Safer Use im Rahmen der Akzeptanzorientierten Drogenarbeit


Diploma Thesis, 2006

104 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Einleitung

2. Begriffsklärung
2.1 Droge
2.2 Sucht
2.2.1 verändertes Suchtverständnis

3 . Drogenkonsum in modernen, pluralen Gesellschaften
3.1 Grundströmungen der drogenpolitischen Diskussion, öffentliche Wahrnehmung und zugrundeliegende Menschenbilder
3.1.1 Drogenkonsum als kriminell−abweichendes Verhalten
3.1.2 Abweichendes Verhalten und (jugendliche)Subkultur
3.1.3 Drogenkonsum als sozial erlerntes Verhalten
3.1.4 Drogenkonsumenten als Kranke
3.1.5 Drogenkonsum als natürliche Bedürfnisbefriedigung
3.2 Drogenpolitik
3.2.1 Aktive Drogenkontrolle
3.2.2 reaktive Drogenkontrollen

4. Akzeptanzorientierte Drogenarbeit eine Übersicht
4.1 Historische Aspekte der Drogenarbeit in der BRD
4.1.1 Von der Abstinenz zur Akzeptanz – ein Paradigmenwechsel im Wandel der Zeit
4.1.2 Die Ursprünge der akzeptanzorientierten Drogenarbeit
4.2 Inhalte und Ziele akzeptanzorientierter Drogenarbeit
4.2.1 Akzeptanz
4.2.2 Gesundheitsförderung und Empowerment
4.2.2.1 Verändertes Präventionsverständnis als Voraussetzung für Gesundheitsförderung
4.2.2.2 Inhalte und Methoden von Gesundheitsförderung
4.2.2.3 Empowerment
4.2.2.4 Einbeziehung von Betroffenenkompetenz Peer-Support
4.3 Allgemeine Kritik am akzeptanzorientierten Ansatz
4.4 Fazit

5. Safer-Use-Strategien gegen die gesundheitlichen Folgen des Drogenkonsums
5.1 Ziele
5.2 Inhalte
5.2.1 Drug, Set und Setting
5.2.1.1 Drug
5.2.1.2 Set
5.2.1.3 Setting
5.3 Drogenkompetenz und Drogenmündigkeit
5.3.1 Drogenkompetenz
5.3.2 Drogenmündigkeit
5.3.3 Mischkonsum
5.4 Methoden
5.5 Safer-Use im Partysetting
5.5.1 Zum Begriff der Partyszene und Partydrogen
5.5.2 Aufkommen und Konsum von Partydrogen
5.5.3 Partydrogen im Speziellen
5.5.4 Drug und Safer−Use am Beispiel Ecstasy
5.5.4.1 Drug
5.5.4.2 Safer−Use im Kontext von Ecstasy
5.6. Safer−Use in der Praxis
5.7 Safer−Use in der Entwicklung

6. Drugchecking
6.1 Inhalte und Ziele
6.1.1 Begriffsklärung
6.1.2 Ziele:
6.2 Drugchecking aus sozialpädagogischer Sicht
6.3 Fazit
6.4 Zur Durchführbarkeit von Drugchecking
6.4.1 Die rechtliche Situation von Drugchecking in Deutschland
6.4.1.1 Die Auftraggeber
6.4.1.2 Die Untersuchungsstelle
6.4.2 Die Frage nach der Nachfrage
6.4.3 Ergebnis
6.5 Drugchecking−Programme im europäischen Kontext:
6.6 Fazit und Ausblick

Literatur

Vorwort

Als ich vor etwa sieben Jahren als Betreuer eines Familienferienlagers mitfuhr, kam es zu einer Situation, die letztlich den Beginn meiner bis heute andauernden Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Drogen und Gesellschaft’ darstellt. Damals herrschte die Situation, dass die Jugendlichen sich dem exzessiven Kiffen (Hanfkonsum) hingaben um dann bei Regenwetter mit Sonnenbrillen beim gemeinsamen Essen zu erscheinen. Die Sonnenbrillen trugen sie, damit man nicht ihre geröteten Augen sehen konnte, welche eventuell auf einen Hanfkonsum Rückschlüsse zuließen. Natürlich fiel das augenscheinlich unnötige Tragen der Sonnenbrillen nur noch mehr auf und machte die Eltern wachsam. Kurze Zeit später wurde ein Jugendlicher mit einer recht ausgeprägten Überdosis und den damit verbundenen Ausfallerscheinungen des Nachts auf einer Wiese liegend aufgefunden. Für den Jugendlichen war die Überdosis angestrebt und die Ausfallerscheinungen erwünschte Wirkung. Für die Eltern die ihn fanden muss sich das Bild, welches sich ihnen bot, recht bizarr und bedrohlich dargestellt haben. Das ganze Ausmaß des Konsums unter allen beteiligten Jugendlichen war schnell aufgeklärt und es wurde ein ‚klärendes Gespräch’ inszeniert, welches jedoch im Eklat endete.

Wie in einer Gerichtverhandlung saßen die Jugendlichen als Angeklagte auf einer Bank, die Eltern ihnen gegenüber, und Wörter wie ‚Rauschgift’ und ‚alle abhängig’ gaben sich die Klinke in die Hand. Anschuldigungen wurden ausgesprochen und der Abbruch des Lagers, bzw. die Entfernung der auffällig gewordenen Jugendlichen wurde in Erwägung gezogen.

Womit die Eltern nicht rechneten, war die Reaktion der ‚Angeklagten’. Diese warfen ihnen vor, ‚doch selber nicht besser zu sein’, wenn sie morgens schon mit dem Bierkasten am Lagerfeuer sitzen. Ihrer Meinung nach sei das ungerecht und die Anschuldigungen nicht gerechtfertigt. Und außerdem hätten die Erwachsenen vom ‚kiffen’ eh keine Ahnung und Alkohol wäre doch die schlimmere Droge. Die Bezeichnung von Alkohol als Droge brachte widerrum die Eltern aus ihrer Fassung, da in ihrer Wahrnehmung Alkohol keine Droge sei und ‚außerdem Kiffen eh was ganz anderes wäre, und mit Alkohol nicht vergleichbar’.

Ich konnte beobachten, dass dieses ‚Gespräch’ auf so unterschiedlichen Niveaus ablief, dass es niemals zu einer für alle Beteiligten zufrieden stellenden Lösung kommen würde. Gesellschaftlich geprägte, Drogen dämonisierende Sichtweisen jenseits der Tatsachen trafen auf jugendlichen Leichtsinn mit emanzipatorischen Ansprüchen.

