch entsprechende Maßnahmen konnte dieses Ziel bei den vielen eingewanderten Bevölkerungsgruppen bisher immer erreicht werden. Es hat jedoch den Anschein, daß sich die innerhalb der letzten zehn Jahre eingetroffenen russischen Juden nicht in die Gesamtkultur assimiliert haben. In dieser Magisterarbeit möchte ich daher untersuchen, welche spezifischen Auswirkungen diese Großimmigration auf die israelische Gesellschaft hat, und ob und inwieweit sie zu einem Wandel in einigen kulturellen Teilbereichen beiträgt.

Die Motivation zu dieser Untersuchung resultiert aus meinen verschiedenen Aufenthalten in Israel seit 1992 (mindestens einmal jährlich). Das hat zu meinem Interesse an der innergesellschaftlichen Situation des Landes geführt, die in den deutschen Medien, die vorwiegend über den israelisch-palästinensischen Konflikt berichten, kaum beachtet wird. Neben der Literaturrecherche war es mir daher auch möglich, die gesellschaftliche Entwicklung über die Jahre persönlich zu beobachten.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Staaten, die die Zahl eintreffender Migranten eingeschränkt haben, fühlt sich Israel ideologisch verpflichtet, möglichst viele jüdische Immigranten aufzunehmen, und verfolgte im Zusammenhang mit der Immigration russischer Juden eine aktive fördernde Politik. Da die nationale Ideologie die Basis für die Immigration ist, werde ich einleitend einen Überblick über ihre Grundzüge geben, die, zusammen mit diesbezüglichen emischen Termini und Konzeptionen, einzigartige Merkmale darstellen. Daran anschließend werde ich die Struktur der Gesellschaft, auf die die Immigranten treffen, beschreiben. Zum weiteren Verständnis des Ausmaßes der russischen Massenimmigration soll eine kurze Analyse der spezifischen Aspekte, die dazu geführt haben, dienen.

Im Hauptteil der Arbeit werde ich, nach einer einleitenden Vorstellung der spezifischen Charakteristika der Immigranten, untersuchen, inwieweit sie einige maßgeblichen Teilbereiche der israelischen Kultur beeinflussen. Diese Teilbereiche sind: Institutionen, Ökonomie, Politik, Ideologie, soziale Strukturen sowie spezifische Ausprägungen der beibehaltenen russischen Kultur.

Zunächst möchte ich die für meine Arbeit zentralen Termini definieren. Insbesondere die Begriffe Assimilation und Integration werden häufig im Kontext mit einer Immigration benutzt. Unter Assimilation verstehe ich die Eingliederung einer Minderheitengruppe in die aufnehmende dominante Gesellschaft, wobei die kulturellen Merkmale der Mehrheitsgruppe weitestgehend übernommen werden. Die Mitglieder der Immigrantengruppe orientieren sich gänzlich an der Gesamtgesellschaft, so daß sich ihre ursprüngliche Identität dabei auflöst. Mit Integration hingegen meine ich generell den Eintritt in die Gesamtgesellschaft. Im engeren Sinne übernehmen die Immigranten hierbei einige der Merkmale der aufnehmenden Gesellschaft und behalten aber gleichzeitig ihre eigene kulturelle Identität bei.

Auch die in dieser Arbeit benutzten Begriffe im Zusammenhang mit der post-sowjetischen Politik und Emigrationsbewegung möchte ich präzisieren. Ich habe mich dagegen entschieden, den amtlichen Terminus ‘Gemeinschaft Unabhängiger Staaten’ (GUS) zu verwenden, da die der GUS angeschlossenen Republiken nicht alle Herkunftsregionen der nach Israel immigrierten russischen Juden umfassen. Die Formulierung ‘frühere Sowjetunion’, wie auch die in der englischen Literatur häufig verwendete gleichnamige Abkürzung ‘FSU’ für ‘Former Sowjet Union’, erscheint mir für den Kontext dieser Arbeit plausibler, da hiermit all diejenigen Unionsrepubliken umschlossen werden, die dem Territorium der Sowjetunion bis einschließlich 1989 angehörten. Hierzu zählen insbesondere die mittlerweile unabhängigen baltischen Staaten.

Im Hinblick auf die einzelnen Herkunftsländer ist die Immigrantengruppe inhomogen, dennoch möchte ich sie in ihrer Gesamtheit der Einfachheit halber als ‘russische’ bzw. ‘sowjetische’ Juden bezeichnen.

‘Israel’ bezieht sich in dieser Magisterarbeit auf die Grenzen des Kernlandes, d.h. auf die Markierungen vor Ausbruch des Sechs-Tage-Krieges (1967), die den Gaza-Streifen und das Westjordanland ausschließen. Mit ‘Israeli’ und ‘ansässige Bevölkerung’ sind die einheimischen Juden gemeint.

In einigen Teilbereichen steht die innergesellschaftliche Entwicklung Israels in direktem Zusammenhang mit der regionalen Friedens- und Sicherheitspolitik. Dennoch werde ich auf den israelisch-palästinensischen Konflikt nur insofern eingehen, als er von den Folgen der Immigration russischer Juden mitbetroffen ist.

