Klassismus und Sexualität

Die "sexuelle Verwahrlosung" der "(neuen) Unterschicht"


Bachelorarbeit, 2019

53 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Klasse und Klassismus
2.1. Die Klassengesellschaft nach Bourdieu
2.2. Unterdrückung und die five faces of opression
2.3. Klassismus als klassenbezogene Unterdrückung
2.4. Klasse und Geschlecht

3. Sexualität
3.1. Sexuelle Repräsentation
3.2. Sexualität und Geschlecht
3.3. Sexualität und Klasse

4. Die »sexuelle Verwahrlosung« der »(neuen) Unterschicht«
4.1. Die »(neue) Unterschicht«
4.2. Die »sexuelle Verwahrlosung«
4.3. Die Frau als Sinnbild der »sexuellen Verwahrlosung« der »(neuen) Unterschicht«

5. Fazit

Bibliographie

1. Einleitung

Mit den zunehmenden Debatten in den letzten Jahren um »HarzIV«1, »AssiTV« und »Sozialschmarotzer« wurden auch die Diskurse um eine Diskriminierungsform aufgrund der Klassenzugehörigkeit immer präsenter. Auch wenn noch immer einige Theoretiker*innen2 meinen, dass es keine Klassen mehr gebe, sieht man an der zunehmenden Spaltung zwischen Arm und Reich, dass die Unterschiede zwischen den sozialen Klassen nicht zu existieren aufgehört haben (vgl. Leeb, 2007, S. 72). Vielmehr steigt durch die Negation einer Klassengesellschaft auch die Möglichkeit einer Abwertung der Menschen aus den »unteren«3 Klassen da sie für ihre soziale Position selbst verantwortlich gemacht werden. Diese Abwertung aufgrund einer sozialen Herkunft oder Position wurde im europäischen Raum 1988 erstmals von Anja Meulenbelt, in ihrem Buch »Scheidelinien: über Sexismus, Rassismus und Klassismus«, als klassenspezifische Form von Unterdrückung und Diskriminierung mit dem Begriff Klassismus benannt. Dieser Begriff wurde von Andreas Kemper und Heike Weinbach 2009 in einem Einführungsbuch rund um Klassismus näher erläutert und findet seitdem in gesellschaftswissenschaftlichen Debatten häufiger Raum.

Durch zunehmende Medialisierung und Vorwürfen der Sexualisierung, werden auch Debatten die den Umgang mit Sexualität und Pornografie von Jugendlichen betreffen immer stärker. Und obwohl der Klassismus-Begriff seit einigen Jahren auch in Deutschland Einzug gefunden hat, fallen diese Debatten zum Großteil doch sehr negativ und abwertend gegenüber den »unteren« Klassen aus. Mangelnde Bildung wird zur Grundlage einer »falschen« Sexualitätsauslebung. Auf welchen Grundlagen diese Bewertungen einer »guten« und »richtigen« beziehungsweise einer »falschen« und »schlechten« Sexualität stattfinden, wird hingegen wenig bis gar nicht thematisiert.

Die Kombination der Themen Klasse, Sexualität und Geschlecht betreffen mich persönlich als weibliches Arbeiter*innenkind in einer ganz besonderen Art und Weise. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass diese Arbeit aus der Perspektive einer weißen Cis-Frau mit nicht-akademischer Herkunft an einer Universität verfasst wurde und dementsprechend auch aus dieser Perspektive die Themen erläutert werden. Demnach ist es mir wichtig zu nennen, dass an der ein oder anderen Stelle, gerade durch meine persönliche Betroffenheit, mitunter auch eine persönliche Perspektive mit einfließen wird, sowohl ich den professionellen Abstand wahren werde.