Ich schlug vor, das Gespräch zu vertagen. Gleichzeitig bot ich an, mich ernsthaft über die Problematik informieren zu wollen um einige Tage später nach einem kurzen Input über das Verhältnis von Gesellschaft und Drogenkonsum als Moderator für ein erneutes Gespräch zur Verfügung zu stehen.

Bei meinem Versuch, mich dem Thema zu nähern, stieß ich schnell auf das akzeptanzorientierte Projekt ‚Drugscouts’, welchem ich seit dem bis heute als freies Mitglied angehöre. Die Weite des Themas und die vielseitigen interdisziplinären Verflechtungen zeigten mir schnell, dass ich mich mit meinem Vorhaben damals deutlich überschätzt hatte. Trotzdem erkannte ich schnell, dass der akzeptanzorientierte Weg derjenige ist, welcher mit meinem Moralverständnis vereinbar war. Die Doppelmoral und die Ignoranz mit der in meinen Augen in der Öffentlichkeit mit dem Thema Drogenkonsum und Sucht umgegangen wird, galt es für mich zu hinterfragen. Abstinenz als nur ein Ziel von vielen möglichen und die Tatsache, seinen eigenen Drogenkonsum auf gelungene Art und Weise in die eigene Lebenswelt integrieren zu können, war für mich eine grundlegende Erkenntnis, die mir zeigte, dass Safer-Use-Kampagnen und Drugchecking sinnvolle und unterstützenswerte Konzepte der akzeptanzorientierten Drogenarbeit sind. Die praktische Arbeit mit dem Projekt ‚Drugscouts’ innerhalb der Partyszene ließ mich erkennen, wie direkt und unmittelbar und gut akzeptiert Angebote der Drogenhilfe sein können, kannte ich doch vorher nur die abschreckenden Unterrichtsmaterialien aus der Schule, und die diesen Materialien widersprechende Realität.

Mit dieser Arbeit möchte ich meinen Teil dazu beitragen, diese neuen Sichtweisen zu verbreiten, in der Hoffnung damit auf offene Ohren zu stoßen und die ein oder andere Hand, die bereit ist zu unterstützen.

1. Einleitung

„Unsere Drogenprobleme wurzeln nicht in den Eigenschaften der Drogen, sondern in der Art und Weise, wie wir mit Drogen umgehen.“ (Cousto, 1999, S. 15)

Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Konsum von bewusstseinsverändernden Substanzen ein mehr oder weniger fester Bestandteil unserer Kultur war und ist. Teilweise sind bestimmte alkoholhaltige Getränke als Lebensmittel deklariert. Man verabredet sich zum ‚Kaffeetrinken’ oder ‚trifft sich auf ein Bier’. Für, als allgemein gesellschaftsfähig bewertete Substanzen wie Koffein, Alkohol und Nikotin, gibt es extra eingerichtete Konsumräume wie Kaffeehäuser, Bars oder Raucherräume und damit verbunden eine regelrechte Drogenkultur. Doch nicht alle konsumierten Substanzen können dieses Privileg für sich verbuchen. Aus diesem Grund werden themenverwandte Begrifflichkeiten wie Droge, Sucht, Abhängigkeit und Drogengebrauch und Missbrauch unterschiedlich diskutiert und sind oft sehr wertend behaftet. Substanzkonsum als solcher scheint jedoch ein weit verbreitetes und mehr oder weniger akzeptiertes und integriertes Verhalten zu sein. Hinter den kulturellen Funktionen versteckt sich aber auch ein riesiger Markt. Hinter diesen marktwirtschaftlichen Interessen treten die der Gesundheitserhaltung manchmal in den Hintergrund.

In den letzten Jahren ist hier zwar ein Paradigmenwechsel beobachtbar, aber dieser bezieht sich nur auf die Diskussion um legalisierte Substanzen. Abstinenz als staatlich verordnetes Allheilmittel verhindert bzw. erschwert eine sachliche und konsumentenorientierte Aufklärung über gesundheitliche Risiken, welche mit dem Konsum illegalisierter Substanzen verbunden sein können. Nur allzuschnell werden entsprechende Hinweise als Aufforderung zum Konsum bewertet und machen somit eine vorurteilsfreie und sachliche Diskussion schwierig. Argumente werden politisiert oder durch die Omnipräsenz von Drogenmythen überhört. Die Existenz von Jugendbewegungen und Subkulturen, in denen Drogenkonsum eine wichtige Rolle spielt, aber auch der verdeckte Konsum illegalisierter Substanzen in allen anderen Gesellschaftsbereichen wird ausgeblendet.

Die Leidtragenden sind die Konsumenten, die sich auf Grund schlechter Informationslagen und der Angst vor Stigmatisierung oder strafrechtlicher Verfolgung nicht genügend über die Risiken ihres jeweiligen Konsums informieren können um sich bewusster und selbstbestimmter für, oder möglicherweise gegen den Konsum zu entscheiden. Gesundheitliche Risiken und Langzeitfolgen aufgrund falscher Dosierung oder ungewollter Einnahme nicht erwünschter Inhaltsstoffe sind die mögliche Folge.

Daraus ergibt sich die Frage, wie das Gesundheitsrisiko, welches mit dem Konsum von legalisierten oder illegalisierten Substanzen einhergehen kann, verringert oder minimiert werden kann. Erst in der jüngeren Vergangenheit sind vereinzelte Anzeichen von einer Emanzipation der Diskussion erkennbar. Das ‚Recht auf Rausch’ wird ebenso angesprochen wie die mögliche Legalisierung verschiedener, als Drogen gebrauchte Substanzen. Im Gegensatz dazu häufen sich die Zeitungsberichte, in denen von steigenden Zahlen von Drogenfunden und von Berichten über Drogentote in Diskotheken die Rede ist. Aufklärungskampagnen gegen Drogenkonsum scheinen nicht zu greifen. Die Prohibitionspolitik der Bundesregierung scheint ineffektiv zu sein. Jugendkulturen und Subkulturen entziehen sich immer mehr der allgemeinen Einsicht. Die Techno-Szene ist die größte Jugendbewegung des 20. Jahrhunderts. Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse schaffen neue Lebenswelten, Netzwerke und soziale Realitäten. Für die Sozialpädagogik und für die professionellen Hilfeeinrichtungen ergibt sich hier eine neue Situation. Wie kann man junge Menschen in diesen Lebenswelten noch effektiv erreichen? Ist Abstinenz als pädagogisches Ziel überhaupt sinnvoll und realistisch? Und welche Alternativen gibt es? Mögliche Antworten bietet hier die verhältnismäßig junge Disziplin der akzeptanzorientierten Drogenarbeit mit ihren Konzepten zu Safer-Use und Drugchecking.

