Lernen ist schön. Das IntraActPlus-Konzept in Heilpädagogischen Schulen


Diploma Thesis, 2008

94 Pages, Grade: 5.7


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.2 Hypothese

2. Bewusstseinsmässig beeinträchtigt statt geistig behindert?

3. Die Grundlagenforschungen hinter IntraActPlus
3.1 Einleitung
3.2 Das Gehirn
3.2.1 Leistungsfähigkeit
3.3 Das Gedächtnis
3.3.1 Wiederholung vor Vergessen
3.4 Funktionsweisen des Gedächtnisses
3.4.1 Ultra-Kurzzeit-Gedächtnis
3.4.2 Kurzzeitgedächtnis
3.4.3 Langzeitgedächtnis
3.5 Unterschiedliche Gedächtnisformen
3.6 Vergessen
3.7 Automatisch lernt sich einfacher
3.7.1 Unterschiede zwischen bewusstem und automatisiertem Verhalten
3.7.2 Durch kortikale Neuorganisation entsteht Leistungssteigerung
3.8 Das Aktivierungsniveau
3.9 Lernen

4. Das IntraActPlus-Konzept von Jansen und Streit
4.1 Einleitung
4.2 Konzept und Anwendung
4.3 IntraActPlus als Therapie für Therapeuten
4.3.1 Kinder und Jugendliche
4.3.2 Erwachsene
4.4 IntraActPlus als Lehrmittel
4.5 Grundlegende Prinzipien des IntraActPlus-Konzepts
4.5.1 Lernen oder Nichtlernen
4.5.2 Die wichtigsten Lernmethoden
4.5.3 Beziehungssignale
4.5.4 Oberziele und Ziele
4.5.5 Teilleistungsstörungen sind keine Lernund Leistungsstörungen
4.6 Das diagnostische Verfahren bei IntraActPlus
4.6.1 Die drei Ebenen des Verhaltens
4.6.2 Video Standardsituationen
4.6.3 Beobachtungsbögen
4.7 Schlussfolgerung

5. Lernen und Verhalten
5.1 Einleitung
5.2 Widerstände verhindern erfolgreiches Lernen
5.3 Wie Widerstände aufgebaut werden
5.4 Belohnung und Bestrafung
5.4.1 Durchsetzen in fünf Schritten
5.5 Schlussfolgerungen

6. Beziehung ist alles
6.1 Einleitung
6.2 Bindung und Exploration
6.3 Die Grösse Beziehung beim Lernen
6.4 Starke Bindung macht gesund
6.5 Beziehung fördert Resilienz
6.6 Schlussfolgerungen

7. Das IntraActPlus-Konzept in Sonderschulen
7.1 Einleitung
7.2 Voraussetzungen
7.3 Umsetzungen
7.3.1 Forderungen an einen modernen Unterricht
7.3.2 Lernen in 5 Stufen
7.3.3 Tägliches Wiederholen
7.3.4 Lernen mit Stellvertretern
7.3.5 Rückmeldungen im Sekundenbereich
7.4 Erfahrungsberichte
7.5 Schlussfolgerung

8. Was spricht gegen das IntraActPlus-Konzept?
8.1 Einführung
8.2 Kritiker des Leseund Schreiblehrgangs
8.3 Kritik aus der Praxis
8.4 Gedanken um die methodischen Möglichkeiten und Grenzen
8.5 Schlussfolgerungen

9. Interview mit Dr. Fritz Jansen
9.1 Schlussfolgerungen aus dem Interview

10. Umfrage
10.1 Einleitung
10.2 Konzept und Fragestellungen
10.3 Auswertung
10.3.1 Hausaufgaben
10.3.2 Lernen
10.3.3 Beziehung
10.3.4 Verhalten
10.4 Schlussfolgerungen

11. Zusammenfassung
11.2 Abschliessendes Fazit und Ausblick

12. Literaturverzeichnis

13. Abbildungsverzeichnis

14. Anhang

1. Einleitung

„Nichts ist schrecklicher als ein Lehrer, der nicht mehr weiss als das, was die Schüler wissen sollen.“ Johann Wolfgang von Goethe, 1749–1832

In dieser Diplomarbeit geht es um das IntraActPlus-Konzept, das auf wichtige Fragen in bezug auf das Lernen schlüssige und logische Antworten zu geben vermag. Wo Lernen unter erschwerten Bedingungen und ungünstigen Voraussetzungen stattfindet, stellen sich in der Praxis immer wieder Fragen, wie und unter welchen Bedingungen ein so komplexer Prozess positiv beeinflusst und gefördert werden kann. Welche Voraussetzungen sind erforderlich, damit ein Kind lernt und sich lernend entwickelt, und ist das heutige Wissen über grundlegende Entwicklungsprozesse auf Kinder mit Behinderungen übertragbar?

Im 5. Studiensemester zum „Lehrer für Menschen mit geistiger Behinderung“ (LG) an der BFF Bern begann ich mit der verhaltenstherapeutischen Fortbildung zum zertifi- zierten IntraActPlus-Therapeuten1. Die Ausbildung wird von Dr. Fritz Jansen, Uta Streit und anderen Dozenten und Forschern geleitet. Es lag für mich persönlich auf der Hand, dieses Konzept durch die Brille eines angehenden Sonderschullehrers genauer zu betrachten, weil ich die Möglichkeiten und Grenzen dieses Konzepts in Bezug auf meine Hypothesen möglichst objektiv beantworten möchte.

Das IntraActPlus-Konzept ist ein moderner, verhaltenstherapeutischer und systematischer Therapieund Interventionsansatz. Das Gesamtkonzept beschreibt u.a. die für das Störungsund Therapieverständnis wichtigen Prinzipien und stellt für Schulen u.a. praxisorientierte Theorien, Modelle und Arbeitsmaterialien zur Verfügung. Ergebnisse aus der psychologischen Grundlagenforschung bilden die Basis. Die Begründer bieten auf den allgemeinen Prinzipien des Lernens beruhende Lernmodelle an, die der Grundlagenforschung zwar schon lange bekannt sind, ihrer Meinung nach in der Praxis aber ungenügend umgesetzt werden. Lernen für alle, mit den gleichen Mitteln, lautet die Botschaft. Ob und wie sie in der Praxis erreicht und umgesetzt werden kann, soll hier betrachtet, erklärt und beantwortet werden.