Seit dem Jahr 2004 haben auch die medialen Diskussionen rund um die »Unterschicht« zugenommen. Diese verlaufen gesamtgesellschaftlich relativ einseitig und abwertend gegenüber den Angehörigen der sogenannten »Unterschicht«. Aus diesem Grund werde ich im ersten Teil meiner Arbeit mithilfe der Klassentheorie von Bourdieu diese einseitige Zuschreibungen gegenüber den »unteren Klassen« untersuchen und analysieren um eine Grundlage zu schaffen die Richtigkeit dieser Zuschreibungen näher zu ermitteln. Dazu werde mich auf die Klassismus Theorie stützen, die zwar auch in deutschen Debatten immer mehr Berücksichtigung findet, sich dennoch noch immer nicht ganz in Deutschland als »anerkannte« Diskriminierungsform etabliert hat. Da sich die Ursprünge der Klassismus Theorie in feministischen Kontexten finden lassen, wird schnell deutlich, dass Frauen sowohl im Klassensystem, als auch in den damit einher gehenden Unterdrückungsmechanismen eine gesonderte Stellung einnehmen, da sie zum Einen in den gesellschaftlichen Strukturen noch immer oft die Reproduktionsaufgaben und Care Arbeiten übernehmen und sich zum Anderen damit oftmals in einer ökonomischen Abhängigkeit befinden. Dies ist in vielen Fällen auch mit einer Mutterschaft beziehungsweise Mutterrolle verbunden. Aus der Vermutung heraus, dass Frauen gerade durch diese Reproduktionsfunktion und potentielle Mutterrolle auch eine »besondere« Form der Sexualität zugeteilt wird, werde ich mich im darauf folgenden Kapitel zunächst damit beschäftigen, welche gesellschaftliche Funktion die Repräsentation von Sexualität einnimmt und welche Rolle diese für gesellschaftliche Verhältnisse spielt. Im anschließenden Kapitel werde ich näher darauf eingehen, durch welche Faktoren die Sexualität der Frau gesondert betrachtet werden sollte, beziehungsweise auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft noch immer spezifischen Normen und Regeln unterliegt, da sie als potentiell gebärendes Subjekt oftmals noch immer nur aus der Fortpflanzungs- und Erziehungsperspektive Beachtung findet. Im Anschluss werde ich erläutern, wie die Sexualität in ihrer medialen Repräsentation nicht nur durch die geschlechtliche Zuordnung beeinflusst ist, sondern auch durch die Zuordnung einer Person in das Klassengefüge. Darüber hinaus werde ich untersuchen inwiefern die Sexualität bei Angehörigen unterschiedlicher Klassen unterschiedliche Bewertung findet. Anschließend werde ich durch die im STERN ausgelöste Medienkampagne über die »die (neue)4 Unterschicht« (Wüllenweber, 22.12.2004) und deren »sexuelle Verwahrlosung« (Wüllenweber, 05.02.2007) die Verknüpfung zwischen Klasse und Sexualität herstellen und auf einen klassistischen Umgang untersuchen. Hierzu werde ich zunächst die Begriffe der der »(neuen) Unterschicht« und der »sexuellen Verwahrlosung« definieren und gesellschaftlich einordnen, um im Anschluss diese Debatten dahingehend zu prüfen, welche Rolle Frau-Sein in diesen Kontexten spielt. Demzufolge werde ich mich in dieser Arbeit den grundlegenden Fragen widmen: in welchem Zusammenhang stehen die gesellschaftliche Klasse und die Sexualität und welche Rolle nimmt Frau-Sein in den Debatten rund um die »sexuelle Verwahrlosung« der »(neuen) Unterschicht« ein.

Auch wenn diese Arbeit von Sozialwissenschaftlichen Diskursen stark geprägt ist, nehmen die Erkenntnisse starken Einfluss auf die pädagogische Arbeit. Diese Arbeit ist in den Erziehungswissenschaften zu verorten, folgt sie doch der Idee, sich zunächst über gesellschaftliche Verhältnisse bewusst zu werden und diese zu verstehen, um die damit verbundenen Diskriminierungs- und Unterdrückungsstrukturen in der späteren praktischen Arbeit nicht zu reproduzieren, sondern ihnen bestmöglich entgegen arbeiten zu können. Mit der Perspektive, nach meinem Abschluss sexualpädagogisch tätig sein zu wollen, treten dementsprechend Thematiken ans Licht, die eine intensive Auseinandersetzung benötigen. Eine bisher kaum behandelte Thematik in der Sexualpädagogik ist die Diskriminierung aufgrund der Klasse. Da Sexualität jedoch allumfassend das Leben eines jeden Menschen beeinflusst, und in hohem Maße von verschiedenen gesellschaftlichen Systemen beeinflusst wird, ist es von besonderer Wichtigkeit vor allem in dem Bereich der Sexualpädagogischen Arbeit noch weitere Faktoren mit zu berücksichtigen (vgl. Tuider, 2012, S. 18). Für diese Auseinandersetzung möchte ich mit meiner Arbeit einen Beitrag für eine theoretische Grundlage leisten.

