Tabuthemen bei Jugendlichen

Familiäre Kommunikation und Familienklima als mögliche Risikofaktoren für depressive Befindlichkeit


Thèse de Doctorat, 2003

189 Pages, Note: 1,00


Extrait


INHALTSVERZEICHNIS

KURZZUSAMMENFASSUNG

ABSTRACT

EINLEITUNG

I LITERATUR

1 TABU
1.1 Begriffsbestimmung und Definition
1.2 Die Entdeckung und Etablierung des polynesischen Wortes Tabu in Europa
1.2.1 Die Entdeckung des polynesischen Tabu durch den Protestanten Cook
1.2.2 Tabu und der viktorianische Zeitgeist
1.2.3 Die semantische Konnotation von Tabu
1.2.4 Abgrenzung Tabu Verbot
1.2.5 Abgrenzung Tabu Norm
1.2.6 Abgrenzung Tabu Geheimnis
1.3 Tabuforschung
1.3.1 Wissenschaftshistorische Ausgangspunkte
1.3.2 Der Tabubegriff bei Freud Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen
1.3.3 Der Tabubegriff der interkulturellen Tabuforschung
1.3.4 Tabubereiche und Motivierungen von Tabus
1.3.5 Gruppen von Tabus
1.3.6 Methodologische Probleme der Tabuforschung
1.4 Empirische Tabuforschung
1.4.1 Tabuforschung als Aufgabe interkultureller Germanistik (Schröder, 1995)
1.4.2 Zu Tabus in unserer Gesellschaft Eine empirische Untersuchung
(Seibel, 1990)
1.4.3 Gesundheitliche Beschwerden und Tabuthemen bei Jugendlichen (Kropiunigg, Madu & Weckenmann, 1998)
1.4.4 Tabuthemen im internationalen Vergleich (Gasch, 1986/87)

2 DEPRESSIONEN IM KINDES- UND JUGENDALTER
2.1 Störungsformen und Symptomatik
2.1.1 Begriffsbestimmung
2.1.2 Klassifikation: Störungsformen
2.1.3 Diagnostische Kriterien: Symptomatik
2.1.4 Symptomprofil der Depression im Jugendalter
2.1.5 Komorbidität
2.2 Auftretenshäufigkeit und Verlauf
2.2.1 Häufigkeit depressiver Störungen im Jugendalter
2.2.2 Alterseffekte
2.2.3 Geschlechtseffekte
2.2.4 Effekte des Schultyps
2.2.5 Zunahme depressiver Störungen in jüngeren Geburtskohorten
2.2.6 Verlaufsstudien
2.3 Diagnostische Zugänge - Die Erfassung depressiver Störungen bei Kindern und Jugendlichen
2.3.1 Selbsteinschätzungsverfahren
2.3.2 Fremdbeurteilungsverfahren
2.3.3 Vorteile und Nachteile der Fremdbeurteilung
2.4 Erklärungsansätze depressiver Störungen
2.4.1 Biologische Faktoren
2.4.2 Psychologische und psychosoziale Risikofaktoren bei Depressionen

3 RISIKO- UND SCHUTZFAKTOREN
3.1 Begriffsbestimmung und theoretische Ansätze
3.2 Die Familie als Risiko- und Schutzfaktor
3.2.1 Die Familie als Umwelt der Jugendlichen
3.2.2 Sozialisation in der Familie mit Jugendlichen
3.2.3 Das Familienmodell (Cierpka & Frevert, 1995)
3.2.4 Entwicklungsaufgaben von Familien mit Jugendlichen
3.2.5 Familiäre Risiko- und Schutzfaktoren
3.3 Familien- und Freundschaftsbeziehungen bei Depression
3.3.1 Familienbeziehungen depressiver Kinder und Jugendlicher
3.3.2 Peerbeziehungen depressiver Kinder und Jugendlicher
3.4 Protektive Faktoren bei Depression

II EMPIRISCHER TEIL

4 FRAGESTELLUNG DER UNTERSUCHUNG
4.1 Ziele der Untersuchung
4.2 Fragestellungen und Hypothesen

5 METHODE DER UNTERSUCHUNG
5.1 Stichprobenauswahl und Stichprobencharakteristika
5.1.1 Stichprobenauswahl für die Voruntersuchung
5.1.2 Stichprobencharakteristika der Voruntersuchung
5.1.3 Stichprobenauswahl für die Hauptuntersuchung
5.1.4 Stichprobencharakteristika der Hauptuntersuchung
5.2 Ablauf der empirischen Untersuchung
5.2.1 Versuchsablauf: Voruntersuchung
5.2.2 Versuchsablauf: Hauptuntersuchung
5.3 Instrumente zur Datenerhebung
5.3.1 Erhebungsbogen zur Erfassung von Tabuthemen in der Familie
5.3.2 Tabu-Fragebogen
5.3.3 SAD (Symptome Adoleszenter Depression)
5.3.4 SAD-Peerfragebogen
5.3.5 Die Familienbögen
5.3.6 Biographisches Risikoinventar für Kindheit und Jugend
5.3.7 Soziodemographische Angaben
5.4 Auswertung der empirischen Untersuchung
5.4.1 Verwendete statistische Auswertungsverfahren

6 ERGEBNISSE DER UNTERSUCHUNG
6.1 Ergebnisse der Voruntersuchung
6.1.1 Tabuthemen in der Familie
6.1.2 Tabuthemen und die Häufigkeit ihrer Nennungen
6.2 Teststatistische Auswertung der verwendeten Fragebögen
6.2.1 Teststatistische Auswertung des Tabu-Fragebogens
6.2.2 Teststatistische Auswertung des SAD
6.2.3 Teststatistische Auswertung des Allgemeinen Familienbogens
6.2.4 Teststatistische Auswertung des Psychosozialen Risikoinventars
6.3 Ergebnisse der Hauptuntersuchung
6.3.1 Deskriptive Ergebnisse zu Tabuthemen und Reizthemen
6.3.2 Zum Zusammenhang von Selbst]berichten der Jugendlichen im SAD und Fremdberichten der Peers im SAD-Peerfragebogen
6.3.3 Tabu- und Reizthemen und depressive Befindlichkeit
6.3.4 Tabu- und Reizthemen und die Einschätzung der Familienfunktionen
6.3.5 Depressive Befindlichkeit
6.3.6 Psychosoziale Risikobelastung und depressive Verstimmung
6.3.7 Familienfunktionen und depressive Verstimmung
6.3.8 Prädiktoren depressiver Befindlichkeit: Multiple Regressionsanalysen zur Vorhersage von Depressivität
6.3.9 Cluster-Analysen

7 DISKUSSION UND INTERPRETATION DER ERGEBNISSE
7.1 Tabu- und Reizthemen als Indikatoren für Familienkommunikation
7.2 Selbst- und fremdberichtete depressive Befindlichkeit
7.3 Tabuthemen als Risikofaktoren für depressive Befindlichkeit
7.4 Einschätzung der Familienfunktionen in Abhängigkeit von depressiver Befindlichkeit und Tabuthemen
7.5 Ergebnisse zur Depressivität
7.5.1 Geschlechtseffekte im Depressivitätsscore
7.5.2 Alterseffekte im Depressivitätsscore
7.5.3 Schultypeneffekte im Depressivitätsscore
7.5.4 Psychosoziale Risikobelastung und depressive Verstimmung
7.5.5 Prädiktoren depressiver Befindlichkeit
7.6 Ergebnisse der Clusteranalysen
7.7 Praktische Konsequenzen der Ergebnisse