2 Politische und gesellschaftliche Situation in Israel als Basis für die Immigration

2.1 Israels Immigrationspolitik

Die Immigrationspolitik Israels erklärt sich aus der Ideologie des Zionismus[1], die der Staatsgründung vorausgegangene politische Bewegung europäischer Juden. Im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Nationalismus und des modernen Antisemitismus kam diese Bewegung zu der Auffassung, daß sich jüdisches Leben und Tradition innerhalb einer nicht-jüdischen Gesellschaft nicht aufrechterhalten lassen, oder aber daß das Judentum auch im Falle einer Assimilation immer eine außenstehende Minorität bleiben wird, der wirtschaftliche, politische und physische Vernichtung droht (Eisenstadt, 1973: 21). Als grundlegende zionistische Doktrin gilt die Ablehnung der jüdischen Diaspora[2]. Diese Ansicht manifestierte sich in der Proklamation und Errichtung eines eigenen souveränen jüdischen Staates. Darin wird betont, daß die Juden ein Volk sind (Herzl, 1896, zit. n. Ben-Sasson, 1995: 1103). Die Zionisten strebten die Entwicklung einer neuen und modernen jüdischen Gesellschaft an und damit eine nationale und soziale Renaissance. Das bei Eisenstadt (1987: 483) als „zionistische Vision“ bezeichnete Ideal zielte auf eine „Sammlung der Zerstreuten“ (mizhug galujot) ab. Damit ist ein Zusammenschluß der weltweit lebenden Juden in einem eigenen Land gemeint. Diese sollten mit dem Gedanken einer gemeinsamen jüdischen Solidarität eine neue Gesellschaft durch Ansiedlung in Israel-Palästina schaffen. Israel verkörpert somit eines der wichtigsten Prinzipien des Zionismus: Die Rückkehr aller Juden nach Israel, das in seiner Unabhängigkeitserklärung von 1948 als historisch angestammtes Heimatland aller Juden bezeichnet wird[3]. Demzufolge basiert die Identität des Staates auf der jüdischen Religion, die das Volk während zweitausendjähriger Zerstreuung bewahrte und verband.

Bereits vor der Staatsgründung gab es eine jüdische Gemeinschaft in Palästina (Yishuv), die aus überwiegend osteuropäischen Einwanderern, also praktisch Vorfahren der jetzigen russischen Juden, bestand. Diese haben die Rahmenbedingungen für die Strukturen des späteren Staates geschaffen, der im wesentlichen aus weiteren Einwanderern aufgebaut und konsolidiert worden ist (Wolffsohn; Bokovoy, 1996: 13). Zentrale Gestalt des Yishuv war der spätere Staatsgründer David Ben Gurion. Er gehörte einer sozialistisch-zionistischen Gruppierung an, die entschlossen war, ihr Ideal von sozialer Gleichheit mit der Wiederherstellung einer jüdischen Eigenstaatlichkeit zu verbinden (Maier, 1988: 745). Heute ist Israel eine demokratische Republik mit theokratischen Elementen.

Siegel (1998: 8) bezeichnet die Immigration in Israel als ‘raison d’être’ des Staates. Jüdische Repräsentanten betonen immer wieder, daß Israels Existenz den Juden der Welt eine Zuflucht bietet, und im Jahre 1989 hat das israelische Parlament (Knesset) den Staat als ‘Staat des jüdischen Volkes’ neu definiert (Maier, 1988: 887). Demnach ist Israel per definitionem ein Einwandererland, das um die Immigration und Integration von Juden wirbt. Dieser Aufgabe gilt oberste Priorität. Ihr widmen sich die israelische Regierung mit ihren diversen Ministerien, sowie spezielle Organisationen, die sich zu diesem Zweck gebildet haben. Hier ist neben einer Vielzahl nichtstaatlicher Organisationen die ‘Jewish Agency for Israel’[4] von Bedeutung, die Aufnahmezentren und verschiedene Beratungs- und Hilfseinrichtungen gegründet hat (Eisenstadt, 1987: 448).

Jahre mit hohen Einwanderungszahlen wechseln sich in ständigen Zyklen mit Jahren mit niedrigen ab. Daher wird in der Regel von ‘Einwanderungswellen’ gesprochen (DellaPergola, 1989: 97).

Der Sonderstatus, den die Einwanderung in Israel einnimmt, spiegelt sich in der modernen hebräischen Sprache, dem Ivrit, wider, in welcher dieser Prozeß als aliya (Pl.: aliyot) bezeichnet wird. Abgeleitet von diesem Wort wird ein Neueinwanderer oleh (Pl.: olim) genannt. Diese emischen Termini sind auch in Übersetzungen von offiziellen hebräischen Dokumenten üblich. Strenggenommen bedeuten sie nicht etwa Immigration, sondern ‘Aufstieg’, ‘Emporkommen’. Das Wort aliya findet seinen Ursprung in der Bibel, in der die Migration der Israeliten aus Ägypten nach Palästina als eine Art ‘Emporkommen nach Zion[5] ’ beschrieben wird. Diejenigen, die nach Israel-Palästina eingewandert sind, werden demgemäß als ‘jene, die emporgekommen sind’ bezeichnet[6]. Diese spirituelle Auffassung der Immigration hat sich bis heute in der jüdischen Liturgie erhalten und unterstreicht den einzigartigen Charakter und die historische Kontinuität der jüdischen Immigration in Israel (Weisband, 1993: 44). In diesem Zusammenhang wird die Emigration aus dem Land abwertend mit Jerida, beschrieben, was wörtlich ‘Abstieg’ bedeutet.