2. Klasse und Klassismus

Wie bereits in der Einleitung benannt, gibt es Argumente die dafürsprechen, die deutsche kapitalistische Gesellschaft noch immer als Klassengesellschaft zu betrachten. Allerdings möchte ich mich dabei nicht auf den marxistischen Begriff der Klassen stützen, der primär in der Ökonomie zu verorten ist und dementsprechend die verschiedenen Verhältnisse zwischen Menschen beschreibt, die über unterschiedlich viel Kapital verfügen (vgl. ebd.; Bittlingmayer / Bauer, 2014, S. 118). Marx beschränkt sich auf einen „strukturellen Klassenbegriff, der nicht direkt berücksichtigt, dass die Arbeiter*innenklasse [...] wesentlich heterogener beschaffen ist, als es in seinem auf die rein ökonomischen Unterschiede schielenden Modell scheint“ (Baron / Steinwachs, 2012, S. 16). Diesen strukturellen Klassenbegriff erweiterte zunächst Max Weber, und später auch Pierre Bourdieu. Max Weber verknüpfte diesen ökonomischen Kapitalbegriff mit der Soziologie sowie um den Aspekt der sozialen Beziehungen und erweiterte ihn zusätzlich um einen Machtbegriff (vgl. Rehbein / Saalmann, 2014, S. 134). Dadurch differenzierte er den Kapitalbegriff und benannte neben dem Besitz verschiedener Formen von Kapital auch andere Faktoren, wie beispielsweise den Lebensstil und Macht, die bei der Betrachtung gesellschaftlicher Klassenstrukturen eine Rolle spielen (vgl. Chassé, 2010, S. 112). Diese Erweiterung von Weber legt die Grundlage für Bourdieus Klassentheorie, auf die ich mich in dieser Arbeit stützen werde. Im folgenden Kapitel werde ich zunächst intensiver auf Bourdieus Verständnis einer Klassengesellschaft eingehen, um im Anschluss daran anhand der five faces of opression von Iris Marion Young Aspekte zu benennen, die zu der Unterdrückung der »unteren« Klassen führen. Im Anschluss daran werde ich Klassismus als klassenbezogene Unterdrückungs- und Diskriminierungsstruktur geschichtlich einordnen und in seinen Strukturen erläutern. In Kapitel 2.3. werde ich spezifischer darauf eingehen, wie die Stellung der Frau in einer Klassengesellschaft zu verstehen ist und wieso ihr an dieser Stelle eine besondere Beachtung geschenkt wird.

2.1. Die Klassengesellschaft nach Bourdieu

Bourdieu knüpfte zwar einerseits an Webers Verständnis an, erweiterte dessen Klassentheorie jedoch indem er erstens den Lebensstil bzw. die Lebensführung als einen zentralen Bestandteil integrierte und zweitens den von Weber gemachten Gegensatz zwischen Klasse und Stand neu überdachte (vgl. Bremer / Lange-Vester / Vester, 2014, S. 290; Chassé, S. 112). Bourdieu fokussierte sich bei seinem Klassenverständnis allerdings ebenso wie Weber hauptsächlich auf „die kulturellen, politischen und symbolischen Aspekte sozialer Ungleichheit“ (Rehbein / Schneickert / Weiß, 2014, S. 141).

Auch bei Bourdieu spielt das Kapital eine zentrale Rolle für die Klassenunterteilungen, jedoch bezieht es sich, anders als bei Marx, auf „fast alle Ressourcen, die gesellschaftlich wertvoll sind“ (ebd., S. 134) und umfasst somit alle Dinge, die dazu beitragen die soziale Position einer Person zu bewahren oder verbessern (vgl. ebd., S. 134f.). Damit wird Kapital zur Grundlage jedes sozialen Handelns, beziehungsweise zur notwendigen Ressource, die jedem Handeln unterliegt (vgl. ebd., S. 135). Vor diesem Hintergrund unterscheidet Bourdieu in eine horizontale und in eine vertikale Klassenunterteilung. Auf der vertikalen Achse ergibt sich unter Berücksichtigung aller Kapitalarten zunächst die Unterteilung in Oberschicht, Bürgertum und Unterschicht (vgl. Stange, 1993, S. 45). Auf der horizontalen Achse berücksichtigt Bourdieu nun darüber hinaus die unterschiedlichen Zusammensetzungen aller Kapitalarten5 mit besonderem Fokus auf dem Verhältnis von kulturellem und ökonomischem Kapital (vgl. ebd.). Damit legt Bourdieu der modernen Gesellschaft einen Klassenbegriff zugrunde, der nicht ausschließlich die objektive Ebene, also die durch Beruf und Einkommen bestimmte soziale Position thematisiert, sondern vor allem die „Klassenpraxis“6 in den Mittelpunkt rückt (vgl. Bremer / Lange-Vester / Vester, 2014, S. 290).

