Formen und Funktion der Konstruktion australischer Geschichte in Thomas Keneallys "The Playmaker" und David Maloufs "The Conversations at Curlow Creek"


Examination Thesis, 2008

78 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Begriffe der Geschichte und Geschichtsschreibung
2.1 Im Fokus poststrukturalistischer Theorien
2.1.1 Die Différance
2.1.2 Diskurs und Macht
2.1.3 New Historicism und Cultural Materialism
2.2 Im Fokus postmoderner Theorien
2.2.1 Das Konzept der Nation
2.2.2 Historiographische Metafiktion

3. Australiens koloniales Erbe
3.1 Problematisierung der Geschichtsdarstellung
3.2 Exile
3.3 Convicts und Bushrangers

4. Entwürfe australischer Geschichte
4.1 The Playmaker
4.1.1 Fakt und Fiktion
4.1.2 Raum und Zeit
4.1.3 Theater und Identität
4.2 The Conversations at Curlow Creek
4.2.1 Erinnerung
4.2.2 Reconciliation
4.2.3 Legenden und Träume

5. Schlussbemerkung

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Beim Stichwort Australien wird der heutige Leser wahrscheinlich zunächst an einen modernen Industriestaat denken. Des Weiteren ist Australien in Deutschland vor allem als fernes aber beliebtes Reiseziel bekannt, das mit seinen klimatischen und landschaftlichen Reizen, wie dem Great Barrier Reef oder dem Ayers Rock, sowie den Metropolen Sydney und Melbourne lockt. Die Bezeichnung Ayers Rock ist jedoch schon vor längerer Zeit aus Respekt vor der Kultur der Ureinwohner Australiens, die diesen Ort als heilige Stätte verehren, in Uluru umbenannt worden. Dieser Begriff, so Therese-Marie Meyer sei in Deutschland aber nicht geläufig, was für sie ein Zeichen dafür ist, dass "despite – or because of – tourism and the internet, Australian culture and literature have remained largely unknown in Germany“ (178). In Deutschland, so Meyer, würde Australien immer noch im Hinblick auf landschaftliche und naturbezogene Klischees definiert, was auf den mangelnden kulturellen Dialog beider Länder hinweise (Meyer, Australia 178). Deshalb beschränkt sich der Bekanntheitsgrad australischer Literatur in Deutschland, ihrer Ansicht nach, auch hauptsächlich auf Werke der kommerziellen Populärliteratur, die das Verlangen der deutschen Leserschaft nach exotischem Lesestoff über den fünften Kontinent befriedigen (178). Autoren, die sich gesellschaftskritisch mit der australischen Kultur und Politik auseinander setzen, sind außerhalb der Universitäten hingegen kaum bekannt.

Fragt man nach den Gründen für diesen Zustand, so sind diese in der Geschichte Australiens und damit unweigerlich auch in der Geschichte Englands, sowie der geschichtlichen, kulturellen und politischen Verflochtenheit dieser beiden Länder zu finden. Denn obgleich Australien heute eine Industrienation ist, so darf man nicht vergessen, dass dieses Land als politischer Staat noch relativ jung ist, und erst 1901 formell von England unabhängig wurde. Deshalb ist Australien heute zeitlich betrachtet ein postkoloniales Land, dessen Staatsoberhaupt allerdings immer noch die englische Königin ist. Während der Zeit der Kolonisierung, die in Australien seit 1788 systematisch betrieben wurde, entwickelten sich in Europa, durch Tagebücher und Reiseberichte von Kolonisten, sowie durch literarische Werke, Vorstellungen von Australien als Hölle und unnatürlichem Gegensatz zu Europa. Des weiteren betrachtete man Australien als ein einziges großes Gefängnis, da England den Kontinent dazu nutzte, um seine Kriminellen und Verbrecher, für die es in englischen Gefängnissen keine Kapazitäten mehr gab, dorthin abzuschieben (Brydon and Tiffin 39/40). Australien wurde dabei politisch wie kulturell von England dominiert und durch den Prozess des othering marginalisiert, also gegenüber Europa als minderwertig dargestellt (Brydon and Tiffin 42). Durch diese Stigmatisierung Australiens während der Kolonialzeit bildeten sich Klischees, die noch lange Zeit nachwirken sollten, so dass man das Land noch Mitte des 20. Jahrhunderts als "second-rate derivation of Britain“ (Curthoys, Cultural History 23) betrachtete. Eine eigene australische Kultur und Geschichte wurde dem Land nicht zugestanden, was sich z.B. daran zeigte, dass in australischen Schulen die Imperialgeschichte Englands unterrichtet wurde, in der Australien nur eine untergeordnete Rolle spielte (Brydon and Tiffin 49). In Universitäten standen fast ausschließlich Werke britischer Autoren auf dem Lehrplan, die die Kolonie als naturgegeben, andersartig und minderwertig darstellten. Somit musste sich Australien an britischen Werten und Traditionen orientieren und messen lassen, wobei sowohl Aborigines, als auch anglo-keltische Australier diskriminiert wurden. Diese Erfahrung führte dazu, dass auch heute noch viele Australier europäischer Abstammung an einem Minderwertigkeitskomplex, dem "cultural cringe“ (Brydon and Tiffin 50), leiden. Die Tatsache, dass die Existenz einer eigenständigen australischen Kultur, die sich seit dem Beginn der Kolonialzeit, entwickelt hatte, geleugnet oder als Kopie des englischen Originals betrachtet wurde, ist dabei die Ursache für die bis heute andauernde Unbekanntheit oder Verzerrung der australischen Kultur in Deutschland. Wobei hier, im Hinblick auf die Aborigines, nicht der Eindruck erweckt werden soll, dass es in Australien vor der Ankunft der Europäer keine Kultur gegeben hätte.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich in Australien zwar bereits starke nationalistische Strömungen, die schließlich die politische Unabhängigkeit des Landes erwirkten, doch bedeutete diese formelle Loslösung von England keinesfalls den kulturellen Bruch mit der Kolonialmacht. Australien verstand sich weiterhin als Teil einer "pan-Britishness“ (Meaney 121). Diese Britishness beruhte dabei vor allem auf rassistischen Theorien und Vorstellungen, die nur 'weiße' Australier als rechtmäßige Einwohner des Landes anerkannte: "Australia's Britishness was a white Britishness [...]“ (Meaney 126). Somit wurden essentialistische europäische Konzepte übernommen, die auch heute noch die australische Gesellschaft prägen, wie z.B. die Vorstellungen einer modernen Nation und ihrer Geschichte. Als australische Historiker begannen, die Geschichte Australiens aus der Perspektive der ehemaligen Kolonie zu schreiben, orientierten sie sich an europäischen Geschichtskonzeptionen, die sich durch ihre "teleology of constitutional progress“ (Curthoys, Cultural History, 24) auszeichneten. Durch die Übernahme dieses Verständnisses entstand eine lineare Geschichtsschreibung, die die Entwicklung Australiens von einer primitiven Kolonie hin zu einer florierenden Nation mit britischen Idealen und Errungenschaften beschrieb. Dabei wurde die Enteignung der Urbevölkerung gänzlich ausgeklammert (Curthoys, Cultural History 25). Erst durch den wachsenden Druck der Bürgerrechtsbewegungen in den späten 1960er Jahren, die den nationalen und internationalen Rassismus zu einer öffentlichen Debatte machten, änderte sich die Auffassung von Geschichte. Historiker widmeten sich nun vermehrt der Geschichte indigener Völker. Seit den 1980er Jahren schließlich begann man die australische Nationalgeschichte im Rahmen kulturtheoretischer Modelle zu analysieren. Dabei haben sich besonders postkoloniale Theoretiker mit den imperialen und nationalen Diskursen, in deren Kontext sich die Mischung aus Nationalismus, Rassismus und imperialer Loyalität der weißen australischen Gesellschaft entwickeln konnte, beschäftigt, und somit zur Denaturalisierung des Konzepts der Nation beigetragen (Curthoys, Cultural History, 28). Die Nation und ihre Geschichte wurden als Konstrukte enttarnt, die keineswegs natürliche Elemente, sondern vielmehr Erfindungen der menschlichen Psyche sind.

