Der „Krieg niederer Intensität“ in Chiapas: Die Bedeutung paramilitärischer Gruppen als Teil der staatlichen Aufstandsbekämpfung


Dossier / Travail de Séminaire, 2008

28 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis:

I. Einleitung

II. Hauptteil
1. Historischer Hintergrund
1.1. Die Bauernpolitik der mexikanischen Regierung
1.2. Der zapatistische Aufstand von
2. Aufstandsbekämpfung durch die Regierung
2.1. Offizielle Strategie
2.1.1. Verhandlungen
2.1.2. Militarisierung
2.2. Inoffizielle Strategie
2.2.1. Paramilitarisierung
2.2.2. Zusammenhänge zwischen Regierung und Paramilitärs
2.2.3. Der „Krieg niederer Intensität“
3. Regierungswechsel = Veränderung?

III. Fazit

IV. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Am 22. Dezember 1997 kam es im mexikanischen Bundesstaat Chiapas zu einem Ausbruch der Gewalt. Die Ansiedlung Acteal im Landkreis Chenalhó wurde von mehreren Dutzend Männern überfallen. Mit großkalibrigen Gewehren schossen diese auf die wehrlosen Bewohner ein.[1] Die meisten Opfer waren aus kurzer Distanz in Rücken und Genick erschossen worden. Die von den Angreifern benutzten Gewehre und Munition waren nicht frei verkäuflich und der Armee vorbehalten. Anschließend verstümmelten die Täter ihre Opfer mit Macheten. Dabei wurden einigen die Hände und Füße abgehackt, schwangeren Frauen die Bäuche aufgeschlitzt und die Embryos herausgerissen. Vielen Kindern wurden die Köpfe aufgeschlagen.[2]

Bei dem Massaker von Acteal kamen insgesamt 45 Menschen ums Leben. Es wurden 20 Frauen, davon waren 4 schwanger, 18 Kinder und 7 erwachsene Männer getötet, 25 Personen erlitten schwere Verletzungen.[3] Die Polizei, die sich in nur zweihundert Metern Entfernung vom Tatort aufhielt, unternahm nichts um den, sich über mehrere Stunden hinziehenden, Massenmord zu verhindern.[4]

Wer waren die Angreifer?

Was war ihr Motiv?

Wie konnte es zu einem derart brutalen Gewaltakt kommen?

Wie kamen sie an die Waffen der Armee?

Warum griff die Polizei nicht ein?

Die folgende Arbeit versucht die Zusammenhänge, die zum Massaker von Acteal führten, nachzuvollziehen und Antworten zu finden. Dazu wird zunächst die Beziehung zwischen Regierung und Bauern in der Vergangenheit seit der Mexikanischen Revolution skizziert, bevor auf die einschneidenden Ereignisse des zapatistischen Aufstandes von 1994 eingegangen wird, der das Leben in Chiapas nachhaltig verändert hat.

Eine wesentliche Rolle spielt die Haltung der Regierung und ihre Strategie zur Aufstandsbekämpfung, die mehrere Dimensionen aufweist. Daher wird diesem Thema ein Großteil dieser Arbeit gewidmet. Neben einer offiziellen Strategie gibt es entsprechende Hinweise auf die Existenz einer inoffiziellen Strategie. In diesem Zusammenhang wird der Regierung vorgeworfen, einen „Krieg niederer Intensität“ zu führen. Vom Staat wird dies allerdings abgestritten, wie auch der Vorwurf einer zunehmenden Paramilitarisierung. Um Klarheit über die tatsächlichen Umstände zu erlangen, wird versucht diesen beiden Phänomenen nachzugehen.

Die Ortschaft Acteal ist von all diesen Geschehnissen, wie viele andere in Chiapas, betroffen. Es wird versucht werden die Konflikte und Spannungen, die Acteal beherrschten, im Einzelnen darzustellen. Die jeweiligen Akteure und die Beweggründe für ihre Handlungsweisen sollen dabei hinterfragt werden.

Abschließend wird, da im Jahr 2000 ein Regierungswechsel stattfand, untersucht, inwiefern dies die Situation veränderte bzw. wie nun mit dem Konflikt in Chiapas umgegangen wird.

