Kinderschutz in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe. Eine Untersuchung von Prozessen und Maßnahmen zur Installation von Kinderschutzkonzepten

Unter Berücksichtigung von organisationsspezifischen Gegebenheiten und Personalentwicklungsprozessen


Bachelorarbeit, 2021

72 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Erscheinungsformen, Epidemiologie und Häufigkeiten von Kindesmisshandlungen
2.1 Unterschiedliche Formen von Kindesmisshandlung
2.2 Häufigkeiten von Kindesmisshandlungen

3. Rechtliche Aspekte und Vorgaben zu institutionellem Kinderschutz
3.1 Begriffsklärung Schutzkonzept
3.2 Rechtliche Vorgaben des SGB VIII
3.3 Strafrechtlich relevante Paragraphen

4. Risikofaktoren und protektive Faktoren als Grundlage von Kinderschutzkonzepten
4.1 Risikofaktoren für Kindesmisshandlungen in Institutionen
4.2 Schutzfaktoren vor Kindesmisshandlungen in Institutionen
4.3 Die Gefährdungsanalyse

5. Personalentwicklungsprozesse und Personalmanagement als Prävention vor Kindes­misshandlungen
5.1 Personalentwicklungsbedarfe in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe
5.2 Die Herausforderung durch die Zweiteilung des Auftrags in Institutionen

6. Elementare Bestandteile von Kinderschutzkonzepten als Indikator für Qualitätsent­wicklung
6.1 Verhaltensleitlinien und pädagogisches Konzept
6.2 Partizipationsmöglichkeiten und Beschwerdemanagement
6.3 Der professionelle Umgang mit Verdachtsfällen

7. Untersuchung des Kinderschutzkonzeptes der Kita „ Kinderhaus Hotzenplotz “ hin­sichtlich qualitativer Merkmale
7.1 Leitgedanken der Kita als Motivatoren zur Erstellung des Kinderschutzkonzeptes
7.2 Zugrundeliegendes Wissen zu Kindesmisshandlungen
7.3 Anhaltspunkte für Kindeswohlgefährdungen und Gefahrenlagen in der Kita
7.4 Präventionsmaßnahmen
7.5 Beschwerdemanagement und Verfahrensabläufe
7.6 Abschließende Bemerkungen zum Kinderschutzkonzept

8. Fazit, Resümee und Ausblick

9. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

“The greater a child’s terror, and the earlier it is experienced, the harder it becomes to develop a strong and healthy sense of self.”1 (Branden 1995, S. 36)

Branden beschreibt in seinem Buch ,Six Pillars of Self-Esteem’, dass das Erleben von, wörtlich übersetzt, Kinderterror (Kinderschrecken), sprich traumatischen Erlebnissen in der Kindheit, einen immensen Einfluss auf die zukünftige Entwicklung eines Indi­viduums haben wird (Vgl. Branden 1995, S. 36). Dabei führt er an, dass es von Schwere und zeitlichem Auftreten abhängt, wie dramatisch der Einfluss auf die Ent­wicklung sein wird (ebd., S. 36).

Was Branden hier allgemeingültig beschreibt, wird mittlerweile durch zahlreiche wis­senschaftliche Studien detailliert belegt.

Die Folgen von Kindesmisshandlungen sind für das betroffene Individuum massiv und nehmen oftmals einen chronischen Verlauf (Vgl. Fergusson et al. 2008, S. 613).

Fergusson et al. stellen fest, dass ein stark erhöhtes Risiko für das Auftreten von De­pressionen, Angststörungen, dissoziale Persönlichkeitsstörungen, Substanzmiss­brauch und Suizidgedanken/-versuchen im jungen Erwachsenenalter als Folge von se­xuellem Missbrauch vorliegt (ebd., S. 613).

Dabei bestätigen Fergusson et al. anhand von ihren Untersuchungen zu sexuellem Missbrauch in der Kindheit und Jugend, was Branden für diverse Formen von Kindes­misshandlungen formuliert hat; die Wahrscheinlichkeit von einem Auftreten einer o­der mehrerer der oben genannten psychischen Störungen ist abhängig von der Schwere und der Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs (ebd., S. 613).

Die Wahrscheinlichkeit an einer Depressionen in der Altersgruppe von 16-21 Jahren als Folge von gelegentlichen sexuellen Missbrauch zu erkranken, liegt laut Fergusson et al. bei 28,5 %, während in der gleichen Altersgruppe eine Wahrscheinlichkeit von 49,2 % vorliegt, an einer Depression zu erkranken, wenn man oft zum Opfer von mas­sivem sexuellem Missbrauch in der Kindheit wurde (ebd., S. 613).

Cater et al. bestätigen in einer im Jahr 2014 in Schweden durchgeführten Studie die Ergebnisse Fergussons et al. und stellen zusätzlich fest, dass es wahrscheinlicher ist, im jugendlichen Alter Opfer von Missbrauch zu werden als in der Kindheit. Außerdem 1 Je schlimmer schreckliche Kindheitserfahrungen sind und desto eher sie erfahren werden, umso schwieriger wird es, ein starkes und gesundes Selbstbild zu entwickeln (Übersetzt durch den Autor). ist es wahrscheinlicher, mehrfach Opfererfahrungen zu erleben als einmalig (Vgl. Ca­ter et al. 2014, S. 1295).

Darüber hinaus stellen Cater et al. fest, dass das Risiko kriminell zu werden, um ein Vielfaches ansteigt, wenn man traumatische Erfahrungen gemacht hat. Beide Ge­schlechter sind von diesem erhöhten Risiko gleichermaßen betroffen (Vgl. Cater et al. 2014, S. 1295 ff.).

Bei der Sichtung von solch dramatischen Folgen, die sich bei anderen Formen von Kindesmisshandlung als ähnlich schlimm darstellen (s. Kapitel 2.1), stellt sich die Frage, wie Kinder und Jugendliche vor solch einschneidenden Erlebnissen besser ge­schützt werden können.