Das Konzept der einen, allein gültigen Geschichte wurde im Zuge dieser Entwicklung durch das Aufkommen unterschiedlicher Perspektiven auf die Vergangenheit, wie z.B. feministische Sichtweisen, zunehmend zerstückelt, so dass es heute nicht mehr möglich ist, von Geschichte als einer einzigen wahren Rekonstruktion der Vergangenheit zu sprechen. Dies wiederum führte dazu, dass auch das Verhältnis von Fakten und Fiktionen bzw. von Realität und Literatur, unter Berücksichtigung menschlicher Wahrnehmungsmechanismen, hinterfragt wurde. Das Resultat war, dass poststrukturalistische und postmoderne Kritiker den Objektivitäts- und Wahrheitsanspruch der Geschichtswissenschaft als haltlos und unbegründet zurückwiesen, indem sie die absolute Wahrheit als Illusion enthüllten. Ihrer Auffassung entsprechend, sind auch Autoren fiktionaler Romane oder Dramen in der Lage, Geschichten zu schreiben, und Versionen der Vergangenheit zu konstruieren, die nicht weniger authentisch, wahr und gültig sind, als die von Historikern. Postmoderne Schriftsteller entwerfen dabei bewusst Gegenentwürfe zu traditionellen Geschichtsdarstellungen, um ihre Leserschaft für Pluralität und Unterschiede in der Gesellschaft zu sensibilisieren.

Eine Untergrabung solch althergebrachter Geschichtsvorstellungen ist dabei auch heute noch, im Zeitalter der Globalisierung und Internationalisierung westlicher Gesellschaften, nötig, was z.B. erst jüngst bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2000 in Sydney, deutlich wurde. Australien nutzte diesen Anlass dazu, dem Weltpublikum einen kurzen Abriss seiner Geschichte zu präsentieren. Diese Vorführung hat dabei nach Michael Cohen gezeigt, dass Vorstellungen der Geschichte als "representations of historical evolution and modernisation as the fulfillment of Anglo-Celtic dreams“ (68) noch längst nicht überwunden sind. Cohens Ansicht nach, hat diese Selbstpräsentation der australischen Nation gezeigt, dass Minoritäten immer noch lediglich die Peripherie des nationalen Bewusstseins bilden, und die Enteignung der australischen Urbevölkerung anscheinend oftmals aus der nationalen Erinnerung verdrängt wird (77). Die Tatsache, dass die Geschichtsdarstellung als Traum eines kleinen Mädchens kaukasischen Typs mit blonden Haaren präsentiert wurde, ermöglichte und entschuldigte dabei zugleich die dargebotene Geschichtsauffassung, denn "all is forgiven within the brackets of dream-world and fantasy“ (Cohen 77).

