Aquis Submersus


Classic, 2008

85 Pages

Theodor Storm (Author)


Excerpt


In unserem zu dem früher herzoglichen Schlosse gehörigen, seit Menschengedenken aber ganz vernachlässigten „Schloßgarten“ waren schon in meiner Knabenzeit die einst im altfranzösischen Stile angelegten Hagebuchenhecken zu dünnen, gespenstischen Alleen ausgewachsen; da sie indessen immerhin noch einige Blätter tragen, so wissen wir Hiesigen, durch Laub der Bäume nicht verwöhnt, sie gleichwol auch in dieser Form zu schätzen; und zumal von uns nachdenklichen Leuten wird immer der Eine oder Andere dort zu treffen sein. Wir pflegen dann unter dem dürftigen Schatten nach dem sogenannten „Berg“ zu wandeln, einer kleinen Anhöhe in der nordwestlichen Ecke des Gartens oberhalb dem ausgetrockneten Bette eines Fischteiches, von wo aus der weitesten Aussicht nichts im Wege steht. Die Meisten mögen wol nach Westen blicken, um sich an dem lichten Grün der Marschen und darüberhin an der Silberfluth des Meeres zu ergötzen, auf welcher das Schattenspiel der langgestreckten Insel schwimmt; meine Augen wenden unwillkürlich sich nach Norden, wo, kaum eine Meile fern, der graue, spitze Kirchthurm aus dem höher belegenen, aber öden Küstenlande aufsteigt; denn dort liegt eine von den Stätten meiner Jugend.

Der Pastorssohn aus jenem Dorfe besuchte mit mir die „Gelehrtenschule" meiner Vaterstadt, und unzählige Male sind wir am Sonnabendnachmittage zusammen dahinausgewandert, um dann am Sonntagabend oder Montags früh zu unserem Nepos, oder später zu unserem Cicero nach der Stadt zurückzukehren. Es war damals auf der Mitte des Weges noch ein gut Stück ungebrochener Haide übrig, wie sie sich einst nach der einen Seite bis fast zur Stadt, nach der anderen ebenso gegen das Dorf erstreckt hatte. Hier summten aus den Blüthen des duftenden Haidekrauts die Immen und weißgrauen Hummeln und rannte unter den dürren Stengeln desselben der schöne, goldgrüne Laufkäfer; hier in den Duftwolken der Eriken und des harzigen Gagelstrauches schwebten Schmetterlinge, die nirgends sonst zu finden waren. Mein ungeduldig dem Elternhause zustrebender Freund hatte oft seine liebe Noth, seinen träumerischen Genossen durch all' die Herrlichkeiten mit sich fort zu bringen; hatten wir jedoch das angebaute Feld erreicht, dann ging es auch um desto munterer vorwärts, und bald, wenn wir nur erst den langen Sandweg hinaufwateten, erblickten wir auch schon über dem dunklen Grün einer Fliederhecke den Giebel des Pastorhauses, aus dem das Studirzimmer des Pastors mit seinen kleinen, blinden Fensterscheiben auf die bekannten Gäste hinabgrüßte.

Bei den Pastorsleuten, deren einziges Kind mein Freund war, hatten wir allezeit, wie wir hier zu sagen pflegen, fünf Quartier auf der Elle, ganz abgesehen von der wunderbaren Naturalverpflegung. Nur die Silberpappel, der einzig hohe und also auch einzig verlockende Baum des Dorfes, welche ihre Zweige ein gut Stück oberhalb des bemoosten Strohdaches rauschen ließ, war gleich dem Apfelbaum des Paradieses uns verboten und wurde daher nur heimlich von uns erklettert; sonst war, so viel ich mich entsinne, Alles erlaubt und wurde je nach unserer Altersstufe bestens von uns ausgenutzt.

Der Hauptschauplatz unserer Thaten war die große „Priesterkoppel“, zu der ein Pförtchen aus dem Garten führte. Hier wußten wir mit dem den Buben angebornen Instincte die Nester der Lerchen und der Grauammern aufzuspüren, denen wir dann die wiederholtesten Besuche abstatteten, um nachzusehen, wie weit in den letzten zwei Stunden die Eier oder die Jungen nun gediehen seien; hier auf einer tiefen und, wie ich jetzt meine, nicht weniger als jene Pappel gefährlichen Wassergrube, deren Rand mit alten Weidenstumpfen dicht umstanden war, singen wir die flinken schwarzen Käfer, die wir„Wasserfranzofen“ nannten, oder ließen wir ein ander Mal unsere [5] auf einer eigens angelegten Werft erbaute Kriegsflotte aus Wallnußschaalen und Schachteldeckeln schwimmen. Im Spätsommer geschah es dann auch wol, daß wir aus unserer Koppel einen Raubzug nach des Küsters Garten machten, welcher gegenüber dem des Pastorates an der anderen Seite der Wassergrube lag; denn wir hatten dort von zwei verkrüppelten Apfelbäumen unseren Zehnten einzuheimsen, wofür uns freilich gelegentlich eine freundschaftliche Drohung von dem gutmüthigen alten Manne zu Theil wurde. - So viele Jugendfreuden wuchsen auf dieser Priesterkoppel, in deren dürrem Sandboden andere Blumen nicht gedeihen wollten; nur den scharfen Duft der goldknopfigen Rainfarren, die hier haufenweis auf allen Wällen standen, spüre ich noch heute in der Erinnerung, wenn jene Zeiten mir lebendig werden.