Im Allgemeinen gibt es zwei Bereiche, in denen Kindesmisshandlungen vorkommen können. Zum einen können Kinder und Jugendliche innerhalb der Familie bzw. im privaten/häuslichen Umfeld Opfer werden und zum anderen in Institutionen; sprich Kindergärten, Schulen, Sportvereinen, stationären Einrichtungen und ähnlichem (Vgl. Kappler et al. 2018, S. 40 ff., S. 124 ff., S. 157 ff.) .

Während davon auszugehen ist, dass ein großer Teil der Grenzverletzungen in den Familien und im unmittelbaren Umfeld auftritt, passiert ein nicht zu leugnender Anteil von Übergriffen in sozialen Institutionen (der Kinder- und Jugendhilfe), begangen von Mitarbeitenden, Ehrenamtlichen oder von anderen Minderjährigen (Vgl. Gitter et al. 2015, S. 120 f.).

Spätestens seit dem Bekanntwerden diverser Missbrauchsskandale (bspw. in Oden­waldschule oder dem Canisius-Kolleg) vor ca. zehn Jahren, ist die Problematik von institutionellen Übergriffen der Öffentlichkeit und verantwortlichen politischen Akt­euren bewusst (Vgl. Fegert et al. 2013, S. 14).

Beigetragen zu einer schrittweisen Aufdeckung haben viele Betroffene, die sich der damaligen Beauftragten zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch Frau Dr. Bergmann anvertraut haben und damit erstmals eine große Summe an belastendem Material vorlag, welches vielen sozialen Einrichtungen strukturelles Versagen hin­sichtlich ihres Schutzauftrags attestierte (Vgl. Fegert et al. 2013, S. 15).

Im Prozess der Aufarbeitung sollte Institutionen in denen sich Kinder und Jugendliche aufhalten, Schwächen hinsichtlich ihrer Schutzfunktionen aufgezeigt werden, ohne öf­fentlichkeitswirksam den Eindruck zu erwecken, dass Vorfälle jeglicher Art gegen

Schutzbedürftige zukünftig der Vergangenheit angehören (werden), weil durch das Aufdecken der Vorgang abgeschlossen wäre (ebd. S. 15).

Vielmehr sollte eine Entwicklung im Bereich des institutionellen Kinderschutzes an­gestrebt werden, der Motivation, Anregungen und Vorgaben liefern sollte, Aspekte von Kinderschutz zu verbessern, um den Bedürfnissen Heranwachsender nach Integ­rität, Schutz und Sicherheit Sorge zu tragen, ihre Belange zu respektieren und zu schät­zen (Vgl. Keup et al. 2013, S. 1 f.).

Oberste Maxime von Institutionen sollte es demnach sein, grenzüberschreitendes Ver­halten jedweder Art zu verhindern, begangene Taten angemessen zu verarbeiten und Schlüsse für das Gesamtsystem zu erzielen, um Vorfälle dieser Art zukünftig besser vermeiden.

Dieses hochsensible Thema kann unter Umständen für viele Schwierigkeiten sorgen, weil der Prozess hin zu einem effektiven Kinderschutz in einer Organisation massive Veränderungen mit sich bringt. Das Projekt ist praktisch nie abgeschlossen, bedarf der Einbindung aller Akteure, um Akzeptanz zu erzielen, eine gemeinsame pädagogische Haltung zu entwickeln und ein kompetentes Konzept zu erstellen. Der Prozess muss von einer Bereitschaft begleitet werden, die regelmäßig neue Situationen zu adaptieren und in den Prozess aufzunehmen (s. Kapitel 5 & 6).

Die Bachelorarbeit „Kinderschutz in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe -eine Untersuchung von Prozessen und Maßnahmen zur Installation von Kinderschutzkon­zepten unter besonderer Berücksichtigung von organisationsspezifischen Gegebenhei­ten und Personalentwicklungsprozessen“ untersucht den Prozess bis hin zur Erstellung eines Kinderschutzkonzeptes und den damit verbundenen Änderungen in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe.

Die Kinder- und Jugendhilfe umfasst Leistungen sowie Aufgaben von freien und öf­fentlichen Trägern für junge Menschen und ihre Familien (Vgl. §2 Abs.1 SGB VIII). Alle Leistungen werden im § 2 Abs. 2 Nr.1 -13 SGB VIII zusammengefasst (Vgl. § 2 Abs. 2 Nr.1 -13 SGB VIII). Es wird jeweils auf die mit der Leistung verknüpften Pa­ragraphen hingewiesen (ebd.).

Im zweiten Kapitel werden verschiedene Formen von Kindesmisshandlung beschrie­ben, welche neben dem bereits in der Einleitung aufgegriffen sexuellen Missbrauch, schwerwiegende Folgen für die Heranwachsenden haben (können). Beachten sollte man hierbei, dass Kinder und Jugendliche oft unterschiedlichen Formen von Kindes­misshandlung gleichzeitig ausgesetzt sind.

Neben den rechtlichen Grundlagen, die Kinder und Jugendliche im besonderen Maße zu schützen versuchen, sind die gravierenden Folgen einer Kindesmisshandlung eine legitime Rechtfertigung für und eine moralische Verpflichtung eines jeden Trägers der Kinder- und Jugendhilfe, die Umsetzung des eigenen institutionellen Kinderschutz zu evaluieren, gegebenenfalls zu optimieren und als elementaren Bestandteil der Organi­sation zu implementieren, um Kindern und Jugendlichen einen größtmöglichen Schutz zu gewähren. Die rechtlichen Vorgaben werden im dritten Kapitel dargelegt.

Im vierten Kapitel wird die Grundlage eines jeden fundierten Kinderschutzkonzeptes beschrieben: Eine Gefährdungsanalyse zeigt protektive Faktoren und Gefährdungsla­gen innerhalb einer Institution an. Diese Erkenntnisse dienen der Institution bei der Konzeptionierung des Kinderschutzkonzeptes als Wegweiser. Jede Institution hat spe­zifische Eigenschaften, die beim Kinderschutz Berücksichtigung finden müssen; zu nennen sind bspw. strukturelle Gegebenheiten hinsichtlich Personalschlüssel oder räumliche Umstände, die sich vor allem in stationären Einrichtungen als Risiko zeigen können. Fremduntergebrachte Kinder haben statistisch gesehen ein erhöhtes Risiko zur Viktimisierung bzw. Reviktimisierung (Vgl. Euser et al. 2013, S.224). Darüber hinaus können institutionelle Rahmenbedingungen das Risiko für übergriffiges Ver­halten erhöhen oder eben auch vermindern (Vgl. Conen 1995, S.136 f.).