In dieser Arbeit soll es darum gehen, Safer-Use als sinnvolles und zeitgemäßes Instrument der akzeptanzorientierten Drogenhilfe darzustellen und die Wichtigkeit von Drugchecking als eine Methode von Safer-Use herauszuarbeiten.

„Wer die mangelhaften chemischen Kenntnisse und Erfahrungen der

illegalen Betäubungsmittelproduzenten, die fehlende Hygiene und unzureichende technische Ausstattung illegaler Rauschgiftküchen, das wilde Mischen und Strecken von Betäubungsmittelzubereitungen mit Arzneimitteln, Giften und Chemikalien, in verschmutzten Behältnissen, in Kellerräumen und Abbruchhäusern kennt, hat keinen Zweifel daran, daß die Prohibition und die Strafverfolgung Gesundheitsrisiken schaffen, die weit über die gesundheitsschädigenden Wirkungen der Betäubungsmittel selbst hinausgehen.“ (Körner, 1997, S. 3)

Drogenkonsum wird mit Rauschgiftsucht gleichgestellt. Wer Drogen konsumiert wird süchtig. Wer süchtig ist, ist krank und wer krank ist muss behandelt werden. Notfalls gegen seinen Willen.

Ich werde zeigen, dass diese Sichtweisen historisch gewachsene sind, denen bestimmte Menschbilder zugrunde liegen, wobei diese mit der Realität nicht viel gemein haben müssen, sondern aus einer Hilflosigkeit gegenüber der Integration von Drogenkonsum in unsere Gesellschaft heraus entstanden sind. Die Akzeptanzorientierte Drogenarbeit steht für neue Ansätze im Umgang mit Drogen und Rausch, Sucht und Abhängigkeit. Dies darzustellen ist eine Intension dieser Arbeit. Ebenso werde ich zeigen, dass die von mir bereits angesprochenen Methoden Safer-Use und Drugchecking effektive Mittel der Sozialpädagogik sind, niedrigschwellig und direkt auf die Gruppe der Drogengebraucher Einfluss zu nehmen und sie im Sinne der Gesundheitsförderung und Risikominimierung in ihrer Lebenswelt zu erreichen und zu unterstützen.

2. Begriffsklärung

Gleich zu Beginn möchte ich anmerken, dass die Verwendung der Begriffe Rauschgift, Rauschmittel, Betäubungsmittel und andere in Verbindung mit dem Wort Droge oder Drogenkonsum und ähnlichen in der Literatur oft ungeachtet ihrer tatsächlichen Bedeutung verwendet werden. Viele Substanzen welche als Drogen gebraucht werden verursachen weder zwangsläufig einen Rausch, noch sind sie toxisch. Andere Begriffe haben sich trotz teilweise gegensätzlicher Bedeutung so im Sprachgebrauch etabliert, dass sie in diesem, falschen, Sinne trotzdem benutzt werden. Alkohol zum Beispiel lässt sich sowohl als Genussmittel, als Rauschmittel, als Schlafmittel, als Arzneimittel aber auch als Suchtmittel konsumieren. Das Gleiche trifft für alle Substanzen zu. Die jeweilige Konsummotivation aber ist entscheidend für die richtige Formulierung. Abseits davon werden die genannten Attribute scheinbar unhinterfragt benutzt und stehen teilweise im Widerspruch zur Aussage des jeweiligen Texts. Darüber hinaus sind in einigen Formulierungen unterschwellige Wertungen enthalten, welche oft unsachlich und unwissenschaftlich erscheinen.

Ein Beispiel zum Begriff Rauschmittel:

„Sie [die Drogen d.V.] galten zu früheren Zeiten überwiegend als Heilmittel, meist pflanzlicher Herkunft. Heute versteht man unter Drogen alle Arten von Rauschmitteln – Stoffe, die Menschen zu sich nehmen, um ihr zentrales Nervensystem zu beeinflussen.“ (Hurrelmann,2000, S. 42)

Die Verwendung der Formulierung Rauschmittel impliziert die Konsummotivation, einen Rausch bzw. einen rauschhaften Zustand zu erzeugen. Substanz bezeichnet die chemische Zusammensetzung eines Stoffs oder Stoffgemisch. Unabhängig, vom Zweck, zu dem man sie gebrauchen kann. Somit ist Substanz ein neutraler Begriff. Ein Mittel bezeichnet die Funktion oder den Zweck, abhängig von der sozialen Interpretation. Gibt man also einer Substanz eine bestimmte Funktion oder Zweck, so wird sie damit zum Mittel.

Eine Beeinflussung des Zentralen Nervensystems muss allerdings nicht in jedem Fall ein Rausch sein. Sicherlich könnte man nun an dieser Stelle über das Wort Rausch lange diskutieren, aber man wird mir zustimmen, wenn ich sage, vorausgesetzt, dass man Koffein als Droge bezeichnet, dass niemand auf die Idee kommen würde, die anregende Wirkung einer Tasse Kaffee als Rausch zu bezeichnen. Natürlich ist ein Konsum von Kaffe mit der Intension, einen Rausch zu erzeugen möglich, aber ich unterstelle dem Verfasser der oben zitierten Textstelle, dass er das so nicht gemeint hat.

Ein weiteres gutes Beispiel ist das Konstrukt ‚Drogenmissbrauch’. Allgemeinverständlich betrachtet bedeutet dies so viel wie maßloser Konsum und süchtiges Verhalten zusammen. Genau genommen ist aber das Gegenteil der Fall: Ein Stoff wird zur Droge, in dem ich ihn als Droge konsumiere. Der Gebrauch von Stoffen als Droge ist also Drogengebrauch. Drogenmissbrauch wäre demzufolge eine davon abweichende oder gegensätzliche Handlung, zum Beispiel Ecstasy- Pillen beim Kartenspielen als Spielgeld zu ‚missbrauchen’.

Beispiele wie dieses finden sich viele. Ein Grund für diese ungenauen, umgangssprachlichen Bezeichnungen sind vielleicht historisch-gesellschaftlich geprägte Bilder von Drogen, ihren Wirkungen und ihren Bedeutungen auf die ich später noch eingehen werde. Ich möchte daher versuchen, mich auf objektive und wertneutrale Begriffe zu stützen, auch wenn dies die häufige Verwendung der gleichen Begriffe nach sich zieht und die sprachliche Flexibilität dieser Arbeit etwas schmälert.