Diese Arbeit wird sich mit der Haltlosigkeit essentialistischer Geschichtskonzeptionen beschäftigen, indem zunächst in Kapitel zwei die Idee der Geschichtswissenschaft als objektiver Rekonstruktion der Vergangenheit widerlegt wird. Dabei soll auf die Theorie der Différance von Jacques Derrida eingegangen werden, die zeigt, dass alle Bedeutungen nur im Kontext der Zeichensysteme einer Kultur erzeugt werden, womit auch die teleologische Geschichtsschreibung als kulturelles Konstrukt zu betrachten ist. Da es keine natürlichen Bedeutungen gibt, die der Mensch als vernunftbegabtes Wesen erkennen könnte, soll des Weiteren, unter Bezugnahme auf Michel Foucault, die Rolle der Macht bei der Wissensgenerierung erörtert werden. Darüber hinaus wird die Historizität von Wissen veranschaulicht, also die Tatsache, dass das menschliche Wissen zu einem bestimmten Zeitpunkt in Beziehung zu vorausgegangenen Diskursen der Vergangenheit betrachtet werden muss. Gegenwärtiges Wissen ist folglich eine Modifikation, Ablehnung oder Weiterführung älteren Wissens, was die Unmöglichkeit der menschlichen Objektivität bestätigt. Außerdem werden in diesem Kapitel, im Kontext der beiden Strömungen des New Historicism und Cultural Materialism, die Parallelen von Geschichte und fiktionalen literarischen Erzeugnissen angesprochen. Dabei findet auch die Auffassung des Historikers Hayden White Berücksichtigung.

Darauf aufbauend wird das Konzept der Nation problematisiert, und verdeutlicht, inwiefern bestimmte Vorstellungen über das Phänomen der Nation in der Vergangenheit zu Gräueltaten und Diskriminierung geführt haben. Außerdem hat das Verständnis der Nation als homogene Einheit maßgeblich zur Legitimierung einseitiger Geschichtsschreibungen beige­tragen. Es wird besonders auf die postmoderne Kritik Jean-François Lyotards am Konzept der Nation eingegangen. Im Anschluss soll die, von Linda Hutcheon theoretisierte Methode der historiographischen Metafiktion, ein literarisches Mittel zur Untergrabung traditioneller Geschichtsvorstellungen, erklärt werden.

Danach wird in Kapitel drei der Bogen zur australischen Geschichte geschlagen, und auf Probleme der populären australischen Geschichts­schreibung hingewiesen. Im Besonderen soll dabei auf die Erfahrung des Exils, als Schlüsselerlebnis im australischen Bewusstsein, eingegangen werden. Anschließend wird die frühe Phase der Kolonisierung in New South Wales näher beleuchtet, und veranschaulicht, inwiefern das historische Wissen über diese Zeit durch literarische Werke und Mythen geprägt wurde. Dabei wird auf die australische Wahrnehmung der convict era, deren Rekonstruktion in der Vergangenheit und Gegenwart, sowie auf die Rolle der bushranger-Legenden eingegangen.

Vor diesem Hintergrund soll schließlich in Kapitel vier anhand der zwei Romane The Playmaker, von Thomas Keneally, und The Conversations at Curlow Creek, von David Malouf, der literarische Umgang zeitgenössischer Schriftsteller mit dem kolonialen Erbe demonstriert und analysiert werden. Diese postmodernen Werke entwerfen dabei alternative Geschichten der Vergangenheit, womit sie zugleich die universale Imperialgeschichte Englands, als auch die einseitige Nationalgeschichte Australiens kritisieren, und somit jegliche Art essentialistischer Konzeptionen ablehnen. Beide Autoren machen darauf aufmerksam, dass unsere Weltanschauungen ständigem Wandel unterliegen, dass Identitäten keine stabilen Konzepte sind, und unsere subjektive Wahrnehmung (nicht nur der Vergangenheit) von vielen Faktoren und Erfahrungen beeinflusst wird. Dabei fordern sie die australische Gesellschaft dazu auf, sich diese Dynamik einzugestehen, und Multiperspektivität zuzulassen. Denn eine Verhaftung Australiens an europäischen Denkmustern und -strukturen würde Stagnation bedeuten, und der multikulturellen australischen Bevölkerung nicht helfen, ihre soziopolitischen und kulturellen Probleme zu lösen.

2. Die Begriffe der Geschichte und Geschichtsschreibung

Die moderne Geschichtswissenschaft hat, wie viele andere moderne Geisteswissenschaften auch, ihre Wurzeln in der frühen Neuzeit Europas. Die Renaissance und die philosophische Strömung des Humanismus markieren dabei die Abkehr von der Scholastik des Mittelalters, und führten zu einem gesteigerten Interesse an der systematischen Erforschung der Welt und des Menschen. Die Philosophie, die sich im 18. Jahrhundert zu einer Fundamental- und Universalwissenschaft entwickelte, wurde dabei als "Inkarnation von Wahrheit und Gewissheit natürlicher vernunftgemäßer Erkenntnis, sowie als Ausdruck höchster Wissenschaft“ (Meyer, Licht 97) betrachtet. Sie stellt den Ursprungsort dar, aus dem sich, im Zuge des immensen Wissensdrangs des 18. Jahrhunderts, allmählich die Natur- und Geisteswissenschaften zu akademischen Disziplinen entwickelten (Meyer 98). Dabei verweist dieses Zitat bereits auf die Vernunft, die nach der damaligen Auffassung das entscheidende Kriterium darstellte, welches es dem Menschen ermöglichte, sich als vernunftbegabtes Wesen, Wissen über die Welt anzueignen, und Wahrheiten zu erkennen. Dazu merkt Ernst Cassierer an, dass die Vernunft im Zeitalter der Aufklärung als inhärente Eigenschaft aller denkenden Subjekte, Epochen und Kulturen betrachtet wurde (4).

Die Wissenschaften unterschied man in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, wobei beide Wissensbereiche von der Idee des Fortschritts bestimmt wurden. Das Ziel war, durch eine breitangelegte Wissenserweiterung die "Gesamtheit der Wirklichkeit“ (Cassierer 4) als einheitliches Gesamtbild zu erschließen. Es wurde davon ausgegangen, dass es sowohl in der Natur, als auch im Menschen und seinen Erzeugnissen, inhärente Wahrheiten zu entdecken gäbe, die im Sinne einer rationalen Erkenntnistheorie verstanden werden könnten (Madonna 31/32). Dies bedeutete ferner, dass die durch die Wissenschaften gewonnenen Einsichten objektiv und wertneutral seien, da man davon ausging, dass die Wahrheiten über das Funktionieren von Natur und Mensch unabhängig von dessen Erkenntnis existierten. Nach Hans Werner Arndt glaubte man, dass "[...] die logische Wahrheit die den Dingen selbst zukommende, vom menschlichen Vorstellen unabhängige 'metaphysische' Wahrheit zu repräsentieren [vermochte]“ (20).