Hinweise:

Um die Lesbarkeit zu erleichtern, sind Personennennungen in der männlichen Form gehalten und gelten als Kurzform für beide Geschlechter.

IntraActPlus wird in der gesamten Arbeit mit IAP abgekürzt.

1.1 Ziel der Arbeit

Die vorliegende Diplomarbeit soll die Frage klären, wie erfolgreich die Lernund Lehrmethoden des IAP-Konzepts bei Schülern mit bewusstseinsmässigen (geistigen) Behinderungen sind. Dabei richtet sich der Fokus auf die den Methoden zugrunde liegenden Prinzipien. Es wird auf die Entstehung von Widerständen, die durch ungünstiges und meistens unbewusstes Verhalten entstehen können, aber auch auf das Fallenlassen von Widerständen gegenüber gewohnten Lernangeboten näher eingegangen. Ausserdem werden die Möglichkeiten und Grenzen von Beziehungsund Verhaltensmodifikationen in bezug auf Lernund Leistungsstörungen2, sowie die Behandlung von sozial unsicherem Verhalten und der damit verbundenen Resilienzförderung beschrieben.

1.2 Hypothese

„Heilpädagogische Lehrpersonen arbeiten nach den Grundlagen der allgemein gültigen Lernprinzipien.“

Anmerkung:

Ungeachtet dessen, dass ich die Ausbildung zum IAP-Therapeuten in Angriff genommen habe und mir die Inhalte dieses Konzepts logisch erscheinen, ist es mir wichtig, eine neutrale Haltung einzunehmen, um Antworten auf meine Hypothese sowie auf die Möglichkeiten und Grenzen des IAP-Konzepts im Sonderschulunterricht zu finden. Ob eine Theorie richtig ist, die besagt, dass das eine gut und das andere schlecht sei, muss sich zum Glück in der Praxis beweisen.

1.3 Abgrenzungen und Einschränkungen des Themas

Das IAP-Konzept ist ein umfangreiches Therapieund Trainingskonzept, das unter anderem systematische Lösungsstrategien für folgende Störungsund Krankheitsbilder anbietet: Lernund Leistungsstörungen, Aufmerksamkeitsund Hyperaktivitätsstö- rungen (ADS3 und HDHS4 ), aggressives Verhalten, Ängste, soziale Unsicherheit, Enuresis5 und Enkopresis6, Kommunikationsstörungen, Bindungsstörungen, Dyskalkulie7 sowie Leseund Schreibschwächen usw.

„Auch wenn die meisten Grundbausteine des IntraActPlus-Konzepts für alle Lerninhalte und ebenso für alle Altersbereiche gelten“ (Jansen, 2006, 16), würde eine Auseinandersetzung mit all diesen Themen und Anwendungsbereichen den Rahmen einer Diplomarbeit bei weitem sprengen. Für die Praxis entscheidend ist, wie Sonderschüler besser lernen könnten und wie günstige Beziehungen und ein günstiges Verhalten die Lernbedingungen positiv beeinflussen. Deshalb beschränkt sich der Inhalt dieser Arbeit auf die Bereiche Lernen, Beziehung und Verhalten. Diese Bereiche sollen einerseits das Konzept von Jansen kurz zusammenfassen und andererseits einen für die Praxis – zumindest was Lernen als Gesamtes betrifft – zusammenfassenden Überblick über Möglichkeiten und Grenzen geben. Das Hauptgewicht liegt dabei nicht auf den Lehrmitteln, sondern auf dem therapeutischen Aspekt. Selbstverständlich wäre auch eine andere Beleuchtung des Themas möglich, was die Komplexität zeigt, mit der sich das IAP-Konzept auseinandersetzt.

2. Bewusstseinsmässig beeinträchtigt statt geistig behindert?

„Alles was lediglich wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch.“ René Descartes 1596–1650

Gegen Ende der 50er Jahre wurden im angloamerikanischen Sprachraum erstmals Begriffe wie „mental handicap“ oder „mental retardition“ (geistige Behinderung) genannt, weil sie dem ausgesprochenen negativen Stigmata von „Schwachsinn“ (Oligophrenie)8, „Debilität“, „Idiotie“ und „Blödsinn“ entgegenwirken sollten. „Idioten“ wurden eben wie „Idioten“ behandelt. Trotz der neuen Bezeichnung gibt es bis heute keine einheitliche Beschreibung oder Kennzeichnung des als „geistig behindert“ defi- nierten Personenkreises (Theunissen, 2005, 1).

Die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10) teilt geistige Behinderung in verschiedene Grade ein (Fornefeld 2004,58):

- Leichte geistige Behinderung (IQ9 >50-69), auch leichte Intelligenzminderung.
- Mittelgradige geistige Behinderung (IQ 35-49), auch mittelgradige Intelligenzminderung.
- Schwere geistige Behinderung (IQ 20-34), auch schwere Intelligenzminderung.
- Schwerste geistige Behinderung (IQ < 20), auch schwerste Intelligenzminderung.

„Dabei darf nicht verkannt werden, dass der Terminus10 geistige Behinderung grundsätzlich nicht statisch zu definieren ist. Gerade die Feststellung der oberen Grenze bzw. des Übergangs zur Lernbehinderung ist nicht immer eindeutig zu klären“ (Irblich, 2003, 26).

Nach mehr als 50 Jahren Grundlagenforschung, unterscheiden sich die Auffassungen über geistige Behinderung zum Teil erheblich. Es gibt ein breites Spektrum verschiedener Theorien, Definitionen und Ansätze, die einen gemeinsamen Konsens über den Terminus geistige Behinderung erschweren, wenn nicht sogar verunmöglichen. Geistige Behinderung ist und bleibt bislang ein Begriff für etwas, das wir uns nicht erklären können. Meine Kritik an diesem Begriff ist durch meine Erziehung geprägt, die davon ausging, dass das bewusste Denken des Menschen die massgebendste Rolle spielt. Mein Vater, Autor zahlreicher Bücher, schrieb zu dieser Thematik: „Der Mensch (…) hat sich die unangenehme Gewohnheit angeeignet, falsche Wortbegriffe zu verwenden für Dinge und Belange, die er nicht oder nur halbwegs versteht. (…) In dieser falschen Verwendung von falschen Begriffen tritt es auch in Erscheinung, dass der Mensch z.B. von ‘geistiger Nahrung’ sowie von ‘geistigem Eigentum’ spricht, wie auch von ‘Geisteskrankheit’, ‘geistiger Verwirrung’, ‘geistig geschädigt’, usw. usf. (…) Einzig und allein das Materiell-Bewusstsein und die Persönlichkeit ist anfällig für materielle und halbmaterielle Einflüsse, folglich es unter vielen anderen Dingen nur folgendes gibt, das immer und in jedem Fall auf das Materiell-Bewusstsein bezogen ist, wie z.B: Bewusstseinskrankheit, Bewusstseinsstörung, Bewusstseinsverwirrung, Bewusstseinsschädigung, (…)“ (Meier, 1997, 1ff).

