Gedächtnisbildung von Individuen und Gruppen

Das kollektive Gedächtnis


Hausarbeit, 2004

17 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theorien zu Gedächtnisbildung

3. Das kollektive Gedächtnis
3.1. Das kommunikative Gedächtnis
3.2. Übergang

4. Das kulturelle Gedächtnis

5. Medien des kulturellen Gedächtnisses

6. Erinnerungsorte
6.1. Das Panthéon als Erinnerungsort
6.2. Der Giro d’Italia als Erinnerungsort

7. Fazit

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Gibt es Tatsachen, Ereignisse, Begebenheiten oder historische Fakten, an die sich zum Beispiel ein ganzes Volk erinnert oder eine bestimmte Gruppe von Menschen? Und könnte ein solches Ereignis, solch ein historischer Fakt, das Denken und Handeln dieser Gruppe beeinflussen, rechtfertigen oder gar determinieren? Gibt es eine gruppenspezifische Geschichte, welche parallel zur Geschichte verläuft, die ihren Platz in Büchern und Chroniken hat? Wenn ja, wie wird diese Geschichte geschrieben, wer erinnert sich an sie, durch welche Medien wird sie geschrieben, weitererzählt oder am Leben erhalten? Wer ist Geschichtsschreiber, wer Interpret, wer Bewahrer dieser Geschichte? Ist es möglich, dass eine derart spezifische, klar auf ihre jeweilige Gruppe beschränkte Geschichte, die Gruppe selbst überdauert? Wie funktioniert ein Gedächtnis, wie entsteht es? Gibt es nur ein Gedächtnis von Personen oder können Gruppen auch Gedächtnisse haben? Und wie würde sich ein „Gruppen- Gedächtnis“ bilden, so es eins gäbe?

Auf all diese Fragen wird die vorliegende Arbeit versuchen, Antworten zu finden. Es werden Theorien erklärt werden, die das Gedächtnis im Allgemeinen betreffen, jene, die sich dem kollektiven Gedächtnis und seinen Ausprägungen beschäftigen und es soll anhand von Beispielen gezeigt werden, wie und ob ein kulturelles Gedächtnis funktioniert. Dabei werden zuerst die Begriffe Gedächtnis, und insbesondere dessen Bezug und Wechselwirkungen zu den Begriffen Geschichte und Tradition, kollektives Gedächtnis, kommunikatives Gedächtnis und kulturelles Gedächtnis erläutert werden. Diese Begriffe wurden vom französischen Soziologen Maurice Halbwachs vor allem in seinem Buch „Das kulturelle Gedächtnis“ geprägt, welches 1950 erschien.1 Der Ägyptologe Jan Assmann bezeichnete später die Entdeckung des kollektiven Gedächtnisses als Bahn brechend.2 Er war hauptsächlich an der Ausarbeitung, Interpretation und Verfeinerung der Thesen von Halbwachs beteiligt.

2. Theorien zur Gedächtnisbildung

Maurice Halbwachs baut seine Theorie vom kulturellen Gedächtnis auf eine ganz entscheidende und für seine Zeit revolutionäre These. Er geht davon aus, dass Erinnern und das Gedächtnis an sich nicht ausschließlich eine biologische Leistung sind, sondern von sehr vielen externen Faktoren geprägt werden. Halbwachs sagt, dass sich die Gedächtnisbildung nicht bei jedem Menschen in gleicher Weise vollzieht, sondern dass sie immer das Produkt der Sozialisierung des jeweiligen Individuums ist und damit jeder Mensch ein anderes Gedächtnis hat und sich infolgedessen an bestimmte Ereignisse anders erinnert als zum Beispiel jemand, der genau dasselbe Ereignis erlebt hat. Um diese Sozialisierung zu erklären, bedient sich Halbwachs eines einfachen Beispiels: ein erster Besuch in London. Er beschreibt im ersten Kapitel seines Buches3, dass ein Mensch, welcher sich vor dem ersten Besuch Londons über die Stadt in einem Reiseführer informiert hat, diese anders sehen und erleben wird, als jemand, der zum Beispiel mit einem Architekten oder Historiker die Stadt besucht. Er selber hatte in seiner Jugend Dickens gelesen und „so ging ich dort also mit Dickens spazieren“.4

Diese Vorbereitung prägt also die Eindrücke, welche den Filter des Vergessens passieren und im Gedächtnis gespeichert werden. Indem man sich also an früher Erlerntes erinnert, nimmt man Eindrücke in einer bestimmten Art und Weise wahr und in der Konsequenz ist auch die Erinnerung von dieser Vorbildung geprägt. Halbwachs sagt, dass man also nie allein ist, man gehört immer einer Gruppe an bzw. man versetzt sich in Gedanken in die eine oder andere Gruppe. Deshalb ist das individuelle Gedächtnis immer das Produkt aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, sei diese Gruppe wirklich physisch anwesend oder nur in der persönlichen Vorstellung vorhanden. Diese Idee bezieht Halbwachs auf jede Art von Erinnerung und damit meint er, Erinnern sei durch Sozialisierung geprägt.