Bemerkenswert ist, daß die Einwanderung in Israel in der Literatur stets als ‘Rückkehr’, ‘Repatriatiierung’, ‘Re-Migration’ bezeichnet wird. Die israelischen Ethnologen und Soziologen Ben-Rafael, Olshtain und Geijst (1997: 364) schufen in diesem Zusammenhang den Begriff „Returning Diasporas“, der mir, da sich Israel traditionell als Heimatland aller Juden versteht, als geeignet erscheint:

„What distinguishes a Returning Diaspora (RD) from other immigrant groups is first, that its members see themselves in one way or another as exiles in their countries of origin and exhibit feelings of home-coming upon immigrating. Second, this is also the way the dominant culture of the target society sees them, which accounts for the immediate and unconditional acceptance of the newcomers into membership upon their arrival“.

Die Perspektive der israelischen Bevölkerung drückt auch das Israel Yearbook and Almanac (1991/92: 88) aus: „Mainstream society, ... fulfilled the Zionist doctrine of viewing the newcomers not as immigrants but as repatriates“.

Die Möglichkeit, in diesem Sinn in Israel einzuwandern, wurde 1950 von dem Israelischen Parlament mit dem sogenannten ‘Rückkehrgesetz’ legal statuiert, welches jeden Juden berechtigt, nach Israel einzuwandern (Wolffsohn; Bokovoy, 1996: 286). Ergänzend wurde dazu 1952 das ‘Gesetz zur Staatsangehörigkeit’ verabschiedet, das Neueinwanderern bei ihrer Ankunft ohne weitere Formalitäten den Erhalt der Staatsbürgerschaft zusichert (Lucas, 1994: 63-64)[7]. Demnach sind Religionszugehörigkeit und israelische Nationalität pro forma gesetzlich miteinander verbunden.

Ich möchte hierbei betonen, daß es sich um ein selektives Immigrationsverfahren handelt, da diese Privilegien ausschließlich Juden zuteil werden. Die Staatsbürgerschaft der etwa einer Million israelischen Araber basiert auf dem ‘Gebietsprinzip’, das auf diejenigen Einwohner angewendet wurde, die nach der Gründung Israels im Kerngebiet des Staates geblieben sind (Smooha, 1978: 2; Wolffsohn; Bokovoy, 1996: 268)[8].

Umstritten und Thema immer wiederkehrender politischer Debatten ist jedoch die Frage, wer als Jude gelten kann. Bestimmend sind hierbei traditionell-religionsgesetzliche Kriterien, die in der Halacha, einem Teil der verbindlichen religiösen Überlieferung, verankert sind. Danach wird unter einem Juden derjenige verstanden, der von einer jüdischen Mutter abstammt oder auf halachisch orthodoxe Art zum Judentum konvertiert ist (Maier, 1988: 848). Offiziell gilt diese überlieferte Norm immer noch. Ein Wechsel zur jüdischen Konfession entlang der liberaleren Richtlinien des Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen konservativen und Reformjudentums wird in Israel nicht anerkannt.

Jedoch kam die einschränkende orthodoxe Bestimmung bald mit dem demographischen Ziel des Staates in Konflikt, die die Majorität der jüdischen Bewohner im Land erhalten und vergrößern will. Immigration und der damit verbundene Bevölkerungszuwachs ist ein so wichtiger Faktor für Israels wirtschaftlichen, sozialen und sicherheitspolitischen Aspekte, daß das ‘Rückkehrgesetz’ durch ein Nachtragsgesetz im Jahre 1970 wesentlich flexibler gemacht worden ist. Demnach wird die matrilineale Deszendenz bis zur dritten Folgegeneration anerkannt. Darüber hinaus wurde die Anwendbarkeit des Gesetzes auch auf Affinalverwandte von Juden ausgeweitet (Dominitz, 1997: 114). Diese Gesetzesänderung gilt primär als Reaktion auf die relativ große Anzahl sowjetischer Immigranten in gemischten Ehen, die in den siebziger Jahren einwanderten (Horowitz, 1999: 41).

2.2 Die israelische Gesellschaft

Die oben beschriebene gesetzliche Regelung hat eine Massenimmigration von Juden aus aller Welt ermöglicht, die die Bevölkerungsanzahl kontinuierlich vergrößert und eine überaus pluralistische Gesellschaftsstruktur hinterlassen hat. Weisband (1993:46) zählt Einwanderer aus 104 verschiedenen Ländern mit 72 noch gebräuchlichen Muttersprachen; Light und Isralowitz (1997: viii) bezeichnen die israelische Population als eine der ethnisch heterogensten der Welt. Diese beträchtliche ethnische Vielfalt reflektiert 2000 Jahre weltweiter jüdischer Zerstreuung.

Die vorhandenen ethnischen Verschiedenheiten resultieren in national-ideologischer Perspektive aus den langfristigen Aufenthalten der Juden in den unterschiedlichen Ländern. So wird Ethnizität einerseits akzeptiert, aber: „...returning to the homeland, it is argued, will result in the emergence of a new Jew - untainted by the culture and psychology of the diaspora and freed from the constraints and limitations of experiences in places of previous (non-Israel) residence“ (Goldscheider, 1996: 24).

Infolgedessen ist eine Integrationspolitik entstanden, die von homogenen Gesichtspunkten geleitet wird. Die Einwanderer sollen nicht nur direkt an der Gestaltung des Staates mitwirken, von ihnen wird auch ein weitgehender Identitätswandel verlangt. Dieser Gedanke basiert auf der Ideologie, die die Bildung einer neuen kollektiven jüdischen Identität beabsichtigte. „One Jewish nation would be formed out of the mass of humanity that had suddenly arrived on their shores“ (Lewis, 1993: 209).

