Surrealismus in Federico García Lorcas "Poeta en Nueva York"

Eine Analyse surrealistischer Eigenschaften des New Yorker Gedichtbandes unter Berücksichtigung der Werke Salvador Dalís und Luis Buñuels


Tesis (Bachelor), 2021

38 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das erste Manifest des Surrealismus

3. Das zweite Manifest des Surrealismus

4. Die Exhaustivität der Manifeste für surrealistische Werke

5. Über die Manifeste hinausgehende surrealistische Eigenschaften

6. Wie Spanien und Lorca mit dem Surrealismus in Kontakt traten

7. Analyse von La aurora

8. Vergleich von La aurora mit Frau mit Rosenhaupt

9. Analyse von Nina ahogada en elpozo (Granaday Newburgh)

10. Vergleich von Nina ahogada en elpozo mit Illuminierte Freuden

11. Analyse von New York (Oficina y denuncia)

12. Vergleich von New York (Oficinay denuncia) mit Un chien andalou

13. Schlussbetrachtung

14. Literaturverzeichnis

Anhang

Anmerkung der Redaktion: Der Anhang ist nicht Teil dieser Publikation.

1. Einleitung

Fast hundert Jahre nach der Entstehung von Poeta en Nueva York wird weiterhin intensiv über dessen Zugehörigkeit zum Surrealismus diskutiert. Das verwundert nicht, denn Lorcas Gedichtband ist dermaßen vielschichtig, dass sich Meinungsverschiedenheiten in Hinsicht auf die Zugehörigkeit nicht vermeiden lassen. Studiert man die Forschungslage, ist es allerdings sehr verwunderlich, wie dogmatisch und oberflächlich mit dem Begriff „surrealistisch“ umgegangen wird. Oft wird diese Bezeichnung mit einzelnen Eigenschaften des Surrealismus gleichgesetzt, zum Beispiel dem Automatismus, was dazu führt, dass das Werk voreilig für nicht surrealistisch erklärt wird. Ähnlich substanzlos sind die Einwände, die sich auf ein falsch zugeordnetes Zitat von Lorca stützen: „AM te mando los dos poemas. [...] pero jojo! jojo!, con una tremenda lógicapoética. No es surrealismo, jojo!“.1 Lorca schrieb diese Zeilen im Jahr 1928 über zwei Gedichte, die nicht Teil von Poeta en Nueva York sind.2 Dementsprechend eignet sich dieses Zitat nicht, um Aussagen über Lorcas Surrealität zu tätigen.

In Hinblick auf die Forschungslage, die sich zuweilen zu wenig mit den Regeln und den Künstlern des Surrealismus beschäftigt, soll diese Arbeit genau diese behandeln. Im theoretischen Teil sollen zunächst die Manifeste des Surrealismus von André Breton untersucht werden, mit der Absicht, die Essenz des Surrealismus und die Gründe für dessen Entstehung herauszuarbeiten. Im selben Schritt sollen außerdem die Techniken und Eigenschaften erkannt werden, die auf Kunst angewandt dazu führen, dass sich Surrealität entfalten kann. Als nächstes wird es nötig sein,zu erörtern, ob oder inwiefern die Grundsätze Bretons exhaustiv für surrealistische Werke sind und ob es nicht sinnvoll wäre, die kreativen Variationen, die Künstler wie DaH, Bunuel oder Magritte entwickelt haben, zum Repertoire der surrealistischen Techniken zu zählen. Andernfalls könnten die Manifeste unzureichend sein, um einen eklektischen Dichter wie Lorca einordnen zu können. Zum Schluss und um aufden analytischen Teil dieser Untersuchung vorzubereiten, wird die Beziehung von Lorca, DaH und Bunuel dargestellt und erklärt, wie Lorca durch seine Freunde mit dem Surrealismus in Kontakt kommen konnte.