Aus den Faktoren, welche in der Gefährdungsanalyse aufgezeigt werden, ergeben sich je nach Institution zahlreiche Möglichkeiten der Organisations- und Personalentwick­lung, die an einen effektiven Kinderschutz mittelbar und unmittelbar geknüpft sind. Zu Personalentwicklungsprozessen, Personalmanagement und den Besonderheiten von Insitutionen der Kinder- und Jugendhilfe findet sich eine thematische Auseinan­dersetzung im fünften Kapitel dieser Arbeit.

Hier wird auf die Schwierigkeit der Zweiteilung des Auftrags in der Kinder- und Ju­gendhilfe hingewiesen, der den Widerspruch zeigt, dass gleichzeitig Kinder und Ju­gendliche geschützt werden sollen, was Ressourcen kostet, und gleichzeitig wirtschaft­licher Profit erzielt werden muss, um wirtschaftlich rentabel zu sein.

Auch wenn es keine allgemeingültige Vorgabe für Bestandteile eines Kinderschutz­konzeptes gibt, werden im sechsten Kapitel exemplarisch, an den Überlegungen der Fachliteratur ausgerichtet, elementare Bestandteile eines professionellen Kinderschutzkonzeptes beschrieben. Schutzkonzepte sind ein Teil des Qualitätsmana­gements einer Institution.

Im siebten Kapitel wird exemplarisch eine Untersuchung des Kinderschutzkonzeptes der Kita „Kinderhaus Hotzenplotz“ erfolgen und hinsichtlich der in der Arbeit heraus­gearbeiteten Kriterien analysiert. Kitas sind der Kinder- und Jugendhilfe zuzuordnen (Vgl. §§ 22-25 SGB VIII).

Aus den gewonnenen Erkenntnissen kann geschlussfolgert werden, welche Wichtig­keit dem Bereich des Kinderschutzes in der Praxis zugeschrieben wird, ohne den An­spruch der Repräsentativität zu verfolgen.

Eine Beurteilung hinsichtlich der Umsetzung des Konzeptes in die Praxis kann nur bedingt erfolgen, weil die Untersuchung und Analyse lediglich anhand der öffentlich verfügbaren schriftlichen Konzeptionierung der Institution erfolgt und die Einrichtung während des Entstehungsprozesses dieser Arbeit nicht aufgesucht wurde.

Folgend fasst der Autor die Bachelorarbeit im achten Kapitel zusammen, resümiert prägnante Erkenntnisse und skizziert in einem Ausblick, welche Prozesse zukünftig notwendig sein könnten, um zu Verbesserung des Kinderschutzes in Institutionen bei­zutragen.

In dieser Arbeit sollen durch die Formulierungen alle Geschlechterformen nach bes­tem Wissen und Gewissen repräsentiert werden. Wenn nicht ausdrücklich anders dar­gestellt, sind immer alle Formen gleichermaßen gemeint.

2. Erscheinungsformen, Epidemiologie und Häufigkeiten von Kindes­misshandlung

Größtenteils herrscht in der Forschung Einigkeit zu den verschiedenen Arten von Kin­desmisshandlung.

Um sich mit dem Thema Kinderschutz in Institutionen angemessen auseinandersetzen zu können, ist es relevant, die unterschiedlichen Formen von Kindesmisshandlung ge­nau zu kennen und erkennen, denn je nach Art der Institution (bspw. Kita, stationäre Wohneinrichtung oder ähnliches) sind die Voraussetzungen für das Auftreten einer bestimmten Form unter Umständen eher gegeben und muss somit in der Gefährdungs­analyse und schlussendlich im Kinderschutzkonzept Berücksichtigung finden.

2.1 Unterschiedliche Formen von Kindesmisshandlung

In der Wissenschaft wird zwischen Vernachlässigung, sexuellem Missbrauch, körper­licher und psychischer Misshandlung unterschieden (Vgl. Herrenkohl 2005, S. 413 ff.).

Bis zum Jahr 2008 wurde keine geeignete Definitionen entwickelt, die Kindesmiss­handlungen, als allgemeinen Oberbegriff, aber auch die verschiedenen Unterformen, einheitlich für alle Berufsgruppen und Tätergruppen anwendbar machte, sodass je nach Profession verschiedene Einschätzungen zur Schwere von Übergriffen getroffen wurden, abhängig davon, welche Definition und Auslegung Anwendung fand (Vgl. Jud & Fegert 2015, S. 65).

Um dem zu begegnen, veröffentlichte das National Center for Diseases Control and Prevention (CDC) im Jahr 2008 eine Empfehlung, die unter Berücksichtigung des da­maligen Diskurses Definitionen formulierte, die in der Forschung zur Angabe statisti­scher Daten genutzt werden konnte und darüber hinaus eine universelle Anwendbar­keit der Definitionen garantieren sollte (ebd., S. 65).

Unter dem Oberbegriff der Kindesmisshandlungen werden laut dem CDC einzelne o­der mehrere Handlungen sowie Unterlassungen durch Fremde, Eltern oder andere Be­zugspersonen definiert, die eine körperliche oder psychische Schädigung des Kindes zur Folge haben könnten, mögliches Potential einer Verletzung oder eine Drohung ei­ner Schädigung beeinhalten (Vgl. Leeb et al. 2008, S. 11).

Die durch Leeb et al. beschriebenen Auswirkungen zeigen, dass Misshandlungen in einem Kontinuum auftreten können. Bereits eine einmalige Misshandlung kann eine Schädigung zur Folge haben (s. Kapitel 1; ebd., S. 11).

Über diese allgemeine Definition von Kindesmisshandlung hinaus haben die Au- tor*innen die verschiedenen Misshandlungsformen nach eindeutigen wissenschaftli­chen Bezugspunkten untersucht und eindeutige Kriterien definiert.

