Das Internet Governance Forum. Erfolgreiches Multistakeholder-Modell oder ineffizienter „Talkshop“?


Term Paper, 2021

43 Pages, Grade: 1,3


Excerpt

Glossar

Abbildungsverzeichnis

Einleitung

1 Zu den Begriffen Governance, Internet Governance und Multistakeholderismus

1.1 Governance

1.2 Internet Governance

1.3 Multistakeholderismus

2 Die Entstehung des Internet Governance Forums (IGF)

2.1 Eine kurze Geschichte der Internet Governance

2.1.1 Phase 1: Technisches Regime 1957 – 1995

2.1.2 Phase 2: Institutionalisierung 1995 – 2003

2.1.3 Phase 3: Intergouvernementale Organisation 2003 – 2006

2.1.4 Phase 4: Nationale und wirtschaftliche Einflüsse 2006 – heute

2.2 Das Internet Governance Forum (IGF) heute

2.2.1 Ziele

2.2.2 Organisationsstruktur

3 Probleme und Herausforderungen des Internet Governance Forums (IGF)

3.1 Zusammensetzung und Machtverteilung

3.2 Arbeitsfähigkeit

3.3 Ergebnisse

3.4 Konkurrenz

Fazit und Zukunft des Internet Governance Forums

Quellenverzeichnis

Literaturhinweise

Internetquellen

Anhang

Anhang 1: Internet Governance nach Van Eeten/Müller (2013).

Anhang 2: IGF Teilnehmerzahlen

Anhang 3: Statistik zu den teilnehmenden Staaten


Glossar

 

Weitere Abkürzungen

Einleitung

 

Im November vergangenen Jahres fand das 15. jährliche Treffen des Internet Governance Forums (IGF) statt,[1] ein Forum der Vereinten Nationen, das 2006 geschaffen wurde, „to bring people together from various stakeholder groups as equals, in discussions on public policy issues relating to the Internet.”[2]. Als erste Internet Governance-Institution, die explizit einen Multistakeholder-Ansatz verfolgt,[3] bringt es Akteur*innen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammen und „soll inklusiver und flexibler sein als klassisches Regieren in Form von Gesetzen und zwischenstaatlichen Verträgen – und so auch besser geeignet für die unvorhersehbare Dynamik des Internets.“[4] Auch die Diskussionsthemen sind divers, sie betreffen sowohl technische, rechtliche, politische, gesellschaftliche als auch ökonomische Problemfelder des Internets.[5] Das IGF stellt dabei die größte Konferenz im Bereich der Internet Governance dar. Während beim ersten Treffen in Athen 2006 etwa 1.200 Personen teilnahmen,[6] so waren es 2018 bereits 3.000 aus 143 verschiedenen Ländern[7] und 2020 über 6.000 aus 173 Ländern.[8]

 

Die wachsenden Teilnehmerzahlen könnten dabei den Eindruck einer ebenso wachsenden Bedeutung des IGF erwecken. Allerdings steckt das „Erfolgsmodell in der Krise“[9]. Die Kritik an der einst so hoffnungstragenden Diskussionsplattform wird immer lauter und seine Sinnhaftigkeit zunehmend infrage gestellt. Die Vorwürfe lauten: zu westlich, zu vage, zu ineffektiv.[10] Ein „Talk-Shop“[11] ohne Langzeitwirkung. Das führte im Juli 2018 schließlich dazu, dass UN-Generalsekretär António Guterres ein High-Level Panel on Digital Cooperation[12] bestehend aus Internetexpert*innen damit beauftragte, Handlungsempfehlungen zu formulieren, wie die globale Zusammenarbeit in Sachen digitaler Technologien verbessert werden kann. Ein wichtiger Baustein solle laut des Panels die Reform des IGF sein: ein „IGF Plus“[13]. Grundlegende Neuerung wäre dabei eine engere Anbindung an die Institutionen der UN, um dem „lack of actionable outcomes“[14] entgegenzuwirken. Eine solche Anbindung würde jedoch gleichzeitig weg von dem führen, was das Forum ursprünglich sein sollte: ein Multistakeholder-Diskussionsforum ohne Output-Druck.

