Medienwirkungen - Review zum Einfluss von Massen- und Individual-Medien auf die sozialkognitive Entwicklung von Kindern


Diplomarbeit, 2008

123 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Historische Entwicklung der Massenmedienforschung
1.1. Phasederwirkungsstarken Medien
1.2. Phase der wirkungsschwachen Medien

2. Kritik an der Massenmedienwirkungsforschung

3. Grundbegriffe
3.1. Nutzung
3.1.1. Forschungsansätze
3.1.2. Aktuelle Befunde der Mediennutzung bei Kindern
3.2. Rezeption
3.3. Aneignung
3.3.1. Folgekommunikation

4. Ansatz der strukturanalytischen Rezeptionsforschung -

das handlungstheoretische Rezeptionsmodell
4.1. Rezeption
4.2. HandlungsleitendesThema
4.3. AufbaudesModells
4.3.1. Strukturmerkmale
4.3.2. Prozessmerkmale
4.4. Aneignung
4.4.1. Vermittlung
4.4.2. Involvement
4.4.3. Para-soziale Interaktion
4.4.4. Folgekommunikation

5. Implikationen für die Wirkungsforschung
5.1. Begrenzungen von Medienwirkungen
5.2. Methodisches Vorgehen

6.fragestellungen

Fragestellungen

Aktuelle Forschung

Grundlagenforschung

7. Spitzer
7.1. Mechanismen des Gehirns
7.2. Problematiknach Spitzer
7.2.1. Körperliche Folgen
7.2.2. Virtuelle Realität
7.2.3. Lernen mit dem Computer?
7.3. Lösungsansätze nach Spitzer
7.4. Kritik
7.4.1. Medienwirkungsmodell
7.4.2. Methodisches Vorgehen
7.4.2.1. Neuroimaging
7.4.3. Menschenbild
7.4.4. Fazit zur Medienwirkungsforschung von Spitzer
7.4.4.1. Abgleich mit dem handlungstheoretischen Struktur-und Prozessmodell
7.4.4.2. Aussagekraft

8. Hüther
8.1. Problematiknach Hüther
8.1.1. Gesellschaft und frühkindliche Erfahrungen
8.1.2. Gehirnentwicklung
8.1.3. Der Computer
8.2. Konsequenz
8.3. Lösungsansätze nachHüther
8.4. Kritik
8.4.1. Medienwirkungsmodell
8.4.2. Methodisches Vorgehen
8.4.3. Menschenbild
8.4.4. Charakteristik von Computerspielen
8.4.5. Fazit zur Medienwirkungsforschung von Hüther
8.4.5.1. Abgleich mit dem handlungstheoretischen Struktur-und Prozessmodell
8.4.5.2. Aussagekraft

9

Fazit zur Hirnforschung im Rahmen der Medienwirkungsforschung

Angewandte Forschung

10. Pfeiffer
10.1. Problematiknach Pfeiffer
10.2. Lösungsansätze nach Pfeiffer
10.3. Kritik
10.3.1. Medienwirkungsmodell
10.3.2. Menschenbild
10.3.3. Methodisches Vorgehen
10.3.4. Abgleich mit dem handlungstheoretischen Struktur- und Prozessmodell
10.3.5. Abgleich mit Ergebnissen anderer Studien
10.3.6. Aussagekraft
10.4. Fazit zur kriminologischen Forschung von Pfeiffer im Rahmen der

Medienwirkungsforschung

11. Diskussion
11.1. Beantwortung der Fragestellungen
11.2. Kritische Betrachtung dieser Arbeit
11.3. Ausblick

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Literatur

Danksagung

Mein Dank geht zunächst an Frau Prof. Dr. Lucius-Hoene, die mir durch die offizielle Betreuung das Schreiben dieser Arbeit ermöglicht hat.

Herrn Neumann-Braun möchte ich ganz besonders danken für die gute inhaltliche Betreuung meiner Arbeit.

Weiterhin möchte ich vor allem meiner Mutter, aber auch meinem Vater und allen anderen „Querlesern", für viele Stunden des Korrekturlesens und hilfreiche Kritik danken.

Die größte Unterstützung war für mich Judith Krayer, die während der gesamten Diplomarbeitszeit für mich da war.

Zum Schluss noch einen großen Dank an meine Familie und meine Freunde dafür, dass sie immer für mich da sind und mir damit die nötige Durchhaltekraft geben.

Zusammenfassung

Die interdisziplinäre Medienforschung hat im letzten Jahrhundert eine Entwicklung vom einfachen Stimulus-Response-Modell der Medienwirkungen, hin zu differenzierten Modellen der Medienrezeption hinter sich gebracht. Das handlungstheoretische Rezeptionsmodell fällt in die zweite Kategorie und wurde in den 90er Jahren von Charlton und Neumann-Braun entwickelt. Es geht von einem Rezipienten aus, der - im Kontext seiner Lerngeschichte und aktuellen Situation - aus dem Medienangebot aktiv etwas für ihn thematisch Passendes auswählt und zur Lebensbewältigung und Identitätsbewahrung nutzt.

In der aktuellen öffentlichen Debatte stehen jedoch Aussagen der Hirnforscher Spitzer und Hüther und des Kriminologen Pfeiffer im Vordergrund, die ein bedrohliches Bild der negativen Medienwirkungen zeichnen: Der Konsum von Bildschirmmedien verursache unter anderem Schulversagen, soziale Isolation, Krankheit und schließlich den Tod.

Aus dieser Diskrepanz zwischen der Entwicklung der Medienforschung und der aktuellen Debatte ergeben sich die Fragen, inwieweit diese aktuellen und mit modernen wissenschaftlichen Methoden gewonnenen Aussagen das handlungstheoretische Rezeptionsmodell widerlegen können bzw. vor dem Hintergrund der kognitionswissenschaftlichen Forschung adäquat sind.

Die Recherche im Rahmen dieser Arbeit hat gezeigt, dass die zugrunde liegenden Wirkungsmodelle der drei Wissenschaftler zu großen Teilen nicht den Erkenntnissen der Rezeptionsforschung entsprechen und die Datengrundlage, auf die sich die Neurowissenschaftler beziehen, nicht aus ihrem eigenen Labor stammt. Dementsprechend gering ist die Aussagekraft der aus den Aussagen abgeleiteten Handlungsanweisungen. Während die Methoden neurowissenschaftlich sind, ist die Argumentation mehrheitlich pädagogisch.

Die Kriminologische Forschung von Pfeiffer bewegt sich mehr im Feld der sozialen Ungleichheits­forschung und weniger im Medienforschungsrahmen. Deswegen sollten die aus dieser Forschung stammenden Aussagen eingeschränkt verallgemeinert werden.

Einleitung

„Die Opposition zwischen Unterhaltung und Bildung ist ein Fetisch zumal der deutschen Reaktion auf die populäre Kultur, der den Blick auf die Tugenden und Untugenden des Mediums gerade verstellt. " Keppier, 2006, s. 320

Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Wirkung von Medien auf Kinder und hat zum Ziel, eine realistische Einschätzung des derzeitigen Forschungsstandes zu geben. Es soll also geklärt werden, wie viel bereits über Medienwirkungen auf Kinder bekannt ist und auf welcher Basis diese Aussagen getroffen werden.

Während das Fernsehen, laut der KIM-Studie aus dem Jahr 2006, immer noch das beliebteste und wichtigste Freizeitmedium der Heranwachsenden ist, holen die digitalen Medien in den letzten Jahren in ihrer Bedeutung immer mehr auf (Gleich, 2007).

Es ist allerdings gerade diese Form der kindliche Beschäftigung mit den Medien, die derzeit in der Populärpresse als Ursache für allerlei Übel benannt wird: Fernsehen mache dick, dumm, krank und traurig - der Computer zusätzlich auch noch süchtig. Diese beunruhigenden Aussagen stammen allesamt von etablierten Wissenschaftlern: den Neurowissenschaftlern Prof. Dr. Dr. Spitzer und Prof. Dr. Hüther und dem Kriminologe Prof. Dr. Pfeiffer, die verunsicherten Lehrern und Eltern anschließend, in Form von Vorträgen und Ratgebern, praktische Handlungstipps liefern.