2.1 Droge

„Drogen sind Genussmittel, wenn sie mäßig und kontrolliert genossen werden, Drogen sind Hilfsmittel zur Bewältigung psychischer Alltagsprobleme, Drogen sind Betäubungsmittel zur Linderung von körperlichem Schmerz, Drogen sind Suchtmittel, wenn der Konsum außer Kontrolle gerät, Drogen sind Zahlungsmittel zur Abwicklung illegaler Waffendeals, Drogen sind Druckmittel zur Durchsetzung autoritärer Law-and-order-Strategien. Das ist die Realität.“ (Amendt, 2000, S. 209)

Der Begriff „Droge“ bezeichnet ursprünglich „getrocknete Arzneipflanzen oder deren Teile, die direkt oder in verschiedenen Zubereitungen als Heilmittel verwendet oder aus denen Wirkstoffe isoliert werden“ (PSCHYREMBEL 1994, S. 345).

Der Begriff der Droge findet seine Wurzeln in der mittelalterlichen Medizin und bezieht sich auf verschiedene Pflanzenteile die zu Heilungszwecken verwandt wurden. Heutzutage ist dieser Begriff eher alltagsgeprägt und steht im Allgemeinverständnis für illegalisierte Substanzen. Definitionen zum Begriff, oder besser Definitionsversuche, gibt es viele. Von der eingangs erwähnten recht klinischen Definition bis hin zu Gesetzestexten wie das Betäubungsmittelgesetz sind sie alle mehr oder weniger ungenau, je nach dem in welchen Bedeutungskontext sie benutzt werden:

Die im Betäubungsmittelgesetzt getroffene Regelung definiert alle Stoffe als Betäubungsmittel, welche im Anhang I-III aufgeführt sind (BtMG, Anhang I-III). Tatsächlich ist nur ein kleiner Teil der dort aufgeführten Substanzen zu der Substanzklasse der Narkotika (Betäubungsmittel) zu zählen. Im Gegensatz dazu treffen SCHEERER und VOGT in ihrem Buch eine Aussage die sich als eine möglichst wertneutrale versteht und von der Verwendung behafteter Begriffe wie Rauschmittel oder Rauschgift absieht. Ihr Drogenbegriff bezieht sich auf Mittel und Substanzen welche

„aufgrund ihrer chemischen Natur Strukturen oder Funktionen im lebenden Organismus verändern, wobei sich diese Veränderungen insbesondere in den Sinnesempfindungen, in der Stimmungslage, im Bewusstsein oder in anderen psychischen Bereichen oder im Verhalten bemerkbar machen“ (Scheerer; Vogt, 1989, S.6)

An dieser Art der neutralen, funktionalistischen Herangehensweise möchte ich mich für den folgenden Teil meiner Arbeit orientieren. Ebenso möchte ich für ausführliche Informationen über spezifische Substanzen den Besuch des Internetauftritts des Projektes Drugscouts unter www.drugscouts.de empfehlen. Im Verlauf der Arbeit werden einige Drogen genannt werden, deren genaue pharmakologischen Eigenschaften, sowie Herkunft und übliche Zubereitungen zu erklären den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Aus diesem Grund verzichte ich generell auf die Auflistung der üblicherweise als Partydrogen bezeichneten Substanzen und verweise auf die oben von mir erwähnte Internetseite.

2.2 Sucht

Auch die Ursprünge des Begriffs Sucht reichen weit in die Zeit zurück. Vom germanischen ‚siech’ oder ‚siechen’ für Kranksein reichen diese Wurzeln bis in unsere Zeit hinein und manifestieren sich in volkstümlichen Namen für Krankheiten wie Gelbsucht, Schwindsucht oder Wassersucht (vgl. Scheerer, 1995,

S. 10f.) Dies erklärt auch den Ursprung der pathologischen Perspektive vieler Definitionsversuche, in denen Sucht als Krankheit und damit verbunden der Konsument als Patient, und damit als behandlungsbedürftig etikettiert wird. STIMMER definiert Sucht folgendermaßen:

„Unter Sucht versteht man ein unabweisbares, starkes Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand. […] Man unterscheidet hier auch zwischen den stoffgebundenen und den stoffungebundenen Süchten. Das süchtige Verhalten entzieht sich zunehmend der wissentlichen Kontrolle und damit der Verantwortung des Betroffenen. Es muss immer wieder von Neuem befriedigt werden, der Süchtige kann von seiner Sucht nicht lassen, und häufig kommt es zu Dosissteigerungen. Weiterhin sind schädigende Folgen im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich für süchtiges Verhalten charakteristisch.“ (Stimmer, 1998, S. 502 f.)

Wie ich später noch zeigen werde, ist diese Definition falsch. Die Aussage, der Süchtige könne von seiner Sucht nicht lassen ist angesichts bekannter Forschungsergebnisse nicht haltbar (vgl. Barsch, 2004). Trotzdem zeigt sie einen, für diese Arbeit wichtigen Aspekt zum Verständnis von Sucht:

Deutlich wird hier, dass Sucht als ein Verhalten zu betrachten ist und damit grundsätzlich jedes Verhalten süchtige Züge annehmen kann. Deutlich tritt hier die Pathologisierung des Süchtigen zu Tage. Dies ist in soweit dogmatisch, da dadurch eine Institutionalisierung von Sucht vorbestimmt, und ein selbstbestimmter Ausstieg aus der Sucht bzw. ein lebenslanges Arrangieren mit Sucht quasi ad absurdum geführt wird. Eng verwandt zum Suchtbegriff steht das Phänomen der Abhängigkeit und wird in der Literatur meistens als Synonym verwandt. Dem schließe ich mich in dieser Arbeit an. Eine neutralere Art von Definition gibt SCHEERER:

„Sucht wird als hochgradige Fixierung bei der Suche nach einer Gefühlserfahrung verstanden, die sich das Individuum durch wiederholte Luststimulierung verschafft. Entscheidend ist nicht die Substanz, die konsumiert wird, sondern die Stärke, in der jemand sein Glücksstreben auf ein einziges Mittel konzentriert. Sucht ist ein bis zur Existenzgefährdung übersteigertes, verstandesmäßig unbeherrschtes und immer wiederkehrendes Verlangen nach einer Erfahrung, das alle anderen Werte und Aktivitäten in den Hintergrund drängt. Sucht ist streng genommen der missglückte Versuch einer Verewigung des Wohlbefindens, und im Gegensatz zum gelegentlichen Rausch ist es die Eigenart der Sucht, dass sie die Periodik des Genusses, den zeitlichen Wechsel von Rausch und Nüchternheit auf ein Minimum (und damit letztlich auf ein Kontinuum) zu bringen versucht.“ (zitiert nach Scheerer, Sebastian: Spezial: Sucht, Rohwohlt, Hamburg, 1995; http://www.suchtzentrum.de/drugscouts/dsv3/a-z/S/sucht.html, gesichtet am 29.05.2007)