„Das neue jüdische Gemeinwesen in Zion sollte in allem anders als die Diaspora sein, ein ‘neuer jüdischer Mensch’ sollte geschaffen, eine ‘neue jüdische Gemeinschaft’ errichtet werden. Mit der Diaspora verband man Schwäche, Wehrlosigkeit und Verfolgung. Jetzt demonstrierte man Stärke und Wehrhaftigkeit“ (Wolffsohn; Bokovoy, 1996: 45).

Diese zionistische Tradition der Ablehnung der Diaspora bietet einen Erklärungsansatz für die Tendenz, alle Einwanderer als einheitliches Ganzes zu behandeln und Erscheinungsformen der unterschiedlichen kulturellen Herkunftsidentitäten so weit wie möglich zu verhindern. Das Ideal, welches die Politiker verfolgt haben, entsprach einer Verschmelzung aller jüdischen Gruppen in ein einheitliches nationales und kulturelles Wesen (Ben-Rafael, 1982: 241). Sie orientierten sich dabei an der traditionellen ‘Melting-pot’ Ideologie, die die Überwindung ethnischer Identitäten zugunsten einer neuen einheitlichen nationalen Identität betont. Um dieses Ergebnis hervorzubringen sind zahlreiche Institutionen geschaffen worden. Hier ist vor allem das Bildungswesen relevant, das im Rahmen eines innovativen Lehrplans auf die Schaffung eines neuen jüdischen Persönlichkeitsbildes hin wirken soll. Siegel (1998: 23) vergleicht diesen Prozeß mit der „Formung von Rohmaterial“ und Eisenstadt (1973: 63-64) spricht davon, daß das „soziale und kulturelle Erbgut“ der Einwanderer in großem Ausmaß neutralisiert worden ist. Aus diesem Grund ist Ethnizität nur selten zum Brennpunkt einer separatistischen Identität innerhalb der israelischen Bevölkerung geworden. Anhand vielfältiger Prozesse ist eine neue israelische Identität sozial konstruiert worden.

Nach wie vor wird Ethnizität als praktisch temporär und transitional angesehen, die sich spätestens in der Folgegeneration auflösen wird. Diese Haltung wird Goldscheider (1996: 25) zufolge nirgends deutlicher als in staatlichen statistischen Publikationen, in denen ethnische Herkunft als eine askriptive Tatsache gemäß des Geburtsortes der Person kategorisiert wird. Bei im Land geborenen ist der Geburtsort des Vaters ausschlaggebend[9]. Demnach ist die ethnische Herkunft und Identität schon für die Nachkommen der dritten Generation kein unterscheidbares Kriterium mehr, sie sind einzig und allein Israelis.

Dennoch ist eine grundlegende Dichotomie zwischen jüdischen Gruppen entstanden, die in der israelischen Terminologie als Ashkenasim und Sefardim bzw. Mizrahim bezeichnet werden. Ausschlaggebend für die ethnische Differenzierung sind hier die Herkunftsregionen der Einwanderer, wobei vor allem zwischen christlichen und islamischen Ländern unterschieden wird. Die erstgenannte Gruppe, die Ashkenasim, sieht ihre kulturellen Wurzeln in Deutschland und in der jiddischen Sprache. Dazu gehören Juden und deren Nachfahren aus Mittel- und Osteuropa sowie aus Nord- und Südamerika, Südafrika und Australien, wohin sie ursprünglich aus den europäischen Staaten emigriert waren. Die zweite Gruppe der Sefardim umfaßt ebenso undifferenziert sämtliche Juden aus afro-asiatischen Herkunftsländern (Naher Osten, Nordafrika, Jemen, Äthiopien, Balkanstaaten, Iran, Indien und islamische Republiken der früheren Sowjetunion) (Smooha, 1994: 161)[10].

„This ethnic categorization is unique historically among Jewish communities of the world and is constructed only for Jews living in the state of Israel. It clearly reflects a distinction between Jews of ‘Western’ and ‘Middle Eastern’ origin“ (Goldscheider, 1996: 25).

Die Ashkenasim haben mit ihren relativ homogenen ideologischen Vorstellungen eines säkularen demokratischen Staates gemäß westlichem Vorbild die kulturellen Normen Israels nachhaltig geprägt. Zur Zeit der Staatsgründung bildeten sie die Mehrheit und die Hauptstütze der Bevölkerung und waren bereits fest als dominante Gruppe etabliert. Ihr Standpunkt, Israel in allen kulturellen Aspekten als integralen Bestandteil Europas zu betrachten, ließ eine überaus eurozentristische Haltung gegenüber den Einwanderern aus orientalischen Ländern entstehen. Da diese überwiegend aus agrarischen Gesellschaften kamen, wurden sie abwertend als ‘kulturell rückständig’ und als ‘Wüstengeneration’ bezeichnet, die aufgrund ihres niedrigeren Bildungsniveaus Israels kulturelles Gefüge gefährden würden. Die Ashkenasim verlangten von ihnen eine rasche und möglichst vollständige Assimilation. Dabei setzten sie voraus, daß die Mizrahim bereit und fähig seien, ihre eigene Identität zugunsten der dominanten vollständig aufzugeben (Smooha, 1994: 165-166). Es wurde eine diskriminierende Politik verfolgt, die von Rijwan (1998: 28) als Prozeß der ‘De-Orientalisierung’ bezeichnet wird. Gepaart mit einer paternalistischen Ideologie und intensiver Dekulturation hat dieses Verfahren die orientalischen Juden marginalisiert und ein System ethnischer Ungleichheit entstehen lassen. In allen sozio-ökonomischen Bereichen einschließlich Politik sind die Mizrahim bis heute die benachteiligte Gruppe. Prinzipiell ist eine zweigeteilte Nation entstanden. Die israelische Terminologie unterscheidet zwischen einem ‘ersten’ und einem ‘zweiten Israel’ und drückt damit die soziale Ungleichheit als Folge der Zugehörigkeit zu westlicher bzw. orientalischer Gruppe aus. Entgegen der ursprünglich verfolgten zionistischen Absicht einer Verschmelzung aller ethnischen Gruppen zu einer neuen einheitlichen Gesellschaft gibt es demnach eine Einteilung in zumindest diese beiden spezifischen Gruppen. Die europäischen Juden verwenden auch den Begriff eda[11] , um damit die Gesamtheit der orientalischen Juden zu bezeichnen und sich von ihnen abzugrenzen. Weitere ethnische Differenzierungen werden jedoch nicht gemacht (Eisenstadt, 1987: 472).