Demzufolge kann Bourdieus Klassentheorie auch als mehrdimensional beschrieben werden. Sie berücksichtigt neben dem ökonomischen, auch kulturelles sowie soziales und symbolisches Kapital (vgl. Chassé, 2010, S. 112). Das ökonomische Kapital umfasst in erster Linie materiellen Reichtum, welcher dazu verwendet werden kann, neuen Reichtum zu generieren (vgl. Rehbein / Saalmann, 2014, S. 137). Es beinhalte die verschiedenen Formen von Geldkapital, Eigentum bzw. Produktionsmitteln und Immobilienbesitz (vgl. Chassé, 2010, S. 112). Kulturelles Kapital hingegen unterscheide sich deutlich von dem materiellen Reichtum des ökonomischen Kapitals (vgl. ebd.). Zwar beinhaltet es auch den Besitz von Kulturgütern wie beispielsweise Gemälden, allerdings umfasse es darüber hinaus auch Kapitalien wie beispielsweise Bildung, Vertrautheit mit anerkannter Kultur oder die Verwendung von Hochsprache (vgl. Rehbein / Saalmann, 2014, S. 135). Bourdieu unterteilt das kulturelle Kapital dazu in drei verschiedene Formen. Das Inkorporierte kulturelle Kapital beschreibt die verinnerlichte, durch die Gesamtheit aller kultureller Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensformen definierte Form des kulturellen Kapitals als Teil des Habitus7 . Dieses wird in hohem Maße durch die familiäre Sozialisation erzeugt und prägt die Personen in Sprechweise, Position zur Kultur und sozialer Identität (vgl. ebd., S. 137; Chassé, 2010, S. 112). Der Erwerb dieses Kapitals erfordert Zeit, kann dadurch weder er- noch verkauft werden und ist somit körper- und personengebunden (vgl. Chassé, 2010, S. 112). Objektives kulturelles Kapital hingegen liegt in Form von kulturellen Gütern vor, die besessen werden. Beispielsweise als Bücher, Gemälde, Kunstwerke, Maschinen oder technische Instrumente. Zwar ist diese Art des kulturellen Kapitals leichter auf andere übertragbar, jedoch erhält sie nur dann Bedeutung, wenn die besitzende Person sie sich aneignen und zunutze machen kann, wofür meist der Besitz anderer Kapitale von Nöten ist (vgl. ebd., S. 112f.). Zuletzt benennt er das Institutionalisierte kulturelle Kapital . Dieses kann auch zugleich als symbolisches Kapital gelten, sobald aus den Bildungstiteln oder Zertifikaten gesellschaftliche Anerkennung hervor geht (vgl. ebd., S. 113). Institutionalisiertes kulturelles Kapital beschreibt ausschließlich die kulturelle Bedeutung des Besitzes von Bildungstiteln oder Zertifikaten. Symbolisches Kapital stellt dabei jede Form legitimer gesellschaftlicher Anerkennung und Wertschätzung dar. Wichtig hierbei ist zu benennen, dass es sich dabei um Machtbeziehungen handelt, bei denen bestimmt wird welche sozialen Gruppen die Berechtigung haben „zu bestimmen, was wertvoll und sinnvoll ist“ (ebd., S. 114). Neben den drei bereits benannten Arten des Kapitals führte Bourdieu noch das Soziale Kapital ein. „Mit sozialem Kapital sind Ressourcen gemeint, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen oder die ein Netzwerk von Beziehungen darstellen“ (ebd., S. 113). Bourdieu erweitert also das marxistische ökonomische Kapitalverständnis noch um einen kulturellen, sozialen und symbolischen Faktor. Diese vier Kapitalsorten stellen gemeinsam die „Ressourcen für die Position einer Person [...] im sozialen Raum“ (ebd., S. 114) dar. Dadurch wird Macht nicht allein über die Verfügung ökonomischer Mittel ausgeübt, sondern durch das „Etablieren einer Weltsicht“, für welche die soziale Gruppe der »Intellektuellen« die Definitionsgewalt innehat (vgl. Bremer / Lange-Vester / Vester, 2014, S. 293). Die Position einer Person im sozialen Raum wird jedoch nicht nur anhand der „quantitative[n] Menge des Kapitals“ (Chassé, 2010, S. 114) bestimmt, sondern auch die Kapitalstruktur - heißt die Zusammensetzung und das Verhältnis der verschiedenen Kapitalarten - müssen dabei mitbedacht werden (vgl. ebd.).