Sexueller Missbrauch beinhaltet jede versuchte oder vollendete sexuelle Handlung im Kontakt mit Kindern und Jugendlichen, zudem auch sexuelle Handlungen, die ohne körperlichen Kontakt stattfinden (bspw. pornografische Aufnahmen oder Exhibitio­nismus) (Vgl. Leeb et al. 2008, S. 14).

An dieser sehr grob gefassten Definition ist zu kritisieren, dass dadurch der Begriff und die Tat des sexuellen Missbrauchs vereinfacht wird und alle Formen der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zusammengefasst werden, gleichwohl sich die Folgen und Ursachen stark unterscheiden können; bspw. dadurch, ob der Übergriff durch eine fremde Person oder Bezugspersonen begangen wird oder ob es sich um einen Übergriff mit Penetration oder ohne handelt (Vgl. Black et al. 2001, S. 208 ff.). Diese Unterscheidung ist gerade für Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe rele­vant, da sich Klient*innen hier für gewöhnlich in einem Abhängigkeitsverhältnis be­finden und ihren Bezugspersonen in der Regel vertrauen. Bei einem sexuellen Miss­brauch durch eine Bezugsperson in einer Einrichtung entsteht oftmals eine stärkere Traumatisierung als bei einem Fremdtäter/einer Fremdtäterin (ebd. S. 208 ff.).

Körperliche Misshandlung beschreibt die absichtliche, nicht zufällige Anwendung körperlicher Gewalt von Bezugspersonen an Kindern und Jugendlichen, die in physi­sche Verletzungen mündet oder das Potential einer Verletzung innehat (Vgl. Leeb et al. 2008, S. 14). Hierunter werden gewältige Handlungen gefasst wie Schlagen, Treten oder Zerren, die einem Schutzbedürftigen mit den bloßen Händen oder unter Verwen­dung von Gegenständen zugefügt werden (ebd., S. 14).

Psychische Misshandlung hingegen bedeutet, dass Bezugspersonen Kindern und Ju­gendlichen das Gefühl vermittelten nicht gewollt, wertlos, voller Fehler oder aus­schließlich für die Bedürfnisse anderer von Wert zu sein (ebd., S. 16).

Aktive Prozesse der psychischen Gewalt umfassen Herabwürdigungen, Isolierungen, Einschränkungen und ähnliches (ebd., S. 16).

Grundsätzlich gibt es zwei Formen von Vernachlässigung.

Einmal tritt eine Kindesmisshandlung in Form einer Vernachlässigung auf, wenn Be­zugspersonen grundlegenden emotionalen, erzieherischen, physischen und medizini­schen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nicht angemessen nachkommen (ebd., S. 17).

Ein weiteres Mal liegt eine Vernachlässigung vor, wenn Bezugspersonen Kindern oder Jugendlichen ungeachtet ihres Entwicklungsstandes und ihrer emotionalen

Bedürfnisse unzureichenden Sicherheit und Schutz innerhalb und außerhalb ihres Wohnraumes gewähren (ebd., S. 18).

Neben Unterlassungen und gefährdenden Handlungen können Kinder und Jugendliche auch dadurch in ihrem Wohl gefährdet werden, wenn sie Gewalt auf indirekte Art und Weise erleben. So werden sie in ihrer Entwicklung eingeschränkt, wenn sie Gewalt zwischen ihnen nahestehenden Bezugspersonen erleben (Vgl. Kindler 2002, S. 50). Zwar weist Kindler hier vor allem auf die körperliche Gewalt zwischen den Eltern hin, allerdings kann die Thematik des Miterlebens von Gewalt auch in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe relevant werden, bspw. dann, wenn Kinder oder Jugendliche Gewalt während einer stationären Unterbringung erleben. Denkbar sind hier Konstel­lationen, bei der Gewalt von Betreuenden gegenüber anderen Kindern ausgeübt wird oder Kinder untereinander Gewalt ausüben. Diese Art von Gefährdung ist der Ver­nachlässigung zuzuordnen, weil nicht dem emotionalen Bedürfnis nachgekommen wird, in einem gewaltarmen Umfeld aufzuwachsen (Vgl. Leeb et al. 2008, S. 17) Oftmals findet nicht nur das Erleben von Gewalt in Paarbeziehungen oder unter Be­zugspersonen statt, sondern erfolgt in einer Kombination mit Übergriffen auf die Kin­der oder Jugendlichen Vgl. Hamby et al. 2010, S. 737 ff.).

Wenn man Kindesmisshandlung untersucht, sollte zudem ständig berücksichtigt wer­den, dass mehrfache Opfererfahrungen und Gewalt unter Gleichaltrigen eine Rolle spielen (können). Säuglinge und Kinder, die vernachlässigt worden sind, können als Folge eine gesteigerte emotionale Bedürftigkeit haben und leiden zugleich an einer beschränkten Sozialkompetenz, was die Gefahr durch Gewalt und Ausgrenzung in Peergroups erhöht (ebd., S. 737 ff.)

Zudem sind Kombinationen aus emotionaler Vernachlässigung und psychischer/kör- perlicher Misshandlung parallel oder zu asynchronen Zeitpunkten in der Kindheit nicht selten (Vgl. Finkelhor et al. 2009, S. 156 ff.). Außerdem kann attestiert werden, dass das Ausmaß an Gewalt unter Gewalt unter Gleichaltrigen bisher wohl unter­schätzt wurde, vermutlich deshalb, weil die meisten Studien Erwachsene zu Gewalt in der Kindheit befragt wurden (Vgl. Jud et al. 2016, S. 2).

2.2 Häufigkeiten von Kindesmisshandlungen

Bisherige Untersuchung bestätigen den Eindruck, dass Misshandlungen unter Gleich­altrigen bisher eher vernachlässigt wurden. Eine Befragung von Jugendlichen zu se- xualisierter Gewalt in der Schweiz hat gezeigt, dass zwischen 50% - 75% aller Miss­bräuche von Gleichaltrigen begangen wurde (Vgl. Mohler-Kuo et al. 2014, S 308).

Eine Befragung von in Deutschland arbeitenden Fachkräften in Internaten, Schulen und Heimen weist mit 30% - 40% ebenfalls auf einen hohen Anteil von sexueller Ge­walt unter Gleichaltrigen hin (Vgl. Helming et al. 2011, S. 41 f.).