In der Regel wird eine Unterscheidung in physische Sucht/ Abhängigkeit und psychische Sucht/ Abhängigkeit vorgenommen. Die physische Abhängigkeit meint das Vorhandensein von Entzugserscheinungen. Die psychische Abhängigkeit orientiert sich vielmehr an einem starken Verlangen nach einem Erlebniszustand. Für meine Arbeit ist es nicht elementar, eine genaue Version einer Definition festzulegen, da der Begriff Sucht zwar mein Thema tangiert, aber es nicht bestimmt. Trotzdem ist die Unterschiedlichkeit der Definitionsversuche von Sucht ein Maß für die unterschiedliche Wahrnehmung von Sucht. STÖVER entfernt sich noch weiter vom pathologisch orientierten Ansatz und formuliert dagegen auch positive Aspekte von Sucht:

„Sucht ist ein wesentlicher und nicht wegzudenkender Bestandteil unserer Gesellschaft; weniger im engen Sinne von Krankheit, sondern als Synonym für intensives, z.T. unreflektiertes, zwanghaftes Handeln, das aber letztlich auch Funktionalitäten, Vorteile aufweist, die uns Sicherheit, Struktur, kurz: Sinn im Alltag geben.“ (Stöver, 1999, S. 18)

2.2.1 verändertes Suchtverständnis

Ich möchte in diesem Abschnitt deutlich machen, dass entgegen zur landläufigen Meinung der klassischen Suchtspirale aus der es keinen Ausweg gibt, ein verändertes Verständnis von Sucht existiert. Dieses veränderte Verständnis ist eine Voraussetzung für meine Argumentation.

Die für meine Arbeit wichtige Erkenntnis aus der Suchtforschung ist die Existenz von Spontanheilern und Selbstheilern, welche ohne professionelle Hilfe abstinent werden können (vgl. Couso, 2002). Das Praktizieren kontrollierter Drogengebrauchsmuster, zum Beispiel bei den Substanzen Heroin und Ecstasy, und der Dauergebrauch psychotroper Substanzen ohne nennenswerte physische und psychische Schäden sorgen für Aufsehen. Die Möglichkeit einer erfolgreichen Einbindung einer kulturfremden Substanz in eine Gesellschaft im Sinne der Abwesenheit weit reichender negativer Folgen trug zu diesem Wandel bei. Verbindendes Element war die Einsicht, dass ein bestimmtes Verhalten immer an eine zeitliche und kulturelle Relativität gebunden ist (vgl. Schroers, Stöver,).

Mit diesen Erkenntnissen musste die Ansicht von der generellen und unbeherrschbaren Destruktivität von psychotropen Substanzen ins Wanken geraten.

STÖVER (vgl. Stöver, 1999) geht so weit, zu behaupten, dass der einzige Unterschied zwischen Süchtigen und Nicht-Süchtigen die erhöhte Selbstzerstörungsgeschwindigkeit ist. Nichtraucher sterben eben auch. Wo ist also die Grenze, bzw. der Übergang zur Sucht? In diesem Kontext wird Sucht nicht mehr als Krankheit, sondern als systematisches Geschehen betrachtet, welches in Krankheit münden kann (aber nicht muss) wenn alternative Ressourcen bedroht oder bereits verschwunden sind. Auf Grund eines gesellschaftlichen Wandels der oft unter den Schlagwörtern Pluralisierung der Lebenslagen und Individualisierung von Lebenskonzepten u.ä. diskutiert wird, kommt es zur Auflösung einer dipolaren Betrachtungsweise von Abstinenz vs. Akzeptanz. Abstinenz ist nach STÖVER eine Forderung von Minderheiten für Minderheiten. Was in bestimmten Subkulturen unter dem Begriff ‚Straight Edge’ (die absolute Abstinenz gegenüber allen als Drogen konsumierten Substanzen und strenger Vegetarismus) praktiziert wird, entpuppt sich oft als gelebte Doppelmoral.

Was meint Abstinenz eigentlich? Und wer kann von sich sagen wirklich abstinent zu sein. Sofort drängt sich die Frage auf, ‚abstinent von was’? Und für wie lange? Kaffee ja, Tabak nein, Cannabis ab und zu? Medikamente ja, Alkohol nicht?

An dieser Stelle ist es wichtig den systematischen Charakter der Problematik deutlich zu machen. Widersprüchlichkeiten sind hier normal und kein Zeichen einer verfehlten Diskussion. Vielmehr zeigen diese, dass dieses Feld immer im gesellschaftlichen, historischen, politischen usw. Kontext zu betrachten ist.

SCHMIDT-SEMISCH unterscheidet drei große Kategorien der Suchtmodelle:

- sozialwissenschaftliche und psychologische Defektmodelle
- naturwissenschaftliche Modelle
- konstruktivistische und selbstreflexive Modelle

„Eine entscheidende Neubewertung betrifft die Funktionalität der Sucht: Drogenkonsum innerhalb bestimmter (Sub-)Kulturen, von peer-groups, in besonderen biographischen Phasen und innerhalb bestimmter settings macht und verschafft (Lebens-)Sinn. Der Konsum und die Erfahrung und Übernahme des Sinn- und Bedeutungszusammenhangs mit ihrem jeweiligen Symbolgehalt werden erlernt und (sub-)kulturell ständig verändert. Genuss- und Erlebnisqualitäten bzw. Zuschreibungen stellen nur reduzierte Ausschnitte der komplexen Bedeutungswelt der Drogen in unserer Gesellschaft dar. Alkoholismus oder andere Abhängigkeiten auf Willensschwäche, Unsicherheit oder ein krankhaftes körperliches Verlangen zu reduzieren, wird dem Phänomen Abhängigkeit nicht gerecht, sondern liefert allenfalls den Betroffenen eine Erklärungsmatrix ihres Verhaltens, den Helfern eine Grundlage zur externen

Intervention und zur beständigen Produktion von Leidensdruck (mit ziemlich vielen Mitteln). Die Gleichung abhängig = willensschwach/krank/hilfebedürftig […] und abstinent = stark/kontrolliert/geheilt bildet wieder eines der Schwarz- Weiß-Muster, welche die Drogendiskussionen so erschweren.“ (Stöver,1999, S. 20)