8 ZUSAMMENFASSUNG

9 LITERATURVERZEICHNIS

10 ANHANG

Kurzzusammenfassung

In Form einer Querschnittuntersuchung wurde die Bedeutung von familiären Tabuthemen und problematischen Familienfunktionen als potentielle Risikofaktoren für depressive Befindlichkeit in der Adoleszenz studiert. Als Stichprobe diente eine Zufallsauswahl von 934 12- bis 18Jährigen kärntnerischen SchülerInnen. Folgende Variablen wurden erhoben: familiäre Tabu- und Reizthemen, Familienfunktionen, psychosoziale Risikobelastung sowie selbst- und fremdberichtete Depressivität. Die Ergebnisse zeigen, dass dysfunktionale Familienkommunikation in Form einer höheren Anzahl angegebener familiärer Tabuthemen und Reizthemen sehr signifikant in Zusammenhang mit erhöhter selbst- und fremdberichteter depressiver Befindlichkeit steht. Problematische Familienfunktionen im Sinne von ungenügendem Informations-austausch, dysfunktionalen Familienbeziehungen, ungünstigen Problemlösestrategien, schlechter Rollenanpassung, unzulänglichem Ausdruck von Gefühlen sowie mangelnder Übereinstimmung in familiären Wert- und Normvorstellungen sind ebenfalls mit depressiver Befindlichkeit wie auch mit tabubehafteter familiärer Kommunikation verknüpft. Dies trifft sowohl für Burschen als auch für Mädchen zu. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass einige relevante Variablen im familiären Bereich, die möglicherweise zur Depressionsentwicklung im Jugendalter beitragen, identifiziert werden konnten. Sie bieten vielfältige Ansatzpunkte für weitere Forschungsarbeiten und eröffnen zugleich auch Perspektiven in präventiver und therapeutischer Sicht.

Schlagwörter: Tabu Depression Jugendliche Familienkommunikation Familienklima

Abstract

This study examines the meanings of family taboos and problematic family functions as potential risk factors for depression in adolescence. A random sample of 934 Carinthian pupils, aged 12 to 18, was taken. Following variables were collected: taboo topics and family issues, family functions, psychosocial risk factors, self-reported and peer-reported depression. The results show that dysfunctional family communication, indicated by a higher amount of taboo topics and family issues, has a significant impact on adolescents´ depressed mood.

Problematic family functions are also associated with self-reported and peer-reported depressed mood and family taboos. Those family functions can be insufficient communication, dysfunctional family relationships, bad problem solving strategies, insufficient adaption to family roles, difficulties at expressing emotions, a lack of common family values and norms. The study´s results are valid both for male and female adolescents. Several variables, important for development of adolescents´ depression could be identified. Those results can be the basis for further research and open the field for improving preventive and therapeutical measures.

key words: taboo depression adolescents family communication

Einleitung

Für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen kommt der Familie eine besondere Bedeutung zu. Die Weltsicht des Jugendlichen wie auch das Bild, das ein Jugendlicher von sich selbst entwickelt, werden von der Atmosphäre und dem Beziehungsstil in der Familie geprägt. Die Familie spielt eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung von Werten, Normen und Verhaltensmustern und bietet den Kindern bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und den damit verbundenen Risiken Schutz und Rückhalt. Aber auch Fehlentwicklungen und psychische Störungen wie beispielsweise depressive Verstimmungszustände können in einem ungünstigen familiären Klima in der Familie ihren Anfang nehmen.

Es gilt als gesicherte Erkenntnis, dass der Familientyp sowie das Vorhandensein bzw. Fehlen einer vertrauensvollen, persönlichen Beziehung zwischen Eltern und Kindern im Sinne von Risiko- und Schutzfaktoren Einfluss auf die Entstehung einer depressiven Verstimmung bei Jugendlichen nehmen (vgl. u.a. Goodyer, 2001; Ingersoll & Goldstein, 1995). Ebenso ist empirisch belegt, dass belastende Lebensereignisse im Vorfeld depressiver Episoden gehäuft vorkommen (vgl. u.a. Reicher, 1993; Schoon & Montgomery, 1997).

Die vorliegende Studie dient der empirischen Fundierung eines potentiellen Erklärungs- und Erhebungsansatzes zum Zusammenhang zwischen Aspekten der Familienkommunikation und der psychischen Befindlichkeit von Jugendlichen. In Form einer Querschnittuntersuchung soll die Bedeutung von familiären Tabuthemen und Familienproblemen als mögliche Risikofaktoren für depressive Befindlichkeit erfasst werden.

Im ersten Teil der Arbeit wird das Phänomen Tabu unter definitorischen, historischen sowie empirischen Aspekten behandelt. Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Tabu zu Normen, Verboten und Geheimnissen werden diskutiert. Forschungsansätze und Ergebnisse interkultureller Tabuforschung werden beschrieben.

Weiters werden im Literaturteil theoretische und empirische Grundlagen der psychischen Störung Depression dargestellt. Nach einer kurzen Einführung zum Problem der Terminologie bzw. zur Begriffsdefinition sollten verschiedene relevante Aspekte zum Thema Depressive Störungen im Jugendalter behandelt werden. Neben entwicklungspsychologischen Besonderheiten werden Daten zur Epidemiologie, Symptomatik und zum Verlauf depressiver Störungen bei Jugendlichen zusammenfassend dargestellt. Weiters werden die diagnostischen Zugänge zur Erfassung depressiver Störungen bei Kindern und Jugendlichen sowie biologische, psychologische und psychosoziale Erklärungsmodelle ausführlich beschrieben.

Das Kapitel über Risiko- und Schutzfaktoren bietet einen Überblick über die Ergebnisse bisheriger empirischer Arbeiten. Gemäß des Forschungsinteresses der vorliegenden Arbeit werden insbesondere familiäre Risiko- und Schutzfaktoren dargestellt. Darüber hinaus werden die Faktoren Familienkommunikation, Familientabu und Familieninteraktion als potentielle Risikofaktoren für depressive Verstimmtheit diskutiert.

Im zweiten Teil der Arbeit werden Fragestellung, Methode, Ergebnisse sowie Diskussion der eigenen empirischen Studie an einer umfangreichen nicht-klinischen Stichprobe von 12- bis 18jährigen Jugendlichen dargestellt.

In Kapitel 4 werden die Zielsetzungen der Studie dargelegt. Konkret besteht das Ziel des Forschungsvorhabens darin, die familiäre Kommunikation erhoben in Form von Angaben Jugendlicher zu tabuisierten Themen in ihrer Familie unter Präventionsgesichtspunkten näher zu beleuchten und Bezüge zu den von den Jugendlichen subjektiv eingeschätzten Familienfunktionen sowie zu ihrer psychischen Befindlichkeit herzustellen. Es wird dabei von der Annahme ausgegangen, dass eine höhere Anzahl der von Jugendlichen angegebenen Tabus als Indikator für Einschränkungen und Unzulänglichkeiten der familiären Kommunikation herangezogen werden kann, durch welche wiederum die Befindlichkeit der Familienmitglieder mittelbar und unmittelbar beeinträchtigt werden kann. Unausgedrückte negative Gefühle, die sich um ein Tabu drehen, sind dieser Hypothese nach eine potentielle Ursache für depressive Befindlichkeit. Je mehr Tabus in Familien existieren, desto schwieriger gestaltet sich die familiäre Kommunikation und desto isolierter werden die Jugendlichen, was zu psychischem oder familiärem Rückzug führen kann.

Innerhalb dieser Zielsetzung stellt die vorliegende Arbeit den Versuch einer Konzeptualisierung von Tabus im alltäglichen Leben junger Menschen dar. Mit einem im Rahmen der Studie entwickelten Tabu-Fragebogen wird erhoben, ob einerseits hinsichtlich der Thematik der Tabus und andererseits hinsichtlich der Häufigkeit der Nennungen von Tabuthemen alters-, schul- und geschlechtsspezifische Unterschiede sowie Unterschiede aufgrund des Familientyps (vollständige Familie, Alleinerzieherfamilie, Stieffamilie etc.) vorliegen.

Anlage und Ablauf der empirischen Untersuchung, die Zusammensetzung der Stichprobe sowie die verwendeten Erhebungsinstrumente werden im Kapitel 5 behandelt.