Bei dem Begriff „Gruppe“ denkt Halbwachs an alle möglichen Arten von Gruppen, welche durch eine gemeinsame Eigenschaft, durch ein gemeinsames Interesse oder Ä]hnliches miteinander verbunden sind. Das können zwei spielende Kinder sein, welche zusammen etwas erleben, das kann eine Familie sein, eine Sportgemeinschaft und im größten Falle auch eine Nation, ein Volk, welches zusammen etwas erlebt hat. Er nennt die Gruppen „soziale Milieus“.5

Diese Gruppenzugehörigkeit ist für Halbwachs die soziale Dimension des Gedächtnisses, welche ergänzt wird durch die affektive Dimension. Damit meint er, dass man sich nicht nur an Begebenheiten und Ereignisse erinnert, sondern auch an Gefühle und Eindrücke, welche zum Beispiel Worte oder Landschaften hinterlassen haben. Deshalb ist für ihn Gedächtnis immer gelebte Erinnerung, rekonstruierte Vergangenheit. Für Jan Assmann ist daraus die Konsequenz, dass er sagt: „Der Mensch ist der einzige Träger des Gedächtnisses.“6, denn eine Gruppe als ein abstraktes Gebilde kann sich per se nicht erinnern, sondern nur deren Mitglieder können sich zusammen deren gemeinsame Vergangenheit rekonstruieren. In einem anderen Werk geht Jan Assmann noch weiter, er unterteilt das Gedächtnis in vier verschiedene Dimensionen, das mimetische Gedächtnis, das Gedächtnis der Dinge, das kommunikative Gedächtnis und das kulturelle Gedächtnis.7 Mit dem ersten meint er den Bereich des Gedächtnisses, welcher sich auf Handlungen bezieht, das heißt Handlungen, welche erlernt, wiederholt und damit gespeichert werden. Im Gedächtnis der Dinge sind alle möglichen Gerätschaften aus dem täglichen Leben gespeichert, allerdings auch Landschaften, Orte, Bauwerke usw. Dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis werden später einzelne Kapitel gewidmet werden, deshalb wird an dieser Stelle darauf nicht eingegangen. In diesen Ausführungen sollte deutlich werden, dass es sich bereits beim individuellen Gedächtnis um ein äußerst komplexes Konstrukt handelt, welches wahrscheinlich für eine einzelne Person nie nachvollziehbar sein würde.

3. Das kollektive Gedächtnis

Um den Begriff des kollektiven Gedächtnisses zu erklären, muss man sich erneut auf Maurice Halbwachs und sein Hauptwerk „Das kollektive Gedächtnis“ beziehen. Er war es, der diesen Term als erster benutzte und ist deshalb der Ausgangspunkt für Recherchen in dieser Richtung. Um den Begriff zu beschreiben, wählt er sich erneut ein einfaches Beispiel, er stellt sich eine Reisegruppe vor und untersucht, wie sich die Mitglieder der Gruppe später an diese Reise erinnern werden. Damit hat er die erste Voraussetzung für das Entstehen eines solchen Gedächtnisses geschaffen, es handelt sich um eine Gruppe, welche gemeinsame Interessen hat und durch ein, wenn auch kurzfristiges, Ziel vereint ist. Halbwachs sagt: „Im Vordergrund des Gedächtnisses einer Gruppe stehen die Erinnerungen an Ereignisse und Erfahrungen, die die größte Anzahl ihrer Mitglieder betreffen und die sich […] aus ihrem Eigenleben […] ergeben.“8 Er räumt ein, dass natürlich jedes Individuum der Gruppe Eindrücke auf eine andere Art wahrnimmt, geprägt durch die individuelle Sozialisierung, dass es aber in diesem Falle eine relativ große Schnittmenge gibt, da sich Menschen, welche sich zu einer bestimmten Art von Reise entschieden haben, eine zumindest ähnliche Sozialisierung erfahren haben. Das kollektive Gedächtnis ist also nichts Greifbares, nichts, das man aufschreiben oder anders dokumentieren könnte, sondern ein kleiner Teil mehrerer individueller Gedächtnisse, der bei allen Mitgliedern der Gruppe gleich ist und durch Austausch und Weitergabe, Wiederholung und Vergegenwärtigung wach gehalten wird. Vergangenheit entsteht also nur dadurch, dass man sich auf sie bezieht. Das kollektive Gedächtnis dient dazu, kollektive Identität zu vermitteln und Normen und Werte zu schaffen, durch welche eine Gruppe sich legitimiert und identifiziert. Es dient weiterhin dazu, individuelle Erinnerungen, welche verblassen, wieder zu beleben, der Einzelne kann sich also auf das Gedächtnis der Gruppe stützen. Damit sind bestimmte Erinnerungen immer abrufbar und nie ganz verloren. Wie vorhin angesprochen, hat jedes individuelle Gedächtnis eine affektive Dimension. Da sich ein kollektives Gedächtnis der Erinnerungen mehrerer Gedächtnisse bedient, birgt die affektive Eigenschaft des Individualgedächtnisses auch Gefahren. Und zwar dann, wenn affektive Erinnerungen unversöhnlich sind wie es bei den Palästinensern und den Israelis oder bei Protestanten und Katholiken in Nordirland der Fall ist.

[...]


1 M. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 1991

2 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1992, S.46

3 M. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 1991

4 Ebd., S.3

5 Ebd., S.14

6 J. Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, 2000

7 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1992, S.20 f.

8 M. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 1991, S.25

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Gedächtnisbildung von Individuen und Gruppen
Untertitel
Das kollektive Gedächtnis
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Fachbereich Interkulturelle Wirtschaftskommunikation)
Veranstaltung
Theorie Interkultureller Wirtschaftskommunikation
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
17
Katalognummer
V119666
ISBN (eBook)
9783640236213
Dateigröße
442 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gedächtnisbildung, Individuen, Gruppen, Theorie, Interkultureller, Wirtschaftskommunikation
Arbeit zitieren
M.A. Martin Piesker (Autor:in), 2004, Gedächtnisbildung von Individuen und Gruppen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119666

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