Entgegen diesen bedrohlichen Szenarien ist ein grundsätzlicher Trend in der Geschichte der Medienwirkungsforschung in einer allmählichen Zurückweisung starker Medieneffekte zu sehen (Jäckel, 2008). Aufgrund der Unergiebigkeit der reinen Ergebnisforschung hat bereits in den 80er Jahren eine Verlagerung des Interesses von der reinen Wirkung des Medienkonsums auf den Vermittlungsprozess begonnen. Deswegen spricht man heute nicht mehr ausschließlich von Medienwirkung, sondern stattdessen von einem Rezeptionsprozess, dessen Wirkung als viel geringer einzuschätzen ist und vom Rezipienten aktiv mitgestaltet wird (Charlton & Neumann, 1982). In diesem Zusammenhang haben Charlton und Neumann (1992) ein handlungstheoretisches Rezeptionsmodell entwickelt, das die Medienrezeption als prozessual und von der sozialen Situation des Rezipienten abhängig definiert.

Diese offensichtliche Diskrepanz zwischen der Entwicklung der Medienforschung und der aktuellen konservativen Debatte leitet zu den Fragen, inwieweit die aktuellen Aussagen das handlungstheoretische Rezeptionsmodell widerlegen und wie adäquat sie vor dem Hintergrund der kognitionswissenschaftlichen Forschung sind.

Da die Medienforschung mit naturwissenschaftlichen, kognitionswissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Arbeiten schon immer multidisziplinär war, kann man zunächst davon ausgehen, dass die Forschung der Neurologie und der Kriminologie eine Bereicherung darstellt. Die Frage ist allerdings, ob die Neurowissenschaft mit ihren Ergebnissen einen relevanten Erkenntniszugewinn leisten kann und wie es um die Qualität der kriminologische Forschung steht, auf deren Basis Pfeiffer seine Aussagen macht.

Zur Beantwortung der Fragestellungen werden die Verkündigungen der drei Wissenschaftler Spitzer, Hüther und Pfeiffer systematisch dargestellt und am Stand der aktuellen Medienforschung geprüft. Die Relevanz dieser kritischen Prüfung besteht in der Einschätzung der sowohl positiven als auch negativen Potentiale der Medien.

In den Kapiteln 1 bis 3 soll ein Überblick über die Entwicklung der Medienwirkungs- und Rezeptionsforschung gegeben werden. Anschließend (Kapitel 4) werden die strukturanalytische Rezeptionsforschung und das von Charlton und Neumann-Braun entwickelte handlungstheoretische Rezeptionsmodell genauer vorgestellt und die sich daraus ergebenden Implikationen für die Medienforschung aufgezeigt (Kapitel 5). In Kapitel 6 werden die Fragestellungen formuliert, die in Kapitel 11 beantwortet werden, nachdem die Forschung der Neurowissenschaftler Spitzer und Hüther (Kapitel 7 bis 9) und des Kriminologen Pfeiffer (Kapitel 10) differenziert dargestellt und eingeordnet worden ist.

1. Historische Entwicklung der Massenmedienforschung

Die Theoriebildung innerhalb der Medienwissenschaft ist nach Bonfadelli (2004, S. 27) „schwankend, diskontinuierlich und fragmentarisch". Das liegt unter anderem daran, dass sich sowohl das Forschungsobjekt als auch die theoretischen Ansätze geändert haben. Erschwerend kommt überdies die Multidisziplinarität dieses Forschungsfeldes hinzu. Nach Brosius und Esser (1998) wurden die Konzepte der Medienwirkungsforschung auch durch die jeweilige aktuelle politische Kultur beeinflusst. Fernseher, Computer und Internet sind zu einem „zentralen Faktor der Gesellschaft" (Brosius & Esser, 1998, S. 353) geworden und deswegen von großer Bedeutung für die Forschung, vor allem die Auftragsforschung durch Werbeträger.

Es gibt unterschiedliche Arten der Einteilung der verschiedenen Ansätze der Medienwirkungs- und Rezeptionsforschung. Sehr verbreitet ist die grobe Unterteilung in eine Phase der wirkungsstarken Medien (anzusiedeln etwa 1910-1945) und eine Phase der wirkungsschwachen Medien (1945 bis heute). Während man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert von Wirkungsforschung sprach, hat sich mittlerweile der Begriff der Rezeptionsforschung bewährt. Letztere fußt auf der Erkenntnis, dass unterschiedliche Menschen unterschiedlich reagieren (Charlton, 2007), und unterscheidet sich von der Medienwirkungsforschung insofern, als dass sie „die Interaktion von RezipientInnen mit Texten bzw. Bildern entweder als einen kognitiven Prozess oder als eine besondere Form des sozialen Handelns versteht" (Charlton & Barth, 1995, Zusammenfassung).

Der Ursprung dieses grundsätzlichen begrifflichen Wandels liegt in den 70er Jahren: es fand eine generelle Akzentverschiebung hin zu einem aktiven Rezipienten, symmetrischer Kommunikation und der Rezeption mit Prozesscharakter statt. Die Phasen der Medienforschung unterscheiden sich in der Beurteilung der Wirkungsproblematik und der jeweils postulierten Stärke des Mediums. Letztere steht in direktem Zusammenhang mit der Publikumskonzeption, was bedeutet, dass eine geringe Medienstärke mit einem starken Rezipienten einhergeht und vice versa (Bonfadelli, 2004). Zusammenfassend siehe Tabelle 1.1

Tabelle 1: drei Phasen der Wirkungsforschung (Bonfadelli 2004, S. 27)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Schenk (2007) fügt der Wirkungsforschung noch eine weitere Phase hinzu und unterscheidet damit: 1. die Anfangsjahre (ca. bis Anfang 1940), in denen starker Wirkungen angenommen und Einzelfallstudien gemacht wurden, 2. die 40er / 50er / 60er Jahre mit Klapper als Verfechter neuer Methoden der empirischen Sozialforschung. In dieser Phase wurden Massenmedien als relativ unwirksam konstatiert, 3. die 70er und 80er Jahre mit einer Rückkehr zum Modell starker Medienwirkungen und 4. die 90er und 2000er Jahre mit dem Fokus auf kognitiven Wirkungen (anstelle von Einstellungen) und der Kombination des Modells starker Wirkungen mit dem „Limited- Effects"-Modell.

1.1. Phase der wirkungsstarken Medien

In der ersten Phase der Publikums- und Wirkungsforschung lag das Interesse vor allem in der Beschäftigung mit Effekten von spezifischen Medieninhalten auf die „undifferenzierte „Masse" des Medienpublikums" (Bonfadelli, 2004, S. 55). Medienwirkungen wurden als statische Produkte angenommen, die vor allem in Einstellungsänderungen bestanden. Der Wirkungsprozess wurde hierarchisch interpretiert: am Anfang steht das Wissen, welches die Einstellung verändert, die wiederum zu einer Änderung des Verhaltens führt. Grundsätzlich wurde in dieser Phase der Wirkungsforschung ein enger und eindeutiger Zusammenhang des Inhalts der massenmedialen Aussage und ihrer Bedeutung angenommen (Teichert, 1972).

Das Stimulus-Response-Modell der 20er / 30er Jahre ist der erste systematische Ansatz zur Erfassung von Medienwirkungen (Brosius & Esser, 1998). Das Modell postuliert die Allmacht der Medien auf der Basis einer „direkten, unvermittelten und monokausalen Wirkung der Massenkommunikation auf den Rezipienten" (Bonfadelli, 2004, S. 29).