Der analytische Teil dieser Arbeit soll mit den bis hierhin gewonnenen Erkenntnissen und anhand von den Gedichten La aurora, Nina ahogada en el pozo und New York (Oficina y denuncia) die These bestätigen, dass Poeta en Nueva York genügend surrealistische Eigenschaften besitzt, um als ein surrealistisches Werk anerkannt zu werden. Die Gedichte sollen dann jeweils mit den Gemälden Frau mit Rosenhaupt (1935) , Illuminierte Freuden (1929) und mit dem Film Un chien andalou (1929) verglichen werden. Durch diese Juxtaposition sollen Poeta en Nueva Yorks Ähnlichkeiten mit surrealistischen Werken hervortreten.

2. Das erste Manifest des Surrealismus

Die ersten Seiten des von André Breton verfassten Manifests des Surrealismus haben einen persönlichen und melancholischen Charakter, der Bretons Einstellung zum damaligen Wesen der Gesellschaft verdeutlicht. Er beginnt damit, für die Erhaltung der Phantasie im Leben zu plädieren. Die Phantasie sei nämlich vom Menschen dazu degradiert worden, einem Zweck zu dienen, was zum Abstumpfen der Menschheit führe.3 Die Person, die die Phantasie einer „willkürlichen Nützlichkeit“4 unterziehe, so Breton, werde früher oder später nicht mehr in der Lage sein, einen Sinn im Leben zu finden. Bretons einziger Wunsch sei es deshalb, „den Fanatismus des Menschen für alle Zeiten zu erhalten“.5 Mit anderen Worten also, die Phantasie in allen Phasen des Lebens, auch in den späteren, zu pflegen und zu bewahren. Anschließend zieht Breton eine Verbindung zwischen der Phantasie des Menschen und dem Wahnsinn psychisch Kranker. Ausgehend von der klammernden Haltung, die an Psychosen leidende Personen zu ihren Halluzinationen haben, nimmt Breton an, dass diese Halluzinationen eine enorme Quelle von Trost und Genuss sein müssen.6 Er bewundert die Einstellung der psychisch Kranken und spricht ihnen Ehrlichkeit und Unschuld zu. Nach diesem kurzen Plädoyer für die Phantasie wendet Breton sich der Sache zu, die sein erklärtes Ziel, der Menschheit die Phantasie nahe zu bringen, vereitelt: Die Logik. Der absolute Rationalismus, der nur das rationale Denken des Menschen als Leitlinie für die Logik zulässt, ist laut Breton nicht imstande, die hauptsächlichen Probleme seiner Zeit zu lösen. Grund dafür ist, dass das Rationale zu eng mit der menschlichen Erfahrung geknüpft ist und letztere Grenzen hat, solange sie vom „gesunden Menschenverstand bewacht“7 wird. Breton beteuert, dass das Irrationale „unter dem Vorwand des Fortschritts“8 von der Gesellschaft missbilligt wird, doch in der Forschung Freuds sieht er eine Bewegung, durch die die Logik nicht mehr bloß mit Fakten gebildet werden kann, sondern auch mit der Imagination.