Doch alles Dieses beschäftigte uns nur vorübergehend; meine dauernde Theilnahme dagegen erregte ein Anderes, dem wir selbst in der Stadt nichts an die Seite zu setzen hatten. - Ich meine damit nicht etwa die Röhrenbauten der Lehmwespen, die überall aus den Mauerfugen des Stalles hervorragten, obschon es anmuthig genug war, in beschaulicher Mittagsstunde das Aus- und Einfliegen der emsigen Thierchen zu beobachten; ich meine den viel größeren Bau der alten und ungewöhnlich stattlichen Dorfkirche. Bis an das Schindeldach des hohen Thurmes war sie von Grund auf aus Granitquadern aufgebaut und beherrschte, auf dem höchsten Punkt des Dorfes sich erhebend, die weite Schau über Haide, Strand und Marschen. - Die meiste Anziehungskraft für mich hatte indeß das Innere der Kirche; schon der ungeheure Schlüssel, der von dem Apostel Petrus selbst zu stammen schien, erregte meine Phantasie. Und in der That erschloß er auch, wenn wir ihn glücklich dem alten Küster abgewonnen hatten, die Pforte zu manchen wunderbaren Dingen, aus denen eine längst vergangene Zeit hier wie mit finsteren, dort mit kindlich frommen Augen, aber immer in geheimnißvollem Schweigen zu uns Lebenden aufblickte. Da hing mitten in die Kirche hinab ein schrecklich übermenschlicher Crucifixus, dessen hagere Glieder und verzerrtes Antlitz mit Blute überrieselt waren; dem zur Seite an einem Mauerpfeiler haftete gleich einem Nest die braungeschnitzte Kanzel, an der aus Frucht- und Blattgewinden allerlei Thier- und Teufelsfratzen sich hervorzudrängen schienen. Besondere Anziehung aber übte der große, geschnitzte Altarschrank im Chor der Kirche, auf dem in bemalten Figuren die Leidensgeschichte Christi dargestellt war; so seltsam wilde Gesichter, wie das des Kaiphas oder die der Kriegsknechte, welche in ihren goldenen Harnischen um des Gekreuzigten Mantel würfelten, bekam man draußen im Alltagsleben nicht zu sehen; tröstlich damit contrastirte nur das holde Antlitz der am Kreuze hingesunkenen Maria; ja, sie hätte leicht mein Knabenherz mit einer phantastischen Neigung bestricken können, wenn nicht ein Anderes mit noch stärkerem Reize der Geheimnnißvollen mich immer wieder von ihr abgezogen hätten.

Unter all' diesen seltsamen oder wol gar unheimlichen Dingen hing im Schiff der Kirche das unschuldige Bildniß eines todten Kindes, eines schönen, etwa fünfjährigen Knaben, der, auf einem mit Spitzen besetzten Kissen ruhend, eine weiße Wasserlilie in seiner kleinen, bleichen Hand hielt. Aus dem zarten Antlitz sprach neben dem Grauen des Todes, wie hülfeflehend, noch eine letzte holde Spur des Lebens; ein unwiderstehliches Mitleid befiel mich, wenn ich vor diesem Bilde stand.

Aber es hing nicht allein hier; dicht daneben schaute aus dunklem Holzrahmen ein finsterer schwarzbärtiger Mann in Priesterkragen und Sammar. Mein Freund sagte mir es sei der Vater jenes schönen Knaben; dieser selbst, so gehe noch heute die Sage, solle einst in der Wassergrube unserer Priesterkoppel seinen Tod gefunden haben. Aus dem Rahmen lasen wir die Jahrzahl 1666, das war lange her. Immer wieder zog es mich zu diesen beiden Bildern; ein phantastisches Verlangen ergriff mich, von dem Leben und Sterben des Kindes eine nähere wenn auch noch so karge Kunde zu erhalten; selbst aus dem düstern Antlitz des Vaters, das trotz des Priesterkragens mich fast an die Kriegsknechte des Altarschranks gemahnen wollte, suchte ich sie herauszulesen.