Medienwirkungen sind in diesem Modell die spezifische Reaktion des Rezipienten auf eine spezifische Reizvorlage. Stimulus und Response werden als isomorph angenommen (Brosius et al., 1998). Diese Wirkungsannahme wurde später als „hypodermic-needle concept" (Berlo, I960, zitiert in Brosius et al., 1998, S. 343) bezeichnet. Damit soll ausgedrückt werden, dass der Rezipient sofort und direkt durch die Medien beeinflusst wird, als ob er eine Spritze bekommen würde. Der Rezipient ist den Medien also schutzlos und willkürlich ausgeliefert (Brosius et al., 1998). Das Konzept des Stimulus-Response-Modells steht in einem engen Zusammenhang mit der vielbeachteten Lasswell­Formel. Lasswell wollte Kommunikationsvorgänge durch die Frage „Who/Says What/In Which Channel/To Whom/Whith What Effect?" (Lasswell, 1984, zitiert in Brosius et al., 1998, S. 348) beantworten. Seine Orientierung in der Kommunikationsforschung war im Gegensatz zu früherer Forschung allerdings makroskopisch, fragt also nach der Wirkung der Medien auf die Gesellschaft und ihre Teilbereiche, vor allem auf das politische System. Nach Schulz (1982) wird Kommunikation durch die Lasswell-Formel als physikalischer Prozess begriffen, als wäre sie eine materielle oder physikalische Erscheinung (Transfermodell der Kommunikation).

1.2. Phase der wirkungsschwachen Medien

Infolge von soziologischer und psychologischer Forschung kam es in den 50er Jahren zu einem Paradigmenwechsel. Als sehr einflussreich hat sich dabei Klapper mit seinem Vorschlag erwiesen, „Massenmedien als Einflüsse zu behandeln, die inmitten von anderen Einflussgrößen in einer Gesamtsituation wirken" (Klapper, 1960, zitiert in Schenk, 2007, S.762). Zwischen Reiz und Reaktion wurden dementsprechend intervenierende und mediatisierende Variablen gestellt, wie z.B. die psychische Struktur und die soziale Verankerung des Rezipienten. Diesem Muster entspricht das S-O-R-Modell. Hierbei spielt nicht mehr das Medium, sondern der Organismus die entscheidende Rolle. Das heißt, dass - unter Einbezug sozialer Bedingungen - letztlich jeder Inhalt „in beliebiger Weise der Wirklichkeits- und Identitätssetzung des Rezipienten dienen kann" (Teichert, 1972, S. 437). Außerdem sind nicht mehr Einstellungsänderungen, sondern die Verstärkung der vorhandenen Meinung eine Wirkung von Medienrezeption.

Das Paradigma des Rezipienten änderte sich in den 70er Jahren im Zuge einer generellen Neuorientierung in das eines aktiven Rezipienten, der die Medien sinnhaft nutzt (McLeod & Reeves, 1980, in Bonfadelli, 2004). Die Kommunikation wird hier als symmetrisch angenommen, mit dem Sender und dem Empfänger als in gleicher Weise aktiven Partnern (Schulz, 1982). Des Weiteren wurde der Faktor Zeit in die Untersuchung von Kommunikationsvorgängen aufgenommen. Nach Schulz (1982) sind es die zeitbezogenen Merkmale a) Prozesscharakter von Kommunikation, b) Langfristigkeit von Wirkungen und c) die „permanente Interaktion und Interdependenz vieler an Einflussprozessen beteiligter Faktoren" (Schulz, 1982, S. 61). Der dynamische Aspekt von Kommunikation muss durch den Prozessaspekt (Faktor Zeit) miteinbezogen werden, da andernfalls „nicht geklärt werden kann, welche „internen Mechanismen" zu den beobachtbaren Veränderungen der abhängigen Variablen geführt hat" (Schulz, 1982, S. 62). Das Zusammenwirken des Mediennutzers und der Medien selbst kann insgesamt als ein komplexes Wechselverhältnis charakterisiert werden (Aufenanger, 2007).

Dementsprechend hat in methodischer Hinsicht eine Entwicklung zu immer mehr qualitativen Rezeptionsstudien stattgefunden. Das kommunikative Verhalten von Rezipienten wird immer stärker untersucht, das heißt, warum sich Rezipienten bei bestimmten Medien in bestimmten Situationen Informationen suchen bzw. es nicht tun (Bonfadelli, 2004).

Tabelle 2: Übersicht zu Ansätzen der Medienforschung (vgl. Meyen 2002, S. 33)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Innerhalb dieser Phase der wirkungsschwachen Medien lassen sich die Ausprägungen „Ohnmacht der Medien" und „moderate Effekte" unterscheiden (Bonfadelli, 2004, S. 16; 27).

Der von Katz und Foulkes (1962, in Bonfadelli, 2004) entwickelte Uses-and-Gratifications-Ansatz erklärt Mediennutzung ausschließlich über menschliche Grundbedürfnisse und fragt „Was machen die Menschen mit den Medien?" und nicht andersherum. Damit gehört er zu den motivationalen Ansätzen (siehe Tabelle 2) und sieht die Wirkung von Medienkommunikation als etwas Positives. Im Gegensatz zu den kontextbezogenen Ansätzen werden weder die Inhalte der Medien noch das soziale Umfeld der Mediennutzung berücksichtigt (Meyen, 2004, S. 31). Zentral sind hier die Interessen und Bedürfnisse der Rezipienten (Schenk, 2007). Die Mediennutzung in der Gratifikationsforschung ist „aktives, sinnhaftes und intentionales soziales Verhalten" (Bonfadelli 2004, 33).

Dazu im Gegensatz steht die handlungstheoretische Rezeptionsforschung, deren Menschenbild nicht mehr das eines rational handelnden Individuums ist. Sie vereint unter den Annahmen, dass die Rezeption aus der Alltagspraxis entsteht, von ihr begleitet wird und auf sie zurückwirkt, mehrere Konzepte. Zu nennen wären hier beispielsweise der Nutzen-Ansatz, die Encoding-Decoding-Theorie und die Strukturanalytische Rezeptionsforschung (Charlton, 1997).

Viele der kontextbezogenen Modelle orientieren sich stark am Einzelnen (Meyen, 2004).

2. Kritik an der Massenmedienwirkungsforschung

Bei der Kritik an der klassischen Medienwirkungsforschung muss man drei unterschiedliche Argumentationsebenen unterscheiden: a) die Kritik am Mythos des Phasenmodells, b) den messtheoretischen Aspekt und die Konstruktion der Untersuchungsdesigns und c) die theoretische Herangehensweise an den Begriff der Medienwirkungen selbst.

a) Nach Brosius et al. (1998) ist die Einteilung der Medienwirkungsforschung in Phasen eine unzulässige Vereinfachung der tatsächlich stattgefundenen Forschung. Gleichzeitig würden die Unterschiede der Forschungsergebnisse übertrieben. Das S-R-Modell sei niemals so angenommen worden. Vielmehr hätten die Forscher zu damaligen Zeiten noch nicht über die technischen und versuchsplanerischen Möglichkeiten verfügt, die zur Umsetzung der theoretischen Modelle notwendig gewesen wären. Auch Chaffee und Hochheimer (1982, in Brosius et al., 1998) konstatieren, dass in den 30er und 40er Jahren kein Forscher Modelle mit einfachen und direkten Effekten des Medieninhalts auf eine große Masse an Menschen angenommen hat.

Nach Lang und Lang (1981, zitiert in Brosius et al., 1998, S. 351) habe stattdessen „eine erhebliche Kontinuität" vorgeherrscht. Das gilt nicht nur für die theoretischen Überlegungen, sondern auch für die empirischen Befunde der Medienwirkungsforschung. Hier findet sich eine „bemerkenswerte Konstanz der Befundlage" (vgl. Lang & Lang, 1981; McGuire, 1986, zitiert in Brosius et al., 1998). „Die Kontinuität wird unterschätzt und die Unterschiede zur Vergangenheit überschätzt" (Brosius et al., 1998, S. 356f).

b) Da unsere Gesellschaft mittlerweile so stark von Massenkommunikation bestimmt ist, überlagern sich indirekte und direkte Wirkungen zunehmend. Das Messen und somit empirische Belegen einer isolierten Wirkungsursache wird dadurch nach Merten (in Brosius et al., 1998) immer schwieriger.

„Was sich als Wirkung einer Kommunikation zeigt, ist nicht allein das Resultat eines sorgsam gestalteten Stimulus, sondern steht unter dem Einfluss eines „host of other variables" (Klapper 1960, zitiert in Jäckel 2008, S. 73; vgl. auch Glogauer, 1998).