Die Darstellung der Ergebnisse folgt in Kapitel 6. Den deskriptiven Ergebnissen zu Tabuthemen und Reizthemen folgen die Befunde zu Zusammenhängen zwischen Familienkommunikation, Familienfunktionen, psychosozialer Risikobelastung und depressiver Befindlichkeit. Weiters werden Übereinstimmungen zu Selbst- und Fremdberichten der Depression sowie Prädiktoren depressiver Befindlichkeit dargestellt. Mittels Clusteranalysen werden die ProbandInnen in Untergruppen aufgeteilt, die anschließend durch mehrfaktorielle Vergleiche mittels Varianzanalysen inferenzstatistisch abgesichert werden. Als Inputvariablen für die Clusteranalysen werden die Anzahl von Tabuthemen, die Anzahl von Reizthemen sowie die Anzahl der psychosozialen Risikoereignisse verwendet. Als Outputvariablen fungieren Alter, Geschlecht, Familientyp, das Ausmaß an selbst- und fremdberichteter Depressivität sowie die sieben Dimensionen des Allgemeinen Familienbogens.

Die Diskussion der Ergebnisse in Kapitel 7 verläuft in etwa derselben Reihenfolge. Besonderer Wert wird in der Folge auf die Herausarbeitung der praktischen Bedeutsamkeit dieser Ergebnisse gelegt.

An dieser Stelle soll allerdings nochmals explizit betont sein, dass die vorliegende Arbeit nur einen kleinen Teilbereich des komplizierten Bedingungsgefüges der Entstehung depressiver Befindlichkeit abdecken kann, wobei aufgrund des Designs der vorliegenden Untersuchung keine Schlussfolgerungen über die kausale Wirkung der einzelnen Variablen gezogen werden dürfen. Weiters sei darauf hingewiesen, dass in dieser empirischen Arbeit depressive Verstimmungszustände nicht im Sinne von klinisch diagnostizierter Depression sondern in Form von selbstberichteter und fremdberichteter depressiver Befindlichkeit untersucht werden. In der allgemeinen Literaturübersicht und in der Diskussion wird allerdings auch auf klinische Aspekte Bezug genommen.

I LITERATUR

1 Tabu

1.1 Begriffsbestimmung und Definition

Tabu ist ein Terminus der polynesischen Tonga-Sprache und bezeichnet dort etwas Besonderes, Nicht-Alltägliches, Heiliges, das vom Profanen, Alltäglichen zu separieren ist und dessen Verletzung von einer göttlichen oder dämonischen Kraft bestraft wird, somit etwas, das mit einem Bann oder Fluch belegt ist. Der Begriff ist über die Reisebeschreibung des englischen Seefahrers und Entdeckers James Cook ( Captain Cook ) in den europäischen, d.h. zunächst englischen, Sprachraum gelangt. Nach Lehmann (1930) bezeichnete Cook Tabu als ein Wort von sehr umfassender Bedeutung (a very comprehensive meaning), das aber im Allgemeinen angebe, dass eine Sache verboten sei. Wiederholt hob Cook hervor, dass er keine Gewissheit darüber erlangen haben könne, warum gerade dies oder jenes überhaupt oder zu bestimmten Zeiten tabu sei. Übersetzte Cook das Wort, so gab er es mit verboten wieder. Die Fälle, in denen das Wort Tabu Cook begegnete, waren Tabus wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art, ferner Speisen- und Totentabus (Lehmann, 1930).

In allen europäischen Sprachen sowie im Japanischen und im Russischen ist das Wort Tabu in jeweils (mehr oder weniger) adaptierter Form in die Alltagssprache eingeflossen (Seibel, 1990). Im Deutschen wird es besonders frequent und auch produktiv verwendet. Trotz seiner fremden Herkunft wird Tabu souverän vom deutschen Muttersprachler genutzt, ja in gewisser Hinsicht sogar eingedeutscht, wie die vielen Bildungen auf tabu/Tabu belegen: Neben den Substantiven Tabu , Tabuisierung , Tabubruch , Tabuzone , Tabuverletzung und Tabuwort benutzen wir Wendungen wie etwas/jemand ist tabu , etwas tabuisieren bzw. auch enttabuisieren ; wir sprechen von dem oder der Tabuisierten , und auch tabulos und tabufrei können belegt werden (Schröder, 1995).

Für die deutsche Bildungssprache kann Tabu bereits in Meyers Conversations-Lexicon aus dem Jahre 1851 belegt werden, wo es noch ausschließlich in Zusammenhang mit der Beschreibung von Gemeinwesen der Naturvölker Verwendung findet. Hinweise darauf, dass dieser Begriff auch für die Analyse von Kulturvölkern fruchtbar gemacht werden kann, gibt es seit der Jahrhundertwende; so z.B. in Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1906, wo ausdrücklich erwähnt wird, dass auch Kulturvölker Tabus haben können (Schröder, 1995). Wundt (1926, S. 390f) weist ebenfalls 1906 darauf hin, dass Tabu hinreichend in die allgemeine Sprache eingedrungen ist, um gelegentlich auf unsere eigenen Anschauungen und Sitten angewandt zu werden . Nach Wundt gibt es in der Tat kein Volk und keine Kulturstufe, die des Tabu und seiner beschränkenden oder gefährdenden Wirkung auf Leben und Freiheit entbehren . Spätestens mit Freuds Schrift Totem und Tabu (1912/13) hat der Begriff Tabu einen endgültigen Platz im Diskurs der Kulturvölker erlangt. Wort und Begriff des Tabus scheinen uns heute so selbstverständlich zu sein, dass seine Herkunft oftmals gar nicht mehr bewusst ist.

Was das Konzept Tabu im heutigen Sprachgebrauch des Deutschen betrifft, so unterscheidet der Duden (1981, Band 6) zwei Grundbedeutungen: 1. die völkerkundliche Bedeutung im Sinne eines Verbotes bestimmte Handlungen auszuführen, insbes. geheiligte Personen od. Gegenstände zu berühren, anzublicken, zu nennen, bestimmte Speisen zu genießen sowie 2. die bildungssprachliche Bedeutung im Sinne eines ungeschriebenen Gesetzes, das auf Grund bestimmter Anschauungen innerhalb einer Gesellschaft verbietet, über bestimmte Dinge zu sprechen, bestimmte Dinge zu tun (...) .

Noch nicht berücksichtigt wird im Duden eine neuere Verwendung des Wortes mit pejorativer Bedeutung im Sinne von überlebt und nicht in die Zeit passend , die insbesondere in den Medien und im öffentlichen Sprachgebrauch eine zunehmende Rolle spielt.

Den neuesten Versuch, eine Verbindungslinie zwischen diesen polynesischen Tabus und den Tabus unserer Gesellschaft zu ziehen, unternimmt Reimann (1989) in seinem Beitrag zu Tabu in Herders Staatslexikon. Ursprünglich bei den meisten Naturvölkern mit religiösen Vorstellungen verbunden und auf übernatürliche Kräfte, die jenen Personen bzw.

Gegenständen innewohnen oder zugeschrieben werden bezogen, haben der Begriff Tabu und die mit ihm zusammenhängenden Verhaltensweisen der Tabuierung, nämlich des aktiven Kennzeichnens wie des passiven Gekennzeichnetwerdens oder sein, und der Enttabuierung, der Aufhebung der Kennzeichnung, eine Verallgemeinerung und zugleich die Aufnahme in die Umgangssprache auch moderner Gesellschaften erlebt, womit freilich ein Bedeutungswandel und auch Bedeutungsverlust einhergeht. Wenn der magische Kontext primitiver Kulturen auch nur noch in Anklängen beim Aberglauben fortbestehen mag, haben Tabuphänomene doch interkulturell viel Gemeinsames: sie gelten als gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten und erhalten so eine wichtige soziale Funktion der Verhaltensregulierung, der Etablierung von Grenzen, der Anerkennung von Autoritäten z.B. zur Sicherung von Eigentums-, Herrschaftsverhältnissen und bestimmter sozialer Ordnung auf Zeit und Dauer je nach der Verbindung von Tabu-Vorschriften mit den geltenden sozialen Werten (Reimann, 1989, S. 420). Nach Reimann sind Tabus in moderner Terminologie Kommunikationsbarrieren , die sich auf Menschen oder Objekte oder Abstraktionen beziehen, die aus sakraler oder säkularisierter Hochschätzung oder gesellschaftlicher Ächtung tabuisiert werden.