Das vollständige Bild einer Person im sozialen Raum ergibt sich allerdings erst, wenn die Kapitale in Kombination mit der Praxis verschiedener Lebensstile betrachtet werden (vgl. ebd.). Aus den verschiedenen Kapitalen heraus entstehen verschiedene Gruppen die sich in ihren Lebensweisen unterscheiden. Diese verschiedenen Wahrnehmungen, Praktiken, Bewertungen und Denkweisen, welche aus den unterschiedlichen Kapitalausstattungen heraus entstehen und die verschiedenen Positionen im sozialen Raum bedingen, definiert Bourdieu als Habitus (vgl. ebd., S. 115). Der Habitus kann quasi als allgemeine Grundhaltung gegenüber der sozialen Welt, als Mentalität und Weltsicht zusammengefasst werden (vgl. ebd.). Er ist eine erworbene Haltung jeder einzelnen Person, die sie in ihrer alltäglichen Praxis lenkt, strukturiert und gleichzeitig soziale Klassen reproduziert da Menschen schon von Geburt an lernen würden, bestimmte Dinge als selbstverständlich und andere als fremd wahrzunehmen (vgl. Erler, 2007, S. 43; Stange, 1993, S. 45). Bourdieu hat die These aufgestellt, „dass die soziale Herkunft, in der die Grundlagen des Habitus erworben werden, eine entscheidende Rolle für den weiteren Lebenslauf eines Menschen spielt“ (Rehbein / Saalmann, 2014, S. 113). Durch den klassenspezifischen Habitus wird deutlich, dass Geschmack nicht unabhängig von der sozialen Position gebildet wird, sondern vielmehr durch dessen Ungleichheit und Machtverhältnisse geprägt ist (vgl. Bremer / Lange-Vester / Vester, 2014, S. 291). Daraus entstehend benennt Bourdieu verschiedene Geschmacksdimensionen, die mit den drei großen gesellschaftlichen Klassen korrespondieren: „I. [sic.] Der legitime Geschmack [...] - 2. [sic.] Der mittlere Geschmack [...] - 3. [sic.] Der »populäre« Geschmack “ (vgl. Bourdieu, 2012, S. 36ff). Bourdieu Argumentiert:

„dass die ästhetischen und ethischen Urteile der Akteure, die Wertschätzung gegenüber Werken der Kunst, die Vorliebe für bestimmte Praktiken des Freizeitverhaltens bis hin zu politischen Stellungnahmen, immer an soziale Vorraussetzungen gebunden sind, und dass diese Vorraussetzungen insbesondere von denen dementiert werden, die für sich selbst den Anspruch nehmen, zu bestimmen, was legitime Kultur ausmacht.“ (Bremer / Lange-Vester / Vester, 2014, S. 291)

Diese Unterschiede der geschmacklichen Vorlieben durchdringen den gesellschaftlichen Alltag und tragen dazu bei, die Bedeutung von Herrschaft und Klassenzugehörigkeit zu verschleiern (vgl. ebd., S. 295). Dies führt dazu, dass jegliche Kultur, die mit der Arbeiter*innenklasse assoziiert ist, entwertet und im Gegenzug dazu jegliche Kultur die mit der Mittelklasse verbunden ist, positiv bewertet wird (vgl. Leeb, 2007, S. 77). Das bringt mit sich, dass der Habitus zwar örtlich, zeitlich und zwischen verschiedenen sozialen Gruppen stark variiert jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der Stellung in den Produktionsverhältnissen basiert (vgl. Rehbein / Schneickert / Weiß, 2014, S. 113/142). Bourdieu benennt dabei jedoch klar, dass sich eine Klasse nicht allein durch ihre Merkmale bestimmen lasse, sondern vielmehr durch die „Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen“ (Bourdieu, 1982 zit. n. Bremer / Lange-Vester / Vester, 2014, S. 291; vgl. Rehbein / Schneickert / Weiß, 2014, S. 141). Alle gemachten Erfahrungen werden von unserer sozialen Situation bedingt und gehen mit ihr einher (vgl. Erler, 2007, S. 44). Allerdings besitzen in einer Klassengesellschaft einige Klassen eine Definitionsmacht, die andere Klassen nicht innehaben. Die bürgerliche Klasse ist damit in der Lage, andere Klassen ihrem kulturellen und ökonomischen Niveau anzugleichen (vgl. Vater, 2007, S. 69). Bourdieu verwendet die Begriffe Macht und Herrschaft vermutlich nicht ohne Grund meist synonym (vgl. Bittlingmayer / Bauer, 2014, S. 119). In akademischen Diskursen wird klassendisziplinäre Macht schnell zu Definitionsmacht, zu Macht über Andere, welche die »Wahrheiten« generiert, die die Arbeiter*innenklasse fast ausschließlich mit negativen Merkmalen definiert (vgl. Leeb, 2007, S. 75f.). Daraus resultiert nach Bourdieu eine Gesellschaft, in der die verschiedenen sozialen Klassen „einen stetigen Kampf um die Maximierung ökonomischen, kulturellen, sozialen und symbolischen Kapitals führen“ (Staab / Vogel, 2014, S. 131). Mit dem Bild der Klassenharmonie, beziehungsweise der Verschleierung einer Existenz verschiedener Klassen, wird die Sicherung von Klassenprivilegien der herrschenden Klassen zu verdecken versucht (vgl. Leeb, 2007, S. 72).