Ein weiteres zentrales Problem innerhalb der Forschung besteht in der zumeist fehlenden Unterscheidung der Begriffe Intensität und Ausmaß von Medienwirkung. Während die Intensität der Wirkung für die kausalnomologische Forschung theoretisch gesehen keine Rolle spielt, werden doch immer wieder extreme Reaktionen von einzelnen Medienrezipienten als Beweis für das Ausmaß (also den Anteil der beeinflussten Rezipienten) der Medienwirkung angenommen (Brosius et al., 1998).

Medienwirkungen sollten in theoretischer Hinsicht verstärkt als „komplexe, längerfristig ablaufende und dynamische Prozesse, die nicht nur das Einzelindividuum, sondern makrotheoretische soziale Systeme im umfassenden Sinn betreffen, thematisiert und mittels Mehrebenendesigns im Medienvergleich untersucht werden" (Schulz, 1982; Donsbach 1995; McQuail, 2000; Pan & McLeod, 1991; Perse 2001, zitiert in Bonfadelli, 2004, S. 16).

c) Abgesehen von der Vollständigkeit der Datenerhebung, kritisiert Holzer (1994) die grundsätzliche Neigung der Kommunikationswissenschaftler, sich an Standards naturwissenschaftlichen Vorgehens zu orientieren, nämlich medienbewirktes Verhalten unter (Kausal-)Gesetzmäßigkeiten zu erklären, „die seine Beschaffenheit bewirken" (Holzer, 1994, S. 13). Das Problem besteht bei dieser Vorgehensweise darin, dass gerade die Aspekte sozialen Handelns - als welches man Medienhandeln bezeichnen muss - ausgeklammert werden, die kennzeichnend sind. Soziales Handeln als:

- intersubjektiv betriebener Mechanismus

- auf Gründen beruhend, die in bedürfnis-, erkenntnis-, und gefühlsbezogener Motivation und Reflexion der Handelnden verankert ist

- auf den historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang zu beziehen

Medienhandeln ist damit „eine spezifische Formung des sozialen Handelns unter wiederum spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen" (Holzer, 1994, S. 15) und dementsprechend ein „Moment des gesellschaftlichen Zusammenhangs" (Holzer 1994, S. 19), der die Medien, ihre Produzenten und Rezipienten in gleichen Anteilen integriert. Somit sind die Resultate der Wirkungsforschung zwar richtig, gleichzeitig aber irreführend, weil sie „die gesellschaftlichen Voraussetzungen dieser Reaktionsform und deren Verflochtenheit mit der sozialen Praxis des Handelnden nicht treffen" (Holzer, 1994, S. 16) Stattdessen wird immer noch medienorientiert vorgegangen, der Prozess der Medienrezeption als Persuations-Prozess aufgefasst und das linearen Kausalitätsprinzip angenommen. Was Holzer vor allem kritisiert, ist die gegenstandsverfehlende Art der Interpretation (Holzer, 1994, S. 17): Da nur äußerlich Merkmale

gemessen werden, können auf diese Weise von entscheidenden Themen wie Sinnhaftigkeit sozialen Handelns und das Motivations-, Reflexions- und Bedürfnispotential des Handelnden nur „vage Schattenbilder" ihres eigentlichen Inhalts miteinbezogen werden. Was auf diesem Weg gemessen wird, entspricht im besten Fall messtheoretischen Anforderungen, wird aber dem, was qualitativ festgehalten werden soll, nicht gerecht.

Zusammengefasst kritisieren Charlton und Neumann-Braun (1993, in Holzer, 1994) das Fehlen der gesellschaftlich-situativen Bedingungen (vor, während und nach der Rezeption) und der persönlichkeitsstrukturellen Besonderheiten. Obwohl die Aktivität des Publikums mittlerweile erkannt werde und eine Abwendung vom passiven Rezipienten stattgefunden hat, würden diese Aktivitäten weiterhin „wesentlich mechanistisch begründet oder erklärt" (Renckstorf, 1977, S. 14).

3. Grundbegriffe

3.1. Nutzung

Der Begriff „Mediennutzung" meint zunächst einmal nur den „Kontakt" mir dem Medium: „Wer kommt wann wie lange mit welchen Angeboten in Berührung?" (Meyen, 2004, S. 10). Hepp (2005, S. 68) beschreibt Mediennutzung als „Gesamtphase des wie auch immer gearteten „Kontaktes" mit einem Medium / Medieninhalt."2

Früher wurde vor allem Einzelmedienforschung betrieben, heute verbreitet sich die Multimediaforschung immer mehr. Das heißt, dass Daten von Studien über einzelne Medien fusioniert werden. Die bestehende Distanz zwischen den Medienschaffenden und dem Publikum macht Mediennutzungsforschung, zumeist angewandte Auftragsforschung, als Feedback im Publikumsmarkt relevant (Bonfadelli 2004, S. 53).

Bei der Auseinandersetzung mit Medien muss auch die Veränderung der Medienlandschaft - beispielsweise das Hinzukommen von digitalen Medien - miteinbezogen werden. Medialer Wandel steht zudem nicht allein, sondern in einem interdependenten Verhältnis zum kulturellen Wandel. Diese Beziehung ist jedoch eher als Wechselverhältnis denn als Wirkungszusammenhang zu fassen.

Momentan prägen vor allem zwei Prozesse den Medienwandel: 1. die Etablierung digitaler Medien und 2. die Globalisierung der Medienkommunikation (Hepp, 2005). Nach Meyen (2004) verlagert sich die Mediennutzung zunehmend in den privaten Bereich. Einen bedingenden Faktor sieht er in der verbesserten Ausstattung der Privathaushalte. Aufgrund der Expansion der Medien spricht Schenk (2007, S. 766) von einer „Individualisierung der Wahlmöglichkeiten". So hat sich beispielsweise die Programmauswahl im Fernsehen zwischen 1990 und 1995 verfünffacht (Kiefer, 1996). Mit dem wachsenden Angebot geht die Segmentierung des Publikums in „Geschmackspublika" (Schenk, 2007, S. 766) einher, die sich hinsichtlich ihrer Präferenzen, der Art und des Umfangs der Mediennutzung unterscheiden (Schenk, 2007, S. 766). Schenk (2007) unterscheidet zwischen habitueller und instrumenteller Nutzung. Letztere tritt vor allem bei interaktiven Medien auf, bei denen Nutzung mit Aktivität einhergeht. Der Begriff der „Informationsüberlast" (Schenk, 2007, S. 776) bezeichnet das ungleiche Verhältnis von vorhandener bzw. angebotener Information und der tatsächlich genutzten Information.

In der öffentlichen Debatte ist Mediennutzung - vor allem von Kindern - vorrangig mit passiver Vereinnahmung und Konsum verbunden. Gleichzeitig ist im Rahmen der Medienforschung deutlich geworden, „dass die jungen Nutzer durchaus aktiv und zum Teil sehr kompetent mit den Medien umgehen" (Mansel, Fromme, Kommer & Treumann, 1999, S. 10). Insgesamt zeichnen die Ergebnisse der Forschung das Bild eines Publikums, das „hoch habituisiert und eher wenig elastisch" (Bonfadelli, 2004, S. 82) in seiner Mediennutzung ist. Des Weiteren ist die Gesamtmediennutzung, also die Nutzung aller Medien einer Person zusammen, über die letzten Jahre hinweg sehr stabil geblieben (Bonfadelli, 2004). Speziell bei Kindern zwischen 6 und 13 zeigen sich seit Anfang der 1990er Jahre konstante Zeiten für die Mediennutzung, die im Schnitt bei 95 Minuten täglich liegen (vgl. Gleich, 2007). Damit befinden sich deutsche Kinder im Europäischen Durchschnitt (Aufenanger, 2007; Aufenanger, 2005). Bei Erwachsenen hingegen zeigt sich eine Zunahme in der Fernsehnutzung bei gleichzeitiger Reduktion beim Zeitungs- und Buchlesen (Fritz & Klingler, 2008) und eine deutliche Zunahme der Internetnutzung in den Jahren 1999 bis 2004 (Bonfadelli, 2004). Kiefer (1996) stellte in ihrer Kohortenuntersuchung einen geringer werdenden Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Bildungsgrad fest.