Der tatsächliche Beginn der surrealistischen Idee fand statt, als Breton den Satz in seinem Kopf vernahm: „Da ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird“9, gepaart von der Vorstellung eines sich bewegenden Mannes. Anzumerken ist, wie dieser Satz entstanden ist: Breton wählt im Manifest bewusst das passive Verb „vernehmen“ statt solcher aktiven Verben wie „aussprechen“ oder „sagen“. Er selbst spricht diesen Satz nämlich nicht aus, im Sinne einer aktiven, intendierten Wiedergabe seiner Gedanken, vielmehr kommt der Satz „abgetrennt [...] vom Klang irgendeiner Stimme“10, wie ein Ruf seines Unterbewusstseins zu ihm. Diese von Breton beschriebene Situation verfügt über den Charakter einer Offenbarung, genauer gesagt der Offenbarung des Unterbewussten als Quelle für bis dahin ungeahnte Ausdrucks- und Wahrnehmungsmöglichkeiten. Dass sich die surrealistische Bewegung selbst als eine aufklärende Bewegung versteht, hat wohl hier ihren Ursprung. Sprachlich schreibt Breton dem oben genannten Satz einen „organische[n] Aufbau“11 zu, schließlich ist er grammatikalisch gesehen ein korrekter oder „natürlicher“ Satz wie viele andere. Das Besondere an dem Satz stellt für ihn die bildliche Vorstellung dar, dass ein Fenster sich räumlich den Bewegungen eines Mannes anpassen kann, obwohl ein Fenster ein unflexibler Gegenstand ist und es sich in der Realität niemals so verhalten würde. Der organische Aufbau und die gleichzeitige Unmöglichkeit des Satzes lösten eine Faszination in Breton aus, sodass er anfing, die Selbstkontrolle, der seine Gedanken bis dahin unterlagen, zu hinterfragen. Darauffolgend begann er sich dem schriftlichen Automatismus zu widmen, mit dessen Hilfe er einen „so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt“12, zu Tage bringen wollte. Aus den ersten Texten, die er verfasste, kristallisierte sich schon heraus, was auch zukünftige Werke des Surrealismus auszeichnen sollte, nämlich die Absurdität, die Bildhaftigkeit und die Tatsache, dass die Bedeutung der entstandenen Kreationen oft sogar dem eigenen Schöpfer verschlossen bleibt.13

Bei ungefähr der Mitte des Manifests gibt es eine schlagartige Veränderung, was den Stil des Textes betrifft. Breton wechselt von einem belehrenden zu einem deklarierenden Monolog, wobei das, was er hier mit starker Vehemenz über den Surrealismus deklariert, in wenigen Jahren nicht mehr gelten sollte. Breton meint, den Surrealismus „ein für allemal“14 definieren zu müssen, und um seiner Definition Glaubhaftigkeit zu verleihen, wählt er die Form eines Wörterbucheintrags:

Surrealismus, Subst., m. - Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.15

Weiterhin verkündet er, welche Personen sich der surrealistischen Bewegung offiziell angeschlossen haben: „Zum ABSOLuTEN SuRREALISMuS haben sich bekannt: Aragon, Baron, Boiffard, Breton, [...]“.16 An dieser Stelle lässt sich Kritik an dem Surrealismus ausüben, und zwar an der Inkonsequenz, mit der die selbst aufgestellten Regeln und Ziele befolgt wurden. Zwar sind einige Leitthemen wie „die Allmacht des Traumes“17 stets von den Mitgliedern verfolgt worden, andere Leitthemen jedoch wurden schnell übergangen. Das beste Beispiel hierfür ist der Automatismus, dessen Breton sich anfangs sicher war, es wäre der Kernpunkt des Surrealismus. Der Fokus, der auf diese kreative Technik gelegt wurde, sorgte zunächst dafür, dass die Bewegung zu einem Synonym für den Automatismus wurde, auch wenn, wie später klar wurde, dieser keineswegs den Surrealismus ausmachte. Viele Rezipienten und sogar Kritiker wurden von dem Fokus des Automatismus geblendet und so kam es, dass Künstlern wie Lorca, obgleich nicht offiziell, vorzeitig die Zugehörigkeit zur Bewegung aberkannt wurde. Zum Beispiel erklärt Dionisio Canas fälschlicherweise das Gedicht New York (Oficina y denuncia) als nicht surrealistisch, weil Lorcas freier Vers nicht zum schriftlichen Automatismus passe.18 Von Canas unbeachtet bleiben zahlreiche weitere surrealistische Eigenschaften des Gedichts. Auch Bretons Aufzählung der Personen, die sich dem absoluten Surrealismus versprochen haben, ist im Nachhinein ein Zeichen für den unverständlichen Verlauf, den der Surrealismus unter Bretons Führung genommen hat. Viele der genannten Personen wurden später entweder ausgeschlossen oder haben sich selbst von der Bewegung entfernt, was aufzeigt, dass zahlreiche Mitglieder nicht mit den Regeln des ersten Manifests einverstanden waren. Die vielen Techniken, die von anderen Mitgliedern genutzt wurden, um auf das Unbewusste zuzugreifen (Collage, Decalcomanie, usw.), bezeugen außerdem, wie ungünstig es war, den Surrealismus im ersten Manifest auf den psychischen Automatismus zu reduzieren. Der Kunsthistoriker Uwe Schneede argumentiert sogar, dass der Automatismus beim Zeichnen für wiederkehrende Bildmuster sorgte und er somit zum Gegenteil seines Zweckes beigetragen hat.19 Mit dem Automatismus wehrte sich Breton anfangs gegen jede Art von Filterung durch das Bewusstsein, doch haben die größten Surrealisten später sehr wohl eine Filterung begangen, so zum Beispiel DaH oder Ernst, wenn sie ihre Werke nachbearbeiteten.