Zuverlässige Daten zu anderen Misshandlungsformen fehlen für Deutschland weitest­gehend.

Einzig Häuser et al. und Witt et al. liefern Vergleichswerte für andere Misshandlungs­formen (Vgl. Häuser et al. 2011, S. 288 ff.; Vgl. Witt et al. 2017, S. 3 ff.).

Beide Studien befragten in einem Abstand von sechs Jahren 2500 Jugendliche im Alter von 14 Jahren und Erwachsene in einer deutschlandweiten Stichprobe. Eine Stich­probe wurde 2010 erhoben, die andere 2016 (ebd.).

In beiden Stichproben berichteten über 40% der Teilnehmende von erlebten Vernach­lässigungen. 11 % beschrieben Erfahrungen von starker emotionaler Vernachlässigung (Vgl. Witt et al. 2017, S. 4). Bei der Größe dieser Zahl lässt sich vermuten, dass die Vernachlässigung die am häufigsten auftretende Misshandlungsform darstellt.

Im internationalen Vergleich zeichnet sich ein ähnliches Bild ab (Vgl. Trocmé 2008, S. 15 ff.).

Daten zu Misshandlungsbetroffenen, die in den deutschen Versorgungssystemen, ins­besondere in der Kinder- und Jugendhilfe, Unterstützung suchen, sind nicht umfassend erhoben.

Mit der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes (01.01.2012 - BKiSchG) und der Einführung der Gefährdungseinschätzung nach §8a Abs. 1 SGB VIII war es den Ju­gendämtern möglich, zu erheben, wie oft sie Kindesmisshandlungen in ihrer Arbeit registrieren (Vgl. 8a SGB VIII).

Die von Häuser et al. und Witt et al. veröffentlichen Daten spiegeln sich in der Arbeit des Jugendamtes wieder. 2016 entfielen 13138 Fälle auf Vernachlässigungen, 6470 Verfahren auf körperliche Misshandlung, 6210 Verfahren auf psychische Misshandlung und bei sexueller Gewalt wurden 1337 Fälle registriert (vgl. Statistisches Bundesamt 2017, S. 7 ff.).

Misshandlungsformen, die an die Ermittlungsbehörden herangetragen werden, sind in der polizeilichen Kriminalstatistik erfasst. Im Jahr 2016 wurden 12019 Fälle von se­xuellem Missbrauch an die Behörden gemeldet und 3621 Fälle von Missbrauch an Schutzbefohlenen erfasst (Vgl. §225 StGB; Vgl. Bundeskriminalamt 2016, S. 13).

Diese Zahlen sind bei der Auseinandersetzung mit Kinderschutzkonzepten relevant, denn sie bieten vermutlich gute Ausgangswerte, um zu berechnen, wie weit verbreitet einzelne Misshandlungsformen in Deutschland sind, gleichwohl von einer nicht zu un­terschätzenden Dunkelziffer ausgegangen werden muss (Vgl. Gold et al. 2012, S. 17). Zahlen, die Misshandlungen durch Mitarbeitende in Institutionen dokumentieren, feh­len beinahe gänzlich (Vgl. Enders 2012, S. 17 ff.)

Kaum Daten finden sich zu Vernachlässigungen, psychischer und physischer Miss­handlung durch Mitarbeitende.

Zu Zahlen von sexuellen Missbräuchen durch Fachkräfte, ist die Datenlage etwas bes­ser, denn durch das Aufdecken von Missbrauchsfällen, bspw. an der Odenwaldschule und dem Canisius-Kolleg, wurde durch das Deutsche Jugendinstitut eine Befragung von 421 Fachkräften in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Internaten vorgenommen (Vgl. Helming et al. 2011, S. 42 ff.).

In drei Prozent der Internate und zehn Prozent der Heime ist innerhalb der letzten drei Jahre, von dem Zeitpunkt der Befragung ausgehend, mindestens ein Verdacht auf se­xuellen Missbrauch durch einen Mitarbeitenden aufgetreten (ebd., S. 42 ff.).

Deutlich häufiger hingegen waren die Institutionen mit Übergriffen unter Gleichaltri­gen konfrontiert. In Heimen berichteten 39% der Befragten von mindestens einem Verdachtsmoment in den letzten drei Jahren (ebd., S. 42 ff.).

Die Befragung des Deutschen Jugendinstitutes zeigte als erste große Untersuchung, dass Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe regelmäßig mit sexuellen Miss­brauchserfahrungen konfrontiert sind (Vgl. Fegert et al. 2018, S. 84).

Die Häufigkeiten sexuellen Missbrauchs in Institutionen wurden durch eine bevölke­rungsrepräsentative Stichprobe erfragt und lässt sich in Teilen ableiten (Vgl. Stadler et al. 2012, S. 1 f.).

In der Studie von Stadler et al. wurde die Häufigkeit eines sexuellen Missbrauchs vor dem Eintritt in das 16. Lebensjahr durch eine mindestens fünf Jahre ältere Person her­ausgearbeitet (ebd., S. 1 f.). Es wurden 11428 Menschen zwischen 15 und 40 Jahren befragt, wovon 51,9 % weiblich waren (Vgl. Stadler et al. 2012, S. 7).

Bei sexuellen Gewalterfahrungen mit Körperkontakt gaben 1,5 % der Männer und 7,4 % der Frauen an, dies erlebt zu haben (Vgl. Stadler et al. 2012, S. 18). Von den be­troffenen Frauen gaben 3,7 % der Frauen und 2 % der Männer an, dass der Übergriff in einem Heim stattfand (Vgl. Stadler et al. 2012, S. 4 f.).

Die Prävalenzzahlen hier scheinen nicht sehr hoch; es muss bei der Bewertung jedoch bedacht werden, dass nur ein Bruchteil, der in dieser Erhebung befragten Personen an (teil-) stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe angebunden war.

Das wirkliche Ausmaß der Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen lässt sich so allerdings nur einschätzen.

Befragungen, die sich direkt an Kinder- und Jugendliche richten, gibt es bisher nur wenige (Vgl. Timerman & Schreuder 2014, S. 3).