„Geist“ sei nicht das gleiche wie „Bewusstsein“ und deshalb könne man nicht von

„Geistiger Behinderung“ sprechen, meint Meier. Er sagt, dass „Geist“ der eigentliche Lebensmotor sei, der andernorts u.a. als „Seele“ etc. genannt wird. Es ist in diesem Sinn philosophisch, wenn wir von „Menschen mit geistiger Behinderung“ sprechen, wenn wir nicht erklären können, was wir unter Geist, Seele und Bewusstsein wirklich verstehen.

Um „Geistig behinderte Menschen“ nicht wie „Geistig Behinderte Menschen“ zu behandeln und einseitigen Begriffen entgegenzuwirken, wird hier von/über „Menschen mit bewusstseinsmässigen Behinderungen oder Beeinträchtigungen“ geschrieben (ohne ihnen ihre Behinderungen abzusprechen). Deshalb werden in dieser Diplomarbeit die Begriffe „Bewusstsein“ und „bewusstseinsmässig“ verwendet anstatt „Geist/geistig“.

Diese Ausführungen sind wichtig, weil die Sichtweise ein ausschlaggebender Faktor ist, wie über andere Menschen gedacht und mit ihnen gelebt wird. Fritz Jansen (2006, 16), die Hauptfigur dieser Arbeit, teilt diese Ansicht und betont – neben seiner Wertschätzung für experimentelle Erkenntnisgewinnungen – den Wert menschlicher Beziehungen, der seine ganze Arbeit durchdringt und in der der Mensch mit seinen Ressourcen, Lernfähigkeitenund Möglichkeiten an erster Stelle steht.

3. Die Grundlagenforschungen hinter IntraActPlus

„Ein ungeübtes Gehirn ist schädlicher für die Gesundheit als ein ungeübter Körper.“ Georg-Bernard Shaw, 1856–1950

3.1 Einleitung

Das IAP-Konzept stützt sich auf Forschungsresultate, die der Wissenschaft schon seit Jahrzehnten bekannt sind. Die beiden Psychologen Walter Schneider und Richard Shiffrin (1977a) publizierten zwei Studien im Fachmagazin „Psychological Review“, die heute als Meilensteine in der Geschichte der Forschung gelten. Sie entdeckten zwei grundlegende Arten des Verhaltens und bezeichneten diese als bewusst kontrolliertes und automatisches Verhalten und fanden heraus, dass sich Abläufe im Gehirn unter zwei Bedingungen automatisieren lassen:

1. Eine hohe Anzahl von Wiederholungen. Einmal pro Woche üben reicht nicht. Bei vier Mal pro Tag sieht es andererseits sehr gut aus für den Lernerfolg.
2. Ein Reiz soll immer mit dem gleichen Verhalten beantwortet werden. Wer also beim Üben „A“ auf dem Papier sieht, soll auch „A“ sagen. Wird „A“ zu oft als „B“ bezeichnet, wird kein oder gar ein falsches Verhalten antrainiert.

Warum dauerte es drei Jahrzehnte, bis die Studienresultate – endlich in brauchbare Form gefasst – bei den Schülern auf den Tischen lagen, wie zum Beispiel das von Jansen und seinen Mitarbeitern entwickelte Leseund Rechtschreib-Lehrmittel? „Bei Grundlagenforschern gibt es immer eine gewisse Arroganz. Sie haben kein Interesse an der Praxisanwendung ihrer Forschung“, ausserdem hätten Lehrpersonen und Heilpädagogen wenig Interesse an komplizierten Fachartikeln, sagte Jansen am Rande eines Seminars am Kinderspital Zürich. Die Bedingungen sind also ideal dafür, dass Wissen in den Bücherregalen verstaubt.

3.2 Das Gehirn

„Das Gehirn des Menschen ist die wohl komplizierteste Struktur im ganzen Universum“ (Thomsen, 2001, 7). Es wiegt etwa 1,4 Kilogramm und macht ungefähr 2% des Körpergewichts aus, verbraucht aber mehr als 20% der Energie des gesamten Körpers. Von den verschiedenen Arealen, Schichten und einigen Milliarden Neuronen ist noch nicht vollständig geklärt, welche Funktion sie haben (Spitzer, 2007, 30). Neuronen verarbeiten bei Erregung mehr Informationen und tragen zum Wachstum von Nervenzellen bei. Damit erreicht das Gehirn eine unglaubliche Flexibilität in rasch wechselnden Umgebungen und Aufgaben sowie Spezialisierungen in verschiedenen Tätigkeiten.

„So ist auch unser Gehirn für das Lernen optimiert“ (Spitzer, 2007, 14).

Heute geht die Neurowissenschaft davon aus, dass Bereiche des Gehirns bestimmte Funktionen (Sprachverarbeitung, visuelle Wahrnehmung) biologisch vorgegeben verarbeiten und diese bei einer Beschädigung von anderen Gehirnregionen übernommen werden können. „Als Kennzeichen für alle Lernvorgänge betrachten wir den Umstand, dass eine anpassende Veränderung in der ‚Maschinerie‘ vor sich geht, das heisst also in Strukturen der Sinnesorgane und des Nervensystems, deren Funktion das Verhalten ist. Eben in dieser Veränderung der Struktur liegt ja der Gewinn der Information, und, da die Veränderung mehr oder weniger permanent ist, auch ihre Speicherung. (…) In der ganzen uns bekannten Welt gibt es kein komplexeres System als die zentralnervöse Organisation, die dem Verhalten der höheren Lebewesen zu Grunde liegt“ (Lorenz11, 1973, 95f).