An Definitionsversuchen sowie an theoretischen und einigen wenigen empirischen Arbeiten zum Thema Tabu mangelt es nicht. Allerdings besteht nach wie vor Unklarheit bzw.

Uneinigkeit darüber, wie das Wort Tabu in andere Sprachen übersetzt werden kann und ob es in Sprachen der westlichen Zivilisation eigensprachliche Entsprechungen für das komplexe Konzept gibt. So formulierte Mitscherlich treffend: Man kann Wörter nicht importieren wie Pfeffer oder Bananen (Mitscherlich, 1984, S. 256). Wenn das polynesische Wort Tabu eine Wortschatzlücke füllt, so ist zum einen zu fragen, welche Leerstelle es zu ersetzen hat und zum anderen, welcher soziale Bedeutungszusammenhang sich in der Form geändert hat, dass ein sprachliches Vakuum zu füllen ist.

1.2 Die Entdeckung und Etablierung des polynesischen Wortes Tabu in Europa

1.2.1 Die Entdeckung des polynesischen Tabu durch den Protestanten Cook

Cook entdeckte auf seiner dritten Weltumsegelung im Jahre 1778 die Hawaii-Inseln und wurde dort am 14.2.1779 von den Einwohnern ermordet. Nach Sahlins (1986; zitiert nach Seibel, 1990) sehr ausführlichen Angaben zu den Ereignissen, die zu Cooks Tod führten, ist anzunehmen, dass dessen Tod als ein Ritualmord im Zusammenhang mit der Verletzung einer Taburegel der Eingeborenen zu betrachten ist. Laut Sahlins Analyse ist Cooks Tabuverletzung nicht seiner Unkenntnis oder Ignoranz der einheimischen Gesetze und Sitten zuzuschreiben, sondern sie steht in einem anderen unglücklichen Ereignis- und Ursachenzusammenhang: Der Fockmast seines Schiffes brach kurz nach dem Absegeln aus Hawaii, so dass Cook zur Rückkehr gezwungen war. Cook wurde von den Hawaiianern gottähnlich verehrt, und seine unerwartete und außerhalb eines ritualen Zeitzyklus erfolgte Rückkehr lag jenseits ihres Verständnisses. So war seine unerwartete Rückkehr selbst schon eine Tabuverletzung. Cook wurde nicht nur erdolcht, sondern auch was seinem Status als Gott angemessen war gekocht und zerteilt. Seine Knochen wurden an die Häuptlinge als Trophäen verteilt.

1.2.2 Tabu und der viktorianische Zeitgeist

Bereits bei der Rezeption des Begriffs in der viktorianischen Ära erfolgte im Sprachgebrauch des puritanisch geprägten Bürgertums eine Bedeutungsverschiebung, die Seibel (1990; S. 75) folgendermaßen beschreibt: Mit dem Wort Tabu fand sich ein Wort, das die neuen sozialen Verbote, die sich aus den geänderten gesellschaftlichen Bedingungen ergaben, benannte. (...) Ein so exotisches Wort wie Tabu wurde aus seinem Kontext gelöst und in einem Kulturkreis mit ganz eigenem und neuartigem Charakter transportiert und besetzte dort die sprachliche Leerstelle für gruppenspezifische und gruppentypische Verbotsstrukturen.

Damit wurden Tabus Ausdruck einer ganz bestimmten bürgerlichen Kultur. Aus den religiösen polynesischen Tabus wurden profane Tabus .

1.2.3 Die semantische Konnotation von Tabu

Im Polynesischen können als die beiden hauptsächlichen Bedeutungen von Tabu sowohl Schutz als auch Heiliges angenommen werden, wobei umstritten ist, welches die ursprüngliche Bedeutung war. Freud (1940) versteht die Bedeutung des Wortes als heilig und unrein zugleich und weist darauf hin, dass die Übersetzung des polynesischen Wortes uns Schwierigkeiten bereitet, weil wir den damit bezeichneten Begriff nicht mehr besitzen. Den alten Römern war er noch geläufig, ihr sacer war dasselbe wie das Tabu der Polynesier. Auch das hagios der Griechen, das Kodausch der Hebräer muss das nämliche bedeutet haben, was die Polynesier durch ihr Tabu, viele Völker in Amerika, Afrika (Madagaskar), Nord- und Zentral-Asien durch analoge Bezeichnungen ausdrücken (Freud, 1940, S. 66).

Uns geht die Bedeutung des Tabu nach zwei entgegengesetzten Richtungen auseinander. Tabu bezeichnet für uns einerseits heilig, geweiht, andererseits unheimlich, gefährlich, verboten, unrein (Freud, 1940). Der Gegensatz von Tabu heißt im Polynesischen noa, was soviel wie gewöhnlich, allgemein zugänglich, frei zu gebrauchend bedeutet. Noawörter waren somit erlaubte Ausdrücke, die ersatzweise für Benennungen gebraucht wurden, die auszusprechen verboten war (Meyers Großes Taschenlexikon, 1983) Somit haftet am Tabu etwas wie der Begriff einer Reserve, das Tabu äußert sich auch wesentlich in Verboten und Einschränkungen. Unsere Zusammensetzung heilige Scheu würde sich oft mit dem Sinn des Tabus decken (Freud, 1940, S. 66).

Aus der bildungssprachlichen Bedeutung von Tabu entwickelte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts ein Tabubegriff, der Tat- und Kommunikationstabus der Kulturvölker zum Gegenstand hat, die als Teil der (negativen) Konventionen des sozialen Kodex einer Gemeinschaft verstanden werden, und denen sowohl eine Stabilisierungs- als auch eine Schutzfunktion zugesprochen wird.

Seibel (1990) berichtete, mit welchem Begriff Personen Tabu heutzutage noch am ehesten verbinden. Von sechs möglichen Kategorien (moralisches Verbot, Norm, Gesetz, Sitte, Geheimnis, Vorurteil) hat fast die Hälfte moralisches Verbot angegeben. Jeder Fünfte hält Tabu für ein Geheimnis. Aufgrund dieser Ergebnisse scheint an dieser Stelle eine Abgrenzung des Tabu von moralischem Verbot, Norm und Geheimnis sinnvoll.

1.2.4 Abgrenzung Tabu Verbot

In unserer Gesellschaft gibt es hauptsächlich zwei Gründe, etwas nicht zu tun: Entweder besteht ein gesetzliches oder ein moralisches Verbot. In der Regel tut man etwas nicht, weil man eine Strafe fürchtet, sei sie selbstbestrafend oder fremdbestrafend.

Wer sich über ein Verbot hinwegsetzt, kennt entweder die Folgen (noch) nicht, oder aber er nimmt sie bewusst in Kauf. Oftmals lernen wir sehr mühsam, was bestimmte gesetzliche Verbote sind. Bei bestimmten moralischen Verboten kommen wir gar nicht erst in Verlegenheit, diese zu übertreten. Manche von diesen moralischen Verboten landläufig als Unzucht oder Perversion bezeichnet sind durchaus gesetzlich verankert. Manche Verbote stehen nirgends geschrieben und wir halten uns dennoch daran. Diese Art von Verboten wird in unserem Sprachgebrauch Tabu genannt (Seibel, 1990).

Trotz ihrer Nähe zu Verboten sind Tabus nicht mit direkten (z.B. juristisch kodifizierten) Verboten gleichzusetzen. Tabus liegen zwischen Naturgesetz einerseits und Etikette und Moral andererseits (Rammstedt, 1964). Anders als Tabus können (und müssen) Verbote formuliert werden, da Verbote eine Formulierung verlangen. Tabus hingegen verlangen, dass jeder weiß, was tabu ist. Ein Unterschied zwischen direkt verbotenen und tabuisierten Handlungen besteht also darin, dass über Verbote durchaus gesprochen werden kann, sie z.B. nach einer rationalen Begründung hinterfragt werden können. So kann beispielsweise über das Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen geredet werden. Tabus aber stehen außerhalb jeder Diskussion, da sich die tabuisierte Handlung quasi von selbst verbietet. Somit muss bei einem tabuisierten Sachverhalt nicht nur der Tabubereich gelernt werden, sondern auch, dass man darüber nicht einmal spricht. Bekannt ist dieses Phänomen bei der Sozialisation des Kleinkindes, dem schon sehr früh bestimmte Handlungen und Berührungen durch Äußerungen wie Das macht man nicht , Das gehört sich nicht etc. untersagt werden.