Nach Hasebrink (2003, in Meyen, 2004) lässt sich Mediennutzung in drei Teilphasen differenzieren:

a) die prä-kommunikative Phase der Medienauswahl

b) die kommunikative Phase der Medienrezeption

c) die post-kommunikative Phase der Medienaneignung

3.1.1. Forschungsansätze

Die Forschungsansätze innerhalb der Mediennutzungsforschung sind vielfältig und weisen jeweils Vor- und Nachteile auf. Bonfadelli (2004) unterscheidet Buchmarkt- / Buchlese(r)forschung, Printmedien- / Leserschaftsforschung, Zuschauer- und Hörerforschung, Internetforschung und Intermedia-Forschung. Innerhalb dieser Ansätze kann weiterhin zwischen verschiedenen konkreten Herangehensweisen differenziert werden, die ihrerseits von der Definition des Gegenstandsbereichs abhängen. In der Buchleseforschung fehlt beispielsweise eine verbindliche Lesedefinition. Durch unterschiedliche Zwecke in der Forschung, die in der Planung, Werbeträgerforschung oder Werbemittelforschung liegen können, sind jeweils andere Aspekte der Leserschaftsforschung von Interesse. Weiterhin muss man zwischen quantifizierenden Methoden und qualitativen Verfahren und der Art der Erhebung der Daten unterscheiden. Hierbei gibt es die Möglichkeit von Telefoninterviews, Tagesablaufbefragungen, Tiefeninterviews, Polaritätenprofilen, projektiven Tests, Copy-Tests und Blickaufzeichnungen.

3.1.2. Aktuelle Befunde der Mediennutzung bei Kindern

Laut einer Untersuchung zu den Fernsehgewohnheiten und Fernsehreichweiten im Jahr 2005 sahen Kinder im Alter von 3 bis 13 Jahren an einem Durchschnittstag rund anderthalb Stunden fern (91 Minuten). 6 bis 13jährige Kinder, die keinen eigenen Fernseher besitzen, schauen im Schnitt 90 Minuten Fernsehen pro Tag, während Fernsehbesitzer eine gute halbe Stunde mehr konsumieren (Haldenwang, 2008).3

Die sozio-ökonomischen Bedingungen, unter denen Kinder leben, sind ein wichtiger Faktor, wie sich die Gesamtmediennutzung auf die verschiedenen Einzelmedien verteilt (Paus-Hasebrink & Bichler, 2005). So werden digitale Medien stärker von statushöheren Bevölkerungsgruppen genutzt, während für statusniedrigere Teile der Bevölkerung traditionelle Medien (vor allem das Fernsehen) weiterhin die zentrale Rolle spielen (Gleich, 2007). Die Untersuchung Programmangebote und Spartennutzung im Fernsehen aus dem Jahr 2004 konnte zeigen, dass desto weniger ferngesehen wird, je höher die Bildung ist (Haldenwang, 2008).

Heim, Brandtzoeg, Hertzberg, Endestad und Torgensen (2007, zitiert in Gleich, 2007, S. 529) konnten in einer Studie bestätigen, dass soziale und psychische Voraussetzung bei Kindern einen Einfluss auf die „Wahl von und Präferenz für spezifische Angebote" haben. Eine fortgeschrittene, also intensive Nutzung des Computers hängt mit geringerer (wahrgenommener) Sozialkompetenz und mit einer höheren Einschätzung der eigenen körperlichen Fähigkeiten zusammen. Die neuen digitalen Medien sind allerdings für alle Kinder und Jugendliche als Kommunikationsmedium interessant und damit von den gemessenen psychosozialen Faktoren unabhängig (Heim et al. 2007, in Gleich 2007).

Natürlich spielen auch die Eltern und ihre Reglementierungen eine Rolle bei der Mediennutzung von Kindern (vgl. Scarbath, 1988, in Glogauer, 1998). Eine EU-weite Studie (European Commission, 2006, in Gleich, 2007) hat herausgefunden, dass ein großer Teil (40%) der Eltern den Internet- und Fernsehkonsum ihrer Kinder reglementiert und kontrolliert, Mobiltelefone, Computer und Spielkonsolen dagegen weitaus geringeren Kontrollen unterliegen (nur 17-19%).

3.2. Rezeption

Die Medienrezeption fällt nach Hepp (2005) in die kommunikative Phase der Mediennutzung. Die Fragestellung, die sich auf die Medienrezeption bezieht, lautet: „Wie wird das Angebot aufgenommen, verarbeitet und interpretiert, welche kognitiven und emotionalen Prozesse laufen während der Nutzung ab?" (Hasebrink, 2003, zitiert in Meyen, 2004, S. 10).

Seit den 80er Jahren geht der Trend in der Medienforschung verstärkt in Richtung Medienrezeptionsforschung und entfernt sich damit von der Medienwirkungsforschung, der ein kausalnomologisches Erklärungsmodell zugrunde liegt.

Die Rezeptionsforschung beschäftigt sich auf der einen Seite mit den inhaltlichen und formalen Eigenschaften der Medienangebote, die von Sutter und Charlton (1997, in Sutter 1999) als Texte bezeichnet werden. Auf der anderen Seite werden die psychologischen und sozialen Bedingungen der Rezeption erfasst. Dabei geht es um die Verbindung zwischen Medienkommunikation und Individualkommunikation und die Beziehung zwischen dem Mediensystem und der Alltagswelt der Teilnehmer. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit, die das gesamte Spektrum der Rezeption betrachten kann (Charlton, 1997). Zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen gibt es allerdings noch grundlegende Unterschiede bezüglich der Auffassung über die Vorgänge bei der Leser-Text-Interaktion.

Rezeption beginnt bereits bei der Zuwendung zu einem Medium, bzw. dem vorhergegangenen Wahlvorgang.

3.3. Aneignung

In der post-kommunikativen Phase der Mediennutzung findet die Medienaneignung statt. Die Anfänge der Aneignungsforschung, wie sie heute noch aktuell ist, sind innerhalb der Cultural Studies zu verorten. Entgegen der in den 1970er Jahren etablierten Medienwirkungs- und Gratifikationsforschung betonen diese Forscher den „Eigensinn" der Medienpublika (Hepp, 2005). Medienaneignung ist „ein Prozess der Re-Artikulation von Kultur" (Hepp, 2005, S. 72). Die Cultural Studies verwenden Aneignung als Oberbegriff und in Abgrenzung zum Ausdruck Rezeption. So soll deutlich gemacht werden, dass „Menschen Medieninhalte in Beziehung zu ihrer Alltagswelt setzen und Bedeutung nicht einfach übernehmen, sondern selbst konstruieren" (Schwer, 2004, zitiert in Meyen, 2004, S. 10).

In Bezug auf die Medienaneignung fragt Hasebrink (2003, zitiert in Meyen, 2004, S. 10): „Wie integrieren die Nutzer die Angebote in ihr Weltbild, welche Konsequenzen ziehen sie?" Nach Hepp (2005, S. 68) beschränkt sich Medienaneignung auf die „sich nach der eigentlichen Rezeption anschließenden Prozesse eines im weitesten Sinne verstandenen Kontaktes mit einem Medienprodukt". An die Stelle der Bedeutungstransmission von einem Sender zu einem Empfänger rücken deswegen heute semiotisch geprägte Kommunikationstheorien, „die die Konstruktion von Bedeutung als zentrale Dimension kommunikativer Praktiken herausstellen" (Ang, 2003, zitiert in Hepp, 2005, S. 70). Besonders in Bezug auf die Nutzung von digitalen Medien (z.B. Chat-rooms) können Rezeption und Aneignung kaum mehr gegeneinander gestellt werden.

Beispiele für Medienaneignung sind kognitive Prozesse der Verarbeitung, Rollenspiele in der Peer­Group oder Folgekommunikation, was der kommunikativen Aneignung entspricht (Hepp, 2005). Ergebnisse diverser Studien haben allerdings gezeigt, dass man nicht mehr wie innerhalb der Cultural Studies davon ausgehen kann, „dass das Potenzial der Medienaneignung per se kritisch eigenständig oder gar widerständig ist" ( Hepp, 2005, S. 70; vgl. auch Brown, 1990 und Morris, 2003, in Hepp, 2005, S. 70).