II. Hauptteil

1. Historischer Hintergrund

1.1. Die Bauernpolitik der mexikanischen Regierung

Seit den 1920er Jahren wurden in Mexiko politische Parteien und gesellschaftliche Verbände weitgehend „von oben“ gegründet und gelenkt. Im Zuge der politischen und gesellschaftlichen Neuordnung nach dem Revolutionsjahrzehnt von 1910 bis 1920 wurde 1929 auf diese Weise die Partei Partido Nacional Revolucionario (PNR, später umbenannt in PRI = Partido Revolucionario Institucional) gegründet, die im Laufe der Zeit einer Staatspartei gleichkam.[5] Sie behielt ihre dominierende Rolle in Mexikos Parteiensystem bis ins Jahr 2000. Die damit verbundene politisch-gesellschaftliche Stabilität ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass in den 1930er Jahren die verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren, wie die Arbeiter und Bauern, durch die Regierung selbst in Dachverbänden organisiert und gleichzeitig direkt in die PRI eingebunden wurden.[6] Dazu wurde für die Bauern und Indigenen, die auf diese Weise zu Mestizen assimiliert werden sollten, ein nationaler Bauernbund, die Confederación Nacional Campesina (CNC) gegründet. Die Arbeiter wurden in einer Art Gewerkschaft, der Confederación de Trabajadores de México (CTM), organisiert. Darüber hinaus gab es noch den Militärsektor, sowie den sector popular, der ein Sammelbecken für all jene darstellte, die in den übrigen Sektoren keinen Platz fanden. Durch die Schaffung verschiedener Vereinigungen für Arbeiter, Bauern und städtischer Bevölkerung wollte der Staat eine Zusammenarbeit und Vertretung gemeinsamer Interessen untereinander verhindern und so die Möglichkeit einer neuen Revolution abwenden. Durch die Einbindung in die PRI war eine wirksame Kontrolle der einzelnen Sektoren möglich.[7] Wer der CNC beitrat wurde automatisch Mitglied in der PRI.[8] Um die Bevölkerung dazu zu bringen sich den Massenorganisationen anzuschließen, wurden beispielsweise im Falle der Bauern, positive Anreize in Form von Krediten und Subventionen geschaffen, die ausschließlich über die CNC zugänglich waren. Auch bei der Landverteilung wurden Anhänger der CNC bevorzugt.[9] Im Gegenzug für diese Privilegien erwartete die PRI politische Loyalität von den CNC-Mitgliedern, das heißt ihre Stimme bei der nächsten Wahl. Bauern, die sich nicht anschließen wollten oder gar außerhalb der CNC operierten, hatten unter Repressalien durch Gutsbesitzer und Staatspolizei zu leiden. Gerade in Chiapas führte die staatliche Gewalt auch immer wieder zu Toten. So sind 165 politische Morde für den Zeitraum zwischen 1974 und 1987 dokumentiert.[10]

Trotz des staatlichen Drucks gab es immer wieder bemerkenswerte Beispiele offenen Widerstands gegenüber der CNC, die vorangetrieben durch die Agrarkrise ab Ende der 1960er Jahre, zur Formierung verschiedener unabhängiger Bauernorganisationen in den 1970er Jahren führten. Auch das Ziel der Assimilierung der Indigenen zu Mestizen durch Eingliederung in die CNC, um die Modernisierung und Entwicklung des Landes voranzutreiben, wurde nicht erreicht. Das bedeutete, die indigenen Kleinbauern behielten ihre Lebensweise als ejidatarios bei und bepflanzten weiterhin ihre milpa zur Subsistenz ihrer Familien.[11] Die ejidos, also kommunaler Landbesitz, der zum Teil zur individuellen Nutzung an Kleinbauern, die ejidatarios, durch die Gemeinden übertragen wird, sind eine Errungenschaft der Mexikanischen Revolution. In der Verfassung von 1917 wurde im

Artikel 27 die Verkleinerung von Großgrundbesitz durch Landübertragungen an die Dörfer und Kleinbauern festgelegt. Diese Ländereien blieben in Staatsbesitz und waren unveräußerlich.[12] Für viele Kleinbauern stand die Frage der Landverteilung daher im Vordergrund. In den einzelnen Amtszeiten wurde dieses Thema mit wechselnder Intensität durch die Regierung angegangen. Die Präsidenten der 1940er und 1950er Jahre hatten kein vorrangiges Interesse, die ejidos weiter zu fördern, denn für sie stellten diese nicht wettbewerbsfähige Projekte dar. Mit Einsetzen der Agrarkrise in den 1960er Jahren verschärfte sich die Armut auf dem Land.[13]