3.2.1 Leistungsfähigkeit

Eine gute Leistungsfähigkeit beim Lernen, so Borkowski (1992 in Irblich & Stahl, 2003, 198) zeichnet sich dadurch aus, dass

1. Informationen schnell aufgefasst und weiterverarbeitet werden,
2. aktiv über mehrere Gedächtnisstrategien verfügt wird, die flexibel und gezielt nutzbar sind, und
3. zusätzlich zum strategischen Wissen auch über ein bereits inhaltliches Wissen spezi- fischer Vorkenntnisse für Analogieschlüsse verfügt wird.

Diese Bedingungen lassen sich auch ohne, oder zumindest mit einem halben Gehirn gut umsetzen. Werth12 (2007 in G&G 12: 28-32, 2007) schreibt von einem siebenjährigen Jungen, dessen Grosshirn fehlte und der dennoch eindeutig auf Geräusche reagierte.

Der Raum, den sonst das Grosshirn einnimmt, war bei ihm mit Flüssigkeit gefüllt, der Hirnstamm war aber gut entwickelt. In Experimenten stellte er fest, dass der noch intakte Hirnstamm Hörreize registrieren konnte und Reaktionen darauf entwickelt hatte.

Dass das Gehirn trotz Schädigungen oder Behinderungen atemberaubende Leistungen erbringen kann, beweisen auch Autisten mit Asberger-Syndrom. Einer der berühmtesten Menschen mit Asperger-Autismus ist Kim Peek13. „Er kennt den Inhalt von 12‘000 Büchern auswendig, er kennt jede US-Stadt, jede Strasse, jede Postleitzahl. Daheim in Salt Lake City kennt er sogar jeden Einwohner und dessen Telefonnummer, weil er alle Telefonbücher der Stadt gelesen hat“ (Ludwig, 64-67, 2007).

Bislang wissen die Forscher nicht, wie Begabungen von Asberger-Autisten entstehen. Michael Fitzgerald14 meint, dass neuronale Fehlschaltungen dafür verantwortlich und vermutlich einfach bestimmte Hirnareale ausgeschaltet seien, welche die Reserven anderer Bereiche freisetzen und dadurch die Leistungsfähigkeit erhöhen (Ludwig, 64-67, 2007).

3.3 Das Gedächtnis

Das Gedächtnis ist ein komplexes Geflecht ineinandergreifender Systeme. Alle Wahrnehmungen oder Einfälle werden zuerst nur für kurze Zeit aufbewahrt und dann entweder vergessen oder ins Langzeitgedächtnis überführt. Waugh und Norman (1965 in Solso 2005, 220f) haben das erste moderne verhaltenswissenschaftliche Modell entwickelt, das sich mit dem Gedächtnis befasst. Sie gingen davon aus, dass es ein primä- res (Kurzeit-Speichersystem) und sekundäres (Langzeit-Speichersystem) Gedächtnis gebe. Atkinson u. Shiffrin (1968 in Solso 2005, 221f) führten das Modell weiter und gehen von drei Speichersystemen aus, die das heutige Verständnis über das Gedächtnis massgebend beeinflussen.

3.3.1 Wiederholung vor Vergessen

Hermann Ebbinghaus15 (1885), der zu seiner Zeit die wohl bahnbrechendsten Forschungen über die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses machte, setzte die Forschungen über dieses komplexe System in Gang. Er konnte seine Vorstellung über das Gedächtnis nie belegen, aber er konnte – und das war bahnbrechend – festhalten, wie es arbeitet.

In einem zeitlichen Rhythmus von 20 Minuten, einer Stunde, acht bis neun Stunden, 20 Stunden und nach einem Tag wiederholte er Silben und schrieb sie auf. Seine Ergebnisse hielten die Listenlänge, die Lernzeit, die Effekte der Übung auf das Lernen, sowie das Lernen und das Erinnern seriell angeordneter Silben fest. Diese Art zu lernen nannte er „Serielles Lernen“ (Solso, 2005, 214ff).

Abb. 1. Vergessenskurve nach Ebbinghaus (1885)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Abbildung zeigt den Verlauf des Vergessens eines Lernstoffes. Die Y-Achse zeigt, wie viele Prozent des gelernten Stoffes nach einer bestimmten Zeit (X-Achse) noch korrekt wiedergegeben werden. In den ersten 20 Minuten vergisst man über 40%. Danach flacht die Kurve stark ab und die Vergessensrate wird langsamer.

Jansen, der die Methode seriellen Lernens in die Praxis umsetzt, beruft sich auf die Erkenntnisse von Ebbinghaus. Sein Fazit: „Je dichter der Abstand bis zur nächsten Wiederholung, desto mehr Zeit wurde beim Wiederholen gespart“ (Jansen, 2006, 79). Für den Unterricht bedeutet das: Wiederholen derselben Aufgabe in einem kurzen zeitlichen Abstand. Wer so lernt, hat nicht automatisch Erfolg, denn ein Schüler vergisst nicht alles, was er gelernt hat gleich schnell. Darüber hinaus wirkt sich auch der so genannte Primacy-Effekt16 von Atkinson & Shiffrin (1968) auf die Speicherung von Informationen aus, der besagt, dass erste von mehreren Elementen am stärksten und zuverlässigsten erinnert wird.

3.4 Funktionsweisen des Gedächtnisses

Das Gedächtnis arbeitet zeitabhängig und wird in drei unterschiedliche zeitabhängige Speichertypen unterteilt, in denen Informationen unterschiedlich lang eingelagert werden. Je grösser die Bedeutung der Information ist und je häufiger man sie wiederholt, desto länger bleibt die Erinnerung. Den ersten Speicher dieses Systems bezeichnet man als Ultrakurzzeit (UZG) oder sensorisches Gedächtnis, den zweiten als Kurzzeitgedächtnis (KZG) und den dritten als Langzeitgedächtnis (LZG) (Markowitsch 2002).

3.4.1 Ultra-Kurzzeit-Gedächtnis

Das sensorische Gedächtnis (UZG) liegt im Bereich von Millisekunden. Es wird im visuellen Bereich genauer unterschieden und als ikonisches Gedächtnis bezeichnet17 (Neisser 1967/1974 in Solso, 2005, 75). Eine visuelle Erinnerung bleibt für etwa eine halbe Sekunde bestehen. Das ikonische Gedächtnis hat eine höhere Speicherkapazität als das Kurzzeitgedächtnis, trotzdem verblassen seine Informationen schnell, nämlich schon nach weniger als 200 bis 400 Millisekunden. Informationen, die so kurzfristig gehalten werden, können nur unbewusst wiedergegeben werden. Für das Lernen von Fertigkeiten wie beispielsweise Lesen und Schreiben machen sie keinen Sinn, denn sie werden schnell wieder von neuen Reizen „überschrieben“.