Bisher durchgeführte internationale Studien zeigen ein überdurchschnittlich hohes Auftreten von sexuellen Gewalterfahrungen von Kindern- und Jugendlichen, bevor sie in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe kamen.

Eine Studie, die in Norwegen durchgeführt wurde, legt offen, dass 40, 8 % der Mäd­chen und 6,5 % der Jungen Erfahrungen schwerer sexueller Gewalt vor ihrem Einzug in die Einrichtung erlebt haben (Vgl. Greger et al. 2015, S. 3 ff.). Diese Zahlen sind gerade dann spannend, wenn bedacht wird, dass Opfer statistisch gesehen ein erhöhtes Risiko aufweisen, wiederholte Opfererfahrungen zu machen (s. Kapitel 1 & Kapitel 2.1).

Zahlen zu Deutschland sind hierzu in einer Studie vom Erhebungszeitraum 2013-2016 (322 Teilnehmende, Alter 15 -22 Jahre) zu finden, die sowohl Bewohner*innen von Einrichtungen aus der Kinder- und Jugendhilfe als auch Internaten in die Erhebung mit einbezog (Vgl. Rau et al. 2017, S. 640 ff.). Bei einer weitgefassten Definition von sexueller Gewalt wird eine Lebenszeitprävalenz bei Mädchen mit 82 % und bei Jungen mit 37 % angegeben (ebd.). Von Gewalterfahrungen mit (versuchter) Penetration be­richten 8% der Jungen und ca. 47% der Mädchen (ebd. S. 640 ff.).

Diese Prävalenzzahlen lassen jedoch ebenfalls keinen genauen Schluss zu, wie häufig es zu sexuellen Übergriffen in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe kommt (Vgl. Fegert et al. 2018, S. 84 f.).

Dennoch finden sich Hinweise auf Häufigkeiten von Übergriffen in Einrichtungen, insofern, als dass neben den Gleichaltrigen (ca. 43%) als zweithäufigste Tätergruppe Mitbewohner*innen (31%) benannt wurden, die außerdem eine Schnittmenge mit der Gruppe der Gleichaltrigen bilden (ebd., S. 84 f.).

In der Studie wurde auch die Häufigkeit des erstmaligen Auftretens von sexuellen Ge­walterfahrungen seit dem Einzug in die Einrichtung, in der die Jugendlichen im Schnitt drei Jahre lebten, erfasst (ebd., S. 84 f.). Dies wurde mit 5 % für sexuelle Übergriffe mit (versuchter) Penetration benannt und 17 % für jedwede, andere nicht kategorisierte Form von sexueller Gewalt (ebd., S 84 f.).

Die Häufigkeiten von sexualisierter Gewalt, die Jugendliche während eines Aufent­haltes in einer Institution der Kinder- und Jugendhilfe oder einer Pflegefamilie erleb­ten, wurde in einer niederländischen Studie untersucht (Vgl. Euser et al. 2013, S.221). Die Mitarbeiter*innen schätzen die Häufigkeit für sexuelle Übergriffe mit Körperkon­takt in den letzten 12 Monaten mit einer Häufigkeit von 0,31 % ein, während die Ju­gendlichen hingegen in 18,8% der Fälle von einem Übergriff berichteten (Vgl. Euser et al. 2013, S. 225).

Die Übergriffe in Einrichtungen waren häufiger als in Pflegefamilien (ebd., S. 225). Die Opfer gaben in 57% der Fälle Gleichaltrige, die mit in der Einrichtung leben als Täter an, in 13% der Fälle Mitarbeitende. Gleichaltrige und Erwachsene außerhalb der Einrichtung wurden mit 33% als Täter*innen erfasst (Vgl. Euser et al. 2013, S. 226 f.). Interessant ist hier die extrem große Differenz, sprich die Lücke zwischen vermuteten bzw. aufgedeckten Übergriffen (Befragung der Mitarbeitenden) und der tatsächlichen Häufigkeit (Angaben der Jugendlichen).

Kinder und Jugendliche sind neben sexueller Gewalt auch körperlicher Gewalt betrof­fen (Vgl. Rosenthal 1991, S. 249).

Greger et al. zeigen, dass ca. 46 % der Mädchen und 27% der Jungen Opfer von fami­liärer Gewalt geworden sind und 20% der Mädchen und 30% der Jungen berichten, dass sie Opfer außerhalb ihrer Ursprungsfamilie wurden (Vgl. Greger et al. 2014, S. 123).

Darüber hinaus gaben ca. 20% der Befragten in einer Studie an, emotionalen Miss­brauch, körperliche/emotionale Vernachlässigung oder körperliche Gewalt durch die Eltern erlebt zu haben (ebd., S. 123 ff.).

Während eines stationären Aufenthaltes in Institutionen kommt es oftmals zu verbalen und körperlichen Gewalterlebnissen.

In Israel wird von einer Häufigkeit von mehr als 50% von Gewalterfahrungen inner­halb des letzten Monats durch Gleichaltrige ausgegangen (Vgl. Attar-Schwartz & Khoury-Kassabri 2015, S. 85 f.).

Ähnlich der Täterstruktur bei sexuellem Missbrauch sind hauptsächlich Mitbewoh- ner*innen Verursacher*innen körperlicher Gewalt (Vgl. Gibbs & Sinclair 2000, S. 247).

Eine finnische Studie hingegen hat gezeigt, dass Kinder- und Jugendliche, die in Ein­richtungen institutioneller Erziehung untergebracht sind, weniger mit körperlicher Ge­walt konfrontiert sind, wie Gleichaltrige, die bei ihren leiblichen Eltern leben (Vgl. Ellonen & Pösö 2011, S. 205).

Das Risiko für Kinder mit einer Beeinträchtigung, Oper von Misshandlung oder Miss­brauch zu werden, wird als sehr hoch eingeschätzt; dabei wird das Risiko sowohl in­nerhalb als auch außerhalb einer Institution als höher angesehen als im Altersdurch­schnitt (Vgl. Fegert et al. 2018, S. 86).

Einen Risikofaktor stellt die erhöhte körperliche oder emotionale Abhängigkeit von Bezugspersonen dar und eine mitunter bestehende Einschränkung in der Fähigkeit zur Kommunikation (ebd.).