Im Lauf der Zeit führten ethnische Protestbewegungen wie auch die Orientierung des Staates an dem Wiederaufleben des ethnischen Pluralismus in den USA zu einer etwas abgeschwächteren Haltung der dominierenden ashkenasischen Juden gegenüber den orientalischen. Dadurch wurde der öffentliche Ausdruck von jüdisch-orientalischer Kultur zwar ermöglicht und gefördert, jedoch heißt es bei Smooha (1994: 168):

„Ashkenasim still continue to stereotype themselves as superior Westerners and to project Orientals as inferior, arabized Middle-Easterners. They allow the expressions of a Judaeo-Oriental heritage only because they regard these as harmless elements of a dead historical culture“.

Bis Anfang der neunziger Jahre konstituierten die Mizrahim aufgrund hoher Einwanderungs- und Geburtenraten quantitativ etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung (Wolffsohn; Bokovoy, 1996: 271). Es ist der Widerspruch zwischen dieser demographischen Stärke und der sozialen Benachteiligung, welcher den Status der orientalischen Juden in Israel zum Problem und zu einer Quelle ständiger interner ethnischer Spannungen hat werden lassen. Dennoch haben diese bisher nie soweit geführt, daß die orientalischen Juden ein eigenes ethnisches Bewußtsein entwickelt und die Akzeptanz einer separaten Identität mit potentiellem Einfluß auf die nationale Gesamtkultur gefordert haben.

Diese ethnischen und sozialen Differenzen werden sich durch die gegenwärtige Massenimmigration der russischen Juden wahrscheinlich noch verschärfen, da diese in der überwiegenden Mehrzahl aus den europäischen Regionen der FSU stammen.

2.3 Die Immigration russischer Juden seit den siebziger Jahren

„Israel’s immigration policy turned out to be very different from those of the classical countries of immigration. While the latter execute their policies, passively, through laws and regulations which facilitate or limit entry of migrants, ... , Israel developed an activist policy, embodying the traditional Zionist mission, and which reached out to every Jewish community with a potential for aliya“ (Dominitz, 1997: 117-118).

Die frühere Sowjetunion stellt in ihren Ausmaßen eines der größten jüdischen Diasporagebiete dar und ist somit als Reservoir potentieller Immigranten für Israel von immenser Bedeutung. Die sowjetischen Emigrationsraten unterlagen dabei im Zeitverlauf entsprechend der jeweiligen innen- und außenpolitischen Situation extremen Schwankungen. Mit Öffnung der früheren Sowjetunion seit dem Jahre 1989 wird eine liberalere Emigrationspolitik verfolgt.

In diesem Kapitel werde ich auch einen kurzen Überblick über die Emigration russischer Juden aus der FSU während den siebziger Jahren geben. Die Darstellung ist aus folgenden Gründen von Bedeutung: Die familiären und freundschaftlichen Bindungen zwischen den Immigrantengruppen der siebziger und der neunziger Jahre sind von nicht unerheblichem Einfluß für die spätere Immigrationsentscheidung. Außerdem erklären die mit dieser Emigration verbundenen Umstände die spezifischen Strategien, die Israel in den neunziger Jahren entwickelte. Diese hatten die Absicht, russische Immigranten gezielt nach Israel zu leiten.

Bis zu den weitreichenden Reformen Gorbatschows benötigten sowjetische Bürger ein Ausreisevisum, um überhaupt das Land verlassen zu können. Dieses wurde lediglich unter den Rubriken Familienzusammenführung und Repatriierung erteilt. Der letzte Aspekt kam für die Juden nicht in Frage, da die frühere Sowjetunion zu keiner Zeit die Verbindung ihrer jüdischen Mitbürger mit dem Staat Israel anerkannte (Ro’i, 1997: 47). Der israelische Staat nahm die Option der Familienzusammenführung bereitwillig wahr und stellte die dazu erforderlichen Nachweise zur Verfügung. Um die Sowjetunion verlassen zu können, mußten die Emigranten offiziell die sowjetische Staatsbürgerschaft aufgeben und damit das Recht auf eine eventuelle Rückkehr in das Land. Persönlicher Besitz wurde ihnen bei der Ausreise nicht gestattet (Quigley, 1997: 13-16). Aufgrund der abgebrochenen bilateralen Beziehungen verlief die Reiseroute nur auf indirektem Landweg über die Transitstellen Wien und Rom und von dort per Flugzeug nach Israel (Dominitz, 1997: 118).