Tabus werden durch solche unartikulierten Imperative im Erziehungsprozess so weit internalisiert, dass gesetzliche Regelungen und formelle Sanktionen vielfach überflüssig werden (Reimann, 1989, S. 421).

Gesetzliche Verbote werden bei Übertretung gesetzlich sanktioniert. Institutionalisierte Tabus (Sexualvorschriften wie Inzest, Nekrophilie, Pädophilie und Sodomie; Nahrungstabus, z.B. dass man keine Hunde isst; Körpertabus) sind in der Rechtsprechung verankert und werden nach festgelegten Kriterien sanktioniert. Nicht-institutionalisierte Tabus werden sozial sanktioniert (Seibel, 1990). Der Täter wird isoliert, von der Gesellschaft gemieden, tabuisiert modern auch: etikettiert. Schuldgefühle, Abscheu und Scham stellen sich von selbst ein (Reimann, 1989).

Tabuisierte Handlungen sind anders als direkt verbotene Handlungen stark an grundlegend internalisierte Werte gebunden, wobei Herkunft und Entstehung von Tabus meist unbekannt bleiben (Wagner, 1991).

Günther (1992, S. 41) weist darauf hin, dass vielfach die verbotenen Handlungen derart tabuisiert [sind], dass sie gar nicht mehr in unserem Bewusstsein präsent sind, also als Tabu gar nicht mehr wahrgenommen werden . Als Unterschied zwischen direkten Verboten und Tabus, der insbesondere für die interkulturelle Kommunikation von wichtiger Bedeutung ist, bleibt schließlich noch zu erwähnen, dass bei der Verletzung eines direkten Verbots bestimmte (oft konventionalisierte) Entschuldigungs- und/oder Reinigungsrituale möglich sind, für Tabubrüche aber keine konventionalisierten Reparaturmechanismen verfügbar sind. Nach Stagl (1989) erfolgt die Sanktionierung einer Tabuverletzung automatisch: entweder auf übernatürlichem Wege oder durch Angst, Scham und Schuld des Übertreters; oft gilt aber auch dessen Gruppe als mitbetroffen und ergreift Sanktionen gegen ihn. Die Tabuvorstellung hängt also mit Moral und Recht zusammen .

Ein Tabu kann jedoch von einem Verbot von außen begleitet werden, wie es bei der gesetzlichen Verfolgung der Homosexualität früher der Fall war, oder bei Inzest auch heutzutage (Schröder, 1995).

Nach Freud (1940) sind Tabubeschränkungen etwas anderes als die religiösen oder moralischen Verbote. Sie werden nicht auf das Gebot eines Gottes zurückgeführt, sondern sie verbieten sich eigentlich von selbst. Von den Moralverboten unterscheidet sie das Fehlen der Einreihung in ein System, das ganz allgemein Enthaltungen für notwendig erklärt und diese Notwendigkeit auch begründet. Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung und sind unbekannter Herkunft. Für uns unverständlich erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft stehen (Freud, 1940).

1.2.5 Abgrenzung Tabu Norm

Bei der inflationären alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs Tabu sind die Grenzen zur Norm undeutlich. Eine allgemeine Anstandsregel kann heute leicht als Tabu bezeichnet werden. Aber Normen oder auch Anstandsregeln sind keine Tabus, sondern Tabu bezeichnet bewusstes Nicht-Handeln in einer sozialen Interaktion, in der sich ein latenter sozialer Konflikt verbirgt. Die folgenden Ausführungen sollen die Abgrenzung von Tabu und Norm verdeutlichen. Auch wenn Tabu ein selbstverständliches Kürzel für ein bestimmtes sprachliches oder habituelles Verhalten in unserer Gesellschaft zu sein scheint, verliert der Ausdruck außerhalb eines spezifischen sozialen Kontext an Kontur und es gibt keine konkreten Verhaltenserwartungen. Damit unterscheidet sich Tabu von sozialen Normen, die an soziale Merkmale gebunden sind, und auf deren Abweichungen wir sehr sensibel reagieren. Gebunden an Rolle, Position, Status etc. bewegen sich soziale Normen auch sprachliche Normen auf einem Kontinuum von Verhaltenserwartungen, das von gerade noch tolerabel bis zu vollständig erwartet reicht. Außerhalb des Toleranzkontinuums werden Normabweichungen sanktioniert. Eine Norm steht und fällt mit ihrem mehrheitlichen Konsens. Eine Norm, die nicht mehr die breite Zustimmung findet, verliert an Sanktionsfähigkeit und verschwindet gewissermaßen in einer Gesellschaft. Mit Tabu verknüpfen wir keine eindeutige Verhaltenserwartung, dennoch orientieren wir uns hier an einer bestimmten (Gruppen-) Norm. Wir wissen, was die Gruppennorm ist, wir sehen, dass wir in gewisser Weise davon abweichen, wir sehen auch, dass die Abweichung zu unangenehmen Konsequenzen führen kann. So entscheiden wir uns ganz bewusst, uns weder gegen die Gruppennorm zu stellen, indem wir es zu einer offenen Auseinandersetzung kommen lassen, noch in uns selbst Position zu beziehen. Mit anderen Worten: Mit Tabu entscheiden wir uns, nichts zu tun. Tabu ist vom Handeln ausgenommen, Tabu ist Nicht- Handeln, oder eindeutiger formuliert ist Tabu Negation von Handeln (Seibel, 1990).

1.2.6 Abgrenzung Tabu Geheimnis

Tabu und Geheimnis stehen in einem gewissen Zusammenhang: Im Tabu wird ein Raum geschaffen, der nicht betreten werden darf, das Geheimnis baut einen Schutz gegen Eindringlinge auf. Es bestehen Gemeinsamkeiten bezüglich der Genese und der Erklärbarkeit, hinsichtlich Funktion und Auswirkung bestehen jedoch Unterschiede, die eine separate Betrachtung nahe legen.

Ein Tabu verbietet, Erlebtes und Erfahrenes in Worte zu fassen, worauf eine Gemeinsamkeit zwischen Tabu und Geheimnis beruht. Ein Geheimnis impliziert im geheimen Wissen einen Sachverhalt, der absichtlich vor anderen verborgen oder anderen bewusst nicht bekannt gegeben wird, und über den nicht gesprochen wird. Weitere Parallelen zum Tabu bestehen hinsichtlich der Funktion von Geheimnissen: Geheimhaltung kann als Schutz dienen, andererseits aber auch Machtausübung bedeuten. Für den Umgang mit Geheimnissen gibt es Verhaltensregeln, die entweder verhindern, dass über das Thema gesprochen wird, oder festlegen, wer was weiß und wer mit wem worüber sprechen darf. Die Grenze zwischen Privatangelegenheit und Geheimnis ist oft schwer zu ziehen, da kulturelle Wertvorstellungen und persönliche Auffassungen die Trennungslinie verwischen. Wenn Jugendliche ihre Eltern nicht über ihre Freundschaften und Beziehungen informieren, begründen sie das Verschweigen damit, dass es ihre Privatsache sei, die Eltern hingegen interpretieren das Nicht-Mitteilen als Verheimlichen und damit als Geheimnis, durch das das Vertrauensverhältnis beeinträchtigt wird (Dreher & Dreher, 2001).

1.3 Tabuforschung

1.3.1 Wissenschaftshistorische Ausgangspunkte

Ausgehend von den grundlegenden Arbeiten der beiden Protagonisten der Tabuforschung, William Robertson Smith und James Frazer, haben sich zwei unterschiedliche Forschungslinien etabliert. Die erste Linie führt zu Durkheim und über die von ihm beeinflusste sogenannte französische Schule der Soziologie in die Ethnologie. Als wichtigster Vertreter der strukturalistischen Ethnologie ist hierbei Claude Lévi-Strauss zu nennen. Die zweite Linie führt zu Freud und zu den von ihm beeinflussten psychoanalytisch orientierten theoretischen Konzepte.