Bei geistig eingeschränkten Personen kann es sein, dass sie die Situation des Miss­brauchs nicht als solche bewerten (können) (Vgl. Chodan et al. 2013, S. 408).

Leider findet sich hierzu wenig Grundlagenforschung. Entweder ist die untersuchte Stichprobe sehr klein oder es werden verschiedene Behinderungsbilder zugleich abge­fragt (Vgl. Fegert et al. 2018, S. 87).

Die aktuelle Studienlage macht deutlich, dass Kinder und Jugendliche in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe nicht nur eine erhöhte Lebenszeitprävalenz aufweisen, Opfer sexueller oder physischer Gewalt zu werden, sondern auch auf besondere Art und Weise Gefahr laufen, während ihres Aufenthalts sexuelle Gewalt durch Gleichalt­rige bzw. Mitbewohner*innen zu erfahren. Berücksichtigt werden sollte, dass sich die Studien fast ausschließlich auf längerfristig angelegte Settings der Kinder- und Ju­gendhilfe beziehen und ambulante Formen und ähnliches ausgeklammert sind.

Bei den anderen Formen von Kindesmisshandlungen ist die jetzige Studienlage nicht besonders aussagekräftig oder nicht existent. Dennoch ist davon auszugehen, dass jede Misshandlungsform in einer Insitution der Kinder- und Jugendhilfe auftritt und unter dieser Annahme ist diese Bachelorarbeit verfasst.

Aus den Erkenntnissen der Forschung lassen sich wichtige Schlüsse ziehen: Schutzkonzepte dürfen sich nicht nur auf Übergriffe von Mitarbeitenden gegenüber Kindern- und Jugendlichen beziehen, sondern müssen auch an das erhöhte Risiko von Misshandlungen unter Gleichaltrigen angepasst sein.

Die erhöhte Lebenszeitprävalenz für sexuellen Missbrauch, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher/eine Jugendliche in einer Insitution der Kinder- und Jugendhilfe unter­gebracht war, zeigt, dass Institutionen eine besondere Verantwortung haben, Bewusst­sein und Aufklärung zu schaffen und ihrem Schutzauftrag gezielter und effektiver nachzukommen, um Kinder- und Jugendliche innerhalb und außerhalb von Einrich­tungen zukünftig besser vor Misshandlungserfahrungen schützen zu können. Daher sollte das gesamte Umfeld der Heranwachsenden in dieses Schutzkonzept eingebun­den werden.

3. Rechtliche Aspekte und Vorgaben zu institutionellem Kinderschutz

Aufgabe von Trägern und Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe ist es, grenzver­letzende Zustände jedweder Art zu vermeiden, sichere Anlaufstellen für Kinder- und Jugendliche darzustellen, mit Übergriffen adäquat umzugehen und somit auch Fehler strukturell aufzuarbeiten (Vgl. Macsenaere et al. 2015, S. 9)

Es handelt sich beim Kinderschutz somit um eine langfristige Aufgabe, die viele Res­sourcen benötigt. Um diese Aufgabe professionell wahrzunehmen, ist es demnach un­abdingbar, dass Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe Schutzkonzepte erstellen. Auch wenn es keine detaillierten Handlungsanweisungen zur Erstellung eines Kinder­schutzkonzeptes gibt (s. Kapitel 1), hat die Gesetzgebung rechtliche verbindliche Vor­gaben definiert, die dem Kinderschutz zuzuordnen sind und die in der Praxis zum Teil des Kinderschutzkonzeptes werden (Vgl. SGB VIII).

Natürlich gibt es viele weitere Paragraphen außerhalb des SGB VIII, die für die Kin­der- und Jugendhilfe relevant sind (bspw. Vgl. §1666 BGB, §162 FamFG), die jedoch mit verbindlichen Vorgaben zum Kinderschutz nicht oder nur in sehr geringem Maße in Verbindung stehen. Für die Auseinandersetzung mit Kinderschutz ist es auch wich­tig, die zu den Misshandlungen äquivalenten Straftaten zu kennen und eine Grenzver­letzung von einer Straftat abgrenzen zu können. Deshalb wird im Kapitel 3.3 ein Über­blick über die strafrechtlich relevanten Paragraphen dargeboten.

3.1 Begriffsklärung Schutzkonzept

Ein Schutzkonzept im Kontext des Kinderschutzes beschreibt im engeren Sinne ein Sammelsurium aus Maßnahmen, die einen besseren Schutz von Heranwachsenden in Institutionen vor sexuellem Missbrauch oder Gewalt gewährleisten soll. Damit ist ein Schutzkonzept eine wichtiges qualitatives Merkmal einer Einrichtung, welches Mög­lichkeiten von Täter*innen einschränken soll und Menschen, die in einer Verbindung zu der Institution stehen, Handlungssicherheit im Umgang mit Kindern- und Jugend­lichen bieten soll, bspw. dadurch, dass ein angemessenen Verhaltensrepertoire defi­niert wird (Vgl. Rörig 2015, S. 588).

3.2 Rechtliche Vorgaben des SGB VIII

Die rechtliche Arbeitsgrundlage für die Kinder und Jugendhilfe wird weitestgehend im achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) definiert. Das SGB V bspw. findet ausschließ­lich für den Gesundheitsbereich Anwendung (Vgl. §2 SGB V).

Mit Verabschiedung des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG- Gesetz zur Stärkung und Aktivierung von Kindern und Jugendlichen, 01.01.2012) wurden Änderungen am Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII) vorgenommen, die die Qualität der Leistungen und diversen anderen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe verbessern sollte.

Explizit zu nennen ist hier der §79a SGB VIII Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe, in dem beschrieben wird, dass die kommunalen Träger der Jugendhilfe „Grundsätze und Maßstäbe für die Bewertung der Qualität “ in den Bereichen „Er­bringung von Leistungen, Erfüllung anderer Aufgaben, dem Prozess der Gefährdungs­einschätzung nach §8a SGB VIII und dem Zusammenwirken mit anderen Institutio­nen “ entwickeln müssen (§79a Nr. 1-4 SGB VIII).