 

Diese Arbeit stellt ein Versuch dar, ebendiese Debatte um das IGF und dabei vertretene Positionen nachzuzeichnen und zu diskutieren. Wichtige Fragen sind dabei: Welche Bedeutung kommt dem IGF in der globalen Internet Governance-Architektur historisch und aktuell zu? Ist es das erfolgreiche Multistakeholder-Modell, wie es einst angedacht war, oder lediglich eine Gesprächsrunde ohne nachhaltigen Einfluss? Welche Veränderungen sind möglich und welche notwendig? Hierfür soll zunächst erarbeitet werden, was unter dem diffusen Begriff Internet Governance verstanden wird und welche Problematiken mit den Definitionsversuchen einhergehen. Danach steht die Entstehungsgeschichte des Internet Governance Forums im Fokus und mit ihr die Entwicklung der Internet Governance sowie des Internets von einem „technical issue with some political implications“[15] zu einem „political issue with a technical component“[16]. Es folgt ein kurzer Überblick über die Organisationsstruktur des IGFs und seine Grundsätze. Im dritten und wichtigsten Teil geht es dann um die Herausforderungen und Probleme des Forums, aber auch um seine Erfolge. Diese sind in die Kategorien Zusammensetzung und Machtverteilng, Arbeitsfähigkeit, Ergebnisse und Konkurrenz unterteilt. Im letzten Abschnitt sollen die Ergebnisse des dritten Kapitels zusammengefasst und Vorschläge zur Zukunft des IGF diskutiert werden.

1          Zu den Begriffen Governance, Internet Governance und Multistakeholderismus

 

Internet Governance ist eine bis heute diffus gebliebene Bezeichnung, die, je nach Kontext, unterschiedlich verstanden und verwendet wird.[17] Es ist daher kaum möglich, eine allgemeingültige Definition zu formulieren. Dennoch soll hier zu Beginn der Arbeit zumindest eine Begriffseingrenzung versucht werden, die verschiedene Perspektiven auf das Konzept berücksichtigt und auf deren Basis die Funktionsweise und Herausforderungen des IGF untersucht werden können. Neben der Internet Governance sind zudem zwei weitere Begriffe von zentraler Bedeutung: erstens, die in Internet Governance enthaltene Governance sowie, zweitens, der Multistakeholderismus, der als Grundprinzip des Internet Governance Forums gilt.

 

1.1       Governance

 

Die Schwierigkeit, Internet Governance in seiner Bedeutung zu begreifen, liegt vor allem in der bereits mangelnden Definierbarkeit von Governance. Diese Undefinierbarkeit ist „nicht der Ungenauigkeit der beschreibenden Wissenschaft, sondern vielmehr der Komplexität des zu beschreibenden Konzeptes geschuldet“[18]. In jedem Fall beschreibt Governance eine Art Lenkung[19] oder Koordinierung[20], die je nach Wissenschafts- und Anwendungsbereich unterschiedliche Strukturen umfasst. Eine mögliche Ausgangsdefinition hierfür formuliert Renate Mayntz (2004), indem sie Governance als „das Gesamt aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte“[21] versteht, die „von der institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Selbstregelung über verschiedene Formen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure bis hin zu hoheitlichem Handeln staatlicher Akteure“[22] reichen. Eine andere Definition, die sich weniger auf die Akteure als auf die Prozesse zwischen diesen fokussiert, kommt von Brousseau et al. (2012). Sie sprechen von einer „networked heterarchy“[23], definiert durch „multiple orders”[24] und „leading to a reordering of the process of norm-making, and defining new patterns of interactions, through cooperation, co-elaboration and other forms of interaction between the whole range of social and political actors.”[25] Resultate dieser Lenkungs- und Regelungsstrukturen können in Form verbindlicher Gesetze und Abkommen (Hard Law), freiwilliger Vereinbarungen (Soft Law) oder anderer Einflussmöglichkeiten auftreten.[26] Governance dient dabei nicht nur als Oberbegriff für sichtbare, beschreibbare Prozesse und Institutionen sowie deren Output. Eine normative Bedeutungsebene sieht Governance als ein Gegenkonzept zu klassischen hierarchischen Strukturen, die oft mit ethischen Ansprüchen im Sinne von Good Governance verknüpft ist.[27]