Weiter im Manifest beschreibt Breton eine Kerneigenschaft des Surrealismus: Die Annäherung von zwei oder mehreren „Leitern“20, das heißt Ideen oder Gegenstände, die thematisch weit voneinander entfernt sind, löst beim Rezipienten den Drang aus, diese miteinander in Verbindung zu setzen. Da die Ideen beziehungsweise Gegenstände aber in keinerlei Relation zueinander stehen, bleibt dem Rezipienten nur übrig, sie nicht durch Logik in Verbindung zu setzen, sondern durch Imagination.21 All das geschieht allerdings nicht mit Absicht. Vielmehr wird der Rezipient von seinem Unterbewusstsein dazu gebracht, die Leiter zu relativieren. Deshalb ähneln die surrealistischen Bilder im Kopf des Rezipienten den Halluzinationen nach der Einnahme von Drogen, sie werden nicht aktiv evoziert, sie befallen den Rezipienten eher.22 Diese Mechanik ist außerdem für die typisch skurrile und oft beängstigende Ästhetik surrealistischer Kunstwerke verantwortlich. Spürt der Rezipient Unbehagen beim Betrachten surrealistischer Malerei oder beim Lesen surrealistischer Texte, so ist das zum

großen Teil dem „Spannungsunterschied“23 der Leiter zu verdanken, durch die der Rezipient sich zunächst im Bild verliert und erst mit Hilfe des Unbewussten eine, wenn auch unlogische, Ordnung findet. Letzten Endes hat das Gefühl des Unbehagens, das surrealistische Kunst bewirkt, aber einen positiven Zweck, „denn den Geist bestürzen, heißt, ihn ins Unrecht zu setzen“24 und das ist nach Breton nötig, um den „rechten Weg“25 zu finden.

3. Das zweite Manifest des Surrealismus

Zur Zeit der Veröffentlichung des zweiten Manifests hatte der Surrealismus mit seinem Nonkonformismus die soziale Ordnung erfolgreich gestört. Das gibt ein Auszug aus einer medizinisch-psychologischen Zeitschrift zu verstehen, auf den sich Breton bezieht. In dieser Zeitschrift wird den Surrealisten vorgeworfen, zum Mord auszurufen, prozedistische26 Kunst zu kreieren und im Allgemeinen gegen die Ordnung der Gesellschaft zu handeln. Breton, der den Skandal und die Empörung, die der Surrealismus auslösen konnte, sehr schätzte27, wird sich über diesen Zeitschriftenartikel sicherlich gefreut haben. Er erklärt, das Ziel des Surrealismus sei es, eine „Bewusstseinskrise allgemeinster und schwerwiegendster Art auszulösen“28 und ihre Mittel, um diese auszulösen, seien, wenn nötig, sogar gewalttätig.