- - Nach solchen Studien in dem Dämmerlicht der alten Kirche erschien dann das Haus der guten Pastorsleute nur um so gastlicher. Freilich war es gleichfalls hoch zu Jahren, und der Vater meines Freundes hoffte, so lange ich denken konnte, auf einen Neubau; da aber die Küsterei an derselben Altersschwäche litt, so wurde weder hier noch dort gebaut. - Und doch, wie freundlich waren trotzdem die Räume des alten Hauses; im Winter die kleine Stube rechts, im Sommer die größere links vom Hausflur, wo die aus den Reformationsalmanachen herausgeschnittenen Bilder in Mahagonirähmchen an der weißgetünchten Wand hingen, wo man aus dem westlichen Fenster nur eine ferne Windmühle, außerdem aber den ganzen weiten Himmel vor sich hatte, der sich Abends in rosenrothem Schein  verklärte und das ganze Zimmer überglänzte! Die lieben Pastorsleute, die Lehnsrühle mit den rothen Plüschkissen, das alte tiefe Sopha, auf dem Tisch beim Abendbrod der traulich sausende Theekessel, -- es war Alles helle, freundliche Gegenwart. Nur eines Abends - wir waren derzeit schon Secundaner - kam mir der Gedanke, welch' eine Vergangenheit an diesen Räumen hafte, ob nicht gar jener todte Knabe einst mit frischen Wangen hier leibhaftig umhergesprungen sei, dessen Bildniß jetzt wie mit einer wehmüthig holden Sage den düsteren Kirchenraum erfüllte.

Veranlassung zu solcher Nachdenklichkeit mochte geben, daß ich am Nachmittage, wo wir auf meinen Antrieb wieder einmal die Kirche besucht hatten, unten in einer dunkelen Ecke des Bildes vier mit rother Farbe geschriebene Buchstaben entdeckt hatte, die mir bis jetzt entgangen waren.

„Sie lauten C. P. A. S.“ sagte ich zu dem Vater meines Freundes; „aber wir können sie nicht enträthseln“

„Nun,“ erwiederte dieser; „die Inschrift ist  mir wohl bekannt; und nimmt man das Gerücht zu Hülfe, so möchten die beiden letzten Buchstaben wol mit ‚Aquis Submersus‘, also mit ‚Ertrunken‘ oder wörtlich ‚Im Wasser versunken‘ zu deuten sein; nur mit dem vorangehenden C. P. wäre man dann noch immer in Verlegenheit! Der junge Adjunctus unseres Küsters, der einmal die Quarta passirt ist, meint zwar, es könne ‚Casu Periculoso‘ ‚Durch gefährlichen Zufall‘ heißen; aber die alten Herren jener Zeit dachten logischer; wenn der Knabe dabei ertrank, so war der Zufall nicht nur blos gefährlich. „

Ich hatte begierig zugehört. „Casu“ sagte ich; „es könnte auch wol ‚Culpa‘ heißen?" „Culpa“ wiederholte der Pastor. „Durch Schuld? - aber durch wessen Schuld!“

Da trat das finstere Bild des alten Predigers mir vor die Seele, und ohne viel Besinnen rief ich: „Warum nicht: Culpa Patris?“

Der gute Pastor war fast erschrocken. „Ei, ei, mein junger Freund,“ sagte er und erhob warnend den Finger gegen mich. „Durch Schuld  des Vaters? So wollen wir trotz seines düsteren Ansehens meinen seligen Amtsbruder doch nicht beschuldigen. Auch würde er dergleichen wol schwerlich von sich haben schreiben lassen."

Dies Letztere wollte auch meinem jugendlichen Verstande einleuchten; und so blieb denn der eigentliche Sinn der Inschrift nach wie vor ein Geheimniß der Vergangenheit.

Daß übrigens jene beiden Bilder sich auch in der Malerei wesentlich vor einigen alten Predigerbildnissen auszeichneten, welche gleich daneben hingen, war mir selbst schon klar geworden; daß aber Sachverständige in dem Maler einen tüchtigen Schüler altholländischer Meister erkennen wollten, erfuhr ich freilich jetzt erst durch den Vater meines Freundes. Wie jedoch ein solcher in dieses arme Dorf verschlagen worden, oder woher er gekommen und wie er geheißen habe, darüber wußte auch er mir nichts zu sagen. Die Bilder selbst enthielten weder einen Namen, noch ein Malerzeichen.