 

Eine Konjunktur erfuhr der Begriff zudem im Kontext von Global Governance, unter der vereinfacht ausgedrückt ebenjene neuen Governance-Strukturen subsumiert werden, die sich im Zuge der Globalisierung bzw. der De-Nationalisierung[28] und der damit einhergehenden internationalen Interdependenzen sowie der abnehmenden Lenkungsmacht staatlicher Akteure entwickeln.[29] Hier wird besonders deutlich, dass das Governance-Konzept im Bereich internationaler Politik immer auch eine Verschiebung der Machtverhältnisse weg von den Nationalstaaten, hin zu anderen Akteuren (Stakeholdern) meint.[30]

 

1.2       Internet Governance

 

[T]he distributed nature of the Internet can misleadingly convey the impression that no one controls the Internet.

 

DeNardis, Laura (2010)[31]

 

Bei der Internet Governance stehen genau diese Aspekte im Fokus. Das Internet, auch das „Netz der Netze“[32] genannt, übersteigt aufgrund seiner dezentralen, heterogenen Architektur und vor allem seiner globalen Dimension staatliche Kompetenzen. Hinzu kommt die Vielzahl an Beteiligten – wie Provider, Medienunternehmen, Suchmaschinen oder Technikexperten – die nicht nur wegen ihrer Standorte, sondern auch ihrer Funktionen sehr unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen und Rechtsgebieten zugeordnet sind.[33] Die Komplexität der Akteure und das Fehlen einer zentralen ‚Internetregierung‘ lässt die Struktur und den Inhalt von Internet Governance schwer erfassen.

 

Das mag verwundern, in Anbetracht dessen, dass sie bereits seit den 1990ern einen eigenen Forschungsgegenstand repräsentiert.[34] Doch während Internet Governance zunächst nur zur Bezeichnung technischer Funktionen des Internets wie die Verteilung der Domain-Names, der IP-Adressen oder Root-Server sowie dafür zuständige Organisationen wie die ICANN[35] oder IETF[36] diente, so steht heute meist eine ganze Bandbreite an Inhalten, Prozessen und Akteuren hinter diesem Begriff, die weit über technische Aspekte hinausgehen. Zu den Themengebiete gehören dabei ebenso der Umgang mit Fake News auf Social Media Plattformen, wie auch Urheberrecht oder Cybersecurity.[37] Auch die Prozesse und Interaktionen reichen vom reinen Austausch bis hin zu formeller Gesetzgebung und bei den Akteuren herrscht eine ähnliche Vielfalt. Einige Institutionen und Organisationen bezeichnen sich selbst als integrale Bestandteile der Internet Governance, andere wiederum haben zwar Einfluss auf das Internet, verstehen sich aber in erster Linie nicht als solche. Wieder andere verstehen sich als Teil der Internet Governance, verfügen aber kaum über Einfluss.[38]

 

Die Struktur bleibt somit unübersichtlich. Zudem entwickeln sich die digitalen Technologien stetig und mit steigender Geschwindigkeit weiter, sodass auch die Internet Governance ständigen Veränderungen unterliegt. So schreiben Hofmann et al. (2017):

 

[I]nstead of gradually extending a regulatory perspective beyond nation-states, public decision-making and formal policy instruments, we suggest studying Internet governance as a continuous heterogeneous process of ordering without a clear beginning and endpoint.[39]

 

 

Abbildung 1: Akteure der Internet Governance (eigene Darstellung; Informationen u.a. nach Möller (2019): 27-56 und Betz/Kübler (2013): 74-96. Für Erläuterungen zu den Abkürzungen s. Glossar)

 