In den beiden folgenden Kapiteln werde ich näher auf die mit den Klassenunterschieden verbundene Diskriminierung und Unterdrückung eingehen. Zunächst werde ich den Begriff der Unterdrückung erläutern um im Anschluss daran die klassenspezifische Form von Diskriminierung, Klassismus, ausführlich zu erklären.

2.2. Unterdrückung und die five faces of opression

Um in meiner weiteren Arbeit besser mit dem Begriff der Unterdrückung arbeiten zu können und deutlich zu machen was eine klassenspezifische Form von Diskriminierung charakterisiert, werde ich im Folgenden den Begriff der Unterdrückung unter Bezugnahme von Anja Meulenbelt zunächst definieren, um ihn im Anschluss anhand der five faces of opression von Iris Marion Young näher einzugrenzen.

Soziale Ungerechtigkeit wird vor allem durch zwei große gesellschaftliche Mechanismen bedingt: Unterdrückung und Herrschaft (vgl. Young, 1996, S. 99). Anja Meulenbelt benannte 1988 in ihrem Buch „Scheidelinien: über Sexismus, Rassismus und Klassismus“, dass bei Unterdrückung von einem System sozialer Ungleichheit zu sprechen sei, bei dem eine Gruppe eine nachweisbare Dominanz gegenüber einer anderen Gruppe innehabe (vgl. Meulenbelt, 1988, S. 38). Wichtig hierbei sei jedoch zu nennen, dass Unterdrückung als systemische Zwänge bezeichnet werden können, denen Gruppen unterliegen, und die auf repressive Weise fungieren, auch wenn sie nicht per se so beabsichtigt sein (vgl. ebd,, Young, 1996, S. 102). Die Ursachen dieses Systems lägen vielmehr „in nicht hinterfragten Normen, in Gewohnheiten und Symbolen, in den Annahmen, die den institutionellen Regeln zugrunde liegen und in den Konsequenzen, die sich aus der kollektiven Befolgung dieser Regeln ergeben“ (Young, 1996, S. 102). In diesem Sinne bezieht sich Unterdrückung auf die „tiefgreifende Ungerechtigkeit“ (ebd., S. 102) denen Menschen aufgrund unreflektierter Vorurteile und Stereotype ausgesetzt sind. Da diese sich sowohl in strukturellen Merkmalen sowie in bürokratischen Hierarchien und Marktmechanismen äußern und somit quasi alle Bereiche des täglichen Lebens umfassen, haben diese Systeme die Tendenz, sich stetig selbst zu reproduzieren (vgl. ebd.; Meulenbelt, 1988, S. 39). Unterdrückung basiert somit auf mehreren nebeneinander bestehenden Faktoren, erstens einer „historisch gewachsene[n] Ungleichheit zwischen verschiedenen Menschengruppen“ (ebd., S. 48), zweitens um „einen gesellschaftlichen Kontext, in den die Ungleichheit eingebettet ist“ (ebd., S. 48), drittens um „eine Übernahme der Ideologie, die die Ungleichheit rationalisiert und durch Sozialisationsprozesse und durch große Gruppen von Menschen und Individuen verbreitet wird“ (ebd., S. 48) und viertens „in einem bestimmten Maße auch um individuelle Persönlichkeitsstrukturen, welche die eine Person für Vorurteile empfänglicher machen als eine andere“ (ebd., S. 48).