Der umständliche Reiseweg über westliche Transitländer hatte jedoch für Israel negative Auswirkungen. Denn bei Ankunft an den Transitstellen wurden die jüdischen Emigranten nicht nur von der Jewish Agency aufgenommen und weitergeleitet. Auch die amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisationen HIAS und JDC[12] stellten Mitarbeiter bereit, die ihrerseits auf die Möglichkeit der Weiterreise in die Vereinigten Staaten aufmerksam machten. Von der US-amerikanischen Regierung wurden an den Transitstellen spezielle Visabüros eröffnet (Mertens, 1993: 120). Dadurch entstand ein sogenanntes ‘Dropout-Phänomen’ unerwarteten Ausmaßes: Die offizielle sowjetische Ausreisegenehmigung basierte zwar auf den hierfür erforderlichen israelischen Dokumenten. Dennoch brachen die jüdischen Emigranten auf dem indirekten Weg nach Israel ihre Reiseroute ab und immigrierten statt dessen in einen anderen westlichen Staat, vorzugsweise in die USA (Dominitz, 1997: 118). In den Jahren zwischen 1976 und 1982 machten durchschnittlich 63 Prozent der Emigranten von der Möglichkeit der Immigration in die USA Gebrauch. Ein zusätzlicher Prozentsatz blieb eigenverantwortlich in Österreich oder Italien, reiste in andere westeuropäische Staaten oder nach Übersee weiter. Dadurch dezimierte sich die erwartete Zahl der Neueinwanderer in Israel erheblich (a.a.O.: 119). Dem Central Bureau of Statistics (CBS) (1998: 6) zufolge, konnte Israel in diesen Jahren insgesamt etwa 170.000 russische Immigranten verzeichnen.

Die USA ermöglichten zur Zeit des Kalten Krieges beinahe allen sowjetischen Bürgern, die um Asyl baten, die Einwanderung. Daher galten die Methoden der amerikanischen Regierung an den Transitstellen als Unterstützung von politisch Verfolgten, wozu auch die sowjetischen Juden gezählt wurden (Quigley, 1997: 22).

Für Israel bedeutete dies jedoch eine inakzeptable Intervention. Die exorbitanten Dropout-Raten signalisierten nicht nur einen großen Mißerfolg, sie kamen einem Akt der Beleidigung gleich.

„... in the case of dropouts, when Jews accepted an Israeli visa out of convenience and used it only in order to get out and wait to go elsewhere, this was not only a failure, but an offence. It was like a slap in the face of the Jewish homeland which had paved the way for Jews to leave the Soviet Union, offered them a refuge, and actually provided the entry visa“ (Dominitz, 1997: 118).

Diese Tatsache erschien unvereinbar mit der national-zionistischen Ideologie, die den Staat Israel als Zufluchtsort aller Juden definiert hat. „Israel’s rationale for existence was that it was a refuge for Jews in danger. If Jews leaving the Soviet Union went to the United States, the need for an Israel was called into question“ (Quigley, 1997: 27).

Die gegen die USA gerichteten Vorwürfe und weitere öffentlich geäußerten Anschuldigungen verschlechterten das Verhältnis zwischen den beiden Staaten, das als traditionell gut zu bezeichnen ist. In wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, und vor allem in bezug auf die Finanzierung der Immigrationsprozesse, ist Israel in hohem Maße von den USA abhängig (Wolffsohn; Bokovoy, 1996: 218-222).

Israel unternahm im Jahre 1987 direkte politische Maßnahmen gegenüber der US-amerikanischen Asylpolitik. Den Recherchen Quigleys (1997: 22-24) zufolge, stellte der damalige israelische Ministerpräsident Shamir an das US-Außenministerium den formellen Antrag, die israelische Immigrationspolitik als Essenz des Staates zu unterstützen. Ziel sei nicht nur, die russischen Juden aus der Sowjetunion herauszuholen, sondern sie in ihr Heimatland, Israel zu bringen. Die USA lehnten diesen Antrag ab und vertraten das Prinzip der freien Willensentscheidung, nach dem jeder Mensch das Recht habe, selbst das Land auszuwählen, in das er einwandern möchte. Die Haltung Shamirs, zusammen mit seiner Forderung, die finanzielle Unterstützung amerikanischer Juden solle primär für die Immigration von Juden in Israel verwendet werden, führte zu erheblichen politischen Spannungen zwischen den Staaten. Diese ließen erst wieder ab dem Jahre 1989 nach, als die USA aufgrund eigener ökonomischer Motive die Einwanderungsauflagen verstärkten und ihre Immigrationsrate für Personen aus der FSU auf jährlich maximal 50.000 beschränkten. Infolgedessen schlossen ihre Visabüros an den Transitstellen Wien und Rom. „Shamir was delighted ... . Now the bulk of the departing Soviet Jews would go to Israel, whether they wanted to or not“ (a.a.O.: 24).

Die Modifikation der US-amerikanischen Immigrationspolitik wie auch die sich ab Ende der achtziger Jahre abzeichnenden politischen Reformen in der früheren Sowjetunion gelten als die zwei äußeren entscheidenden Faktoren für die bis zum jetzigen Zeitpunkt stattfindende Großimmigration russischer Juden in Israel (Siegel, 1998: 13).