Lévi-Strauss beginnt seine Studien in der Nachfolge der von Durkheim begründeten französischen Soziologenschule. De quelque formes primitives de la classification , 1903 von Durkheim und Mauss veröffentlichter Meilenstein dieser Fachrichtung, gibt bereits das Programm des frühen Lévi-Strauss an die interkulturelle Analyse von Klassifikations- systemen und klassifikatorischen Ordnungen. Seine erste größere Abhandlung, die Structures élémentaires de la parenté (Lévi-Strauss, 1981 [1949]), behandelt Heirat als einen in jeder Gesellschaft stattfindenden Tauschakt zwischen verschiedenen Gruppen, der sich bei allen Diversitäten über das Universale des Grundsatzes der Gegenseitigkeit bestimmen lässt. Das Inzesttabu, für Lévi-Strauss lediglich die negative Variante des Gebotes, Mitglieder der eigenen Gruppe nach außen zu geben, sieht er als elementare Regel an, ohne die keine Gesellschaft existieren könne und die demnach universalen Charakter habe. Diese Grundüberlegung wurde in späteren Arbeiten weiterentwickelt, wobei Lévi-Strauss nun nicht mehr allein elementare Verwandtschaftsordnungen, sondern letztlich die gesamte menschliche Kultur unter einer Perspektive des kommunikativen Austausches betrachtet (Lévi-Strauss, (1967 [1958]).

Während diese von Durkheim beeinflusste Linie auf die zentrale These der dichotomen Klassifikation, Heiliges und Profanes, Gabentausch, ritualisiertes Handeln etc. aufbaut und sich nahezu ausnahmslos mit nicht-modernen Kulturen beschäftigt, isoliert die von Freud beeinflusste Linie das Phänomen Tabu und konzentriert sich dabei im Wesentlichen auf ein einziges Forschungsgebiet, das Inzest-Tabu (Seibel, 1990).

1.3.2 Der Tabubegriff bei Freud Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen

Die Arbeiten zum Totemismus des (von Frazer beeindruckten) deutschen Philosophen und Psychologen Wilhelm Wundt sind mit Grundlage für die psychoanalytische Theorie zu Tabu von Sigmund Freud. Freud verwendet den Begriff Tabu ab 1913 in der psychoanalytischen Literatur und betont stets die positiven wie negativen Aspekte des mit Tabu bezeichneten Phänomens. Er nennt Tabus den ältesten ungeschriebenen Gesetzeskodex des Menschen, der verinnerlicht wird und zu einem Tabugewissen bzw. Tabuschuldbewusstsein führt. Die Übertretung erzeugt Schuldgefühle. Zentrales Tabu in unserer Kultur ist für die Psychoanalyse der Inzest. Das von Freud gleichzeitig mit dem Begriff Tabu vorgestellte Wort Totem bezeichnet in der Sprache der Alyonkin-Indianer das verehrte Schutzsymbol eines Clans. Als ältestes Tabu führt Freud das Verbot an, das Totemtier zu essen. Das Totem symbolisiert in der psychoanalytischen Sicht den mächtigen Vater, dessen Schutz einerseits erwartet wird, vor dem aber gleichzeitig auch Angst besteht. Totem und Tabus sind mit dem Phänomen der Ambivalenz eng verbunden. Die Funktion des Tabus ist die des Schutzes vor tabuisierten Inhalten. Triebwunsch und das Verbot seiner Erfüllung müssen verdrängt werden. Freud war weniger am Tabu als Phänomen selbst interessiert, sondern an dessen Bedeutung für individuelle, psychische Reaktionen. Die Überlegung zu der doppelten Konstitution der religiösen Tabus und zu den rituellen Reinigungshandlungen hat Freud zu einer eigenständigen psychoanalytischen Konzeption von Tabus ausgebaut. In der Ambivalenz zwischen Ehrfurcht und Abscheu, die in den Tabus der Primitiven liegt, sah Freud einen Zusammenhang mit der Zwangsneurose. Die auffälligste Übereinstimmung der Zwangsverbote mit dem Tabu besteht darin, dass diese Verbote oftmals scheinbar unmotiviert und in ihrer Herkunft rätselhaft sind. Sie sind irgendwann einmal aufgetreten und müssen infolge einer unbezwingbaren Angst gehalten werden. Zwangsverbote wirken beim Neurotiker nach demselben Strafmechanismus wie bei einer Tabuübertretung. Es droht keine äußere Strafe sondern die innere Gewissheit, dass unerträgliches Unheil drohe. Das Haupt- und Kernverbot der Neurose ist wie beim Tabu das der Berührung. Das Verbot erstreckt sich nicht nur auf die direkte Berührung mit dem Körper, sondern nimmt den Umfang der übertragenen Redensart in Berührung kommen an. Alles, was in Gedanken auf das Verbotene lenkt, ist ebenso verboten wie der unmittelbare körperliche Kontakt. Dieselbe Ausdehnung findet sich beim Tabu wieder. Wie auch Tabuverbote können neurotischen Zwangsverbote durch Zwangshandlungen aufgehoben werden, so durch Buße, Sühne, Abwehrmaßnahmen und Reinigung. Nach Freuds Resümee äußert sich die Übereinstimmung der Tabugebräuche mit den Symptomen der Zwangsneurose am deutlichsten in folgenden Punkten:

1. in der Unmotiviertheit der Gebote
2. in ihrer Befestigung durch eine innere Nötigung
3. in ihrer Verschiebbarkeit und in der Ansteckungsgefahr durch das Verbotene
4. in der Verursachung von zeremoniellen Handlungen, Geboten, die von den Verboten ausgehen.

Für Freud haben sich Tabus aus der (unbewussten) starken Neigung zu verbotenen Dingen herausentwickelt. In den Tabus wie auch in der Zwangsneurose spiegeln sich gegensätzliche Wünsche, der Wunsch und zugleich die Abscheu, eine Handlung auszuführen. Diese Ambivalenz führt zu einem innerpsychischen Konflikt, wobei Tabu eine Lösungsmöglichkeit darstellt. Tabu ist ein Kompromiss-Symptom.

1.3.3 Der Tabubegriff der interkulturellen Tabuforschung

Die interkulturelle Tabuforschung geht von einem Tabubegriff aus, der zunächst zwischen verbalen und nonverbalen Tabus unterscheidet. Nonverbale Tabus (bisweilen in der Literatur auch als Tattabus bezeichnet) werden dabei verstanden als Teil des sozialen Kodex einer Gemeinschaft, der festschreibt, welche Handlungen und Verhaltensweisen nicht ausgeführt werden sollen (Zöllner, 1997, S. 25f). Zur Kategorie der verbalen Tabus gehören einerseits Themen, über die entweder gar nicht oder nur in etikettierter Form kommuniziert werden soll sowie andererseits sprachliche Ausdrücke, die vermieden bzw. durch andere Ausdrücke (Euphemismen) ersetzt werden sollen. Gegenstand einer interkulturellen Tabuforschung sind somit

- die negativen Konventionen des Handelns (Handlungstabus Das macht man nicht )
- die Nicht-Themen (Schweigebereiche bzw. Kommunikationstabus Darüber spricht man nicht )
- die etikettierten Themen (Tabudiskurse Darüber spricht man nur auf eine bestimmte Art und Weise )
- die zu vermeidenden sprachlichen Ausdrücke (Sprachtabus Das sagt man nicht )
- die möglichen Beziehungen zwischen den verbalen und nonverbalen Tabus, die mit den unterschiedlichen Funktionen von Tabus zusammenhängen.