Demzufolge war auch die Auffassung von Geschichte und historischem Wissen geprägt von positivistischen Vorstellungen, die den Verlauf der Geschichte als teleologische Entwicklung, als logische Erzählung von Kriegen, Siegern und Besiegten betrachtete. Das bestimmende Prinzip der Geschichte war, wie auch in anderen Disziplinen, der Fortschrittsgedanke der zu einer universalen und einseitigen Geschichtsschreibung und Rekonstruktion der Vergangenheit führte. Ein solches Konzept von Geschichte ließ weder oppositionelle Positionen, noch individuell oder kulturspezifisch unterschiedliche Geschichtswahrnehmungen zu. Sie wurden in das universalhistorische Modell eingegliedert, und auf diese Weise harmonisiert (Bambach 58).

Da Wissen in unserer Gesellschaft schriftlich, in Form von Texten und Büchern, weitergegeben wird, nimmt die Schrift in den Wissenschaften eine zentrale Rolle ein. In diesem Sinn stützt z.B. der Historiker sein Wissen einerseits auf dokumentarische Quellen, wie z.B. Inschriften, Tagebücher etc., die er entsprechend interpretiert, und schreibt seine Ergebnisse wiederum in Form eines Textes nieder, um sie zu verbreiten, der Nachwelt zu überliefern und anderen zugänglich zu machen. Das Prinzip der Schriftlichkeit, in Bezug auf Wissensproduktion, hat sich dabei in den modernen Wissenschaften seit der Aufklärung bis heute gehalten. Doch sind die Zeichensystem der Menschen, wie eben die Schrift, keine transparenten Medien, über welche lediglich Informationen vermittelt, oder die Wahrheiten in der Welt repräsentiert werden. Vielmehr stellen sie selbst bedeutungsstiftende Konstruktionen menschlichen Wissens dar, weshalb es im Folgenden nötig ist, unter Bezugnahme auf das von dem poststrukturalistischen Kritiker Jacques Derrida geprägte Konzept der Différance, auf die Problematik von Schrift und Bedeutung einzugehen.

2.1 Im Fokus poststrukturalistischer Theorien

2.1.1 Die Différance

In seinem Werk Grammatologie beklagt Derrida den Logozentrismus (gr. logos = Wort, Gesetz, Sinn, Bedeutung) der Wissenschaften, die seit jeher als Inbegriff der Logik bestimmt wurden. Dabei wirft er der abendländischen Philosophie vor, sie beruhe auf "der Metaphysik der Präsenz“, die "den Ursprung der Wahrheit [...] von jeher dem Logos zugewiesen hat“ (Grammatologie 11/12). Das bedeutet, dass sich das wissenschaftliche Denken immer in zentristischen Strukturen bewegt hat, und alle Dinge auf einen "Punkt der Präsenz“, einen "festen Ursprung“, zurückführen wollte (Derrida, Schrift 422). Diese Präsenz, das Zentrum, liegt jedoch paradoxerweise sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Struktur; es beherrscht sie zwar, wird selbst aber nicht hinterfragt (Derrida, Schrift 423). So ist z.B. das Göttliche zugleich eine transzendentale abwesende Kraft, die aber gleichzeitig in allen Dingen existiert und somit präsent ist (Brooker 151). Demnach betrachtet Derrida unser ganzes Wissen, das aus der Suche nach Begründungen, Prinzipien und Ursachen besteht, als "eine Reihe einander substituierender Zentren, als eine Verkettung von Bestimmungen des Zentrums“ (Schrift 423), die "immer nur die Invariante einer Präsenz [...] (Essenz, Existenz, Substanz, Subjekt) [...] Transzendentalität, Bewußtsein, Gott, Mensch usw. bezeichnet haben“ (Schrift 424).

Die Annahme solcher Präsenzen oder Zentren ist jedoch nach Derrida haltlos, wie er anhand der Methode der Dekonstruktion, die später noch erörtert wird, zeigt; es gibt kein Zentrum, "das in der Gestalt eines Anwesenden gedacht werden kann“ (424). Der Wunsch nach Wahrheit ist vielmehr Ausdruck des Verlangens der Menschen nach Einheit, um ihre eigene Existenz im Kosmos, ihr Dasein als Präsenz, zu garantieren, um somit ein Gefühl der Sicherheit und Gewissheit zu haben (Selden 164). Derrida glaubt, dass alle Bedeutungen, mit denen der Mensch seine Umwelt strukturiert, von der Sprache abhängig sind, und durch sie entstehen, denn:

[Immer] [w]enn wir die Sache, sagen wir das Gegenwärtige, das gegenwärtig Seiende, nicht fassen oder zeigen können, wenn das Gegenwärtige nicht anwesend ist, bezeichnen wir, gehen wir über den Umweg des Zeichens. (Derrida, différance 119)

Mit 'bezeichnen' meint er dabei alle Formen von Sprache: die mündliche und schriftliche, die Bildsprache oder auch die Gebärdensprache. Sie sind allesamt Formen der Repräsentation, die dazu dienen, einen Inhalt zu vermitteln. Der Inhalt selbst ist dabei nie gegenwärtig, woraus Derrida folgert, dass es keinen originären Kern bzw. keine Wahrheit der Bezeichnung gibt, da sie "immer schon ein representamen“ (Derrida, Grammatologie 86) ist.