Iris Marion Young beschreibt in ihren five faces of opression fünf Kategorien, die die hauptsächlichen Bedingungen für Unterdrückungsmechanismen darstellen: Ausbeutung, Machtlosigkeit, Marginalisierung, Kulturimperialismus und Gewalt (vgl. Young, 1996, S. 101). Als Ausbeutung bezeichnet Young die „strukturelle Relation zwischen sozialen Gruppen“ (ebd., S. 101) welche uns hauptsächlich in drei verschiedenen großen Varianten begegnet. Erstens „als Ausbeutung im marxistischen Sinne, [zweitens] als Ausbeutung aufgrund des Geschlechts sowie [drittens] als Ausbeutung aufgrund »rassischer« Zugehörigkeit“ (Young, 1990 n. Rüb, 2017, S. 677). Damit ist die Ausbeutung der Arbeitskraft gemeint, die dazu verwendet wird um Profit zu erzielen während die arbeitenden Personen keine angemessene Entlohnung erhalten (vgl. Young, 1996, S. 114). Im klassentheoretischen Verständnis wird die Ausbeutung vor allem in dem, was Marx als Mehrwertabschöpfung bezeichnet deutlich: Arbeiter*innen erhalten nur so viel Lohn, dass sie in der Lage sind ihre eigene Arbeit zu reproduzieren, beutetet dass Arbeitgeber*innen durch die Arbeit der Arbeitnehmer*innen einen größeren Wert erzielen, als sie in Form von Lohn an die Arbeitnehmer*innen zurückgeben (vgl. Heinrich, 2016a, S. 174). Somit ist es unmöglich sich der klassenbezogenen strukturellen Unterdrückung zu entziehen, da der kapitalistische Produktionsprozess eben diese Ungleichheiten immer wieder reproduziert (vgl. Heinrich, 2016b, S. 107).

Ein weiterer Mechanismus, vielleicht sogar der gefährlichste, der Unterdrückung bedingt stellt die Marginalisierung dar (vgl. ebd., S. 119). Marginalisierung führe nach Heinrich dazu, dass soziale Gruppen von der Partizipation am sozialen Leben ausgeschlossen werden und ihnen die Möglichkeit genommen wird ihre Fähigkeiten auf gesellschaftlich anerkannte Weise auszuüben (vgl. ebd.; Young, 2002, n. Rüb, 2017, S. 677). Die zwei bereits benannten Kategorien, Ausbeutung und Marginalisierung, beziehen sich auf Macht- und Unterdrückungsverhältnisse aufgrund der gesellschaftlichen Ordnung von Arbeit sowie auf die strukturellen und institutionellen Beziehungen die das gesellschaftliche Leben definieren. Marginalisierung gegen die »unteren« Klassen wird vor allem örtlich sichtbar, wenn beispielsweise Menschengruppen durch Mietpreiserhöhungen aus den Innenstädten systematisch verdräng werden, und an die Stadtränder vertrieben werden. Aber auch im deutschen Bildungssystem begegnet uns Marginalisierung. Nach der IGLU Studie von 2016 ist die Gymnasialempfehlung für Akademiker*innenkinder gegenüber der für Arbeiter*innenkinder fünfmal so hoch, und selbst bei gleichen IQ Werten und Lesekompetenzen erhalten Akademiker*innenkinder doppelt so häufig eine Gymnasialempfehlung wie Arbeiter*innenkinder (vgl. Hußmann / Wendt / Bos / Bremerich-Vos / Kaper / Lankes / McElvany / Stubbe / Valtin, 2017, S. 245, Tabelle 8.7.).

Als dritten Aspekt benennt Young den Kulturimperialismus . Dieser Begriff beschreibt die Praxis, Perspektiven von sozialen Gruppen durch die in der Gesellschaft herrschenden Werte unsichtbar zu machen (vgl. Young, 1996, S. 127). Die Erfahrungen und Kultur der herrschenden Gruppe wird dabei universalisiert und zur Norm erhoben, wodurch Normen und Werte anderer Kulturen stereotypisiert und des othering 8 Prozess unterworfen werden (vgl. ebd.), die Normen der herrschenden Gruppen werden dadurch gestärkt, dass andere daran gemessen werden (vgl. ebd., S. 128). Young fasst diese Ungerechtigkeit mit der „Paradoxie, sich selbst als unsichtbar zu erfahren und gleichzeitig als anders gekennzeichnet zu sein“ (ebd., S. 129) zusammen. Kulturimperialismus in Bezug auf Klasse wird vor allem in Hinblick auf die Sprache deutlich. Personen der akademischen Sprachnorm nicht entsprechen, sind einerseits aus bestimmten kulturellen Kreisen und Diskursen ausgeschlossen und werden andererseits in ihrer eigenen Sprachnorm nicht anerkannt, sondern herabgewürdigt. Dialekt zu sprechen wird in Deutschland, nach eigener Erfahrung, gegenüber dem Hochdeutsch als »dörflich« und damit »ungebildet« interpretiert. Dies wird jedoch vor allem in Bezug auf amtliche Dokumente relevant, da gerade Dokumente die beispielsweise die Migrationsgesetze oder Sozialhilfeleistungen betreffen, oftmals nicht für die betroffenen Personengruppen sprachlich zugänglich gemacht werden, sondern durch die Verwendung von sogenanntem »Amtsdeutsch« weitere Barrieren aufgebaut werden.