Bis heute fehlt eine allgemeingültige Definition der Internet Governance und Fragen nach ihrer Auslegung bleiben weiterhin umstritten: Wer hat und wer soll wie viel Einfluss auf die Ausgestaltung des Internets haben? Was soll überhaupt debattiert werden? Was entschieden? Und wie sollen solche Partizipations- und Entscheidungsprozesse genau aussehen? Trotz der Uneinigkeit über die Beantwortung dieser Fragen wurde das IGF auf Basis eines ungeklärten Begriffs gegründet. „Dabei geht es nicht nur um begriffliche Spitzfindigkeiten, sondern vor allem um die integrale inhaltliche Ausgestaltung des IGF an sich.“[40] Die Grundlage beschränkt sich bis heute aber lediglich auf die Arbeitsdefinition der damaligen Working Group on Internet Governance (WGIG)[41], eine Expertengruppe, die 2005 u.a. die Idee eines Forums im Sinne des IGF vorschlug und Internet Governance wie folgt definierte:

 

Internet governance is the development and application by Governments, the private sector and civil society, in their respective roles, of shared principles, norms, rules, decision-making procedures, and programmes that shape the evolution and use of the Internet.[42]

 

1.3       Multistakeholderismus

 

Wird von Internet Governance oder dem IGF gesprochen, so ist der Ausdruck Multistakeholder-Approach, oder auch Multistakeholder-Initiative oder kürzer: Multistakeholderism, nicht weit. Ursprünglich ein Konzept aus dem Managementbereich und der Unternehmensführung, wird er nun auch zur Beschreibung von internationalen Policy-Making-Strukturen herangezogen.[43] Stakeholder sind „Individuen und Gruppen, die aktiv auf Entscheidungen einer Organisation Einflu[ss] nehmen können oder von diesen passiv betroffen sind“[44] und jeder Multistakeholder-Ansatz zunächst nur ein Einbeziehen von ebendiesen Stakeholdern.

 

Doch das Verständnis von Multistakeholderismus ist auch stark normativ geprägt. „Die Leitidee von Multistakeholder-Prozessen lautet: Verhandeln auf Augenhöhe.“[45]  Hierfür müssen „alle relevanten Stakeholder einbezogen werden“[46] und die Mechanismen dabei sind „based on democratic principles of transparency and participation, and aim to develop partnerships and strengthened networks among stakeholders.“[47]. „Mit dieser Vielzahl an Perspektiven, die gleichberechtigt und konsensuell berücksichtigt werden, wird die Hoffnung nach besseren Lösungen verbunden, die zudem wiederum Legitimität erzeugen[.]“[48] Darüber hinaus verspricht der Ansatz eine Fokusverschiebung, indem nicht mehr die Beteiligten, sondern die Themen im Vordergrund stehen.[49]

 

Auf globaler Ebene bedeutet das, alle Stakeholder – d.h. Regierungen, technische Expert*innen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – in die Problemlösungsprozesse miteinzubeziehen und neue Formen des Zusammenwirkens zu etablieren. Hier wird die Parallele zu Governance offenkundig und es verwundert daher nicht, dass der Begriff Multistakeholderismus Einzug in Global Governance Studies und spätestens seit dem UN World Summit on the Information Society (WSIS) 2005 auch in die Internet Governance fand.[50] Das aus ihm resultierende Internet Governance Forum gilt als erste Internet Governance-Organisation, die das Multistakeholder-Modell als Kernansatz für sich definierte, indem bereits in der Tunis Agenda 2005, dem Abschlussdokument der WSIS steht: „the proposed IGF could [] [b]uild on the existing structures of Internet governance, with special emphasis on the complementarity between all stakeholders involved in this process — governments, business entities, civil society and intergovernmental organizations.”[51] Inwiefern dieses Prinzip eingehalten wird, ist Bestandteil dieser Arbeit.

2          Die Entstehung des Internet Governance Forums (IGF)

 

Wie bereits erwähnt, wurde das IGF infolge des Weltinformationsgipfels (WSIS) in Tunis 2005 und seiner Working Group on Internet Governance (WGIG) gegründet und 2006 zum ersten Mal durch den Generalsekretär der UN einberufen. Es soll eine Diskussionsplattform darstellen, bei der alle relevanten Stakeholder zusammenkommen und wichtige Themen der Internet Governance debattieren.[52] Um zu verstehen, wie es zur heutigen Struktur der Internet Governance gekommen ist und welche Bedeutung dem IGF dabei zukommt, ist es wichtig, zuerst die (kurze) Entstehungsgeschichte der Internet Governance nachzuvollziehen. Dazu haben Betz/Kübler (2013) vier Phasen der Entwicklung ausgemacht, die im Folgenden verkürzt nachgezeichnet werden.