In Bezug auf Geschichte bedeutet das, dass alle geschichtlichen Quellen, wie Tagebücher, Geschichtsdarstellungen, Denkmäler, Filme etc., eine Form des Sprachgebrauchs darstellen, und somit Repräsentationen sind, denen keine objektive Wahrheit innewohnt (Munslow 25). Der Historiker, der seine Untersuchungen auf diese Quellen stützt, wird somit zum Interpreten, der seine Ergebnisse wiederum in einem schriftlichen Text festhält. Bei der Abfassung seines Textes muss er sich dabei nach den Regeln der Grammatik und stilistischen Vorgaben richten, und seinen Text nach diesen Richtlinien konstruieren. Somit wird der geschichts-wissenschaftliche Text zu einem Konstrukt des Historikers, der die Vergangenheit lediglich interpretiert und repräsentiert; er stellt aber keineswegs einen Zugang zu historischen Realitäten dar (Munslow 25).

Allerdings ignorierten viele Historiker, vor allem der angloamerikanischen und europäischen Tradition, die Tatsache, dass es keine absolut erforschbaren und feststehenden Realitäten gibt. Jacques Derrida ist dabei einer der schärfsten Kritiker dieser Positionen, und hat gezeigt, dass Bedeutungen innerhalb der Sprache erzeugt werden. Die binären Gegensätze, die in einer Sprache existieren, sind nicht natürliche Oppositionen, sondern vielmehr kulturelle Konventionen des Sprachgebrauchs. Das bedeutet, dass z.B. die Gegensatzpaare wahr/unwahr, richtig/falsch, Fakt/Fiktion usw. innerhalb einer Kultur bzw. in der Sprache erzeugt werden. Dabei bezieht sich Derrida auf die strukturalistische Theorie Ferdinand de Saussures, der bereits erkannte, dass sich das sprachliche Zeichen aus Signifikant und Signifikat zusammensetzt, wobei die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat arbiträr, also willkürlich, und nicht natürlich ist (Grammatologie 77/8). Das Verhältnis des Bezeichnenden zum Bezeichneten beruht also auf sozialen Konventionen. Derrida deckt jedoch in Saussures Überlegungen einen Widerspruch auf, da letzterer die Schrift dem gesprochenen Wort mit der Begründung unterordnet. Dies begründet er mit der Behauptung, die Stimme besäße eine absolute Nähe zum Sein, zum Sinn des Seins und zur Idealität des Sinns (Grammatologie 25). Diese Einstellung bezeichnet Derrida als Phonozentrismus, der die Stimme als unmittelbare, natürliche und direkte Bezeichnung des Sinns betrachtet, während die Schrift nur als sekundäre Form des Bezeichnens, "Zeichen der Zeichen“, "Signifikant eines ersten Signifikanten“ und "Repräsentation der sich selbst gegenwärtigen Stimme“ behandelt (Grammatologie 53/4). Da aber die These von der Arbitrarität des Zeichens eine natürliche Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat ausschließt, kann es auch keine "natürliche Hierarchie zwischen Signifikanten oder Ordnungen von Signifikanten“ geben (Derrida, Grammatologie 78). Alle Signifikanten, egal ob sprachlich oder schriftlich, sind also arbiträr, beruhen auf Konventionen.

In einem zweiten Schritt hebt Derrida schließlich die Existenz des transzendentalen Signifikats auf. Wie bereits erwähnt, sagt er, dass alle Formen des Bezeichnens Repräsentationen sind, in denen das Signifikat, also das Bezeichnete, das Zentrum, niemals anwesend sein kann. Anhand des von ihm geprägten Begriffs der Différance zeigt er, dass alle Bedeutungen nur innerhalb eines Systems von Differenzen existieren. Die Différance ist ein Kunstwort, das Derrida aus dem Nomen différence und dem Partizip Präsenz des Verbs différer, différant, zusammengesetzt hat. Das Partizip verweist dabei auf die Aktivität des Verbs différer. welches sich vom lateinischen differe ableitet, und zwei Bedeutungen hat: zum einen bezeichnet es die Tätigkeit, "etwas auf später zu verschieben“, und kann somit als "Temporisation“ übersetzt werden (Derrida, différance 117). Die zweite, geläufigere Bedeutung ist, "nicht identisch sein, anders sein, erkennbar sein“ - Bezeichnungen, die zwischen verschiedenen Elementen Distanzen schaffen, und nach Derrida, der "Verräumlichung“ zuzurechnen sind (différance 118). Indem Derrida seiner Wortschöpfung die Endung - ance gibt, die, ähnlich wie bei mouvance oder résonance, im Französischen keine eindeutige Einordnung des Wortes in aktiv oder passiv zulässt, kann auch die Différance weder aktiv noch passiv sein (différance 119). Darüber hinaus ist das 'a' in der Aussprache von différance nicht zu hören, man hört lediglich différence. Erst in der Schrift wird der Unterschied sichtbar, womit die Ambiguität des Wortes zusätzlich erhöht und verstärkt wird (Derrida, différance 114). Nach Derrida ist die Différance das Prinzip, was allen Bedeutungen zugrunde liegt. Sie ist die Bedingung aller Zeichen eines Zeichensystems, denn ein Zeichen kann nur in Bezug auf andere Zeichen gedacht werden (Grammatologie 109). Beispielsweise definiert sich die Bedeutung des Wortes Natur nur durch den gegensätzlichen Begriff der Kultur, von dem sich die Natur unterscheidet. Dabei ist die Präsenz der Natur niemals greifbar, sie wird immer nur repräsentiert, und ihre Anwesenheit somit aufgeschoben. Dabei kann die Aufschiebung sich auch auf den gegensätzlichen Begriff beziehen, und zwar in der Hinsicht, dass "der eine“ nur der "aufgeschobene andere ist“, d.h., dass z.B. die Natur nur die aufgeschobene Kultur ist (Derrida, différance 134). Das Prinzip der Différance, der Aufschiebung und Verräumlichung, bedingt dabei auch die, für den Kontext der Geschichtstheorie relevanten, Begriffspaare Fakt/Fiktion oder Realität/Abbild; Gegensätze, die nur durch die Sprache einer Kultur geformt wurden. Demnach verweist jedes Element eines Systems auf ein anderes, und trägt somit eine Spur, "die das Andere als Anderes im Gleichen festhält“, in sich (Derrida, Grammatologie 109). Diese Spur ist nach Derrida die Différance, "in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen“; dabei ist sie "so wenig ideal wie reell, intelligibel wie sinnlich, und so wenig transparente Bedeutung wie opake Energie; kein Begriff der Metaphysik kann sie beschreiben“ (Grammatologie 114).