* * * * *

Die Jahre gingen hin. Während wir die Universität besuchten, starb der gute Pastor, und die Mutter meines Schulgenossen folgte später ihrem Sohne aus dessen inzwischen anderswo erreichte Pfarrstelle; ich hatte keine Veranlassung mehr, nach jenem Dorfe zu wandern. Da, als ich selbst schon in meiner Vaterstadt wohnhaft war, geschah es, daß ich für den Sohn eines Verwandten ein Schülerquartier bei guten Bürgersleuten zu besorgen hatten. Der eigenen Jugendzeit gedenkend, schlenderte ich im Nachmittagssonnenscheine durch die Straßen, als mir an der Ecke des Marktes über der Thür eines alten, hochgegiebelten Hauses eine plattdeutsche Inschrift in die Augen fiel, die verhochdeutscht etwa lauten würden:

Gleich so wie Rauch und Staub verschwindet,

Also sind auch die Menschenkind'.

Die Worte mochten für jugendliche Augen wol nicht sichtbar sein; denn ich hatte sie nie bemerkt, so oft ich auch in meiner Schulzeit mir einen Heißewecken bei dem dort wohnenden Bäcker geholt hatte. Fast unwillkürlich trat ich in das Haus und in der That, es fand sich hier ein Unterkommen für den jugen Vetter. Die Stube ihrer alten „Möddersch" (Mutterschwester) - so sagte mir der freundliche Meister -, von der sie Haus und Betrieb beerbt hätten, habe seit Jahren leer gestanden; schon lange hatten sie sich einen jugen Gast dafür gewünscht.

Ich wurde eine Treppe hinaufgeführt, und wir betraten dann ein ziemlich niedriges, alterthümlich ausgestattetes Zimmner, dessen beide Fenster mit ihren kleinen Scheiben ans den geräumigen Marktplatz hinausgingen. Früher, erzählte der Meister, seien zwei uralte Linden vor der Thür gewesen; aber er habe sie schlagen lassen, da sie allzusehr in's Haus gedunkelt und auch hier die schöne Aussicht ganz verdeckt hatten.

Ueber die Bedingungen wurden wir bald in allen Theilen einiig; während wir dann aber noch über die jetzt zu treffende Zurichtung des Zimmers sprachen, war mein Blick aus ein im Schatten eines Schrankes hängendes Oelgemälde gefallen, das plötzlich meine ganze Aufmerksamkeit hinwegnahm. Es war noch wohl erhalten und stellte einen älteren, ernst und milde blickenden Mann dar, in einer dunklen Tracht, wie in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts sie diejenigen aus den vornehmeren Ständen zu tragen pflegten, welche sich mehr mit Staatssachen oder gelehrten Dingen, als mit dem Kriegshandwerke beschäftigten.

Der Kopf des alten Herrn, so schön und anziehend und so trefflich gemalt er immer sein mochte, hatte indessen nicht diese Erregung in mir hervorgebracht; aber der Maler hatte ihm einen blassen Knaben in den Arm gelegt, der in seiner kleinen schlaff herabhängenden Hand eine weiße Wasserlilie hielt; - und diesen Knaben kannte ich ja längst. Auch hier war es wol der Tod, der ihm die Augen zugedrückt hatten.

"Woher ist dieses Bild?" fragte ich endlich, da ich plötzlich inne wurde, daß der vor mir stehende Meister mit seiner Auseinandersetzung innegehalten hatten. Er sah mich verwundert an. „Das alte Bild? Das ist von unserer Möddersch,“ erwiederte er: „es stammt von ihrem Urgroßonkel, der ein Maler gewesen und vor mehr als hundert Jahren hier gewohnt hat. Es sind noch andre Siebensachen von ihm da.“

Bei diesen Worten zeigte er nach einer kleinen Lade von Eichenholz, aus welcher allerlei geometrische Figuren recht zierlich eingeschnitten waren.

Als ich sie von dem Schranke, aus dem sie stand, herunternahm, fiel der Deckel zurück, und es zeigten sich mir als Inhalt einige stark vergilbte Papierblätter mit sehr alten Schriftzügen.

„Darf ich die Blätter lesen?“ fragte ich.

„Wenn's Ihnen Plaisir macht,“ erwiederte der Meister, „so mögen Sie die ganze Sache mit nach Hause nehmen; es sind so alte Schriften; Werth steckt nicht darin.“

Ich aber erbat mir und erhielt auch die Erlaubniß, diese werthlosen Schriften hier an Ort und Stelle lesen zu dürfen; und während ich mich dem alten Bilde gegenüber in einen mächtigen Ohrenlehnstuhl setzte, verließ der Meister das Zimmer, zwar immer noch erstaunt, dochgleichwol die freundliche Verheißung zurücklassend, daß seine Frau mich bald mit einer guten Tasse Kaffee regaliren werde.