Nicht berücksichtigt sind in dieser Einteilung Bild- bzw. Abbildungstabus, die im Rahmen der Kommunikationstabus von Bedeutung sind. Sie betreffen die symbolische Berührung von Objekten und Themen. Das Verhältnis zwischen Handlungs-, Kommunikations-, Sprach- und Abbildungstabus ist äußerst komplex, kontextgebunden und nicht immer klar zu fassen. So gibt es Themen, über die zwar verbal kommuniziert werden darf, deren Abbildung aber tabuisiert ist (z.B. die Bereiche Gewalt, Tod und Sterben sowie sexueller Missbrauch und bestimmte Körperflüssigkeiten).

Im aktuellen Sprachgebrauch wird der Begriff Tabu vor allem mit Kommunikations- und Sprachtabus in Verbindung gebracht, womit die Tabuthemen einer Gesellschaft gemeint sind. Diese werden einerseits durch Objekt- und Tattabus erzeugt, sichern andererseits aber schon deren Vorfeld ab (Wagner, 1991), wobei unter das Worttabu bereits die Verwendung der Bezeichnungen (d.h. der Wörter) für die tabuisierten Handlungen und Objekte fällt. Die Domäne der sprachwissenschaftlich orientierten Tabuforschung ist zwar der tabuisierte Wortschatz, doch lassen sich Sprachtabus sinnvoll nicht ohne einen Bezug zu den ihnen zugrunde liegenden Objekt- und Tattabus behandeln. So weist auch Balle (1990) darauf hin, dass Worttabus nur die sprachliche Konsequenz nonverbaler Tabus sind. Um Worttabus zu beschreiben und mögliche Gründe dafür aufzuzeigen, muss also meist auf das ursprünglich dahinterstehende, nonverbale Tabu zurückgegriffen werden, wie auch auf die zugrunde liegenden sozialen, religiösen, kulturellen und psychologischen Gegebenheiten (Balle, 1990).

In Hinblick auf Sprachtabus ist zwischen Worttabu und Tabuwort zu unterscheiden. Der Duden (1982, Fremdwörterbuch, Band 5) definiert Tabuwort als ein Wort, dessen außersprachliche Entsprechung für den Menschen eine Bedrohung darstellt und das deswegen durch eine verhüllende Bezeichnung ersetzt wird (z.B. der Leibhaftige, der Böse an Stelle von Teufel) . Im Linguistischen Wörterbuch schreibt Lewandowsdi (1990, 1142-1143) über Tabuwörter Zugrunde liegen ihnen ein magischer Begriffsrealismus, der Wörter und Namen mit dem von ihnen Bedeuteten/Bezeichneten gleichsetzt, die Vorstellung von der magischen Kraft des Wortes, dessen Aussprechen Veränderungen in der Welt hervorrufen kann, die Scheu vor dem unberührbar Heiligen und die Angst vor dem Bösen, Bedrohlichen, Gefährlichen . Nach Günther (1992) kann das Tabuwort unter bestimmten Umständen (z.B. bei Schimpfwörtern) sanktioniert werden, ein Worttabu ist hingegen in einer gegebenen Kultur immer gültig. Anzutreffen sind Tabuwörter heute vor allem in Bereichen, in denen es um Prozesse im Rahmen der menschlichen biologischen Existenz geht (Schröder, 1995).

Wenn ein bestimmtes Verhalten vermieden werden muss, dann darf auch nicht darüber gesprochen werden (Farb, 1977). Trost (1964, S. 433; zitiert nach Balle, 1990) schreibt: Der Sinn von Sprachtabu wird mitbestimmt durch die Totalität von Glauben und Sitte eines Kulturraumes... Sprachtabu setzt soziale Normen des Sprechens... . Die Worte selbst sind allerdings unschuldig und neutral; erst die Gesellschaft verleiht ihnen Wertungen (Farb, 1977). Sprache agiert also nicht nur als Reflektor der sozialen Verhältnisse, sondern kann diese selber beeinflussen. Sprache ist personen-, klassen- und schichtspezifisch (Porzig, 1971).

Nach Adler (1978; zitiert nach Balle, 1990) hat eine Untersuchung ergeben, dass Tabuwörter eher

- geschrieben als gesprochen (in den Mund genommen)
- buchstabiert als ausgesprochen und
- von Frauen als von Männern gemieden werden.

Ausschlaggebend für die Vermeidung oder aber die absichtliche Benutzung von Tabuwörtern ist der soziale Kontext (Jay, 1978; zitiert nach Balle, 1990). Das Wort Schwein ist nicht tabu, wenn es ein Tier bezeichnet; im Zusammenhang mit einem Polizisten ist es äußerst beleidigend. Wichtig ist außerdem der geltende Wortgebrauch, die Beziehung Sprecher- Zuhörer und die Entscheidung des Sprechenden darüber, ob das entsprechende Wort akzeptabel ist oder nicht (Balle, 1990).

Beleidigungen, Flüche, Schwüre, Spott, Ironie und Schimpf werden tabu, wenn es tabu ist, Gefühle offen zu zeigen. Sie werden sozusagen domestiziert , weil sie Obszönität ausdrücken und andere verletzen. Porzig spricht in diesem Zusammenhang von Kraftwörtern: Ein Kraftwort ist ein derber, übertreibender, bizarr-anschaulicher Ausdruck aus der niederen Umgangssprache, der eben dadurch imstande ist, ein Ding nicht nur zu nennen, sondern gleichzeitig die Gefühle des Sprechenden zu entladen. Freilich, seine Beliebtheit wird auch sein Verderben: durch häufigen Gebrauch schwächt sich seine Wirkung ab, er wird der gewöhnliche, normale Ausdruck, und mit der Rolle als Kraftwort ist es vorbei (Porzig, 1982; S. 46).

1.3.4 Tabubereiche und Motivierungen von Tabus

Ullmann (1962) unterscheidet drei unterschiedliche psychologische Motivationen für die Existenz von Tabus: Sie können durch Furcht (taboo of fear), durch Takt/Feinfühligkeit (taboo of delicacy) und durch Rücksicht auf die Anstandsnormen und Etiketten (taboo of propriety) bedingt sein. Der Typus Tabu aus Furcht , der kennzeichnend für die Naturvölker ist, spielt in den modernen westlichen Gesellschaften nur noch eine geringe Rolle, wenngleich Relikte davon in den meisten Sprachen erhalten geblieben sind. Wichtiger geworden sind die Tabus aus Feinfühligkeit und die Tabus aus Anstand . Tabus aus Feinfühligkeit sind durch Rücksichtnahme motiviert und spielen insbesondere in den Bezugsfeldern Tod, Krankheit und bei anderen (körperlichen und geistigen) Unvollkommenheiten eine wichtige Rolle. Tabus aus Anstand sind durch Scham-, Peinlichkeits- und Anstandsgefühle motiviert und betreffen bestimmte Körperteile, Körperausscheidungen und Körperfunktionen sowie die Sexualität. Diesen drei von Ullmann genannten Motivationen von Tabus fügt Zöllner (1997) noch einen weiteren Typus hinzu, den sie Tabus aus sozialem Takt nennt. Gemeint sind damit ideologisch motivierte Tabus, die in einem engen Zusammenhang zu dem stehen, was heute in den USA als political correctness bezeichnet wird und zur Zeit einen bedeutenden Einfluss auf den Sprachgebrauch ausübt.

Balle (1990) bemerkt, dass Tabus zeit- und gesellschaftsspezifisch sind. Heutige Tabus unterscheiden sich von früheren durch ihre Motivation. Während der Naturmensch glaubte, Dämonen zu erzürnen und durch die Verletzung des Verbotes leibhaftigen Schaden davonzutragen, bedingen heute vorwiegend die Angst, Aufsehen, Peinlichkeit, Scham und Verletzung zu erregen, also Rücksichtnahme und Respekt, die Achtung der Gebote.

1.3.5 Gruppen von Tabus

Nach Werner (1919; zitiert nach Balle, 1990) können Tabus unterteilt werden in

1. lebensfördernde Tabus, z.B. das Tabu aus Ehrfurcht (Häuptlings- und Gottestabu) bzw. aus Scheu vor Verunreinigung des heiligen Prinzips durch Menschenhände/- sprache und
2. lebenshemmende Tabus (Tod, Krankheit), die aus Furcht vor Vernichtung gemieden werden, die aber z.B. vom Zauberer absichtlich als Vernichtungszauber oder in Form von Flüchen, Schwüren, Beschimpfungen benutzt werden.