In der Sprache gibt es also nur Zeichen, die sich in einem Spiel von Präsenz und Absenz bewegen, also durch ihre Différance verschieden sind, jedoch keine wahren Bedeutungen (Derrida, Grammatologie 420). In diesem Sinne ist auch Derridas berühmtes Zitat "Ein Text-Äußeres gibt es nicht“ (Grammatologie 274) zu verstehen, denn Bedeutungen werden nur innerhalb der Sprachsysteme durch die Verkettung von Zeichen zu Texten, und deren Beziehungen zueinander produziert. Bedeutungen sind somit künstliche, kulturelle Erzeugnisse, die nur innerhalb eines, durch "ein Netz von Konventionen“ (Derrida, différance 289) geprägten, Kontextes verständlich sind. Da nun die Sprache als bedeutungsgenerierendes Medium, welches nicht natürliche Bedeutungen widerspiegelt, sondern lediglich auf Konventionen beruht, enthüllt wurde, muss auch das durch die Sprache vermittelte Wissen in Frage gestellt werden. In Bezug auf Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft bedeutet dies die Feststellung, dass es kein absolutes historisches Wissen gibt, und somit auch keine wahrheitsgetreuen Rekonstruktionen der Vergangenheit möglich sind (Munslow 30). Dennoch sehen auch heute noch viele Historiker ihre Aufgabe darin, in historischen Quellen und Erzählungen Wahrheiten zu erschließen, weshalb es nun zunächst erforderlich ist, auf die Diskurstheorie Michel Foucaults und die Rolle von Macht in Bezug auf Repräsentation und Wissensgenerierung einzugehen.

2.1.2 Diskurs und Macht

'Diskurs' bezieht sich allgemein auf Formen der Repräsentation, sowie Konventionen und Eigenarten des Sprachgebrauchs, die bestimmte Bedeutungsfelder in der Kultur oder Geschichte hervorgebracht haben (Brooker 78). Dabei ist Foucault der Meinung, dass Diskurs, also die Produktion von Bedeutungen durch Zeichensysteme, mit Macht verbunden ist, bzw. dass Macht durch Diskurs ausgeübt wird. Dabei greift er den Gedanken Nietzsches wieder auf, dass die Menschen die Welt ihren Absichten und Bedürfnissen unterordnen, und somit die Dinge in der Welt ihren Absichten entsprechend wahrnehmen und repräsentieren. Nietzsche hat in diesem Sinn festgestellt, dass z.B. die moralische Unterscheidung von 'gut' und 'böse' in einer bestimmten Ära von den Auffassungen der herrschenden Klasse geprägt wurde, mit dem Ziel, ihre Macht zu festigen und zu legitimieren. Dabei hat sich die herrschende Klasse selbst der Kategorie des Guten zugerechnet, während sie dem Bereich des Bösen andersartige und somit unliebsame Gruppierungen zurechnete. Diese moralische Unterscheidung diente folglich als Instrument, um die eigene Macht zu sichern (Brannigan 43). Diejenigen, die Macht haben, also gesellschaftliche, intellektuelle, ökonomische und politische Eliten, aber auch die Medien, bestimmen demnach, was gültig und wahr ist, und legen den Maßstab fest, nach dem z.B. eine wissenschaftliche Theorie als wahr oder unwahr bzw. als richtig oder falsch bewertet wird.

Foucault hat die Ausübung von Macht vor allem in seinem Werk Überwachen und Strafen thematisiert, und gezeigt, dass besonders die modernen wissenschaftlichen Disziplinen und ihre Methoden, wie z.B. Beschreiben, Dokumentieren, Vergleichen und das Ableiten von Normen, Macht auf Individuen ausüben. Foucault spricht von der "Formalisierung des Individuellen“ (Überwachen 244), denn durch die wissenschaftliche Aktivität werden Kategorien geschaffen, die es ermöglichen, jeden Menschen anhand seiner jeweiligen Besonderheiten einzuordnen, und ihn zum Fall einer oder mehrerer Kategorien zu machen. Zum Beispiel hat der medizinische Diskurs dazu geführt, dass Kranke anhand von beobachteten Symptomen als krank identifiziert werden, und somit eine Individualität zugewiesen bekommen (Foucault, Überwachen 247). Das Individuum ist Effekt und Objekt von Macht, ausgeübt von Wissenschaften, wobei die Erkenntnisse des Wissens, so Foucault, Ergebnisse bzw. Produkte der Machtausübung sind (Überwachen 250). Allerdings werden sie in der Gesellschaft nicht als solche wahrgenommen, sondern als Fakten, Realitäten und Wahrheiten verstanden, die nicht weiter hinterfragt werden. Foucault formuliert daher treffend: "[...] die Macht ist produktiv; [...] sie produziert Wirkliches [...] Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale“ (Überwachen 250).