3.3.1. Folgekommunikation

Folgekommunikation über Medieninhalte ist eine Form der Medienaneignung in der post­kommunikativen Phase der Mediennutzung (Hepp, 2005). Sie findet oft in der Nachphase der eigentlichen Rezeption statt und kann aspekthaft vs. großflächig und implizit vs. explizit sein (Neumann-Braun, 2005). Nach Hepp (2005) kann Folgekommunikation beispielsweise in Gesprächen über das Gesehene, Gehörte oder Gelesene bestehen. Sutter (1999) postuliert, dass die Deutung bzw. die Verhandlung der Bedeutungsmöglichkeiten der Medieninhalte in der kommunikativen Gemeinschaft im Kontext sozialer Interaktion die Offenheit der Beobachtungs- und Deutungsmöglichkeiten wieder einschränkt.

4. Ansatz der strukturanalytischen Rezeptionsforschung - das handlungstheoretische Rezeptionsmodell

Noch immer gibt es nicht die eine integrale Medienwirkungstheorie bzw. Theorie der Mediennutzung, die von allen Disziplinen gleichermaßen anerkannt wird. In meiner Arbeit beziehe ich mich auf das handlungstheoretische Rezeptionsmodell von Michael Charlton und Klaus Neumann-Braun (1992).

Das handlungstheoretische Rezeptionsmodell von Charlton und Neumann-Braun ist im Rahmen des Forschungsschwerpunktes der Untersuchung des Zusammenhangs von Mediengebrauch und kindlicher Identitätsentwicklung in der Familie entstanden (Charlton & Neumann-Braun, 1992). Es soll eine Lücke schließen, die bis zu diesem Zeitpunkt in der Modelllandschaft der Erforschung der Medienrezeption bestand. Das Modell ist einzuordnen in die Gruppe der handlungs- und interaktionstheoretischen Modelle, die wirkungsschwache Medien annehmen, kontextbezogen sind, sich von der reinen Outcome-Forschung distanzieren und am Symbolischen Interaktionismus orientiert sind (Neumann & Charlton, 1990). Die mit dem Modell durchgeführte strukturanalytische Rezeptionsforschung ist qualitativ.

Neumann und Charlton verfolgen das Ziel, ein umfassendes handlungs- und interaktionstheoretisches Massenkommunikationsmodell zu entwickeln, das sowohl die Aspekte des Prozesses als auch der Situation der Rezeption von Massenmedien umfasst und des Weiteren empirisch bestätigt werden kann (Neumann & Charlton, 1988a). Anstelle von Kausalanalysen werden Strukturanalysen angestrebt. Dabei werden Strukturbedingungen und Regelhaftigkeiten gesellschaftlichen und individuellen (Medien-) Handelns anhand von exemplarischen Strukturanalysen expliziert (Neumann et al., 1990).

Als Grundlage des Modells dient die Kritik am kausalnomologischen Modell der traditionellen Medienwirkungsforschung (Neumann-Braun, 2005). Es integriert „die Kommunikationstheorie der „para-sozialen Interaktion mit Massenmedien" mit einer an Strukturtheorie und Konstruktivismus orientierten Sozialpsychologie und Sozialisationstheorie" (Charlton et al., 1992, S. 85). Dafür werden Einzelbeobachtungen durch sozial-strukturelle Überlegungen ergänzt (Meyen, 2004).

Charlton und Neumann (1982) verstehen Mediennutzung als aktives, realitätsverarbeitendes Handeln, das neben dem kognitiven auch emotionale Aspekte beinhaltet (Aufenanger, 2005).

Innerhalb dieses Handelns lassen sich drei Ebenen der Handlungskoordination voneinander differenzieren, die sich bezüglich ihrer situativen Komplexität und zeitlichen Dauer unterscheiden. Medienhandeln wird aufgeteilt in:

1. den eigentlichen Rezeptionsprozess,
2. den situativen und kulturellen Kontext, in dem die Rezeption stattfindet und
3. den übergeordneten Zusammenhang mit den Aufgaben der Lebensbewältigung und Identitäts­bewahrung (Charlton et al., 1992, S. 83).

Das Zusammenwirken von individueller Konstruktionstätigkeit und sozialer Konstitution stellt einen Ko-Konstruktionsprozess dar (Sutter, 1994, in Charlton, 1997). Auf diesem Weg werden Gesellschaftsstrukturen und Subjektstrukturen vermittelt (Neumann-Braun, 2005), und die Massenmedien werden zu einem zusätzlichen Sozialisationsagenten (Schulz, 1982).

„Individuelle und gesellschaftliche Konstruktionen wirken immer in einem Prozess der Ko- Konstruktion zusammen, wenn Menschen sich im Spannungsfeld von „medialer Überwältigung4 und kritischer Rezeption" (Sutter, 1995, S. 353) mit Medienangeboten beschäftigen und auseinandersetzen" (Neumann-Braun, 2005, S. 59; vgl. auch Klimmt, Hartmann & Vorderer 2005).

Das Hauptinteresse des Modells gilt der Analyse des Rezeptionsprozesses, der als intervenierende Variable zwischen den Medieninhalten und ihrer Wirkung steht (Kohli, 1977, in Charlton et al., 1982). Das Ziel ist es, Regeln zu untersuchen, nach denen Menschen mit Medien umgehen (Charlton etal., 1992).

Die Forscher orientieren sich bei ihrem Ansatz an der Theoriearchitektonik von Georg Herbert Mead, Jürgen Habermas und Ulrich Oevermann (das Subjektmodell basiert auf Piaget, Chomsky, Kohlberg und Lorenzer (vgl. Charlton, 1997)). Es werden außerdem handlungs- und interaktionstheoretische Ansätze (Mead) aufgegriffen und zwar dahingehend, dass der Mensch seine Ziele in der Welt selbst findet und schon vor jeder Zwecksetzung praktisch in seine Situation eingebettet ist (Neumann et al., 1990).

Die Besonderheiten des Ansatzes von Neumann und Charlton sind:

a) Erweiterung des kognitions- und wissenssoziologischen Aspekts des Rezeptionshandelns um Psycho- und Soziodynamik, nämlich Motivation und Affektivität
b) Prozesse der Lebensbewältigung als Rahmen der Medienrezeption
c) dadurch Zugänglichmachung des „Nutzen"-Aspekts der Beschäftigung mit Medien („vermittelnde Auseinandersetzung mit Medien auf dem Hintergrund von Identitätsaufbau und - erhalt" (Neumann et al., 1988a, S. I))
d) Erschließen des Aspekts der gesellschaftlichen Konstitution des Medienhandelns
e) Begriff des handlungsleitenden Themas als zentraler Analysebezugspunkt (Neumann et al., 1988a)

Die Motive eines Rezipienten der Medienkommunikation (wie auch jeder anderen Kommunikation) sind also Orientierung, Bedürfnisbefriedigung, Identitätsbewahrung und Lebensbewältigung (Charlton et al., 1992).

Von besonderem Interesse sind überdauernde und langfristige Themen, da so Informationen über die „langfristige und tiefgreifende Bedeutung des Gebrauchs von Medien für Identität und Lebensgestaltung heutiger Menschen" (Neumann & Charlton, 1988b, S. 24) gewonnen werden können. Denken und Handeln werden nicht von hier auf jetzt - unter dem Eindruck des jeweiligen Medienangebots - unmittelbar geändert. Stattdessen müssen Medienimpulse verarbeitet und vermittelt werden. Das geschieht vor dem Hintergrund der Interessen und Themen, die den Rezipienten längerfristig beschäftigen (Neumann et al., 1988b).

4.1. Rezeption

Die Rezeption von Medien wird von den Autoren (Neumann et al., 1990, S. 31) als „kontextuell gebundenes soziales Handeln mit identitätsstiftender Relevanz konzeptualisiert" und stellt damit einen aktiven, intentionalen Prozess der Auseinandersetzung mit sinnhaften Botschaften dar (Charlton et al., 1992). Fernsehen ist auch bei sehr jungen Kindern ein „aktiver interpretativer Vorgang der Bedeutungskonstruktion" (Götz, 2007, S. 14). Das „individuell interpretierte Material wird zum Ausdruck der eigenen Anliegen genutzt und zur Positionierung innerhalb der Peergroup und gegenüber Erwachsenen verwendet" (Götz, 2007, S. 15).