„Diese Alternativen bestehen vor allem in der Unterstützung eines risikoarmen Umgangs mit Drogen und darin, ein Leben ohne (oder mit weniger) Drogen vorstellbar und ein Stück weit lebbar zu machen.“ (Stöver, 1999, S. 21)

„Zu den wesentlichen, heute wissenschaftlich weitgehend akzeptierten Tatsachen gehören folgende:

- bestimmte Formen des Konsums psychoaktiver Substanzen sind durchaus mit physischer, psychischer und sozialer Gesundheit vereinbar.
- Drogenkonsum ist nicht nur destruktiv, sondern kann auch persönlichkeitsfördernde und sogar schützende Aspekte haben.
- Drogenkonsum geht keineswegs zwangsläufig mit und/ oder psychischen Störungen einher.
- Drogenkonsum unterminiert nicht per se die Gesellschaft und Gesundheit der Konsumenten“

(vgl. Barsch, 2004, S. 29)

Sucht stellt somit in der Literatur keinen festen Gegenstand sondern eine ganze Kategorie von Gegenständen dar. Wichtig für meine Arbeit sind die Aspekte des veränderten Suchtverständnisses. Sucht, und damit auch Drogenkonsum können zeitlich begrenzte Lebensabschnittsphasen darstellen. Sucht ist nicht zwangsläufig eine Folge von Drogenkonsum, ebenso wie auf Drogenkonsum nicht zwangsläufig Sucht folgen muss. Der Konsum illegalisierter Substanzen kann in die Lebenswelt eines Einzelnen integrierbar sein und bedeutet nicht den unmittelbaren sozialen

Abstieg. Diese Tatsache hat Angebote wie Safer-Use und Drug-Checking nötig gemacht, auf die ich später eingehen werde.

3. Drogenkonsum in modernen, pluralen Gesellschaften

„Die Mehrheit aller Konsumenten und Konsumentinnen von legalen wie von illegalen Drogen nimmt sozial integriert und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teil und ist auf keines der Versorgungssysteme angewiesen. Sie nehmen Ecstasy und werfen Psychopillen, sie inhalieren Nikotin und ziehen Marihuana, sie drücken Heroin und sniefen Koks, sie trinken Bier und kippen Schnaps, ohne aufzufallen und ohne auszusteigen. Das ist die Realität, der mit moralischen Appellen und prohibitiven Maßnahmen nicht beizukommen ist. Der dauerhafte exzessive Konsum von psychoaktiven Substanzen ist höchst riskant, daran kann kein Zweifel bestehen. […] Doch die Bereitschaft der Subjekte, Risiken in Kauf zu nehmen, ist gewachsen – und sie wird weiter wachsen. Deshalb wird die Erziehung zur Drogenmündigkeit und die Befähigung zum Risikomanagement zu einer der wichtigsten Aufgaben einer realitätsgerechten Präventionspolitik werden.“ (Amendt, 2000, S. 198)

Die traditionelle Fokussierung unserer abendländischen Kultur auf eine Kulturdroge, in unserem Fall Alkohol, hat sich längst aufgelöst. Es lässt sich reflexiv beobachten, dass mit einer Horizonterweiterung unserer Gesellschaft auch neue Substanzen den Weg in den Kreis der kulturinhärenten Drogen gefunden haben. Die Kolonialzeit brachte den Kaffee, den Tabak. Die Epoche der Aufklärung, und damit auch die Emanzipation der Wissenschaften führte zur Entdeckung weiterer Substanzen. Die Isolierung der reinen Wirkstoffe aus Naturdrogen brachte nicht nur den Segen neuer Medikamente mit sich, sondern auch neue Wege, veränderte Bewusstseinszustände zu induzieren. Heutzutage hat der Substanzkonsum in vielen Alltagsbereichen Einzug gehalten und gehört zur Normalität. Ob nun als Genuss-, Rausch- oder Arzneimittel konsumiert spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle und unterstreicht nur noch mehr den pluralen, mulitintensionalen Charakter des Drogenkonsums. Somit kann jeder Lebensstil sein eigenes Konsummuster enthalten. Das Spektrum verfügbarer Substanzen erlaubt es dem Konsumenten, den Konsum an das ganze Spektrum seiner persönlichen Lebenswelt anzupassen wie ein Schneider den Anzug an den Kunden. :

„So findet die ‚Pluralisierung der Lebensstile’ ihre Entsprechung in der

‚Pluralisierung der Drogenkonsumkultur. […] Die Auseinandersetzung mit psychoaktiven Substanzen ist in unserer Gesellschaft für (fast) alle Bürger eine Herausforderung, der sie sich in verschiedenen Lebensphasen auf je spezifische Weise stellen müssen. Zu einem der aktuellen Situation angemessenen Umgang mit diesen Drogen zu finden, ist somit ein lebenslanger Prozess. Ein Blick auf die legal zugänglichen Drogen verdeutlicht, dass sich dabei nur wenige Menschen für die völlige Abstinenz entscheiden.“ (Barsch, 2004, S. 30)

3.1 Grundströmungen der drogenpolitischen Diskussion, öffentliche Wahrnehmung und zugrunde liegende Menschenbilder

Wie schon der Definitionsversuch von Sucht zeigen konnte, gibt es in unserer Gesellschaft die unterschiedlichsten Betrachtungs- und Bewertungsweisen von Sucht, und dem vorausgehend, von Drogenkonsum. Die Art der Betrachtung lässt auf gewisse Menschbilder schließen, welche ihr zugrunde liegen. Wichtig ist dies für diese Arbeit in so weit, als dass das Bewusstsein über diese Sichtweisen die Notwendigkeit eines Umdenkens erkennen lässt und eine radikal-akzeptierende Grundhaltung gegenüber drogengebrauchenden Menschen nachvollziehbar macht.