Ich aber las, und hatte im Lesen bald Alles um mich her vergessen.

* * * * *

So war ich denn wieder daheim in unserm Holstenlande; am Sonntage Cantate war es Anno 1661 - Mein Malgeräth und sonstiges Gepäcke hatte ich in der Stadt zurückgelassen und wanderte nun fröhlich fürbaß, die Straße durch den maiengrünen Buchenwald, der von der See in's Land hinaussteigt. Vor mir her flogen ab und zu ein paar Waldvöglein und letzeten ihren Durst an dem Wasser, so in den tiefen Radgeleisen stund; denn ein linder Regen war gefallen über Nacht und noch gar früh am Vormittage, so daß die Sonne den Waldesschatten noch nicht überstiegen hatte.

Der helle Drosselschlag, der von den Lichtungen zu mir scholl, fand seinen Widerhall in meinem Herzen. Durch die Bestellungen, so mein theurer Meister van der Helft im letzten Jahre meines Amsterdamer Ausenthalts mir zugewendet, war ich aller Sorge quitt geworden; einen guten Zehrpfennig und einen Wechsel aus Hamburg trug ich noch itzt in meiner Taschen; dazu war ich stattlich angethan: mein Haar fiel auf ein Mäntelchen mit seinem Grauwerk, und der Lütticher Degen fehlte nicht an meiner Hüfte.

Meine Gedanken aber eileten mir voraus; immer sah ich Herrn Gerhardus, meinen edlen großgünstigen Protector, wie er von der Schwelle seines Zimmers mir die Hände würd' entgegenstrecken, mit seinem milden Gruße: „So segne Gott Deinen Eingang, mein Johannes!"

Er hatte einst mit meinem lieben, ach, gar zu früh in die ewige Herrlichkeit genommenen Vater zu Jena die Rechte studiret und war auch nachmals den Künsten und Wissenschaften mit Fleiße obgelegen, so daß er dem Hochseligen Herzog Friedrich bei seinem edlen, wiewol wegen der Kriegsläufte vergeblichen Bestreben um Errichtung einer Landesuniversität ein einsichtiger und eifriger Berather gewesen. Obschon ein adeliger Mann, war er meinem lieben Vater doch stets in Treuen zugethan blieben, hatte auch nach dessen seligem Hintritt sich meiner verwaiseten Jugend mehr, als zu verhoffen, angenommen und nicht allein meine sparfamen Mittel aufgebessert, sondern auch durch seine fürnehme Bekanntschaft unter dem Holländischen Adel es dahin gebracht, daß mein theurer Meister van der Helft mich zu seinem Schüler angenommen.

Meinte ich doch zu wissen, daß der verehrte Mann unversehrt auf seinem Herrenhofe sitze; wofür dem Allmächtigen nicht genug zu danken; denn, derweilen ich in der Fremde mich der Kunst beflissen, war daheim die Kriegsgreuel über das Land gekommen; so zwar, daß die Gruppen, die gegen den kriegswüthigen Schweden  dem Könige zum Beistand hergezogen, fast ärger als die Feinde selbst gehauset, ja selbst der Diener Gottes mehrere in jämmerlichen Tod gebracht. Durch den plötzlichen Hintritt des Schwedischen Carolus war nun zwar Friede; aber die grausamen Stapfen des Krieges lagen überall; manche Bauern- oder Käthnerhaus, wo man mich als Knaben mit einem Trunke süßer Milch bewirthet, hatte ich auf meiner Morgenwandrung niedergesenget am Wege liegen sehen und manches Feld in ödem Unkraut, daraus sonst um diese Zeit der Roggen seine grünen Spitzen trieb.

Aber solches beschwerete mich heut nicht allzusehr; ich hatte nur Verlangen, wie ich dem edlen Herrn durch meine Kunst beweisen möchte, daß er Gab' und Gunst an keinen unwürdigen verschwendet habe; dachte auch nicht an Strolche und verlaufen Gesindel, das vom Kriege her noch in den Wäldern Umtrieb halten sollte. Wol aber tückete mich ein Anderes, und das war der Gedanke an den Junker Wulf. Er war mir nimmer hold gewesen, hatte wol gar, was sein edler Vater an mir gethan, als einen Diebstahl an ihm selber angesehen; und manches Mal, wenn ich, wie öfters nach meines lieben Vaters Tode, im Sommer die Vacanz auf dem Gute zubrachten hatte er mir die schönen Tage vergället und verfalzen. Ob er anitzt in seines Vaters Hause sei, war mir nicht kund geworden, hatte nur vernommen, daß er noch vor dem Friedensschlusse bei Spiel und Becher mit den Schwedischen Offiziers Verkehr gehalten, was mit rechter Holstentreue nicht zu reimen ist.