Des Weiteren benennt Young die Unterdrückung durch systematische Gewalt als letzte Kategorie. Unterdrückende Gewalt sei dabei weniger durch einzelne Handlungen definiert, sondern vielmehr durch den sozialen Kontext, der diese Handlungen umgebe, ermögliche und mitunter sogar als akzeptabel erscheinen lasse (vgl. ebd., S. 131). Gewalt besteht somit nicht ausschließlich aus der aktiven körperlichen Gewalt, sondern beispielsweise auch aus dem Wissen um die Möglichkeit der Gewalterfahrungen ausschließlich aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder struktureller, institutionalisierter Gewalt (vgl. ebd.).

[...]


1 Die Chevrons werden in dieser Arbeit bewusst, in Abgrenzung zu den standartmäßigen deutschen Anführungszeichen, in Kontexten verwendet in denen Wörter mit wertenden Bedeutungszusammenhängen einhergehen, auf die ich in dieser Arbeit aufmerksam machen möchte.

2 Das Gendersternchen (oder auch Asterisk) wird in dieser Arbeit in Kontexten verwendet, in denen bewusst Menschen in die genannten Gruppierungen mit einbezogen werden sollen, die sich außerhalb des binären Geschlechtersystems verorten. Wird das Gendersternchen nicht verwendet, bedeutet dies dass ich mich bewusst auf Personen beziehe, die sich im binären Geschlechtersystem befinden.

3 Ich habe mich in dieser Arbeit bewusst dazu entschieden die Bezeichnung von »unteren« Klassen in Anführungszeichen zu setzen, da allein die Verwendung dieser Bezeichnung bereits von klassistischen sprachlichen Strukturen beeinflusst ist und eine Hierarchisierung zwischen den bürgerlichen Klassen und der Arbeiter*innenklasse vornimmt.

4 In Kapitel 4.1. werde ich deutlich machen, dass durch verschiedene Merkmale die „neue“ »Unterschicht« von der „alten“ »Unterschicht« abzugrenzen sein soll. Mit den Klammern um die „neue“ »Unterschicht« möchte ich darauf aufmerksam machen, dass zwar vorgegeben wird, diese unterscheide sich durch diese Merkmale von der „alten“ »Unterschicht«, die dafür genannten Merkmale jedoch in meinem Verständnis keine Unterschiede aufweisen und es mir fraglich erscheint, was durch das „neu“ bezweckt werden soll.

5 Die verschiedenen Kapitalarten werden im nächsten Abschnitt erläutert.

6 Der Begriff der »Klassenpraxis« wird im folgenden auch anhand des Habitus näher erläutert, und beschreibt quasi das reale Handeln und Verhalten von Personen in einem klassenspezifischen Zusammenhang

7 Der Begriff des Habitus wird im Laufe dieses Kapitels noch näher erläutert.

8 othering: Eine Gruppe als »die Andere« definieren, um sie von der eigenen Gruppe abzugrenzen. Diesen »Anderen« werden in der Regel mit negativen Wertzuschreibungen belegt um gesellschaftliche Ungleichheit zu rechtfertigen. (vgl. Meulenbelt, 1988, S. 40/48)

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Klassismus und Sexualität
Untertitel
Die "sexuelle Verwahrlosung" der "(neuen) Unterschicht"
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Fachbereich 21 - Erziehungswissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
53
Katalognummer
V1180213
ISBN (eBook)
9783346599728
ISBN (eBook)
9783346599728
ISBN (eBook)
9783346599728
ISBN (Buch)
9783346599735
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Klassismus
Arbeit zitieren
Alex Zapf (Autor:in), 2019, Klassismus und Sexualität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1180213

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