3.1.1 Drogenkonsum als kriminell-abweichendes Verhalten

BÖHNISCH bezieht sich auf E. Durkheim (1893/1897). In dessen Anomieparadigma beschreibt er Anomie folgendermaßen:

„Anomie ist ein sozialer Zustand, in dem das Kollektivbewusstsein geschwächt ist und die Handlungsziele unklar werden, weil die in der Gesellschaft verankerten moralischen Überzeugungen versagen“ (Böhnisch, 1999, S. 26)

Damit ist Anomie und damit verbundenes abweichendes Verhalten integraler Bestandteil einer jeden modernen Industriegesellschaft. Abweichendes Verhalten ist damit quasi ‚normal’. Dadurch bekommt es in einem gewissen Sinne die Rolle eines Zivilisationsmotors. Das besondere am Anomieparadigma ist nun aber die Überwindung der Täterzentrierung und die Fokussierung auf die eigentliche Tat:

„Daher können nicht individuelle Täter Gegenstand der Analyse werden (sie sind ja prinzipiell austauschbar), sondern die Tat selbst steht im Zentrum der Überlegungen. […] Die strukturelle Diskrepanz zwischen dem, was die Gesellschaft kulturell und sozial (immer wieder neu und abgewandelt) vorgibt, und den Mitteln der Individuen, die gesellschaftlichen Ziele zu erreichen, führt zur Anomie und in deren Gefolge – weil damit auch die Individuen nicht nur die Bindung zur Gesellschaft, sondern nach der Integrationslogik der modernen Arbeitsteilung auch untereinander soziale Bindung und Gegenseitigkeit verloren haben – zu abweichendem Verhalten. “ (BÖHNISCH, 1999, S. 26 f.)

Der Wandel von der vorindustriellen, eher traditionell geprägten Gesellschaft zu einer modernen, pluralisierten und individualisierten, führt zu Strukturveränderungen. Das Generationsprinzip der Normaushandlung und Normdurchsetzung ist nach BÖHNISCH nicht mehr so leicht kalkulierbar. Individualisierung und die Herausbildung von (Sub-)Kulturen machen eine tradierte Normaushandlung schwierig. Tatsächlich scheint abweichendes Verhalten als eine normale Komponente des öffentlichen Lebens in der Gesellschaft angekommen zu sein.

Darum ist es wichtig, abweichendes Verhalten nicht als Qualität zu verstehen, sondern als Ergebnis eines Interaktionsprozesses zwischen einem handelnden Individuum und der Gesellschaft, welche Erwartungen an das Individuum stellt. Es entsteht, indem es als solches empfunden und bezeichnet wird:

„Abweichendes Verhalten ist keine Qualität, die im Verhalten selbst liegt, sondern in der Interaktion zwischen einem Menschen, der eine Handlung begeht, und Menschen, die darauf reagieren.“ (Becker, 1981, S. 13)

Diese Wahrnehmung orientiert sich an Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens, welche Handlungen gebilligt werden oder erwünscht sind, und welche unerwünscht sind, und gegebenenfalls sanktioniert werden. Der scheinbare Idealtyp einer solchen Regel ist die Gesetzgebung mit ihrem Anspruch der Eindeutigkeit und Omnipräsenz. Eine solche Regel zu brechen stellt nach BECKER allerdings noch kein abweichendes Verhalten dar. Das Verhalten muss entdeckt werden. Im Falle einer Wahrnehmung des Verhaltens obliegt die Bewertung desselben als abweichend der Gruppe, welche an der Durchsetzung der erstellten Regeln Interesse hat. Diese Gruppe verfügt in der Regel gleichzeitig über die Macht, das gezeigte Verhalten zu sanktionieren, zu strafen. Diese Reaktion ist allerdings nicht immer gleich. Sie kann mit den gesellschaftlichen, persönlichen und zeitlichen Umständen variieren. Als Ergebnis bedeutet das, dass eine Person für ein gezeigtes Verhalten, zum Beispiel der Konsum einer illegalisierten (unerwünschten) Substanz, in einer Situation drakonische Strafen zu erwarten hat, in einer anderen bleibt das Verhalten möglicherweise folgenlos. Daraus kann man schlussfolgern, dass die Reaktion davon abhängt, wer das Verhalten zeigt, und wer es beurteilt und in welchen chronologisch-gesellschaftlichen Kontext die Situation verortet ist.

3.1.2 Abweichendes Verhalten und (jugendliche)Subkultur

Die Theorie der Subkultur geht zurück auf die ‚Chicagoer-Schule’ und wurde in den 30iger Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA formuliert. Es ging darum zu erklären, wie es den ethnisch pluralen Gruppen, welche in dieser Zeit in die vereinigten Staaten emigrierten, gelang, sich in die dort etablierten gesellschaftlichen Werte und Normen zu integrieren, und dennoch ihre eigenen kulturellen Traditionen und Bezüge beizubehalten. Dies, so BÖHNISCH, gelang, und gelingt bis heute, durch die Bildung von Subkulturen. Strukturell betrachtet bedeutet das, dass sich innerhalb einer Gesellschaft Gruppen sozialräumlich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen. Bis hin zur Ghettoisierung. Diese Art der Abgrenzung geschieht durch die Aufstellung eigener Norm- und Wertsysteme. Somit sind Subkulturen als ein sozialstrukureller Mechanismus zu verstehen, der es möglich macht, das teilweise gegensätzliche und widersprüchliche Normen des Zusammenlebens nebeneinander bestehen können.

Dieses Prinzip hat Auswirkungen auf abweichendes Verhalten:

„Abweichendes Verhalten tritt ein, wenn die Normen einer Subkultur auch dann gegenüber der Gesellschaft vertreten und befolgt werden, wenn sie deren

Normen widersprechen, wenn also die Balance zwischen subkultureller und gesamtgesellschaftlicher Normorientierung – hier liegt auch der anomietheoretische Einschlag des Subkulurkonzepts – nicht mehr gegeben ist.“ (Böhnisch, 1999, S. 57)

In diesem Licht betrachtet liegt die Vermutung nahe, dass der Konsum illegalisierter Substanzen als ein abweichendes Verhalten eine gesellschaftliche Funktion erfüllt, ja, als Notwendigkeit betrachtet werden könnte, die sich immer wieder aus der Gesellschaft heraus allegorisiert. Vorausgesetzt, man akzeptiert die aktuellen Verhältnisse als diejenigen, die dieses Verhalten provozieren. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, in wie weit eine Verfolgung und Bestrafung dieses Phänomens überhaupt Sinn macht, oder ob hier nicht Ressourcen verbraucht werden, die, anders eingesetzt, möglicherweise für die Gemeinschaft vorteilhaftere Effekte erbringen könnten.

3.1.3 Drogenkonsum als sozial erlerntes Verhalten

Im Zuge der Sozialisation nimmt das Soziale Lernen eine zentrale Rolle im Entwicklungsverlauf von Jugendlichen ein. Entsprechend seiner Möglichkeiten und vorhandenen Perspektiven sucht sich das Individuum Bezugsgruppen, wobei das Maß der Attraktivität entscheidend für die Wahl der Gruppe ist. Nach BÖHNISCH misst sich die Attraktivität einer Gruppe daran, in wie weit das Individuum in ihr Selbstwertsteigerung und soziale Anerkennung erfahren kann. Schließt die Teilhabe in der entsprechenden Gruppe deviantes Verhalten ein, so hängt es wiederum davon ab, ob das Verhalten übernommen wird oder nicht, in wie weit Techniken der ‚Neutralisierung’, also die Abwehr von Schuldgefühlen und Rückbezügen zu früheren Verhalten, angewandt werden können.