Charlton und Neumann (1990) machen folgende Annahmen:

- Rezeption entsteht in der Alltagspraxis, wird von ihr begleitet und wirkt auf diese zurück
- Der Rezipient ist ein aktiv handelndes Individuum, das Sinn erzeugen will (Neumann-Braun, 2005)
- Rezeption ist ein mehrphasiger Prozess
- Medien werden für Lebensbewältigung und Identitätsbehauptung benutzt
- Medienrezeption ist ein kommunikativer Akt

Charlton (1997) zufolge stehen die aktive, konstruktive und sinnerzeugende Auseinandersetzung mit dem Medieninhalt und die Leser/Zuschauer-Text-Interaktion im Mittelpunkt. Diese Vorgänge werden in vielen Fällen von sozialer Kommunikation begleitet. Anschließend kann eine Aneignungsphase stattfinden, beispielsweise in Gesprächen, in denen die Medienerfahrung und die eigene Lebenswelt zueinander in Beziehung gesetzt werden.

Nach Charlton und Barth (1995) ist Rezeption Teil eines lebenslangen Kommunikationsprozesses, der bereichsspezifisch nach jeweils besonderen kognitiven, individuellen und sozialen Regeln organisiert ist. Diese Regeln organisieren den Prozess der Bedeutungskonstruktion während der Medienhandlung (Neumann et al., 1990).

In den Rezeptionsprozess gehen sowohl individuelle als auch soziale Merkmale mit ein. Deswegen sind entscheidende Gesichtspunkte bei der Betrachtung des Rezeptionsprozesses a) die kommunikative Kompetenz des Rezipienten5, b) die soziale Situation und c) die aus den ersten beiden Punkten resultierende Bedürfnislage (Charlton et al., 1992).

Des Weiteren verfügt jeder Rezipient über Rezeptionsstrategien6. Diese verändern sich bei Kindern mit dem Alter (Jensen, 1980). Um zum Beispiel ein mittleres Maß an Spannung und persönlicher Betroffenheit zu erzeugen, rezipieren Kinder eine Geschichte nur in Ausnahmefällen von Anfang bis Ende. Man kann ferner stabile Tendenzen im Rezeptionsverhalten feststellen: der inlusive (distanzierte) Stil tritt gegenüber dem illusiven Stil (passiv-selbstversunken) viel häufiger (73%) auf (Rapp, 1973, in Charlton et al., 1992).

Deswegen sind folgende Aspekte bei der Medienrezeption relevant (Charlton et al., 1992):

- Der Bezug zur eigenen Lebenssituation
- Aktuelle und langfristige Bedürfnisse in Form von Themen
- Der soziale Kontext der Rezeptionssituation
- Die medialen Angebote und deren Beziehung zum kulturellen System
- Der Überzeugungsdruck der Medienaussage

4.2. Handlungsleitendes Thema

Das handlungsleitende Thema ist der zentrale Analysebezugspunkt des handlungstheoretischen Rezeptionsmodells von Charlton und Neumann-Braun. Ihrer Ansicht nach verfolgen Menschen in ihrem Medienhandeln Intentionen, die sich vor allem auch im Prozess der sozialen Familieninteraktion bilden und sowohl aktuelle als auch langfristige Bedürfnisse darstellen können (Charlton, 2007; Neumann et al., 1988a). Fritz (1995a, zitiert in Fromme & Vollmer, 1999, S. 221) spricht im Zusammenhang mit jungen Rezipienten vom „Selbstbezug der Spiele" und drückt damit aus, dass Spielthemen oft in einer metaphorischen Beziehung zu aktuellen Lebensthematiken stehen. Themen bringen in dem strukturellen Substrat einer Handlungsszene die Bedürfnisse, Gefühle und Motive zum Ausdruck, die Subjekte im Umgang mit der inneren und äußeren Natur und der sozialen Realität haben bzw. erleben (Neumann et al., 1988a). Nach Paus-Haase (1999a) sind Wahrnehmungsprozesse immer kontextgebunden und perspektivisch.

Um ihre Themen und Alltagserlebnisse verarbeiten können, benötigen Kinder ein Angebot an Figuren, Motivvorlagen und Handlungsmustern. Medien können solche Symbolvorgaben bieten, müssen das aber nicht zwangsläufig sein. Außerdem suchen sich Kinder bereits im Vorschulalter aus dem rezipierten Gesamt von Mediendarbietungen die Symboliken heraus, die sie gebrauchen können (Charlton, 2007; Neumann et al., 1988b). In der Medienkommunikation findet sich nach Charlton et al. (1990, S. 197) „ein Teil der identitätsstiftenden Elemente des dialektischen Gesprächs in veränderter Gestalt wieder" (vgl. auch Keppler, 1996).

In der Folge führen Themen zu einer Voreingenommenheit der Wahrnehmung, was sich in der thematisch voreingenommenen Auseinandersetzung des Rezipienten mit Medien zeigt. Durch das Konzept des handlungsleitenden Themas wird berücksichtigt, dass Menschen ihr Denken und Handeln nicht von Augenblick zu Augenblick unmittelbar ändern, sondern dass Veränderungen im Allgemeinen prozesshaft ablaufen (Neumann et al., 1988a). Nach Graumann (1992, zitiert in Charlton & Borcsa, 1997, S. 255) kommt in der thematischen Voreingenommenheit die „Perspektivität und Finalität der menschlichen Erfahrung zum Ausdruck". Sie beeinflusst nicht nur, welches Thema vom Rezipienten gewählt wird, sondern auch, wie ausdauernd die Mediennutzung betrieben wird (Persistenz) und wie hoch der Grad der inneren Beteiligung am Mediengeschehen (Involvement)7 ist (vgl. auch Schorb, 2003).

4.3. Aufbau des Modells

Innerhalb des handlungstheoretischen Rezeptionsmodells werden Struktur- und Prozessmerkmale der Rezeption unterschieden (siehe Abbildung 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Struktur- und Prozessmerkmale des Medienrezeptionshandelns nach Charlton und Neumann 1992

4.3.1. Strukturmerkmale

Die Strukturmerkmale des Modells sind:

a) der soziale Kontext und die aktuelle Rezeptionssituation

Nach Neumann et al. (1988b) ist Soziales Handeln auf Kontextbedingungen bezogen. Diese äußeren Rahmenbedingungen sind gesellschaftlich-kulturell und konkret (Neumann-Braun, 2005).8 „In sozialen Interaktionsfeldern werden Themen geschaffen" (Neumann et al., 1988b, S. 25). Auch die aktuelle Rezeptionssituation stellt einen Kontext dar. Wenn es um die Wirkung von Medien geht, so muss in die Untersuchungsdesigns mit einbezogen werden, dass Medien nicht isoliert, sondern „eingebettet in medienübergreifende und alltagskulturelle Handlungsmuster genutzt werden" (Kiefer, 1996, S. 247).

Die Rezeption von Massenkommunikation ist nach Neumann et al. (1988b) weiterhin als Interaktionsprozess anzusehen, in dem sich alle Beteiligten wechselseitig beeinflussen.

b) das kulturelle Sinnsystem

Nach Bruner (1997, S. 30) ist Kultur „ein Produkt der Geschichte und bereits „da". Sie bietet Symbolsysteme, die gemeinschaftlich geteilt werden, das Zusammenleben regeln und zur Sinnkonstruktion benutzt werden."