Insgesamt behandelt das zweite Manifest viel weniger die kreativen Prozesse des Surrealismus und viel mehr die politischen und sozialen Standpunkte der Gruppe, auch wenn es durch den sehr persönlichen Ton zuweilen scheint, als hätte Breton seine privaten Überzeugungen aufgeschrieben und nicht die der gesamten Gruppe. Es scheint, als hätte Breton sich einen marxistischen Surrealismus gewünscht29 und überhaupt eine viel aktivere Rolle in der Politik, doch letztendlich scheint der politische Einfluss der surrealistischen Gruppe auf die von Breton erhoffte Revolution eher gering ausgefallen zu sein. Breton selbst gibt zu, dass sein Beitrag sich darauf beschränkt, „die ernsten Köpfe vor einer kleinen

Anzahl von Individuen zu warnen, die [...] auf jeden Fall aber zu den Feinden der Revolution gehören“30, und dass die Surrealisten es bedauern, so wenig tun zu können.31 Ferner nimmt Breton sich in vielen weiteren Seiten des zweiten Manifests vor, frühere Mitglieder der Gruppe abzuwerten oder das Verhalten damaliger Mitglieder zu kritisieren.

Sowohl die politischen Überzeugungen Bretons als auch seine Auseinandersetzungen mit anderen Mitgliedern sind wenig nützlich für das praktische Thema meiner Analyse und sie werden deshalb nicht ausführlicher behandelt. Sehr nützlich für die Analyse ist allerdings Bretons Erklärung zum Widerspruch32 und zur Liebe.33 Ersteres bedeutet für surrealistische Werke vor allem Flexibilität und Mehrdeutigkeit, denn dort, wo Widersprüche nicht mehr gelten, eröffnen sich neue Möglichkeiten der Interpretation. Letzteres, die Liebe, spricht einen Aspekt an, der in der surrealistischen Kunst eher unterzutauchen scheint. Surrealistische Werke behandeln mit Vorliebe das Begehren oder das sexuelle Verlangen, so zum Beispiel Es lebe die Liebe oder Pays charmant von Max Ernst (1926) oder Meret Oppenheims Mein Kindermädchen (1936). Auch in Dabs und Bunuels Werken tritt eher die sexuelle Seite der Liebe zum Vorschein. Breton betont aber explizit die Bedeutung der reinen Liebe für den menschlichen Verstand34 und zeugt damit von einem romantischen Verständnis von Liebe, wie die, die in zahlreichen Gedichten aus dem New Yorker Zyklus von Lorca hoffnungsvoll erwartet wird.

4. Die Exhaustivität der Manifeste für surrealistische Werke

Erkennt man die Manifeste des Surrealismus als Leitfaden für surrealistische Werke an, dann müssten alle surrealistischen Werke die oben genannten Eigenschaften enthalten. Nun stellen sich zwei Fragen bezüglich der gestellten These: Darf ein Werk nicht mehr und nicht weniger enthalten als die Eigenschaften, die Breton in den Manifesten erläutert? und kann ein Werk, das außerhalb der surrealistischen Gruppe entwickelt wurde, überhaupt mit diesen Kriterien übereinstimmen? Ersteres lässt sich leicht mit einem Blick auf andere surrealistische Künstler beantworten. Es gibt zahlreiche Variationen, wenn es um das Verständnis von Surrealität geht und nicht alle davon stimmen ausnahmslos mit den Forderungen Bretons überein. Louis Aragon antwortet auf die Frage „^cómo crees que nació el surrealismo?“ mit „eso depende de qué se llama surrealismo“35 und gibt damit zu verstehen, dass es nicht eine allgemeine Definition gibt. So kommt es vor, dass selbst grundlegende Techniken wiedie des Spannungsunterschieds von Künstler zu Künstler verschieden angewandt werden: Während der Spannungsunterschied in Oscar Dominguez Elektrosexuelle Nähmaschine (1934) dafür sorgt, dassdasGemäldevorAbsurditätund Skurrilität unmöglich zu durchschauen wird, lädt dasselbe Prinzip in Magrittes Die Beschaffenheit des Menschen (1933) den Rezipienten zielgerichtet ein, das Thema des Gemäldes zu erfahren, nämlich die Wahrnehmung des Menschen. Dagegen gehen Bunuel und DaH beim Verfassen des Drehbuchs zu Un chien andalou soweit, die Technik ganz ungenutzt zu lassen: „No se trataba de unir una imagen con la otra a base de la razón o de la sinrazón, sino exclusivamente de que nos diera una continuidad que satisficiera nuestro inconsciente, sin herir lo consciente [...]“.36 Mit seiner paranoisch-kritischen Methode37 ist DaH auch ein hervorragendes Beispiel dafür, dass selbst die bekanntesten Surrealisten die bretonschen Regeln für ihre Kunst zum Teil verändert oder nicht eingehalten oder ihre eigenen Regeln mit ins Spiel gebracht haben, um ihre authentische Form des Surrealismus zu kreieren. Die Manifeste des Surrealismus sind also weder ein Mindestmaß für surrealistische Werke noch sind sie exhaustiv für alle Möglichkeiten des surrealen Ausdrucks. Ein Werk kann demnach weniger, mehr oder eigene surrealistischen Eigenschaften enthalten, ohne den Anspruch zu verlieren, als surrealistisch anerkannt zu werden.