3.4.2 Kurzzeitgedächtnis

Das Kurzzeitgedächtnis (KZG) speichert Informationen während Sekunden bis zu wenigen Minuten. Sir William Hamilton sagte im 19. Jahrhundert angeblich: „Wenn man eine Hand voll Murmeln auf den Boden wirft, wird man es als schwierig empfinden, mehr als sechs oder höchstens sieben auf einmal zu betrachten, ohne sie durcheinander zu bringen“ (zitiert nach Miller 1956 in Solso, 2005, 185). Was Hamilton zu seiner Zeit schon merkte, sagen auch Ikon und Sperling (1972 in Miller, 63: 81-97, 1956). Sie erforschten die Aufnahmekapazität des KZG und entdeckten ein charakteristisches Phä- nomen: Kinder ab 3 Jahren können sich nicht mehr als 7 ± 2 Informationseinheiten wie Ziffern, Buchstaben oder sieben (vertraute) Wörter merken.

3.4.3 Langzeitgedächtnis

Das Langzeitgedächtnis umfasst alles, was über den Minutenbereich hinausgeht. Die Anzahl der im Kurzzeitspeicher festgehaltenen Elemente können durch Training nicht erhöht werden. Eine Kapazitätserweiterung ist nur durch Wiederholung oder durch Neuanordnung von Lerninhalten mittels chunking18 oder über das one-trial-learning19 möglich.

In Sonderschulen sollten Lerninhalte weitgehend zusammengezogen werden. Wichtig für das Verstehen des zeitabhängigen und episodischen Gedächtnisses ist folgendes: Das Speichern von Informationen ist keine lineare Aktion. Ein häufigerer Abruf von Informationen führt zu einer häufigeren Einspeicherung, wodurch Informationen tiefer gespeichert werden. Jede Erinnerung wird auch durch gegenwärtige Befindlichkeiten beeinflusst, weshalb sich die Informationen verändern können20. Das kann dazu führen, dass sich bei der Abfrage von Zahlenreihen Ungewissheiten einzelner Schüler so stark einspeichern, dass sie schliesslich zur Gewissheit werden. Darüber hinaus gibt es eine gewisse Auswahl, die wir speichern, behalten oder vergessen. Diese ist u.a. unabhängig von der Zeit21.

Abb. 2. Der Ablauf von Gedächtnisfunktionen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Abbildung zeigt, wie Informationen über die jeweiligen Speicherebenen im Gehirn abgelegt werden. Viele Informationen gehen unmittelbar oder nach einiger Zeit verloren. Wir können uns nicht an alles gleich gut erinnern. Die Aufmerksamkeit und andere Faktoren spielen eine grosse Rolle. Wichtig für eine gute Informationsspeicherung ist die Wiederholung respektiv die Automatisierung im Kurzzeitspeicher. Schlechte Nutzung der Speichermöglichkeiten kann Lernund Leistungsstörungen verstärken.

3.5 Unterschiedliche Gedächtnisformen

Drei Komponenten von Gedächtnisformen werden unterschieden: 1. Das semantische Gedächtnis enthält Fakten und Zahlen (Wie heisst mein Lehrer? Wie ist meine Telefonnummer?). Persönliche Erlebnisse kommen darin kaum vor. Tulving (1989 in Solso, 2005, 229f) meinte, dass Begebenheiten aus dem eigenen Leben im 2. episodischen Gedächtnis landen. An dessen Inhalte erinnern wir uns oft ohne die exakten Rahmendaten (etwa wann und wo wir etwas gelernt haben). Episodisches und semantisches Gedächtnis werden auch als deklaratives Gedächtnis zusammengefasst und beinhaltet alles Gelernte, das man mit Worten ausdrücken kann. (Solso, 2005, 254). Solche Inhalte werden mit bewusster Anstrengung über das explizite Gedächtnis gelernt. Das 3. implizite Gedächtnis steht für automatisierte Handlungsabläufe: Will ein Schüler schnell Lesen lernen oder auf Zehn zählen, muss er nicht immer bewusst nachdenken – das wäre sogar eher hinderlich. Ebenso schlecht können wir beschreiben, was wir im Moment genau tun. Die entsprechenden motorischen Programme hat das Gehirn implizit verinnerlicht.

Abb. 3. Gedächtnismodell

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Abbildung zeigt die inhaltliche Unterteilung des Langzeitgedächtnisses/ -speichers. Es handelt sich um ein allgemein anerkanntes und heute gängiges Gedächtnismodell.

3.6 Vergessen

Der dem Gedächtnis gegenläufige Vorgang ist Vergessen. Dieser Vorgang ist noch weitgehend ungeklärt. Manche Formen von Gedächtnisverlusten betreffen nur eine Komponente unseres Gedächtnisses, andere bleiben weitgehend intakt.

Die Forscherin Faraneh Vargha-Khadem22 (1997 in Schumacher23 & Stern, 21-27, 2007) berichtete über drei Kinder, die nach Hirnschädigungen unter so genannter anterograder Amnesie24 litten: Ihr implizites und ihr semantisches Gedächtnis waren zwar intakt, allerdings konnten sie keine neuen Inhalte episodischer Art behalten. Den Lehrstoff in der Schule lernten sie zufriedenstellend, hatten aber am Abend vergessen, dass sie überhaupt dort waren. Sie lebten in einem schmalen Streifen Gegenwart – die Vergangenheit versank nach wenigen Stunden im Nichts des Vergessens.

Auch wenn wir in Sonderschulen nicht gerade auf Amnestiker stossen, lernen viele Schüler, ohne wirklich etwas zu wissen, weil viele cerebrale Teilleistungsstörungen psychische oder bewussteinsmässige Störungen und Behinderungen aufweisen. Die Schüler pauken täglich Kulturtechniken, ohne sichtliche Erfolge. Aus verschiedenen Gründen können sie ihr Wissen auf Nachfrage nicht angeben. Ein Grund kann darin liegen, dass das betreffende Wissen unbewusst ist. Es ist auch möglich, dass sie ihr Wissen aufgrund mangelnden Zutrauens in die eigenen Fähigkeiten25, fehlender Kenntnisse oder ungenügender Automatisierung nicht preisgeben, wegen psychischer Störungen nicht lernen oder sich nicht genügend konzentrieren können.