Kultur ist ein zentrales Thema für die Psychologie, weil 1. der Mensch die Verkörperung der Kultur ist und man seine Psychologie nicht vom Individuum her aufbauen kann, wir 2. „öffentlich durch öffentliche Bedeutungen und geteilte Prozeduren des Interpretierens und Verhandelns leben" und 3. die Alltagspsychologie ein mächtiges - die Kultur reflektierendes - Mittel ist, nach dem „Menschen den Erfordernissen einer Kultur gemäß geformt werden" (Bruner, 1997, S. 31ff). Nach Neumann et al. (1990) ist Kultur der Zusammenhang sozialer Tatsachen und ein System kollektiver Sinnkonstruktionen, mit denen Menschen die Wirklichkeit definieren. Weiterhin werden in diesem Rahmen das Medienproduktionssystem und die Sinnstruktur des Medienangebots in die Rezeptionsforschung miteinbezogen.

c) das Subjekt

Relevante Merkmale des Subjekts sind die kognitive Kompetenz, der Wissenstand und die persönliche Bedürfnisstruktur, bzw. Interessen (Schorb, 2003; Theunert & Wagner, 2007). Die Fähigkeit zur sozialen Rollenübernahme ist unter anderem abhängig vom Alter des Rezipienten und ist die Grundlage für moralisches Urteilen (Charlton, 2007). Das wiederum hat Einfluss auf die Intensität der Medienwirkung (Charlton et al., 1992). Nach Bruner (1997) kann man den Menschen nur verstehen, wenn man versteht, wie seine Erfahrungen und Handlungen durch intentionale Zustände geformt werden.

4.3.2. Prozessmerkmale

Rezeption wird weiterhin als Prozess verstanden (vgl. Horton & Wohl, 1956), in dem aus psychologischer Sicht die Handlung zwischen dem Rezipienten (Subjekt) und dem Medium (Objekt) vermittelt (Charlton et al., 1982).

„Rezipienten steuern die Auseinandersetzung mit den Medien durch ihre Auswahl, selektive Zuwendung und ihre thematisch voreingenommene Auffassung vor, während und nach der eigentlichen Rezeption" (Neumann-Braun, 2005, S. 69).

Der Prozessaspekt ist wichtig, wenn es darum geht, ob Medien „verführen", bzw. Rezipienten das Rezeptionsgeschehen kontrollieren können (Neumann et al., 1988a, S. 28). Die Rezeption ist dabei kein sich automatisch abwickelndes Ereignis, sondern ein „dynamisches, rückbezügliches Wahl-, Steuerungs- und Verarbeitungsgeschehen (Mehling, 2007, S. 158).

Der Prozess der Rezeption von Medienangeboten ist als länger andauernd aufzufassen und wird unterteilt in 3 Phasen:

a) Während der Vorphase findet die soziale Einbettung der Rezeption statt, es werden also soziale Rahmenbedingungen miteinbezogen. Hier liegt der Entscheidungspunkt bezüglich der eigenen sozialen Situation: die Handlungsrolle wird bestimmt, also wer mit wem welche Handlung ausführen will. Oft dient der Medienkonsum aber auch dazu, soziale Beziehungen in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen. „Es geht im Mediengebrauch immer auch darum, soziale Beziehungen in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen" (Neumann-Braun, 2005, S. 61; vgl. auch Kutner & Olson, 2008;

Paus-Haase, 1999a; Schorb, 2003), zum Beispiel das Herstellen eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus, körperlicher Nähe etc..

Handlungsdimensionen bei gemeinsamer Mediennutzung können sein (Neumann-Braun, 2005):

a. Handlungskoordination
b. Macht und Selbstbehauptung
c. affektive Beziehungsgestaltung

Im Verlaufeines Rezeptionsvorgangs kommen, unabhängig von der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Medieninhalt, vielfältige soziale Bedürfnisse und Motive zum Tragen (Neumann-Braun, 2005; vgl. auch Fromme, 2001).

b) Während der anschließenden Hauptphase finden das thematisch voreingenommene Sinnverstehen und die Rezeptionssteuerung statt. Das bedeutet, dass Inhalte ausgewählt werden. Dazu hat der Rezipient wirksame Strategien der Aufmerksamkeitssteuerung zur Verfügung. Diese Strategien der individuellen Rezeptionssteuerung lassen sich nach Charlton et al. (1997, S. 29) drei Dimensionen zuordnen, die in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander stehen:

1. Illusion vs. Inlusion stellen die Pole eines Kontinuums dar (vgl. Rapp, 1973, S. 75ff),
2. Identifikation (Akkomodation) als „Anpassung eigener Handlungsschemata an Vorbilder" vs. Projektion (Assimilation) als Bezeichnung des Überstülpens vorhandener Interaktionsschemata über neue Handlungssituationen und
3. Person vs. Situation bezüglich dessen, was nachgeahmt wird

Nach Neumann-Braun (2005) kann weiterhin der direkte von einem indirekten Einstieg in die Rezeption unterschieden werden. Außerdem konstatiert er verschiedene Formen der Distanzierung zum Mediengeschehen und zur Beendigung des Medienkonsums, grundsätzliche Rezeptionshaltungen, bzw. -stile (unmittelbares Miterleben, reflexiv, kommentiert mit Ko- Konsumenten) und eine differentielle Gestaltung des Anschlussgeschehens.

Die Spannung von Teilhabe und Distanz9 ist charakterisierend für die thematisch voreingenommene Auseinandersetzung mit dem Medieninhalt (Neumann et al., 1988a; vgl. auch Wulff 1996) und wird von Horton und Wohl (1956) mit dem paradoxen Begriff intimacy at a distance bezeichnet. Damit wird verdeutlicht, dass trotz der intensiven Teilnahme am Mediengeschehen immer bewusst bleibt, dass man sich im Fernsehen bewegt (Wulff, 1996).

Da die Inhalte des Rezipierten überwiegend auf überdauernde thematische Vorlieben zurückgehen (Neumann-Braun, 2005) lautet eine wichtige Forschungsfrage: „Welches Thema wird von dem Medium in welcher Weise behandelt" (Charlton et al., 1992, S. 92).

c) Die tatsächliche Aneignung, Vermittlung (Subjekt + kulturelles Angebot) und Spiegelung zwischen Medienangebot, Biographie und sozialer Lage, passiert in der Nachphase. Die Faktoren, die zu einer Medienaneignung führen, sind dabei nicht die gleichen, die zur Medienzuwendung geführt haben (Vorderer, 1992).

In dieser Phase der Medienrezeption werden Handlungsoptionen geboten, die in natürlichen Face- to-Face-Situationen nicht gegeben sind, wobei die Bindung an kontextuelle Bedingungen allerdings bestehen bleibt (Charlton et al., 1992). Es kann weiterhin identitätsrelevantes Problembehandeln (looking-glass self) und eine Vermittlung von Individuum und Gesellschaft stattfinden (Neumann­Braun, 2005).

Die Autoren legen Wert auf die Unterscheidung von Rezeption und Wirkung, weswegen hier der Begriff der Aneignung benutzt wird.

Die Rezipienten setzen sich nach Charlton und Neumann (1990) in komplexer Weise mit dem Medienangebot auseinander und eignen sich in selektiver, eigener Weise Elemente des allgemeinen Kulturguts an. Während dieses Aneignungsprozesses findet eine Vermittlung von Individuum und Gesellschaft statt. Das kann in einem Vermittlungsprozess zwischen der eigenen Lage des Rezipienten (Subjektivität) und derjenigen Situation, über die in Medien berichtet wird (Intersubjektivität), münden. Dieser Vermittlungsprozess ist für die Identitätsbildung (Kohli, 1977, in Charlton et al., 1992) und die Lebensbewältigungsbemühungen des Individuums von großer Bedeutung und äußerst komplex (Neumann et al., 1988a).

Lebensbewältigung kann in diesem Rahmen einerseits über die Regelung von Alltagsroutinen geschehen (beispielsweise feste Fernsehzeiten), andererseits bekommen Rezipienten durch Medien soziale Anregungen (Neumann et al., 1988a).

In der Aneignungsphase findet, oft aber nicht zwangsläufig, Folgekommunikation statt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 123 Seiten

Details

Titel
Medienwirkungen - Review zum Einfluss von Massen- und Individual-Medien auf die sozialkognitive Entwicklung von Kindern
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
123
Katalognummer
V119189
ISBN (eBook)
9783640226009
ISBN (Buch)
9783640227433
Dateigröße
1985 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Medienwirkungen, Review, Einfluss, Massen-, Individual-Medien, Entwicklung, Kindern
Arbeit zitieren
Diplom Psychologin Lena Hofmann (Autor:in), 2008, Medienwirkungen - Review zum Einfluss von Massen- und Individual-Medien auf die sozialkognitive Entwicklung von Kindern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119189

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