Die zweite Frage, nämlich ob ein Werk, das von einem Nicht-Mitglied der Pariser Gruppe entwickelt wurde, die Kriterien des Surrealismus erfüllen kann, wurde vor langer Zeit von den Surrealisten selbst beantwortet, nämlich als Bunuel über sein und DaHs Drehbuch schrieb: „Wir waren schon Surrealisten, bevor man uns so etikettierte“.38 Die Frage kann also nicht nur positiv beantwortet werden, ein solches Werk von außerhalb der Gruppe kann potenziell sogar ein surrealistisches Meisterwerk sein, wie es bei Bunuel und Dalí mit Un Chien Andalou der Fall war. Darüber hinaus sind die Grenzen des Surrealismus, wie oben bereits erklärt, flexibel, sodass ein Außenstehender nicht nur in der Lage ist, die aufgestellten Eigenschaften des Surrealismus aufzunehmen, sondern auch diese mit seinem eigenen Stil zu erweitern. Es spricht also viel dafür, dass ein Dichter wie Lorca ein surrealistisches Werk erschafft haben kann, selbst wenn dieses nicht zu hundert Prozent mit Bretons Vorgaben übereinstimmt.

[...]


1 Garcia Lorca, Federico: Epistolario completo. Madrid: Catedra 1997, S. 588.

2 Vgl. Soria Olmedo, Andrés: „La vanguardia en la formación de Lorca, Bunuel y Dali“, in: Del Pino, José M. (Hg.): El impacto de la metropolis. La experiencia americana en Lorca, DaH y Bunuel. Madrid: Iberoamericana 2018, S. 81.

3 Vgl. Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, S. 11.

4 ebd., S. 11.

5 ebd., S. 12.

6 Vgl. ebd., S. 12.

7 Breton: Die Manifeste des Surrealismus, S. 15.

8 ebd., S. 15.

9 ebd., S. 23. Breton erinnert sich nicht mit absoluter Genauigkeit an den Satz, doch so soll er in etwa gelautet haben.

10 ebd., S. 23.

11 ebd., S. 23.

12 ebd., S. 24.

13 Vgl. Breton: Die Manifeste des Surrealismus, S. 25.

14 ebd., S. 26.

15 ebd., S. 26.

16 ebd., S. 27.

17 ebd., S. 27.

18 Vgl. Canas, Dionisio: „The poet and the city: Lorca in New York“, in: Duran, Manuel und Francesca Colecchia (Hgg.): Lorca’s legacy. Essays on Lorca’s life, poetry, and theatre. London: Peter Lang Publishing 1991, S. 160.