 

2.1       Eine kurze Geschichte der Internet Governance

 

2.1.1        Phase 1: Technisches Regime 1957 – 1995

 

Die erste Phase ist die der Erfindung von Netzwerktechnologien Ende der 1950er. Sie dienten zunächst nur militärischen Zwecken und dem wissenschaftlichen Informationsaustausch. Im Zuge des Kalten Krieges zwischen den westlichen Staaten und der UdSSR wurde auch die Weiterentwicklung von Netzwerktechnologien Teil des Rüstungswettbewerbes. Die UdSSR setzte ihr Projekt Sputnik[53] um, der erste künstliche Erdsatellit, und die USA reagierte mit der Entwicklung des ARPAnet[54]. Gleichzeitig forschte man in Genf am vorwiegend für wissenschaftliche Zwecke angedachte CERNET[55]. Schnell wurden erste Absprachen zwischen den Forschungsgruppen notwendig wie bspw. ein einheitliches Transmission Control Protocol (TCP)[56] und die International Network Working Group (INWG)[57] zur Koordinierung europäischer und amerikanischer Vernetzungsprojekte.[58]

 

Das ARPAnet der USA wurde derweil weiterentwickelt und um neue Dienste erweitert. Der Mailverkehr nahm zu und 1973 gründete sich die erste Online-Zeitung, die ARPAnet News. Es gab zudem erste Projekte mit grafischen Oberflächen, die der Zivilgesellschaft, die bisher noch keinen Zugang zum Netz hatte, ihre Beteiligung erleichtern würden. Ebenso entstanden erste Debatten darum, ob und wie das Internet auch in ökonomischer Hinsicht genutzt werden könnte. Auch Kontroversen um die militärische Verwendung und die öffentliche Kontrolle über das Netz entfachten.[59] Bis dahin bestimmten Gruppen von Technik- und Wissenschaftsexpert*innen über die Funktionsweise des Netzes und befürchteten nun eine staatliche Kontrolle. Um staatlichen Regulierungsbestrebungen entgegenzuwirken, entwickelten sie Selbstorganisationsmodelle wie die Internet Engineering Task Force (IETF), die sich u.a. um Internetprotokollstandards kümmert, oder auch eigene Verhaltensregeln, die sogenannte Netiquette.[60]

 

Seit 1983 konnten dann auch Menschen aus der Zivilgesellschaft das Internet nutzen und so wuchs das Interesse der Privatwirtschaft an dem Medium. Zugleich erlaubten technische Weiterentwicklungen die allmähliche Integration von traditionellen analogen Medien. Eine der wohl wichtigsten Weiterentwicklungen kam schließlich im Jahr 1989 mit dem World Wide Web, das erstmals mit Webseiten arbeitete und ab 1993 auch mit Internet-Browsern und grafischen Oberflächen.[61] Die Nutzerzahlen explodierten: 1990 schätzte man die Nutzerzahl auf etwa 300.000, 1996 bereits auf 9,5 Millionen.[62]

 

Die schnelle technische Ausweitung und der rasante Anstieg der Nutzer*innen brachte die bisherigen dezentralen Selbstorganisierungsmechanismen nach dem Bottom-Up-Prinzip an ihre Grenzen.[63] Ideen nach einer zentralen Regulierung durch die Internationale Fernmeldeunion (ITU)[64] wurden von der Internet-Gemeinschaft abgelehnt. Stattdessen bildeten sich zahlreiche transnationale Organisationen wie die Internet Society (ISOC)[65], das Asia-Pacific Network Information Centre (APNIC)[66] oder die InterNIC[67].[68]

 

2.1.2        Phase 2: Institutionalisierung 1995 – 2003

 