Vor allem die Prinzipien Perestroika und Glasnost haben zu den liberaleren Ausreiseregelungen der FSU geführt. Die Ermöglichung öffentlicher Information und Diskussion hat bei den sowjetischen Bürgern zu einer kritischen Beurteilung ihres politischen Systems geführt, welche Kritik an den bis dahin eingeschränkten Ausreisemöglichkeiten beinhaltete, und zwar auch außerhalb jüdischer Kreise. In dieser sich entwickelnden neuen politischen Realität blieben der sowjetischen Regierung in bezug auf die kontinuierlichen Wünsche nach Ausreise nur zwei Möglichkeiten: die Praxis der Behinderung der Emigration fortzusetzen oder sie uneingeschränkt zu gewährleisten.

„Continuing a restrictive emigration policy would have undermined glasnost, the new image of Party and government responsiveness and the fresh commitment to the integrity of international documents such as the Helsinki Final Act“ (Salitan, 1997: 80).

Seit Ende 1989 kann im Grunde genommen jeder Bürger das Land verlassen, im Jahre 1991 wurde der sowjetische Reisepaß eingeführt. Das einzige ernsthafte Hindernis stellt sich jedoch bei der Frage des Aufnahmelandes. Für die Mehrzahl der russischen Juden gingen durch die nun stark limitierte amerikanische Immigrationsquote die USA als mögliches Zielland verloren. Als Alternative blieb praktisch nur Israel, wodurch sich der schlagartig steigende Immigrantenzustrom der nachfolgenden Jahre erklärt. Eklatant sind hier besonders die Jahre 1990 und 1991 mit jeweils annähernd 200.000 bzw. 150.000 sowjetischen Einwanderern. (Israel Yearbook and Almanac, 1993: 222).

Nur wenige Länder nahmen zeitweilig eine größere Anzahl sowjetischer Juden auf, darunter Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland. Israel ermutigte sie aber in keiner Weise dazu. Ähnlich wie im Fall der USA wurde auch hier interveniert, um die Einwanderung zu verhindern. Quigley (1997: 25) zufolge wurde in der israelischen Presse mehrfach behauptet, die Bundesrepublik würde durch das Aufnehmen russischer Juden die palästinensischen Araber unterstützen[13]. In diesem Zusammenhang bemühte sich der israelische Knesset-Abgeordnete Kleiner, Deutschland zu überzeugen, lediglich die russischen Juden, die deutsche Vorfahren haben, aufzunehmen. Ob die seit 1991 tatsächlich erschwerten Bedingungen bei dem Anerkennungsverfahren für sogenannte ‘deutschstämmige Aussiedler’ gemäß des Bundesvertriebenengesetzes auch darauf zurückzuführen sind, ist nicht zu ermitteln. Jedoch wurde dadurch nicht zuletzt die Zuwanderung aus der FSU deutlich eingeschränkt[14]. Gitelman (1997: 36) betont: „Israel has benefited greatly from the near-hermetic sealing of most countries to immigration“.

Ein weiterer ausschlaggebender Faktor für die russische Einwandererwelle in Israel ist die von den israelischen Behörden vorgenommene gezielte Verlagerung der ursprünglichen Transitstellen. Hierdurch sollte das Risiko weiterer Dropout-Raten minimiert werden, damit sich die Erfahrungen mit den während den siebziger Jahren emigrierten russischen Juden nicht wiederholen konnten. Ab dem Jahre 1989 verlief die Reiseroute nicht mehr über Österreich und Italien, sondern über die osteuropäischen Länder Polen, Ungarn und Rumänien, mit denen Israel nach Abbruch des Kalten Krieges wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen hatte. Die ehemaligen Transitstellen hatten das Stigma erhalten, das Dropout-Phänomen überhaupt erst ermöglicht zu haben, und die osteuropäischen Länder galten als zu unattraktiv für etwaige jüdische Niederlassungen. Darüber hinaus wurde die Praxis der israelischen Visaerteilung entscheidend modifiziert. Bis dahin hatte die niederländische Botschaft in Moskau, die den Staat diplomatisch vertrat, das erforderliche Einreisevisum ausgestellt. Fortan wurden die Papiere nur noch von der israelischen Botschaft in Warschau, Budapest und Bukarest vergeben. Der Hintergrund dieser Maßnahmen ist deutlich: Von diesen Transitstellen aus bestand nur noch die Möglichkeit der Weiterreise nach Israel, wohin demzufolge eine erhebliche Anzahl der Emigranten gewissermaßen mehr oder weniger freiwillig navigiert worden ist. (Mertens, 1993: 122-126; Quigley, 1997: 24-26). Siegel (1998: 15) spricht von einer forcierten direkten Immigration.

[...]


[1] Der Begriff Zionismus stammt von dem Wort Zion, einem traditionellen Synonym für Jerusalem. Begründer des Zionismus war Theodor Herzl (Anm. d. Verf.).

[2] Armstrong (1976, zit. n. Medding, 1983: 196) zufolge bezeichnet der Begriff Diaspora (griech.: Zerstreuung) jede ethnische Kollektivität ohne territoriale Basis innerhalb einer gegebenen politischen Ordnung.
Im Judentum galt dieser Begriff ursprünglich als Unterscheidung zwischen freiwilliger Auswanderung aus Israel und Vertreibung aus dem Land. Letztere wird im Hebräischen mit Galut (dt.: Exil) bezeichnet. Gemäß dieser Definition konstituieren auch die gegenwärtigen jüdischen Gemeinschaften in der Welt eine Diaspora (Encyclopaedia Judaica, 1974). In kontemporärer Literatur hat sich jedoch eine Generalisierung des Begriffes durchgesetzt.