3.7 Automatisch lernt sich einfacher

Unbewusstes Lernen ist ein Phänomen, das uns aus dem Alltag bestens vertraut ist. Es wird im psychologischen Fachjargon als „implizites Lernen“ bezeichnet und wie folgt charakterisiert: Es findet beiläufig statt und erfolgt ohne bewusste Lernabsicht und ohne Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die einzelnen Lernschritte. Kinder lernen ihre Muttersprache, ohne dass sie sich ausdrücklich dazu entschliessen müssen. Das Wissen, das im Zuge impliziten Lernens erworben wird, ist unbewusst und steht für Beschreibungen nicht zur Verfügung26. Nur die wenigsten Sonderschüler sind in der Lage, grammatikalische Regeln der Muttersprache zu beschreiben – obwohl sie einfache Regeln korrekt anwenden.

Nicht alles lässt sich unbewusst lernen. Manche Kompetenzen, wie z.B. Lesen und Schreiben oder das Binden der Schuhe, werden nur erworben, wenn die Aufmerksamkeit durch gezielte Instruktionen auf die einzelnen Lernschritte gelenkt wird. Die Frage ist, wo die Grenzen unbewussten Lernens liegen und warum es sie gibt. Die Beantwortung dieser Frage ist von grosser pädagogischer und didaktischer Bedeutung, schliesslich ist es für die Gestaltung des Schulunterrichts entscheidend, welche Inhalte und Fähigkeiten sich unbewusst und beiläufig vermitteln lassen – und in welchen Fällen eine gezielte Instruktion notwendig ist.

3.7.1 Unterschiede zwischen bewusstem und automatisiertem Verhalten

Die Experimente von Schneider und Shiffrin (1977 in Schneider u. Shiffrin; Shiffrin u. Schneider, 1977a, b) und ihre Erkenntnisse über bewusstes und unbewusstes Verhalten untermauern die Aussagen von Jansen und Streit (2006, 87) über die Wichtigkeit automatisierten Lernens. Ein Beispiel: Neulenker fahren gefährlicher, weil sie mehrere Dinge gleichzeitig bewusst steuern und kontrollieren müssen. Die Gefahr, etwas zu übersehen ist sehr gross. Routinierte Lenker fahren weitgehend unbewusst. Sie können Radio hören, Gespräche führen und gleichzeitig das Fahrzeug sicher lenken, weil sie die Fertigkeiten dafür hoch automatisiert haben.

Abb. 4. Unterschiede von bewusstem und unbewusstem Verhalten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Abbildung zeigt den Unterschied zwischen bewusst kontrolliertem und automatischem Verhalten.

3.7.2 Durch kortikale Neuorganisation entsteht Leistungssteigerung

Erarbeiten Schüler einen neuen Lernstoff, können sie sich diesen zu Beginn nur Schritt für Schritt aneignen. Das Gehirn verarbeitet aufgrund seiner noch wenig effektiven Organisation die Verarbeitungsschritte nacheinander (sequenziell). Im weiteren Lernprozess erreicht es durch umfassende Synapsenbildung und Neuorganisation eine parallele Verarbeitung und damit eine unglaubliche Ökonomie neurornaler Prozesse. Weniger Hirnareale leisten bei geringerer Aktivität die gleiche Aufgabe schneller und fehlerfrei und erreichen ab einem bestimmten Punkt eine Leistungssteigerung bis zu 2000%. Das konnten Jansma et al. (2001 in Jansen, 2005, 86) aufzeigen.

In der Praxis ist diese Erkenntnis für Schüler mit Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS) oder anderen „Verhaltensschwierigkeiten“ von enormem Nutzen. Wird positives Verhalten automatisiert, haben sie in bezug auf ihr Verhalten keine Nachteile mehr, weil sie sich bereits unbewusster (oder auch gewohnter) anders verhalten. Wie sich das im Einzelfall konkret umsetzen lässt, ist damit allerdings noch nicht beantwortet27.

3.8 Das Aktivierungsniveau

Wer aufmerksam ist, lernt mehr und ist in einer optimalen Lernaktivierung. Die Grundlagenforschung kennt die Zusammenhänge zwischen körperlicher Aktivierung, die sich anhand des Blutdruckes messen lässt, und der Lernund Leistungsfähigkeit. Fernandez-Duque & Posner (1997 in Spitzer, 2007, 141) sprechen von Aufmerksamkeit im Sinne von Vigilanz28 als zeitlicher und selektiver Aufmerksamkeit, als räumliche Prozesse, die unabhängig voneinander operieren.

Die selektive Aufmerksamkeit wird von der allgemeinen Aufmerksamkeitserhöhung (Erhöhung der Vigilanz) unterschieden. Jansen et al. (1990a, b in Jansen, 2006, 66ff) entwickelten eine Untersuchungsform, um Auswirkungen von Unterund Überaktivierung auf das Lernverhalten zu erklären. Der Zusammenhang wurde auch in anderen Studien ermittelt (etwa Yerkes u. Dodsen 1908; Freemann 1940; Wood u. Hokanson 1965 in Jansen, 2006, 72) und mit einer U-Form erklärt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Abbildung zeigt den Aktivierungsbogen nach Yekes u. Dodson (1908). Bei zunehmender Erregung (links) nimmt die Leistungsfähigkeit zunächst zu, erreicht ein Optimum (markierter Bereich) und nimmt dann wieder ab (rechts). Unteraktivierte Kinder (aufgrund von ADS, psychischen Störungen, bewusstseinsmässigen oder cerebralen Behinderungen usw.) brauchen in der Regel mehr Erregung, um eine optimale Leistung zu erreichen. Eine Unteraktivierung ist immer ungünstig, weil das Gehirn vermindert aktiviert ist.