Im Kontext dieser Entwicklung lässt sich nachvollziehen, dass sich unabhängige Bauernorganisationen als Gegenforen zur staatlichen Agrarpolitik bildeten und einen regen Zulauf von nach Alternativen suchenden Bauern hatten. Seit den späten 1980er Jahren nahmen einige dieser Verbände auch indigene Interessen in ihre Programme mit auf.[14]

1983 gründete sich eine Bewegung, deren Wurzeln in den unabhängigen Indigenen- und Bauernorganisationen liegen und die aus der radikaleren Strömung durch Spaltung und Fusionierung verschiedener Gruppen von- und miteinander entstand: die EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional).[15]

Seit den frühen 1980er Jahren ist Mexikos Wirtschaft zunehmend als neoliberal zu bezeichnen. Es ist außenpolitisch eine Annäherung an die USA zu bemerken, während sich gleichzeitig von anderen lateinamerikanischen Staaten distanziert wurde.[16] Der Abbau von Handelsschranken und die massive Rücknahme staatlicher Unterstützung führten zu einer Verschärfung der Agrarkrise und einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Landbevölkerung. Trotzdem wurde die neoliberale Politik fortgesetzt und gipfelte 1992 in der Neuordnung des Artikels 27, in dem die Landverteilung für beendet erklärt, sowie die Privatisierung, der Verkauf und die Langzeitverpachtung von ejidos nun erlaubt wurde. Der Beitritt zur NAFTA (Nordamerikanisches Freihandelsabkommen) 1994 bedeutete für die Bauern Mexikos einen zunehmend ungezügelten Wettbewerb mit den USA und Kanada, mit großen Unterschieden in der technischen Ausstattung und der finanziellen Subventionierung. Dieser ungleiche Wettbewerb führte in Mexiko zu drastischen Einkommensverlusten aufgrund eines massiven Preisverfalls vieler inländischer Agrarprodukte.[17]

1.2. Der zapatistische Aufstand von 1994

Am 1. Januar 1994, zeitgleich mit Inkrafttreten der NAFTA, trat die EZLN das erste Mal für die mexikanische und internationale Öffentlichkeit in Erscheinung. Dies geschah, indem mehrere Tausend vermummte Kämpferinnen und Kämpfer der EZLN die Berge der Selva Lacandona verließen und die Städte San Cristóbal de Las Casas, Ocosingo, Las Margaritas, Altamirano, Chanal, Oxchuc und Huixtán in Chiapas besetzten.[18]

In der „Ersten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald“, die am Rathausgebäude von San Cristóbal angeschlagen wurde, erklärte die EZLN der Bundesarmee den Krieg und formulierte ihre grundlegenden Forderungen, bis zu deren Erfüllung sie nicht aufhören würde zu kämpfen. Die Forderungen lauteten: Arbeit, Land, Wohnung, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden.[19]

Die Regierung reagierte mit der Entsendung von 17000 Soldaten der Bundesarmee innerhalb der ersten Tage in die Konfliktregion. Es kam zu blutigen Auseinandersetzungen, die auf beiden Seiten Todesopfer hervorbrachten. Trotz des vehementen Eingreifens der Bundesarmee und obwohl sie der EZLN militärisch deutlich überlegen war, gelang es ihr innerhalb der ersten beiden Januarwochen nicht, die Region wieder unter die Kontrolle des mexikanischen Staates zu bringen. Hier zeigt sich, dass die zapatistische Erhebung einerseits professionell vorbereitet worden ist und andererseits auf einen breiten Rückhalt aus der Bevölkerung zählen konnte.[20] Die Berichte über die massive Gegenoffensive durch die mexikanische Armee, rief bald eine große öffentliche Aufmerksamkeit national wie international hervor. Die überwiegende Bevölkerungsmehrheit tendierte verstärkt gegen eine militärische Lösung des Konfliktes aus Angst vor einem dauerhaften Guerillakrieg. Andere bekundeten ihre direkte Solidarität mit den Zapatisten und demonstrierten in Mexiko-Stadt gegen den Militäreinsatz in Chiapas. Dies setzte die Regierung unter wachsenden Druck.[21] Am 12.1.1994 rief der Präsident Salinas de Gotari einen einseitigen Waffenstillstand aus und wenige Tage später bekundete auch die EZLN ihre Dialogbereitschaft. Seit Mitte Januar 1994 kam es seitens der EZLN zu keinem militärischen Vorstoß mehr, bei dem geschossen wurde.[22]

[...]