[3] vgl. Proklamationsurkunde des Staates Israel (1948) (zit. n. Bundeszentrale für Politische Bildung, 1991: 33-35).

[4] Weisband (1993: 46), ein Mitarbeiter der ‘Jewish Agency for Israel’, beschreibt diese Organisation als aktive Vertretung der Juden der Welt in den Bereichen der Immigration und Integration von Einwanderern. Sie ist im Staat Israel tätig aufgrund einer in ihrer Art einmaligen Regelung, wonach der souveräne Staat entscheidende Zuständigkeiten auf eine jüdische internationale Organisation übertragen hat. In erster Linie teilt sich die Jewish Agency mit dem israelischen Staat die Aufgabe der Organisation der Einwanderung von Juden nach Israel. Finanziert wird sie durch weltweite Spenden.

[5] Zion, also Jerusalem, liegt auf einem Berg.

[6] Ein anderes hebräisches Wort für Immigration ist mehager. Es bezeichnet als Unterscheidung von jüdischen Einwanderern in Israel die Einwanderung in ein anderes beliebiges Land. (Anm. d. Verf.).

[7] Die Gesetze sind in ihren Grundzügen dem deutschen ‘Bundesvertriebenengesetz’ vergleichbar, lassen jedoch einen wesentlich größeren Spielraum zu (Anm. d. Verf.).

[8] Die nicht-jüdischen Bewohner der 1967 annektierten Gebiete (Westjordanland und Gazastreifen) sind keine israelischen Staatsbürger. Diese werden im allgemeinen als palästinensische Araber bezeichnet. Ihre Anzahl beträgt etwa 2,5 Millionen (Wolffsohn; Bokovoy, 1996: 66, 268).

[9] Die Frage der Religionszugehörigkeit wird im Judentum zwar entlang matrilinealer Deszendenzregeln entschieden. Die Familienstruktur ist jedoch patriarchalisch, so daß Familienname und Herkunftsbezeichnungen patrilinealen Abstammungsregeln folgen, also patronym sind (De Vos; Romanucci- Ross, 1995: 362.

[10] Das hebräische Wort ashkenasi ist ursprünglich ein im Mittelalter geläufiges hebräisches Synonym für Deutschland. Sfarad ist die hebräische Bezeichnung für die Iberische Halbinsel z.Zt. der Maurenherrschaft. Somit bezeichnet Sefardim die Juden, die von portugiesischer und spanischer Kultur und Tradition geprägt worden sind. Die europäischen Juden verwenden diesen Begriff jedoch als Abgrenzungsmerkmal gegenüber nicht-europäischen Juden für sämtliche aus Nordafrika, dem Nahen und Mittleren Osten stammenden Israelis (Anm. der Verf.).
Tatsächlich trifft für Einwanderer aus diesen Herkunftsländern vielmehr der Begriff Mizrahim (‘Orientalen’, bzw. ‘aus dem Osten’) zu. Wie ich anhand persönlicher Beobachtungen während meiner Aufenthalte in Israel feststellen konnte, hat sich inzwischen ein eigenes Selbstverständnis dieser ethnischen Gruppen entwickelt und als Gegenpol zu der von den Ashkenasim vorgenommenen Abgrenzung bezeichnen sie sich gemeinsam als edot ha-mizrah, d.h. ‘Gemeinschaft von Juden aus orientalischen Ländern’. Aus diesem Grund bevorzuge ich in dieser Arbeit die Bezeichnungen Mizrahim bzw. ‘orientalische Juden’, ‘Orientalen’.

[11] Eda heißt ‘Gemeinschaft, Bevölkerungsgruppe von gemeinsamer Herkunft’. Der Begriff wird jedoch ausschließlich auf die Mizrahim angewandt (Anm. d. Verf.).

[12] HIAS (Hebrew Immigrant and Aid Society) und JDC (Joint Distribution Committee) sind wichtige Organisationen in der jüdischen Diaspora, die sich im 20. Jh. für die Rettung und Unterstützung von Juden in der ganzen Welt einsetzen. Sie werden in erster Linie vom US-amerikanischen Judentum unterstützt und fungieren als eine Art Hilfsverband bei der Assistenz jüdischer Immigranten in die USA (Weisband, 1993: 46; Dominitz, 1997: 121).

[13] Das heißt, je mehr jüdische Einwohner Israel vorweisen kann, umso begründeter sei die Verweigerung des palästinensischen Anspruches auf einen autonomen Staat.

[14] Die Einwanderung der sogenannten ‘Aussiedler’ in die BRD wurde in den Jahren 1987-1990 tatsächlich hauptsächlich von den sowjetischen Immigranten getragen. Seit 1991 müssen Aussiedlungswillige vor der Ausreise in einem noch im Herkunftsgebiet abzuschließenden Verfahren nachweisen, daß sie Deutsche sind (Wollmann, 1994: 76-77).

Excerpt out of 108 pages

Details

Title
Die Auswirkungen der Großimmigration russischer Juden in Israel seit 10 Jahren
College
University of Cologne  (Institut für Völkerkunde)
Grade
sehr gut
Author
Year
2000
Pages
108
Catalog Number
V11742
ISBN (eBook)
9783638178136
File size
831 KB
Language
German
Keywords
Kulturwandel, Israel, Immigration, Juden
Quote paper
Anne Oswald (Author), 2000, Die Auswirkungen der Großimmigration russischer Juden in Israel seit 10 Jahren, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11742

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