In einer Pluralen Gesellschaft wie unserer, mit nichthomogenen Wert- und Normvorstellungen, existieren viele alternative soziale Bezugssysteme. Gesellschaftliche Teilhabe kann sich darum nicht primär am übergeordneten System orientieren, sondern an der spezifischen Gruppe oder auch an der Subkultur, zu der sich das Subjekt zugehörig fühlt. Somit ist das Hineinwachsen in konventionelle und unkonventionelle gesellschaftliche Bindungen ein Aspekt von Sozialisation, bei dem es letztlich keine Frage der Qualität ist, ob ein übernommenes Normgefüge ‚allgemein’ akzeptiert ist, oder nicht. Die Wahl der Bezugsgruppe wird abhängig von den eigenen Interessen und persönlich vorhanden Handlungsalternativen getroffen. Die Lernmotive für ein bestimmtes Verhalten sind dabei gleich, die Inhalte allerdings unterschiedlich. So kann man die Annahme treffen, dass eine pluralistisch angelegte Gesellschaft die Ausbildung von einem als deviant bewertetes Verhalten provoziert. Für mein Thema bedeutet das, dass, wenn es subkulturelle Formen gibt, in denen Drogenkonsum, und vor allem der Konsum illegalisierter Drogen, nicht nur allgemein akzeptiert und als erstrebenswert erachtet wird, es für das Subjekt, welches nach Teilhabe in dieser Gruppe strebt notwendig ist, dieses Verhalten im Sinne von Sozialen Lernen zu übernehmen und in sein eigenes Norm- und Wertsystem möglichst widerstandsfrei zu integrieren. Ein wichtiges Element der Interaktion, welches das Individuum dahingehend unterstützt, bildet die peer-group, die durch Kontakte das entsprechende Verhalten vorlebt. Somit handelt die Person den vermittelten Inhalten entsprechend.

Gestützt wird dies von BECKER, wonach der Verlauf des Konsumverhaltens maßgeblich davon abhängig ist, in wie weit das Verhalten im Bezug zur Gruppe eine ‚Wertsteigerung’ der eigenen Person beinhaltet. Wird das Verhalten (Konsum illegalisierter Substanzen) als sinnvoll und gewinnbringend bewertet, entwickelt das Subjekt eine alternative Bewertung seines Verhaltens, die von denen der übergeordneten Gesellschaft abweichen, und von dieser auch so bezeichnet werden können. Mit einer längerfristigen Beibehaltung des Verhaltens nimmt die Person möglicherweise zunehmend Differenzen zwischen dem gesellschaftlich geprägten Vorstellungen des Selbigen und den eigenen, eventuell davon abweichenden Erfahrungen wahr. Dies macht eine individuelle generalisierte Neubewertung und Neustrukturierung des normativen und moralischen Handlungshorizonts der spezifischen Situation möglich. Das konventionelle Moralverständnis von illegalisiertem Drogenkonsum wird revidiert und durch emanzipierte Auffassungen ersetzt (vgl. Strieder, 2001, S. 107).

Drogenkonsum muss nicht immer die Folge defizitärer Entwicklung oder mangelnder Handlungsalternativen sein. Ebenso kann der Konsum illegalisierter Substanzen ein Aspekt von gesellschaftlicher Teilhabe darstellen. Somit wird auch das Bild von ‚kontrollierten und integrierten Nutzen (Usern) illegalisierter Substanzen nachvollziehbarer.

3.1.4 Drogenkonsumenten als Kranke

Das Grundkonstrukt bei der Betrachtung von Drogenkonsumenten als Kranke lässt sich auf den Begriff des ‚Defizit-Wesen’ (vgl. Weber / Schneider, 1993, S. 47) reduzieren. Demnach ist die Handlungsursache im Persönlichkeitsprofil des Konsumenten zu finden. Hier existieren zwei dominante Argumentationsmuster, das Krankheitsmodell und das Defizitmodell. Erstes geht von einer ‚zur Sucht prädisponierten Persönlichkeit’ aus und bezieht sich dabei auf die pathologische Auslegung von Sucht.

Das Defizitmodell vertritt die Annahme einer ‚aufgrund von bestimmten Sozialisationsbedingungen geschädigten Persönlichkeit’ (vgl. Kettner, 2002).

Innerhalb dieses Verständnisses werden Drogenkonsumenten als „ichentkernt, willensschwach, handlungsunfähig, neurotisch, konfliktbesetzt, narzisstisch gestört und überhaupt ‚schwer süchtig‘“ angesehen. (SCHNEIDER 1996, S. 14)

Zurückzuführen ist diese medizinisch geprägte Sichtweise auf die damalige Hilflosigkeit, mit einem so vielschichtigen und interdisziplinären Begriff, wie Sucht, umzugehen. Mit der Etablierung der Psychiatrie als autonome medizinische Fachrichtung war eine Institution entstanden, die vermeintlich wie geschaffen war, die ‚Problemfälle’ aufzufangen und zu kategorisieren und damit behandelbar zu machen. Dies setzt allerdings eine Etikettierung als krank voraus.

Die wissenschaftliche Diskussion des Themas und die Fachliteratur bewegten sich vorwiegend in einem psychiatrisch-pathologischen Radius und waren eine Ursache für die, bis teilweise in die heutige Zeit hineinreichende, dominierende pharmakologische Auffassung von Suchtentstehung und Suchtverlauf. (vgl. Scheerer / Vogt, 1989)

Für den Umgang mit den Konsumenten von illegalisierten Substanzen ist dieses Konstrukt äußerst zweckdienlich. Die Logik ist bestechend: Dadurch, dass ein Individuum als krank etikettiert wird, scheint die Notwendigkeit von Hilfe nachgewiesen. Diese erfolgt institutionalisiert und ist straff organisiert.

Excerpt out of 104 pages

Details

Title
Safer Use im Rahmen der Akzeptanzorientierten Drogenarbeit
College
Martin Luther University
Grade
2,0
Author
Year
2006
Pages
104
Catalog Number
V118485
ISBN (eBook)
9783640212941
File size
641 KB
Language
German
Keywords
Safer, Rahmen, Akzeptanzorientierten, Drogenarbeit
Quote paper
Diplompädagoge Sven Winter (Author), 2006, Safer Use im Rahmen der Akzeptanzorientierten Drogenarbeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118485

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