[1] Kerkeling, Luz (2003): La lucha sigue! – Der Kampf geht weiter: EZLN - Ursachen und Entwicklungen des zapatistischen Aufstands. Münster, S. 125; Gabbert, Wolfgang (2003): Das Massaker von Acteal im politischen und sozialen Kontext von Chenalhó. In: U. Köhler (Hrsg.), Chiapas. Aktuelle Situation und Zukunftsperspektiven für die Krisenregion im Südosten Mexikos, S. 253-274, Frankfurt a.M., S. 253.

[2] Azzellini, Dario / Lang, Miriam (1998): Blutige Weihnachten in Chiapas – Anhänger der mexikanischen Regierungspartei massakrieren 45 Tzotzil-Indianer im Hochland bei San Cristóbal de Las Casas. In: Lateinamerika-Nachrichten, 284, S. 4-7, Berlin, S. 6-7.

[3] Ramírez Cuevas, Jesús (1998): Acteal: La versión de la PGR. In: La Jornada, 22.02.1998.

[4] Azzellini / Lang 1998: 7.

[5] Tobler, Hans Werner (1996): Mexiko. In: W. Bernecker u.a. (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. Bd.3: 257-363, Stuttgart, S. 258.

[6] Ebd.: 314.

[7] Mattiace, Shannan L. (2003): To See with Two Eyes. Peasant Activism & Indian Autonomy in Chiapas, Mexico. Albuquerque, S. 30-31.

[8] Schüren, Ute (1997): “Land ohne Freiheit”: Mexikos langer Abschied von der Agrarreform. In: K. Gabbert u.a. (Hrsg.), Land und Freiheit, S. 33-65, Bad Honnef (Lateinamerika – Analysen und Berichte, Bd. 21), S. 40.

[9] Mattiace 2003: 30.

[10] Ebd.: 31.

[11] Ebd.: 32.

[12] Tobler 1996: 291.

[13] Schüren 1997: 44.

[14] Mattiace 2003: 32.

[15] Kerkeling 2003: 132, 136.

[16] Ebd.: 80.

[17] Schüren 1997: 33, 51-52.

[18] Kerkeling 2003: 156.

[19] EZLN (1994): Erste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald. Aus d. Span. übers. v. Etienne Largend & Aurelio Martínez. In: H. Mittelstädt & L. Schulenburg (Hrsg.) (1997), Der Wind der Veränderung – Die Zapatisten und die soziale Bewegung in den Metropolen. Kommentare und Dokumente, S. 79-82, Hamburg, S. 80-82.

[20] Kerkeling 2003: 159-160.

[21] Ebd.: 161-163.

[22] Ebd.: 164.

Fin de l'extrait de 28 pages

Résumé des informations

Titre
Der „Krieg niederer Intensität“ in Chiapas: Die Bedeutung paramilitärischer Gruppen als Teil der staatlichen Aufstandsbekämpfung
Université
Free University of Berlin  (Lateinamerika-Institut)
Cours
Chiapas 1994: Die Geschichte eines Aufstandes und seiner Interpretationen
Note
1,0
Auteur
Année
2008
Pages
28
N° de catalogue
V118679
ISBN (ebook)
9783640220793
Taille d'un fichier
520 KB
Langue
allemand
Mots clés
Aufstandsbekämpfung, Krieg niederer Intensität, zapatistischer Aufstand, Zapatisten, EZLN, Mexiko, Chiapas, paramilitärische Gruppen, PRI, Indigene, Indianer, Militarisierung
Citation du texte
Ulrike Caspari (Auteur), 2008, Der „Krieg niederer Intensität“ in Chiapas: Die Bedeutung paramilitärischer Gruppen als Teil der staatlichen Aufstandsbekämpfung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118679

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