Die Machthaber einer Gesellschaft geben also durch ihre Diskurse vor, was rational oder normal, aber auch schlecht oder abnorm ist. Das Gefüge von Machtbeziehungen in einer Gesellschaft bestimmt die Regeln und Bewertungskriterien, nach denen bestimmte Aussagen hinsichtlich ihrer Gültigkeit bemessen werden. Aussagen, die nicht mit den Regeln des Systems übereinstimmen, werden ignoriert oder verhöhnt. Dabei interessiert sich Foucault vor allem für den diskursiven Wandel in der Geschichte, den er in seinem Buch Archäologie des Wissens untersucht. Denn Wahrheiten sind keine fest stehenden Vorschriften: was noch vor 100 Jahren als 'richtig' oder 'fortschrittlich' galt, wird heute nicht mehr unbedingt so eingestuft. Auch in Bezug auf Wissenschaften sind inhaltliche oder strukturelle Veränderungen nicht zu leugnen, denn wissenschaftliche Erkenntnisse oder Theorien werden im Verlauf der Zeit weiterentwickelt, transformiert oder durch andere Ansätze ersetzt. Die Summe der verschiedenen Wissensfelder einer bestimmten Kultur und Epoche nennt Foucault das Archiv oder "das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen“ (Archäologie 188). Dabei ist es nicht möglich, das Archiv in der Gegenwart als solches zu erkennen, da wir uns selbst innerhalb seiner Regeln äußern bzw. "innerhalb seiner Regeln sprechen“ (Foucault, Archäologie 189). Es ist nur möglich, vergangene Archive zu beschreiben, was umso besser gelingt, je weiter sie in der Vergangenheit zurückliegen. Denn je größer der Abstand eines Archivs zu unserer Gegenwart ist, desto besser kann die Unterschiedlichkeit eines vergangenen Systems erkannt werden. Dennoch ist es niemals möglich, Archive in ihrer Totalität zu beschreiben (Foucault, Archäologie 189).

Des Weiteren kann man ein Archiv oder einen Diskurs aufgrund der Historizität, also der Verflechtung mit vorausgegangenen Diskursen, deren Wissen in späteren Epochen wieder aufgegriffen, modifiziert oder zur Bildung neuer Diskurse herangezogen wurde, niemals auf einen Ursprung, einen Anfang, zurückführen (Foucault, Archäologe 205). Ebenso wenig ist es möglich, eine einzelne Macht bzw. Kraft zu benennen, die eine diskursive Formation, also eine Wahrheit hervorgebracht hat, da Diskurse Produkte der Wechselwirkungen und Beziehungen verschiedener Institutionen, ökonomischer Prozesse und sozialer Phänomene sind (Foucault, Archäologie 235). Foucault sieht die Aufgabe der diskursiven Analyse, ähnlich wie bei einer archäologischen Beschreibung, darin, die Einbettung bestimmter diskursiver Formationen in ein Geflecht von Machtbeziehungen offen zu legen, und dabei gleichzeitig ihre Vorgeschichte oder geschichtliche Entwicklung aufzudecken. Letztere ist dabei nicht isoliert, als separate Linearität, zu betrachten, sondern muss ebenso im Kontext der historischen Machtkonstellationen betrachtet werden (Foucault, Archäologie 235). Durch diese komplexe Verwurzelung eines Diskurses oder einer diskursiven Formation in der Geschichte, und deren Formung durch Machtbeziehungen, wird es unmöglich, Dinge vollkommen zu erforschen, geschweige denn, in ihnen eine Wahrheit zu finden. Deshalb sind selbst wissenschaftliche Disziplinen nicht in der Lage, objektive Erkenntnisse hervorzubringen, sondern lediglich Faktoren, die den Diskurs beeinflussen, also nicht die einzig Beteiligten an der Wissensproduktion. Denn Wissen besteht nach Foucault auch in der Gesamtheit der Verhaltensweisen und Eigentümlichkeiten von Menschen, also Wissensgebieten, die unabhängig von Wissenschaften sind. Allerdings, so Foucault, "gibt es kein Wissen ohne diskursive Praxis; und jede diskursive Praxis kann durch das Wissen bestimmt werden, das sie formiert“ (260). Fragt man dabei nach dem Verhältnis des Subjekts zu Wissen und Diskurs, so erklärt Foucault, dass das Subjekt niemals außerhalb des Wissens gedacht werden, noch als Inhaber von Wissen auftreten kann. Das Subjekt partizipiert am Wissen, und wird gleichzeitig vom Wissen produziert (Foucault, Archäologie 260). Demnach schlägt sich das diskursive Wissen einer Ära nicht nur in, von Subjekten betriebenen, Wissenschaften nieder, sondern gleichsam in literarischen und philosophischen Texten, sowie in Demonstrationen, Fiktionen, Überlegungen, Berichten, institutionellen Verordnungen und politischen Entscheidungen (Foucault, Archäologie 261).

Wenn also das Wissen in der Vergangenheit, als auch in der Gegenwart, in einem Netz von Machtbeziehungen, durch den Rückgriff auf bereits existierendes Wissen, entsteht, sowie jedes Subjekt das Resultat des Wissens seiner Zeit ist, so kann es kein wahres Wissen geben. Alle Wahrheits- und Objektivitätsansprüche, die von gewissen Diskursen, z.B. dem wissenschaftlichen, politischen oder ökonomischen, proklamiert werden, sind demnach haltlos und unberechtigt. Folglich gibt es nur mehr oder weniger mächtige Diskurse (Selden 180). Vor diesem Hintergrund muss demnach auch die Objektivität der Geschichtswissenschaft angezweifelt werden, die zwar von intellektuellen Eliten einer Bevölkerung ausgeübt wird, und deshalb einen mächtigen Diskurs darstellt, an dem aber die Historiker als Individuen, als Subjekte, geprägt von dem Wissen ihrer Gegenwart und dessen Historizität, beteiligt sind. Auch die historischen Quellen können keinen Aufschluss über eine authentische Vergangenheit geben, da solche Zeugnisse ebenso von Individuen einer vergangenen Zeit erstellt wurden, die gleichermaßen die Produkte diskursiven Wissens waren. Somit manifestiert sich in allen historischen und zeitgenössischen Dokumenten das Wissen einer Gesellschaft, ganz gleich ob es sich z.B. um wissenschaftliche oder nichtwissenschaftliche Texte handelt. Der Mensch und sein Denken, wie es sich in Texten manifestiert, muss immer im Kontext des Wissens seiner Zeit und der Bedingungen, unter denen dieses Wissen zustande kam bzw. kommt, betrachtet werden. Deshalb ist es im nächsten Kapitel notwendig, auf die anfangs literaturkritischen Strömungen des New Historicism und Cultural Materialism einzugehen, die sich, aufbauend auf den Gedanken Michel Foucaults, mit der Problematik der Objektivität von Texten sowie ihrer Position und Funktion innerhalb einer Gesellschaft beschäftigt haben.