19 Vgl. Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film. München: Verlag C.H. Beck 2006, S. 92.

20 Breton: Die Manifeste des Surrealismus, S. 35.

21 Laut Breton hängt die Qualität eines Bildes davon ab, wie stark der Spannungsunterschied zwischen den Leitern ist, was erklärt, weshalb er den Satz „Da ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird“ als stark surrealistisch ansieht.

22 Breton: Die Manifeste des Surrealismus, S. 34.

23 Breton: Die Manifeste des Surrealismus, S. 35.

24 ebd., S. 37.

25 ebd., S. 37.

26 „Der Prozedismus besteht darin, sich die Mühe des Denkens und besonders der Beobachtung zu ersparen und sich auf eine vorbestimmte Machart oder Formel zu beschränken, um einen an sich einmaligen schematischen und vorgeplanten Effekt zu erzielen[...]“. Siehe Breton: Die Manifeste des Surrealismus, S. 53.

27 Vgl. Bunuel, Luis: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen. Berlin: Verlag Ullstein GmbH 1994, S.

96-97.

28 Breton: Die Manifeste des Surrealismus, S. 55.

29 Vgl. ebd., S. 73.

30 Breton: DieManifeste des Surrealismus, S. 73.

31 Vgl. ebd., S. 73.

32 Vgl. ebd., S. 55.

33 Vgl. ebd., S. 93.

34 Vgl. ebd., S. 93.

35 Aub, Max: Bunuel. Todas las conversaciones. II. El artista. Edición de Jordi Xifra. Zaragoza: Prensas de la Universidad de Zaragoza 2020, S. 578.

36 Aub, Max: Bunuel. Todas las conversaciones. I. El hombre. Edición de Jordi Xifra. Zaragoza: Prensas de la Universidad de Zaragoza 2020, S. 294.

37 Zur Methode: „Sie bestand im wesentlichen darin, sich auf eine Zwangsvorstellung zu konzentrieren, die ihre Wurzeln im Unbewußten hatte, und sie dann durch eine absurde Verbindung von Ideen mit einer anscheinend unwiderlegbaren Logik zu verfeinern und zu untermauern, bis sie die Überzeugungskraft der unentrinnbaren Wahrheit bekam“. Lake, Carlton: In quest of Dali. New York: G.P. Putnam's Sons 1969, S. 68-69.

38 Bunuel: Mein letzter Seufzer, S. 95.

Final del extracto de 38 páginas

Detalles

Título
Surrealismus in Federico García Lorcas "Poeta en Nueva York"
Subtítulo
Eine Analyse surrealistischer Eigenschaften des New Yorker Gedichtbandes unter Berücksichtigung der Werke Salvador Dalís und Luis Buñuels
Universidad
Christian-Albrechts-University of Kiel
Calificación
1,0
Autor
Año
2021
Páginas
38
No. de catálogo
V1176351
ISBN (Ebook)
9783346595775
ISBN (Libro)
9783346595782
Idioma
Alemán
Notas
Der Anhang beinhaltete Bilder von Dalís Werken und wurde deshalb aus Gründen des Copyrights entfernt.
Palabras clave
Surrealismus, Lorca, Federico Garcia Lorca, Poeta en Nueva York, Salvador Dalí, Luis Buñuel, Dichter in New York, Un chien andalou, Niña ahogada en el pozo, New York Oficina y Denuncia, La aurora, Spanisch, Bachelorarbeit, Romanistik, Hispanistik, Literatur, Essay, Analyse, André Breton, Die Manifeste des Surrealismus, Surrealismus in Spanien, Automatismus, Surrealität, Dalí, Buñuel, Frau mit Rosenhaupt, Illuminierte Freuden, Unterbewusstsein, Traum, Träume, Mein letzter Seufzer, Avantgarde, Max Aub, Elena Castro, Ángel del Rio, Guillermo Díaz-Plaja, Morris C.B., Generación del 27
Citar trabajo
Brandon Tress Masforroll (Autor), 2021, Surrealismus in Federico García Lorcas "Poeta en Nueva York", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1176351

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