Indem ich dieß bei mir erwog, war ich aus dem Buchenwalde in den Richtsteig durch das Tannenhölzchen geschritten, das schon dem Hofe nahe liegt. Wie liebliche Erinnerung umhauchte mich der Würzeduft des Harzes; aber bald trat ich aus dem Schatten in den vollen Sonnenschein hinaus; da lagen zu beiden Seiten die mit Haselbüschen eingehegten Wiesen, und nicht lange, so wanderte ich zwischen den zwo Reihen gewaltiger Eichbäume, die zum Herrensitz hinausführen. Ich weiß nicht, was für ein bang' Gefühl mich plötzlich überkam, ohn' alle Ursach', wie ich derzeit dachte; denn es war eitel Sonnenschein umher, und vom Himmel herab klang ein gar herzlich und ermunternd Lerchensingen. Und siehe, dort auf der Koppel, wo der Hofmann seinen Immenhof hat, stand ja auch noch der alte Holzbirnenbaum und flüsterte mit seinen jungen Blättern in der blauen Luft.

„Grüß dich Gott!“ sagte ich leis, gedachte dabei aber weniger des Baumes, als vielmehr des holden Gottesgeschöpfes, in dem, wie es sich nachmals fügen mußte, all' Glück und Leid, und auch all' nagende Buße meines Lebens beschlossen sein sollte, für jetzt und alle, Zeit. Das war des edlen Herrn Gerhardus Töchterlein, des Junkers Wulfen einzig Geschwister.

Item, es war bald nach meines lieben Vaters Tode, als ich zum ersten Mal die ganze Vacanz hier verbrachte; sie war derzeit ein neunjährig Dirnlein, die ihre braunen, Zöpfe lustig fliegen ließ; ich zählte um ein paar Jahre weiter. So  trat ich eines Morgens aus dem Thorhaus; der alte Hofmann Dietrich, der ober der Einfahrt wohnt, und neben dem als einem getreuen Mann mir mein Schlafkämmerlein eingeräumt war, hatte mir einen Eschenbogen zugerichtet, mir auch die Bolzen von tüchtigem Blei dazu gegossen, und ich wollte nun auf die Raubvögel, deren genug bei dem Herrenhaus umherschrieen; da kam sie vom Hofe auf mich zugesprungen.

„Weißt Du, Johannes,“ sagte sie; „ich zeig' Dir ein Vogelnest; dort in dem hohlen Birnbaum; aber das sind Rothschwänzchen, die darfst Du ja nicht schießen!“

Damit war sie schon wieder vorausgesprungen; doch eh' sie noch dem Baum auf zwanzig Schritte nah' gekommen, sah ich sie jählings stille stehn. „Der Buhz, der Buhz!“ schrie sie und schüttelte wie entsetzt ihre beiden Händlein in der Luft.

Es war aber ein großer Waldkauz, der ober dem Loche des hohlen Baumes saß und hinabschauete, ob er ein ausfliegend Vögelein erhaschen möge. „Der Buhz, der Buhz!“ schrie die Kleine [24] wieder. „Schieße Johannes, schieß!" Der Kauz aber, den die Freßgier taub gemacht, saß noch immer und stierete in die Hohlung. Da spannte ich meinen Eschenbogen und schoß, daß das Raubthier zappelnd aus dem Boden lag; aus dem Baume aber schwang sich ein zwitschernd Vöglein in die Luft.

Seit der Zeit waren Katharina und ich zwei gute Gesellen miteinander; in Wald und Garten, wo das Mägdlein war, da war auch ich. Darob aber mußte mir gar bald ein Feind erstehen; das war Kurt von der Risch, dessen Vater eine Stunde davon auf seinem reichen Hofe saß. In Begleitung seines gelahrten Hofmeisters, mit dem Herr Gerhardus gern der Unterhaltung pflag, kam er oftmals auf Besuch; und da er jünger war, als Junker Wulf, so war er wol auf mich und Katharinen angewiesen; insonders aber schien das braune Herrentöchterlein ihm zu gefallen. Doch war das schier umsonst; sie lachte nur über seine krumme Vogelnase, die ihm, wie bei fast Allen des Geschlechtes, unter buschigem Haupthaar zwischen zwo merklich runden Augen saß. Ja, wenn sie seiner nur von fern gewahrte, so reckte sie wol ihr Köpfchen vor und rief: „Johannes. der Buhz!l der Buhz!“ Dann versteckten wir uns hinter den Scheunen oder rannten wol auch spornstreichs in den Wald hinein, der sich in einem Bogen um die Felder und danach wieder dicht an die Mauern des Gartens hinanzieht.