In einer nächsten Phase kam es dann angesichts der wachsenden Regelungsbedarfe zur Institutionalisierung der Internet Governance. Zumindest die Kernressourcen des Internets wie Domain-Namen, IP-Adressen, Root Server und Internetprotokolle mussten verwaltet werden, um das Internet funktionsfähig zu halten. Die wichtigste in dieser Zeit gegründete Organisation ist die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN)[69], die bis heute für das Domain-Name-System verantwortlich ist, d.h. das Register und die Vergabe von IP-Adressen koordiniert, was bis dato von quasi einer einzigen Person, Jonathan Postel, verwaltet wurde. Unterdessen wurde aus dem Web das Web 2.0, das Mitmach-Netz, indem technische und wirtschaftliche Neuerungen wie die Entwicklung der MP3-Technik und die Gründung von Unternehmen wie Napster und Google das Internet nachhaltig veränderten.[70]

 

2.1.3        Phase 3: Intergouvernementale Organisation 2003 – 2006

 

Mit der Errichtung mehrerer Organisationen wurde der Streit um die Kontrolle des Internets allerdings nicht beigelegt. Staaten, nationale Institutionen oder auch regionale Instanzen rangen um mehr Einfluss und gerieten dabei in Konflikt mit technischen, zivilgesellschaftlichen wie auch privatwirtschaftlichen Akteuren. Mittlerweile mussten sich auch fast alle internationalen Organisationen mehr oder weniger mit den Herausforderungen des Internet auseinandersetzen. Die Meinungen über die Steuerung des Internets differierten zum Teil enorm und ließen sich nicht mehr mit der bisherigen Koordination vereinbaren. Auf der einen Seite standen jene, die sich für ein freies, weiterhin Bottom-Up reguliertes Internet aussprachen, auf der anderen Seite die, die eine nationalstaatliche Kontrolle befürworteten. Dazwischen existierten weitere Positionen.[71]

 

Als die UNESCO und die ITU einen World Summit on the Information Society (WSIS) mit zahlreichen Beteiligten aus verschiedenen Sektoren organisierte, überlagerte die Debatte um die Internet Governance das ursprüngliche Kernthema der Digital Divide, des ungleichen Zugangs zum Netz. Der Gipfel fand in zwei Phasen statt, die erste 2003 in Genf und die zweite 2005 in Tunis. Aus dem Treffen in Genf resultierte ein WSIS-Aktionsplan, der sich eine inklusive, offene und demokratische Informationsgesellschaft sowie mehr kulturelle und Geschlechtergleichheit zum Ziel setzte.[72] Wichtiger jedoch war das Einberufen einer Working Group on Internet Governance (WGIG), die vor allem drei Aufgaben verfolgte: Erarbeitung einer Definition von Internet Governance, Erarbeitung von Sachfragen von öffentlichem Interesse bzgl. des Internets und Empfehlungen zur Verteilung von Verantwortlichkeiten zwischen den Stakeholdern. Die WGIG sollte ihre Erkenntnisse in die zweite Phase des WSIS einfließen lassen. Zu den Empfehlungen gehörte auch die Gründung eines Internet Governance Forums (IGF), eine der wenigen Ergebnisse, auf die man sich auf dem Treffen in Tunis überhaupt einigen konnte.[73] So wurde das IGF 2006 gegründet und findet seither jährlich statt.[74]

 

2.1.4        Phase 4: Nationale und wirtschaftliche Einflüsse 2006 – heute

 

Die Gründung eines Forums löste die Probleme zwischen den Beteiligten nicht, verschaffte ihnen aber zumindest eine Plattform. Indessen gründeten sich mächtige Internetkonzerne wie Youtube, Amazon, Apple, Facebook und Twitter, die sich in großen Teilen eigene Regeln setzten und die Machtverhältnisse zwischen den Internet Governance-Stakeholdern deutlich verschoben.[75] Diese vertraten auf den Treffen ganz unterschiedliche Konzepte: die EU-Kommission schlug bspw. eine Art ‚Weltregierung des Internets‘ in Form der ICANN zu etablieren, die IBSA[76]-Staaten plädierten für eine neue multilaterale Organisation der UNO und viele arabische sowie afrikanische Regierungen für mehr staatliche Kontrolle.