Zu hohe oder zu niedrige Aktivierung beim Lernen wirkt sich ungünstig aus. Durch den Abfall der intellektuellen Leistungsfähigkeit erlebt ein Kind unangenehme Gefühle, wie Unteroder Überforderung oder Müdigkeit. Jansen (2006, 66) betont, dass Kinder mit Lernund Leistungsstörungen durch das zu niedrige Aktivierungsniveau viele Misserfolge erleben, was ihr Selbstwertgefühl beeinflussen kann.

3.9 Lernen

Konrad Lorenz schreibt in „Die Rückseite des Spiegels“: „Es gab kaum einen grösseren Irrtum in der menschlichen Geistesgeschichte als die Meinung der Empiristen, dass der Mensch vor jeder individuellen Erfahrung ein unbeschriebenes Blatt, eine ‚tabula rasa‘ sei. Ebenso gross ist allerdings der nur scheinbar entgegengesetzte, im wesentlichen aber identische Irrtum, dem viele nicht biologisch denkende Psychologen huldigen und der in der Annahme besteht, dass Lernen ganz selbstverständlich an allen, auch noch so kleinen Elementen tierischen und menschlichen Verhaltens beteiligt sei. Beide Irrtümer haben die verderbliche Folge, dass sie das zentrale Problem allen Lernens verschleiern. Dieses liegt in der Frage: Wie kommt es, dass Lernen die arterhaltende Wirkung des Verhaltens verbessert?“ (Lorenz, 1973, 96)

Lernen besagt, dass sich Verhalten aus bewusster und unbewusster Erfahrung und Übung ändert oder ein Organismus anders agiert, weil er bereits bestimmte Konsequenzen erfahren hat (im Sinne operanten Lernens). Das Wahrnehmen von Zusammenhängen bestimmter Reize aufgrund von Bedeutungszuweisungen ist (Solso, 2006, 514) ebenso Lernen wie die Veränderung von Verhaltensweisen und nahezu alles, was wir denken und tun. Nicht alles, was wir gelernt haben, machen wir auch so, und nicht jede Verhaltensänderung lässt darauf schliessen, dass etwas gelernt wurde.

Kinder sind die Akteure ihrer eigenen Entwicklung – zumindest gehe ich persönlich davon aus. Anlage und Umwelt und wie stark sie sich auf die Entwicklung und die Fähigkeiten vom Menschen mit bewusstseinsmässigen Behinderungen auswirken, sind zentrale Fragen. Lernerfolg erlebt, wer mit allen Sinnen wahrnimmt, seine Selbständigkeit nutzt, günstige Bewertungen schafft und bestehendes Wissen mit neuen Informationen verknüpft. Das pädagogische Handeln der Erziehenden sehe ich als massgebenden Faktor. Die Erfahrungen des Kindes wahrnehmen, seine Denkund Handlungswege verstehen und gute Beziehungen fördern das erfolgreiche Lernen.

3.10 Schlussfolgerung

Es versteht sich von selbst, dass Menschen mit bewusstseinsmässigen Behinderungen in der Entwicklung ihrer physischen, psychischen, sozialen und bewusstseinsmässigen Kompetenzen keineswegs dem so genannten „Durchschnittsmenschen“ entsprechen, dass sie aber dennoch nach den gleichen allgemein bekannten Prinzipien lernen. Also müssen Aussagen zu den verschiedenen Dimensionen des allgemeinen menschlichen Erlebens und Verhaltens auch auf Menschen mit bewusstseinsmässigen Behinderungen zutreffen, vorausgesetzt, die jeweiligen Dimensionen haben bei ihnen überhaupt eine wahrnehmbare und beobachtbare Ausprägung:

- Lernen aus psychologischer Sicht vollzieht sich bei lernfähigen Organismen nach den zu Grunde liegenden Lernprinzipien. Die elementaren Lernformen der klassischen und operanten Konditionierung und die Speicherabläufe gelten, je nach Entwicklungsstand, auch für Menschen mit bewusstseinsmässigen Behinderungen.
- Der Spracherwerb, als konkretes Beispiel, verläuft vereinfacht dargestellt in den Schritten: Lallen, Ein-Wort-Sätze, Zwei-Wort-Sätze, Mehr-Wort-Sätze mit zunehmender Grammatik bis zur Umgangssprache. Dieser Verlauf findet sich auch bei Menschen mit bewusstseinsmässigen Behinderungen – sofern die organischen und kognitiven Voraussetzungen dies erlauben.
- Faktoren, die Lernund Leistungsstörungen, psychosomatische Erkrankungen und psychische Störungen erhöhen oder verhindern können, wirken sich bei Menschen mit bewusstseinsmässigen Behinderungen gleich aus wie bei anderen.
- Überforderung wirkt sich im Lernprozess weniger schlimm aus als Unterforderung, die den Lernenden lähmt und den Lernerfolg zunichte machen kann.

Die Aussagen der allgemeinen Psychologie über Lernprinzipien müssen auch auf Menschen mit Behinderungen zutreffen. Allerdings stelle ich die Frage, wie allgemeingültig diese Prinzipen und Theorien sein müssen, damit sie diesen Personenkreis tatsächlich einschliessen?

[...]


1 siehe: www.dr-jansen.de.

2 Unter dem Begriff der Lernstörung werden u.a. folgende Lernund Denkprobleme zusammengefasst: Konzentrationsund Aufmerksamkeitsstörungen, Lese- Rechtschreibschwäche, Rechenschwäche, partielle oder allgemeine Entwicklungsverzögerungen sowie Sprachund Lernbehinderung. Ursachen für diese Störungen werden heutzutage multifunktional, d.h. sowohl mit organischen, genetischen und bewusstseinsmässigen und psychischen Faktoren erklärt.

3 Aufmerksamkeitsdefizitstörung.

4 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.

5 Einnässen oder ungewolltes Urinieren.

6 Stuhlinkontinenz bei Kindern; bezeichnet die Entleerung von Stuhl in die Unterwäsche meistens nach dem vollendeten dritten Lebensjahr.

7 Unter Rechenstörung (ICD-10) versteht man die Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine eindeutig unangemessene Beschulung erklärbar sind. Das Defizit betrifft die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie und Differentialsowie Integralrechnung benötigt werden. Als Ursachen von Dyskalkulie gelten Orientierungsund Wahrnehmungsstörungen, die insbesondere die Raumund Zeitorientierung, die visuelle Wahrnehmung, die visuelle Vorstellungskraft und das Gedächtnis betreffen. Rechenschwache Kinder habe Schwierigkeiten, wichtige von unwichtigen Informationen zu unterscheiden, Sinneseindrücke richtig einzuordnen und mit vorhandenen Erfahrungen zu verbinden.