Darob, als der von der Risch deß inne wurde, kam es oftmals zwischen uns zum Haarraufen, wobei jedoch, da er mehr hitzig denn stark war, der Vortheil meist in meinen Händen blieb.

Als ich, um von Herrn Gerhardus Urlaub zu nehmen, vor meiner Ausfahrt in die Fremde zum letzten Mal, jedoch nur kurze Tage, hier verweilte, war Katharina schon fast wie eine Jungfrau; ihr braunes Haar lag itzt in einem goldnen Netz gefangen; in ihren Augen, wenn sie die Wimpern hob, war oft ein spielend Leuchten, das mich schier beklommen machte. Auch war ein alt gebrechlich Fräulein ihr zur Obhut beigegeben, so man im Haufe nur „Bas' Ursel“ nannte; sie ließ das Kind nicht aus den Augen und ging überall mit einer langen Tricotage neben ihr.

Als ich so eines Octobernachmittags im Schatten der Gartenhecken mit Beiden ans und ab wandelte, kam ein lang ausgeschossener Gesell, mit spitzenbesetztem Lederwamms und Federhut ganz à la mode gekleidet, den Gang zu uns herauf; und siehe da, es war der Junker Kurt, mein alter Widersacher. Ich merkte allsogleich, daß er noch immer bei seiner schönen Nachbarin zu Hofe ging; auch, daß insonders dem alten Fräulein solches zu gefallen schien. Das war ein „Herr Baron“ aus alle Frag' und Antwort; dabei lachte sie höchst obligeant mit einer widrig feinen Stimme und hob die Nase unmäßig in die Luft; mich aber, wenn ich ja ein Wort dazwischen gab, nannte sie stetig „Er“ oder kurzweg auch „Johannes“, worauf der Junker dann seine runden Augen einkniff und im Gegentheile that, als sähe er auf mich herab, obschon ich ihn um halben Kopfes Länge überragte. Ich blickte auf Katharinen; die aber kümmerte sich nicht um mich, sondern ging sittig neben dem Junker, ihm manierlich Red' und Antwort gebend; den kleinen rothen Mund aber verzog mitunter ein spöttisch stolzes Lächeln, so daß ich dachte. „Getröste Dich, Johannes; der Herrensohn schnellt itzo deine Wage in die Luft!“ Trotzig blieb ich zurück und ließ die anderen Dreie vor mir gehen. Als aber diese in das Haus getreten waren und ich davor noch an Herrn Gerhardus' Blumenbeeten stand, darüber brütend, wie ich, gleich wie vormals, mit dem von der Risch ein tüchtig Haarraufen beginnen möchte, kam plötzlich Katharina wieder zurückgelaufen, riß neben mir eine Aster von den Beeten und flüsterte mir zu: „Johannes, weißt Du was? Der Buhz sieht einem jungen Adler gleich; Baf' Ursel hat's gesagt.“ Und fort war sie wieder, eh' ich mich's versah. Mir aber war auf einmal all' Trotz und Zorn wie weggeblasen. Was kümmerte mich itzund der Herr Baron! Ich lachte hell und fröhlich in den güldnen Tag hinaus; [28] denn bei den übermüthigen Worten war wieder jenes süße Augenspiel gewesen. Aber dieß Mal harte es mir gerade in's Herz geleuchtet.

Bald danach ließ mich Herr Gerhardus aus sein Zimmer rufen; er zeigte mir aus einer Karte noch einmal, wie ich die weite Reife nach Amsterdam zu machen habe, übergab mir Briefe an seine Freunde dort und sprach dann lange mit mir, als meines lieben seligen Vaters Freund. Denn noch selbigen Abends hatte ich zur Stadt zu gehen, von wo ein Bürger mich auf seinem Wagen mit nach Hamburg nehmen wollte.

Als nun der Tag hinabging, nahm ich Abschied. Unten im Zimmer saß Katharina an einem Stickrahmen; ich mußte der Griechischen Helena gedenken, wie ich sie jüngst in einem Kupferwerk gesehen; so schön erschien mir der junge Nacken, den das Mädchen eben über ihre Arbeit neigte. Aber sie war nicht allein; ihr gegenüber saß Bas' Ursel und las laut aus einem französischen Geschichtenbuche. Da ich näher trat, hob sie die Nase nach mir zu. „Nun,  Johannes,“ sagte sie, „Er will mir wol Ade sagen! So kann Er auch dem Fräulein gleich seine Reverenze machen!“ - Da war schon Katharina von ihrer Arbeit aufgestanden; aber, indem sie mir die Hand reichte, traten die Junker Wulf und Kurt mit großem Geräusch in's Zimmer; und sie fagte nur. „Lebwohl, Johannes!“ Und so ging ich fort.