2.1.3 New Historicism und Cultural Materialism

Diese beiden Bewegungen kamen Anfang der 1980er Jahre auf, wobei sich der New Historicism in den USA formierte, während der Cultural Materialism in Großbritannien entstand. Beide Richtungen interessierten sich dabei dafür, inwiefern literarische, also fiktionale, Werke zu dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem sie entstanden, in Beziehung zu setzen sind (Brannigan 55). Dabei kommen sie zu dem Entschluss, dass die Kultur einer Gesellschaft die Subjektivität ihrer Individuen beeinflusst, da kulturelle Erzeugnisse innerhalb von Machtbeziehungen existieren, und zwar, im Sinne Foucaults, als Beteiligte an der nichtwissenschaftlichen Wissensproduktion (Brannigan 58). Dabei, so die Anhänger des New Historicism, unterscheidet sich die Literatur nicht von anderen Repräsentationen, also Textarten, da alle gleichermaßen die soziopolitische Struktur einer Bevölkerung widerspiegeln und beeinflussen (Brannigan 59). Dies bedeutet, dass es auch kein historisches Hintergrundwissen zu einem Roman oder Theaterstück geben kann, denn literarische Werke sind nicht bloß Objekte, an denen sich die Weltsicht einer bestimmten Kultur und Epoche zeigt; vielmehr sind sie selbst direkt an der Formung von Realitäten beteiligt. Durch den kulturellen Diskurs werden bestimmte Dinge thematisiert, andere vernachlässigt, und gleichzeitig die Leserschaft oder das Publikum von einer Meinung oder Denkweise überzeugt; es entsteht Wissen (Brannigan 60).

Der Historiker Hayden White erklärt in seinem Aufsatz "The Question of Narrative in contemporary historical Theory“, dass uns die Vergangenheit, wie es bereits die Doppeldeutigkeit des Wortes Geschichte impliziert, immer in Form einer Erzählung präsentiert wird (5). Anders als z.B. der Schriftsteller, verfasst der Geschichtswissenschaftler, indem er historische Quellen interpretiert, einen Text, der mit dem Anspruch auf Objektivität erklären will, wie sich historische Ereignisse wirklich zugetragen haben. Er schreibt also einen Text über die wahre Geschichte der Vergangenheit. Dabei übersieht er jedoch, dass seine Form der Erzählung lediglich eine bedeutungsstiftende Repräsentation der Vergangenheit unter vielen ist, da alle Textarten Bedeutungen erzeugen (White 20). Dabei können, wie wir gesehen haben, auch durchaus andere Textarten historische Ereignisse zum Thema haben oder historisches Wissen repräsentieren. Es hängt nur von der Form der Darlegung ab, welche Bedeutung der Vergangenheit gegeben wird. Texte können geschichtliche Begebenheiten komisch, tragisch oder satirisch darstellen, obwohl die Vergangenheit nicht an sich komisch, tragisch oder satirisch ist. White sagt: "[...] it is the choice of the story-type and its imposition upon the events which endow them with meaning“ (20). Da also alle Textformen bestimmte Bedeutungen erzeugen, ist es völlig haltlos zu behaupten, literarische oder poetische Texte seien weniger wahr als geschichtswissenschaftliche. Die Vergangenheit, die, wie an Foucaults Ausführungen deutlich wurde, ohnehin nicht objektiv rekonstruiert werden kann, wird also in unterschiedliche Geschichten gehüllt. Dabei kann keine Textart behaupten, eine authentischere Repräsentation der Vergangenheit zu sein, als die anderen, denn die Wahrnehmung und Interpretation von vergangenen Ereignissen hängt immer von der Subjektivität des Autors und der Unüberwindbarkeit seiner Gegenwart ab. Die New Historicists fordern deshalb, aufgrund der Unmöglichkeit einer wahren und objektiven Geschichtsschreibung, das Verhältnis literarischer zu nichtliterarischen, also wissenschaftlichen, Texten zu überdenken. Nach ihrer Auffassung ist eine Hierarchisierung der Textualität, die sich nach dem Objektivitätsgrad eines Textes richtet, völlig unbegründet (Selden 182). In Derridas Worten könnte man sagen, dass sich die verschiedenen Repräsentationen nur durch ihre Différance unterscheiden.

[...]

Excerpt out of 78 pages

Details

Title
Formen und Funktion der Konstruktion australischer Geschichte in Thomas Keneallys "The Playmaker" und David Maloufs "The Conversations at Curlow Creek"
College
University of Cologne
Grade
1,3
Author
Year
2008
Pages
78
Catalog Number
V118823
ISBN (eBook)
9783640217083
ISBN (Book)
9783640217229
File size
685 KB
Language
German
Keywords
Formen, Fuktion, Konstruktion, Geschichte, Thomas, Keneallys, Playmaker, David, Maloufs, Conversations, Curlow, Creek
Quote paper
Julia Emde (Author), 2008, Formen und Funktion der Konstruktion australischer Geschichte in Thomas Keneallys "The Playmaker" und David Maloufs "The Conversations at Curlow Creek", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118823

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