Institutionen, die in den Zuständigkeitsbereich des SGB VIII fallen, sind dazu ver­pflichtet, Kinderschutzaspekte zu entwickeln und in der Praxis auszuüben, um als Be­trieb zugelassen zu werden und Förderung aus öffentlichen Mitteln zu erhalten (§§45, 74, 79a SGB VIII).

Institutionen wie Kitas oder Inobhutnahmestellen, die von öffentlichen Trägern wie den Jugendämtern oder Kommunen betrieben werden, können durch das übergeord­nete Landesjugendamt verbindliche Regelungen zur Entwicklung und Umsetzung von Kinderschutzkonzepten auferlegt bekommen (Vgl. §79a S.2 SGB VIII; Vgl. 85 Abs.2).

Diese Vorgaben wiederrum können durch die öffentlichen Träger der Kinder- und Ju­gendliche dann auch zwingend für die Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe an­gewendet werden (Vgl. 85a Abs.1 SGB VIII).

Der §79a S. 2 SGB VIII definert als Aufgabe, dass zur Sicherstellung der Qualität „ auch Qualitätsmerkmale für die Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen und ihren Schutz vor Gewalt“ Anwendung finden müssen (§79a S. 2 SGB VIII).

Vorerst kann resümiert werden, dass die bisher aufgeführten Regelungen sehr allge­mein formuliert sind und wenig Schlüsse dahingehend zulassen, inwieweit Einrichtun­gen Kinderschutz aktiv betreiben müssen, um als Träger anerkannt zu werden.

Konkreter lässt sich der Kinderschutzaspekt in seiner Umsetzung im §45 SGB VIII Erteilung der Betriebserlaubnis erkennen.

Im § 45 SGB VIII wir beschrieben, dass Träger einer Einrichtung, die Kinder oder Jugendliche Teile des Tages oder ganztägig betreuen, eine Betriebserlaubnis benötigen (Vgl. §45 Abs.1 S. 1 SGB VIII). Dies Regelungen gilt ebenfalls für Internate, solange diese nicht einer anderen Behörde unterstellt sind (Vgl. §45 Abs.1 Nr. 3 SGB VIII). Institutionen wie Krankenhäuser oder Regelschulen sind von dieser Vorgabe ausge­schlossen, da sie besonderen Zwecken außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe zuträg­lich sind und eine Unterbringung von nachrangiger Wichtigkeit ist (Vgl. Münder et al. 2013, S. 483). Für die Institutionen außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe sind andere gesetzliche Aufsichten zuständig (s.o.; Vgl. Münder et al. 2013, S. 483 ff.)

Im BKiSchG sind Voraussetzungen zur Erteilung einer Erlaubnis des Betriebes kon­kretisiert wurden.

Im §45 Abs. 2 SGB VIII ist eine Betriebserlaubnis nur dann zu vergeben, „ wenn das Wohl der Kinder- und Jugendlichen in der Einrichtung gewährleistet ist“ (§45 Abs. 2 SGB VIII).

Die Verwendung des Plurals für Kinder- und Jugendliche kann hier durchaus eine be­sondere Relevanz zugeschrieben werden, da dies darauf schließen lässt, dass nicht die einzelnen Kinder oder Jugendlichen gemeint sind, sondern dass die Rahmenbedingun­gen dahingehend abgesteckt werden müssen, dass mögliche Gefahrenquellen ganz all­gemein ausgeschlossen werden. Dass ein sechzehnjähriges Mädchen Opfer einer Misshandlung in einer Einrichtung wird, unterliegt anderen Rahmenbedingungen als bei einem fünfjährigen schwerstmehrfachbehinderten Jungen in derselben Einrich­tung.

Dem Schutz einzelner hat der Träger der Einrichtung im Rahmen des Schutzauftrags nach §8a Abs. 4 SGB VIII und das Jugendamt im Rahmen der Fallverantwortung nach­zukommen (Vgl. §§8a, 36 SGB VIII; Vgl. Wiesener 2015, S. 60 ff. & 671 ff.).

Weiterhin sind zur Sicherung von Rechten der Kinder und Jugendlichen Verfahren zur Beteiligungen und Möglichkeiten von Beschwerdeverfahren in persönlichen Angele­genheiten zu installieren (§§45 Abs.2 Nr.3 SGB VIII).

Die Gesetzesbegründung zu §45 SGB VIII lautet:

„Verfahren zu installieren und zu implementieren, durch die Kinder und Ju­gendliche als Experten in eigener Sache dort beteiligt werden, wo sie betroffen sind, muss ein wesentlicher Schritt bei der Entwicklung von Einrichtungskon­zeptionen sein, gerade weil eine aktive Beteiligung für die Entwicklung der in der Einrichtung betreuten bzw. untergebrachten Kinder und Jugendlichen von zentraler Bedeutung ist. Die Regelung ist darüber hinaus auch als wichtiger Beitrag zur Umsetzung des Rechts auf Berücksichtigung des Kindeswillens (Ar­tikel 12 der Kinderrechtskonvention) und der Empfehlungen des VN-Ausschus­ses für die Rechte des Kindes zu verstehen.“ (BT-Drs. 17/6256, S. 23)

Eine Umsetzung von Beteiligung und Beschwerde ist demnach sogar von jeder Insti­tution zu erbringen, unabhängig davon, ob sie bereits eine Betriebserlaubnis haben oder nicht.

[...]

Ende der Leseprobe aus 72 Seiten

Details

Titel
Kinderschutz in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe. Eine Untersuchung von Prozessen und Maßnahmen zur Installation von Kinderschutzkonzepten
Untertitel
Unter Berücksichtigung von organisationsspezifischen Gegebenheiten und Personalentwicklungsprozessen
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Note
1,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
72
Katalognummer
V1193966
ISBN (eBook)
9783346638984
ISBN (Buch)
9783346638991
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kinderschutz, institutionen, kinder-, jugendhilfe, eine, untersuchung, prozessen, maßnahmen, installation, kinderschutzkonzepten, unter, berücksichtigung, gegebenheiten, personalentwicklungsprozessen
Arbeit zitieren
Daniel Grimm (Autor:in), 2021, Kinderschutz in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe. Eine Untersuchung von Prozessen und Maßnahmen zur Installation von Kinderschutzkonzepten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1193966

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