Im Thorhaus drückte ich dem alten Dieterich die Hand, der Stab und Ranzen schon für mich bereit hielt; dann wanderte ich zwischen den Eichbäumen auf die Waldstraße zu. Aber mir war dabei, als könne ich nicht recht fort, als hätt' ich einen Abschied noch zu Gute, und stand oft still und schaute hinter mich. Ich war auch nicht den Richtweg durch die Tannen, sondern, wie von selber, den viel weiteren auf der großen Fahrstraße hingewandert. Aber schon kam vor mir das Abendroth überm Wald herauf, und ich mußte eilen, wenn mich die Nacht nicht überfallen sollte. „Ade, Katharina, ade!“ sagte ich leise und setzte rüstig meinen Wanderstab in Gang. Da, an der Stelle, wo der Fußsteig in die Straße mündet - in stürmender Freude stund das Herz mir still - plötzlich aus dem Tannendunkel war sie selber da; mit glühenden Wangen kam sie hergelaufen, sie sprang über den trocknen Weggraben, daß die Fluth des seidenbraunen Haars dem güldnen Netz entstürzete; und so fing ich sie in meinen Armen aus. Mit glänzenden Augen, noch mit dem Odem ringend, schaute sie mich an. „Ich - ich bin ihnen fortgelaufen!“ stammelte sie endlich; und dann, ein Päckchen in meine Hand drückend, fügte sie leis hinzu. „Von mir, Johannes! Und du sollst es nicht verachten“. „Auf einmal aber wurde ihr Gesichtchen trübe; er kleine schwellende Mund wollte noch was reden, aber da brach ein Thränenquell aus ihren Augen, und wehmüthig ihr Köpfchen schüttelnd, riß sie sich hastig los. Ich sah ihr Kleid im finstern Tannensteig verschwinden; dann in der Ferne hört' ich noch die Zweige rauschen, und dann stand ich allein. Es war so still, die Blätter konnte man fallen hören. Als ich das Päckchen aus einander faltete, da war's ihr güldner Pathenpfennig, so sie mir oft gezeiget hatte; ein Zettlein lag dabei, das las ich nun beim Schein des Abendrothes. „Damit Du nicht in Noth gerathest,“ stund darauf geschrieben. Da streckt' ich meine Arme in die leere Luft. „Ade, Katharina, ade, ade!“ wol hundert Mal rief ich es in den stillen Wald hinein; - und erst mit sinkender Nacht erreichte ich die Stadt.

- - Seitdem waren fast fünf Jahre dahingegangen. - Wie würd' ich, heute Alles wiederfinden?

Und schon stund ich am Thorhaus, und sah drunten im Hof die alten Linden, hinter deren lichtgrünem Laub die beiden Zackengiebel des Herrenhauses itzt verborgen lagen. Als ich aber durch den Thorweg gehen wollte, jagten vom Hofe her zwei fahlgraue Bullenbeißer mit Stachelhalsbändern gar wild gegen mich heran; sie erhuben ein erschreckliches Geheul und der eine sprang aus mich und fletschete seine weißen Zähne dicht vor meinem Antlitz. Solche einen Willkommen hatte ich noch niemalen hier empfangen. Da, zu meinem Glück, rief aus den Kammern ober dem Thore eine rauhe, aber mir gar traute Stimme. „Halloh!“ rief sie; „Tartar, Türk!“ Die Hunde ließen von mir ab, ich hörte es die Stiege herabkommen, und aus der Thür, so unter dem Vorgang war, trat der alte Dieterich.

Als ich ihn anschaute, sahe ich wol, daß ich lang in der Fremde gewesen sei; denn sein Haar war schloweiß geworden und seine sonst so lustigen Augen blickten gar matt und betrübsam aus mich hin. „Herr Johannes.“ sagte er endlich und reichte mir seine beiden Hände.

„Grüß ihn Gott, Dieterich!“ entgegnete ich. „Aber seit wann haltet Ihr solche Bluthunde aus dem Hof, die die Gäste anfallen gleich den Wölfen?„

„Ja Herr Johannes,“ sagte der Alte, „die hat der Junker hergebracht.“

„Ist denn der daheim?“

Der Alte nickte.

„Nun,“ fagte ich; „die Hunde mögen schon vonnöthen sein; vom Krieg her ist noch viel verlaufen Volk zurückgeblieben.“

Excerpt out of 85 pages

Details

Title
Aquis Submersus
Author
Year
2008
Pages
85
Catalog Number
V119661
ISBN (eBook)
9783640226658
ISBN (Book)
9783640227877
File size
803 KB
Language
German
Keywords
Aquis, Submersus
Quote paper
Theodor Storm (Author), 2008, Aquis Submersus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119661

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