Aus literaturwissenschaftlicher Sicht stellt Novalis′ Klingsohr-Märchen ohne Frage eine besondere Herausforderung dar. Denn man kann sich diesem Werk auf vielerlei Weise nähern, dabei verschiedene Interpretationstechniken anwenden und damit immer wieder neue Aspekte akzentuieren, ohne anschließend den Anspruch erheben zu dürfen, das Märchen in seiner ganzen Vielschichtigkeit behandelt zu haben. Dies gilt erst recht dann, wenn man sich auf begrenztem Raum mit ihm auseinandersetzt, wie dies in der vorliegenden Arbeit der Fall ist, so daß es sinnvoll ist, sich auf einige Aspekte zu beschränken.
Die für die folgende Untersuchung gewählte Perspektive auf Klingsohrs Märchen resultiert aus der Tatsache, daß diese Arbeit im Anschluß an ein Novalis-Seminar und eine Frühromantik-Vorlesung entstanden ist: Es soll versucht werden, erstens den frühromantischen Charakter von Klingsohrs Märchen erkennbar werden zu lassen, indem Vergleiche mit Aufklärung, Klassik und Spätromantik angestellt werden, und damit zweitens zugleich anzudeuten, worin das spezifisch Frühromantische an Novalis′ Dichtung besteht.
Die Fragestellung ist ganz bewußt recht allgemein gehalten, da Klingsohrs Märchen gut geeignet scheint, grundsätzliche Beobachtungen zur frühromantischen Poetologie und zur Dichtungskonzeption Novalis′ anzustellen. Dies ist zum einen deshalb der Fall, weil das Kunstmärchen im allgemeinen, wie gezeigt werden wird, für Novalis (und die Frühromantik überhaupt) von besonderer Bedeutung gewesen ist, und zum anderen deshalb, weil Novalis im Klingsohr-Märchen seine Anschauungen in besonders kunstvoller Weise realisiert hat.
Aus diesen einleitenden Bemerkungen ergibt sich der Aufbau der vorliegenden Arbeit.
Im zweiten Kapitel wird es zunächst darum gehen zu zeigen, wie sich das Kunstmärchen bis zur Frühromantik entwickelt hat. Dabei wird die Literatur der Aufklärung den Ansatzpunkt darstellen, da die Gattung "Kunstmärchen" in dieser Epoche erstmals in der deutschsprachigen Literatur aufgetreten ist (zunächst in Form von Übersetzungen aus der orientalischen und aus romanischen Literaturen, dann beispielsweise durch Wielands Märchensammlung "Dschinnistan", vgl. Steffen 1967, 101 f.). Auf diese Weise wird der entscheidende Unterschied zwischen dem Märchen der Aufklärung und dem der Frühromantik skizziert werden, wobei zugleich am Rande das Verhältnis zwischen Romantik und Aufklärung thematisiert wird. [...]
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Das Kunstmärchen von der Aufklärung bis zur Frühromantik
- Klingsohrs Märchen als frühromantisches Kunstmärchen
- Novalis' Märchenkonzeption im Kontext der Gattungsentwicklung
- Klingsohrs Märchen im Kontext des „Heinrich von Ofterdingen”
- Klingsohrs Märchen im Vergleich mit Goethes „Märchen”
- Das Verhältnis von Wunderbarem und Alltäglichem
- Die Rolle von Poesie und Gemeinschaft
- Die Funktion des Wunderbaren
- Die Rolle des Todes
- Die Kleinfamilie als Gesellschaftsform
- Klingsohrs Märchen im Vergleich mit Eichendorffs „Das Marmorbild”
- Zur Bedeutung der Gattungsproblematik
- Das Verhältnis von Wunderbarem und Alltäglichem
- Die Rolle von Poesie und Religion
- Das Ende der beiden Märchen
- Zusammenfassung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht Novalis' „Klingsohrs Märchen” im Kontext der Frühromantik. Dabei soll der frühromantische Charakter des Märchens durch Vergleiche mit der Aufklärung, Klassik und Spätromantik herausgestellt werden. Die Arbeit befasst sich mit der Entwicklung des Kunstmärchens, der Einordnung von Novalis' Märchenkonzeption in die Gattungsentwicklung und der Relevanz von Klingsohrs Märchen für den Roman „Heinrich von Ofterdingen”. Darüber hinaus werden Vergleiche zu Goethes „Märchen” und Eichendorffs „Das Marmorbild” gezogen, um die spezifischen Merkmale der Frühromantik und ihre Abgrenzung zur Weimarer Klassik und Spätromantik zu beleuchten.
- Die Entwicklung des Kunstmärchens von der Aufklärung bis zur Frühromantik
- Novalis' Märchenkonzeption und deren Platz in der Gattungsentwicklung des Kunstmärchens
- Der frühromantische Charakter von Klingsohrs Märchen im Vergleich zu Werken der Klassik und Spätromantik
- Die Rolle des Wunderbaren und des Todes in Novalis' Werk
- Die Bedeutung von Poesie und Gemeinschaft in der Frühromantik
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel führt in das Thema der Arbeit ein und beleuchtet die besondere Herausforderung, die Novalis' „Klingsohrs Märchen” für die literaturwissenschaftliche Analyse darstellt. Das zweite Kapitel befasst sich mit der Entwicklung des Kunstmärchens von der Aufklärung bis zur Frühromantik, wobei insbesondere die Unterschiede zwischen den Märchen beider Epochen im Vordergrund stehen. Im dritten Kapitel wird Klingsohrs Märchen in den literarhistorischen Kontext gestellt, wobei Novalis' Märchenkonzeption im Rahmen der Gattungsentwicklung des Kunstmärchens betrachtet und die Bedeutung des Märchens für den Roman „Heinrich von Ofterdingen” hervorgehoben wird. Das vierte Kapitel analysiert das Verhältnis von Klingsohrs Märchen zu Goethes „Märchen” im Hinblick auf die Parallelen und Unterschiede zwischen den beiden Werken. Dabei wird die spezifisch frühromantische Ausrichtung von Novalis' Werk im Vergleich zur Weimarer Klassik beleuchtet. Im fünften Kapitel wird ein Vergleich zwischen Klingsohrs Märchen und Eichendorffs „Das Marmorbild” gezogen, um die Unterschiede zwischen Früh- und Spätromantik zu verdeutlichen. Dabei werden die verschiedenen Reaktionen von Novalis und Goethe auf die gleiche historische Situation, sowie die historischen Veränderungen, die zwischen 1800 und 1817 stattgefunden haben, in den Vordergrund gestellt.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit Novalis' „Klingsohrs Märchen”, Frühromantik, Kunstmärchen, Aufklärung, Klassik, Spätromantik, Gattungsentwicklung, Wunderbares, Tod, Poesie, Gemeinschaft, „Heinrich von Ofterdingen”, Goethe, Eichendorff, „Das Marmorbild”, Vergleichende Analyse.
- Citation du texte
- M.A. Mario Paulus (Auteur), 2001, Novalis als Frühromantiker: Klingsohrs Märchen im literarhistorischen Kontext, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11842