 

Die Geschichte des Internets und der Internet Governance war demnach stets geprägt von konfliktreichen Auseinandersetzungen über ihre Ausgestaltung. Die Vorstellungen über wie das Internet regiert werden sollte divergieren bis heute stark und lassen einen Kampf zwischen Multistakeholder-Ansatz, Multilateralismus und nationaler Kontrolle erkennen. Das spiegelt sich auch im IGF und den Kontroversen um das Forum wider, um die es im 3. Kapitel gehen wird.

 

2.2       Das Internet Governance Forum (IGF) heute

 

Zuvor ist es jedoch notwendig, die Aufgaben des IGF genauer zu betrachten sowie seine Struktur und Arbeitsweise. Denn wie sich zeigen wird, beziehen sich viele der Kritikpunkte, die am IGF geäußert werden, auf eine der beiden Punkte.

 

2.2.1        Ziele

 

Wie bereits an mehreren Stellen genannt, stellt das IGF eine Diskussionsplattform dar, die prinzipiell allen Stakeholdern der Internet Governance offensteht. Sein Mandat ist in der Tunis Agenda 2005 festgelegt, nach dem das IGF die folgenden Aufgaben hat:

 

a)       Fragen des öffentlichen Interesses zu erörtern […]

b)       den Diskurs zwischen den Organen zu erleichtern […]

c)       mit geeigneten zwischenstaatlichen Organisationen und anderen Institutionen in Fragen, die in ihre Zuständigkeit fallen, Kontakt zu halten;

d)       den Austausch von Informationen und bewährten Praktiken zu erleichtern […]

e)       alle Interessenträger im Hinblick darauf zu beraten, wie das Internet in den Entwicklungsländern schneller verfügbar und erschwinglich gemacht werden kann;

f)        das Engagement der Interessenträger, insbesondere aus den Entwicklungsländern […] zu stärken und zu erhöhen;

g)       neue Fragestellungen aufzuzeigen, sie den zuständigen Organen und der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen und gegebenenfalls Empfehlungen abzugeben;

h)       zum Aufbau von Kapazitäten für die Internet-Verwaltung in den Entwicklungsländern beizutragen […]

i)         die Verankerung der Grundsätze des Weltgipfels in den Verfahren der Internet-Verwaltung zu fördern und fortlaufend zu bewerten;

j)        unter anderem Fragen im Zusammenhang mit kritischen Internet-Ressourcen zu erörtern;

k)       zur Lösung der aus der Nutzung und dem Missbrauch des Internets resultierenden Probleme beizutragen, die für den alltäglichen Nutzer von besonderem Interesse sind;

l)         die Berichte über seine Beratungen zu veröffentlichen[.][77]

 

Es verfolgt dabei den Mutlistakeholder-Ansatz, der zwar nicht unumstritten war, sich letztlich aber durchsetzte,[78] und soll demokratisch sowie transparent sein, auch das ist in der Tunis Agenda festgeschrieben.[79] Sein Mandat muss regelmäßig von der UN-Generalversammlung erneuert werden und wurde 2015 erstmals um ganze 10 Jahre, d.h. bis 2025 verlängert.[80]

 

Von besonderer Bedeutung ist allerdings die Tatsache, dass das IGF keinerlei Entscheidungsbefugnisse hat. Seine Funktion beschränkt sich ausschließlich auf die obengenannten Punkte. Wolfgang Kleinwächter (2019) begründet diesen Umstand mit der Befürchtung, „that an IGF with a decision-making mandate would turn the platform into a new intergovernmental battlefield. It would block any neutral debates, based on fact and figures. The hope was that a discussion-only platform would open minds and mouths and stimulate a free dialogue among all stakeholders.”[81]

 

2.2.2        Organisationsstruktur

 

Obgleich das IGF somit ‚nur‘ ein Diskussionsforum ist, bedarf es einem großen Organisationsaufwand, um so viele Stakeholder zusammenzubringen und ihnen ausreichend Möglichkeiten des Austauschs und der Zusammenarbeit bereitzustellen. Zudem steigt die Anzahl der Teilnehmenden seit seiner Gründung stetig (s. Anhang 2). Die folgende Abbildung (Abb. 2) zeigt einen Überblick über die Struktur und vor allem die Aktivitäten des IGF:

 

 

Abbildung 2: Organisationsstruktur des IGF (eigene Darstellung; für Erläuterungen zu den Formaten s. Glossar)

 

Das IGF ist keine feste Institution und trotz seiner engen Verbindung zu den Vereinten Nationen keine UN-Unterorganisation, wie es bspw. die UNESCO ist. Trotzdem wird es von ihr und der ITU insbesondere bei logistischen Aufgaben unterstützt.[82] Die Organisation des IGF besteht lediglich aus zwei Abteilungen, der Multistakeholder Advisory Group (MAG) und dem IGF Sekretariat. Erstere wurde 2006 von UN-Generalsekretär Kofi Annan, damals als Advisory Group, gegründet, um gemeinsam mit ihm das erste IGF-Treffen in Athen zu veranstalten. Zu Beginn bestand die MAG aus 47 Mitgliedern aus Wissenschaft, Technik, Regierung, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, heute sind es 55 Mitglieder.[83] Die Mitgliedschaft in der MAG wird für ein Jahr ausgeschrieben, die Auswahl findet dann auch unter Berücksichtigung der Herkunft statt, um möglichst repräsentativ zu sein.[84] Die MAG ist u.a. zuständig für die Auswahl der Workshops und die Durchführung der Main Sessions sowie für die Programmausarbeitung der jährlichen IGF-Treffen, indem sie die Themen auswählt und dabei Vorschläge der Stakeholder berücksichtigt. Auch soll sie sicherstellen, dass die Ergebnisse der Workshops in den Main Sessions präsentiert werden. Hierfür kommt die MAG dreimal jährlich zusammen.[85]

 

Die zweite Abteilung ist das IGF-Sekretariat. Es wurde 2006 errichtet „to provide a support structure for the IGF including the preparation of its yearly meetings“[86] und hat seinen Sitz beim UN-Büro in Genf, wo es der Aufsicht des UN Department of Economic and Social Affairs (UN DESA oder DESA)[87] untersteht. Es ist ebenso mit dem Programm der Treffen betraut, wird dabei aber von der MAG betreut.[88] Weitere Zuständigkeiten betreffen die Webseite und die Koordination der Intersessional Activities[89].[90] Finanziert wird das IGF, bzw. besonders das Sekretariat, durch einen Fund des UN DESA, der sich aus freiwilligen Beiträgen der Regierungen und anderer Stakeholder zusammensetzt.[91] Da diese Art der Finanzierung weniger stabil ist, hat sich die Internet Governance Forum Support Association (IGFSA) gegründet, die zusätzlich Spenden sammelt.[92] Die Kosten der jährlichen Treffen tragen die jeweiligen Gastgeberländer.[93]

 

In der Regel werden unter IGF lediglich die sognannten Annual Meetings gemeint. Sie bestehen aus zahlreichen Formaten (s. Abb. 2), darunter Main Sessions, Workshops, Best Practice Forums (BPFs), Dynamic Coalition Meetings (DCs) und weitere (für nähere Beschreibungen s. Glossar). Zwischen diesen jährlichen Treffen finden weitere Aktivitäten statt, z.B. arbeiten die DCs auch zwischen den Annual Meetings, zudem finden Open Consultations sowie weitere Intersessional Activities statt, bei denen über das Jahr hinweg Internet Governance-Themen diskutiert werden.[94]

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Details

Title
Das Internet Governance Forum. Erfolgreiches Multistakeholder-Modell oder ineffizienter „Talkshop“?
College
Martin Luther University
Grade
1,3
Author
Year
2021
Pages
43
Catalog Number
V1187685
ISBN (eBook)
9783346623614
ISBN (eBook)
9783346623614
ISBN (eBook)
9783346623614
ISBN (Book)
9783346623621
Language
German
Keywords
Internet Governance, IGF, Internet Governance Forum, UN, Internet, Multistakeholder Forum
Quote paper
Sophie-Eileen Gierend (Author), 2021, Das Internet Governance Forum. Erfolgreiches Multistakeholder-Modell oder ineffizienter „Talkshop“?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1187685

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