8 Oligophrenie (Schwachsinn, Geistesschwäche, Intelligenzdefekt, geistige Behinderung) ist die ererbte, angeborene oder früh erworbene Minderung der allgemeinen geistigen Entwicklung. Oligophren sind Menschen, deren geistige Entwicklung durch angeborene oder erworbene Störungen vorübergehend oder auf Dauer hinter der altersgemässen Norm zurückgeblieben ist, so dass sie für ihre Lebensführung besonderer Hilfe bedürfen.

9 Intelligenz-Quotient: Beschreibt den Intelligenzgrad. Intelligenz ist, was der Intelligenz-Test misst.

10 Terminus von lat.: terminus = Grenze, Grenzstein

11 Konrad Lorenz gilt als einer der bedeutendsten Verhaltensforscher. Er war Begründer der vergleichenden Verhaltensforschung und befasste sich u.a. mit der evolutionären Erkenntnistheorie, die systematische Beziehungen, Wechselwirkungen und Gesetzmässigkeiten zwischen der biologischen und der soziokulturellen Evolution aufzeigte.

12 Reinhard Werth ist Neuropsychologe und Privatdozent für Medizinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-U- niversität in München.

13 Peek war das Vorbild für den Autisten Raymond, den Dustin Hoffman im Film „Rain Man“ spielte. Der Film offenbarte 1988 einem Weltpublikum die verschlossene Welt der Autisten.

14 Neben Fitzgerald hat auch der australische Forscher Allan Snyder mit einer elektromagnetischen Stimulation bestimmte Fähigkeiten von Asperger-Autisten bei normalen Menschen generiert und diese erforscht. Er setzte die Köpfe der Probanden einer Apparatur mit starker elektromagnetischer Strahlung aus. Einige der Versuchsteilnehmer wurden so kurzzeitig zu Rechenkönigen, andere konnten plötzlich detailgetreu Tiere zeichnen. Als Snyder die Magnetstrahlung ausschaltete, brachten die Probanden wieder nur hilfloses Gekritzel zu Papier.

15 Hermann Ebbinghaus gilt als Begründer der experimentellen Erforschung des Gedächtnisses und als Entdecker der Lernund der Vergessenskurve, die er durch das Lernen sinnfreier Silben erstmals experimentell an sich selbst erforschte.

16 Der Primacy-Effekt besagt, dass man sich an früher eingehende Informationen besser erinnert als an später eingehende. Dem Primacy-Effekt steht der Recency-Effekt gegenüber, bei dem später eingehende Information stärkeres Gewicht erhalten. Es hängt von der Situation ab, welcher der beiden Effekte stärker ausgeprägt ist. Bei der Reproduktion längerer Informationsketten werden jedoch generell eher die zuerst und die zuletzt gelernten Begriffe erinnert.

17 Das Ikonische Gedächtnis (Ikonischer, sensorischer Speicher) ist eine bestimmte Modellvorstellung über das Gedächtnis. Es bezeichnet den Ultrakurzzeitspeicher (UZG), der für visuelle Informationen zuständig ist.

18 Chunking bedeutet, dass jedes der 5-9 Elemente mehr Inhalt fassen kann. Das bedeutet: Wer sich Telefonnummern merken will, macht sich „Eselsbrücken“. Die Zahlenreihe wird beispielsweise in einen Satz „verpackt“. So ist es möglich, sich beliebig viele Telefonnummern zu merken. Chunking-Techniken gibt es sehr viele. Erst individuelle Chunking-Techniken führen zum Lernerfolg.

19 Bezeichnet den Erwerb einer Fähigoder Fertigkeit in einem einzigen Lernschritt. Bsp: Kind berührt eine heisse Herdplatte -> Schmerzen -> macht es nicht mehr.

20 Dieses Phänomen wird auch als Ekphorie bezeichnet. griech.: die durch einen Reiz ausgelöste Aktivierung von Gedächtnisinhalten und Erinnerungsvorgängen.

21 vgl. Kap. 3.6

22 Die iranische Neuropsychologin Dr. Varaneh Vargha-Khadem ist u.a. durch ihre Mitarbeit an der Erforschung von Genen, die Sprachstörungen verursachen, bekannt geworden.

23 Ralph Schumacher ist Philosoph und Projektleiter am Institut für Verhaltenswissenschaften der ETH Zürich.

24 Bei der anterograden Amnesie (Gedächtnisstörung) ist die Merkfähigkeit für neue Bewusstseinsinhalte massiv reduziert. Neue Dinge können nur noch für ein bis zwei Minuten im Gedächtnis erhalten werden, ehe sie wieder vergessen werden.

25 vgl. Kap. 3.4.3 Die Fähigkeit, mehrere Informationen aufzunehmen (chunking) und zu speichern, haben auch Menschen mit bewusstseinsmässigen Behinderungen, sofern sie keine entsprechenden organischen Schäden aufweisen.

26 vlg. Kap. 3.5

27 vgl. dazu das „Würzburger Trainingsmodell“ von (Schneider et al. (1998 in Jansen 2005, 241)

28 Man spricht von Aufmerksamkeit im Sinne von Vigilanz und meint einen quantitativ angehbaren Zustand des Organismus, der von hellwach bis (im Extremfall) kontaminös reicht. Jansen nennt dieses Phänomen „Aktivierungsniveau“. Von der allgemeinen Vigilanzerhöhung (eng.: alerting) ist die selektive Aufmerksamkeit (engl.: orienting) zu unterscheiden.

Excerpt out of 94 pages

Details

Title
Lernen ist schön. Das IntraActPlus-Konzept in Heilpädagogischen Schulen
College
University of Applied Sciences Bern
Grade
5.7
Author
Year
2008
Pages
94
Catalog Number
V118462
ISBN (eBook)
9783640211937
ISBN (Book)
9783640212019
File size
1541 KB
Language
German
Keywords
Lernen, IntraActPlus-Konzept, Heilpädagogischen, Schulen, Fritz Jansen, Lernpsychologie, Resilienz, Verhaltenstherapie
Quote paper
Natan Brand (Author), 2008, Lernen ist schön. Das IntraActPlus-Konzept in Heilpädagogischen Schulen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118462

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