Tabuthemen 1960/61 (MAGNUM; zitiert nach Seibel, 1990):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wagner (1991) hat sich ausführlich mit Medien-Tabus beschäftigt und unterscheidet fünf große Gruppen von Tabus:

- Sexualitäts-Tabus (Homosexualität, Inzesttabu, sexueller Missbrauch von Kindern, Sexualität im Alter, Pädophilie bei Frauen, Kontrazeption, Menstruation, Folgen sexueller Freizügigkeit)
- Krankheits-Tabus (Krankheiten der Verdauungs- und Ausscheidungsorgane, Blähungen, Kontinenzstörungen, Hämorrhoidalleiden, Elendskrankheiten : Lepra in Spanien; Prothetik: Dritte Zähne, Toupets)
- Gewalt-Tabus (Misshandlung von Kindern, Misshandlung alter Menschen, Schlacht- Tabu)
- Tabu des Todes
- Politische Tabus (Antisemitismus, Kriegsschuld, Deutsche Ostgebiete, Pressefreiheit).

In Don´t Do It: A Dictionary of the Forbidden teilt Thody (1997) Tabus in fünf Kategorien ein:

1. Signale (wie Hautfarbe, Haartracht und Kleidungsstil)
2. Nahrung (u.a. Alkohol)
3. Verhalten (wie Ehebruch, Homosexualität, Inzest oder Rauchen)
4. Alltagssprache (Begriffe und Themen, die beispielsweise Vulgärausdrücke enthalten)
5. Gesellschaftsthemen (wie etwa Apartheid, Zensur und Gewalt)

Schröder (1995) zeigte in einer Pilotstudie mit Studierenden, dass nach Häufigkeit der Nennung vor allem folgende Tabubereiche genannt wurden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1.3.6 Methodologische Probleme der Tabuforschung

Im Zusammenhang mit modernen Informations- und Mediengesellschaften stellt sich natürlich die Frage, ob es überhaupt noch Tabus und Tabuisierungen gibt, wo doch Tabubruch und Enttabuisierung zu einem unentbehrlichen Mittel für die Werbung und für den Kampf um Einschaltquoten geworden sind. Ein Blick in die Presse und die Talkshows lässt schnell den Eindruck entstehen, dass es anscheinend kaum noch Tabus gibt, die nicht schon durch den Wolf des Diskurses gedreht worden sind, wie es Christoph Türcke (1994; zitiert nach Schröder, 1997) ausdrückt.

Das Hin und Her zwischen Tabubruch und Tabuisierung verstärkt so den Anschein, dass es kaum noch echte Tabus in unserer Gesellschaft gibt, deren Wertorientierungen und Normvorstellungen ohnehin einem schnellen und stetigen Wandel unterzogen sind sowie eher gruppen- und situationsbezogen als gesamtgesellschaftlich in Erscheinung treten.

Sind Tabus also nur noch auf der Ebene von Subgruppen wirksam? Und wie können Tabus überhaupt identifiziert werden?

Kritisch zu bedenken ist das Problem, ob sich ein Phänomen wie Tabu überhaupt durch eine empirische Untersuchung erfassen lässt, und wenn ja, welches die geeigneten Methoden sind. Wenn man davon ausgeht, dass Tabus das sind, was verborgen wird, worüber man nicht spricht und was man nicht tut, so erscheint die Frage nach persönlichen Tabuthemen paradox. Durchaus denkbar erscheint jedoch die Möglichkeit, eine Themenliste von angenommenen Tabuthemen aufzustellen und sie auf ihre Zustimmung oder Ablehnung hin zu testen. Wenn man davon ausgeht, dass Tabu etwas ist, das bereits im Vorfeld des Denkens zensiert wird, so wird es schwierig sein, mit den gängigen Methoden der empirischen Sozialforschung individuelle Tabuthemen aufzuspüren. Eine einfache Assoziation erscheint hier als eine ansatzweise Möglichkeit dazu. Eine Umkehrung der Forschungsproblematik könnte dahin gehen, dass diejenigen Themen, die nicht genannt werden, bzw. das, worüber nicht gesprochen wird, mögliche Tabuthemen sind. Das stellt jedoch unlösbare methodische Probleme, da die Menge des Ausgeschlossenen kaum vollständig erfasst werden kann. Eine tiefergehende empirische Untersuchung zum Phänomen Tabu selbst scheint eine sozialforscherisch unlösbare Aufgabe zu sein. Eine Untersuchung zu einer allgemeinen Vorstellung von gesellschaftlichen Tabuthemen sowie zur Einstellung zu Tabus ist jedoch durchführbar. Die Ergebnisse einer solchen Untersuchung lassen mögliche wenn auch spekultative Schlüsse auf das Phänomen Tabu selbst zu (Seibel, 1990).

1.4 Empirische Tabuforschung

1.4.1 Tabuforschung als Aufgabe interkultureller Germanistik (Schröder, 1995)

In einer Pilotstudie auf Grundlage von 161 Aufsätzen deutscher und polnischer Studierender der Viadrina in Frankfurt (Oder) stellte Schröder (1995) fest, dass es eine recht breite Übereinstimmung zum Tabubegriff gab. Die meisten StudentInnen fassten unter Tabu das, worüber man nicht gerne spricht, was gesellschaftlich irgendwie nicht erwünscht ist oder was ansonsten ein unbequemes Thema darstellt. Damit wird der Begriff ähnlich wie im Duden und bei Günther aufgefasst. Der Begriff Tabu steht für Dinge, über die man an sich in der Öffentlichkeit nicht spricht. In diesem Sinne wird das Wort Tabu nach Günther (1992) seit der 60er Jahre auch umgangssprachlich verwendet. Oft werden Sexualität, Aberglaube und Religion als typische Tabubereiche genannt. Weit verbreitet ist, dass Tabus vor allem für die Vergangenheit und für entferntere Kulturen als typisch angenommen oder als Generationenproblem aufgefasst werden, für die eigene Kultur aber von immer weniger Tabus ausgegangen wird. Unterschiedlicher Meinung waren die Studierenden hingegen bei der Bewertung von Tabus: Sehen einige eher den bewahrenden Charakter von Tabus für die Gesellschaft, so meinen andere, dass Tabus dem Fortschritt nur im Wege stehen. Die einen wollen mehr Tabus, die Anderen dagegen weniger. Einige sind der Meinung, dass es in Polen und Deutschland überhaupt keine Tabus mehr gibt.

1.4.2 Zu Tabus in unserer Gesellschaft Eine empirische Untersuchung (Seibel, 1990)

Für eine erste Materialsammlung von Tabuthemen führte Seibel (1990) Einzel- und Gruppeninterviews durch. Alle Befragten definierten Tabu als ein besonderes Verbot, als etwas, das anders ist als Normen oder Sitten. Als Tabuthema wurde sehr häufig die Sexualität genannt, in diesem Zusammenhang auch Abtreibung, dann Alkoholabhängigkeit, schwere Krankheit und Tod, sowie Gefühle zu anderen. Bei der Themennennung wurde auffällig, dass die Einstellung zu Tabus, zum Teil auch die Nennung bestimmter Tabuthemen, von Männern und Frauen unterschiedlich war. Frauen bewerteten Tabus als Schutz, als notwendige Abgrenzung bei problematischen Themen. Männer werteten Tabus eher ab, Tabus seien etwas, was man verdeckt, verheimlicht, was man vermeidet, wo man sich aus Angst vor Strafe zurückzieht. Sie seien Zeichen von Feigheit und Rückständigkeit. Auffallend war auch, dass die Frauen eher persönliche Tabus nannten und die Männer sich zumeist von Tabus distanzierten.

Mit den aus der Voruntersuchung gewonnenen Daten wurde ein Fragebogen mit folgenden 17 Items entwickelt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der zweiten Untersuchung wurde der bis auf eine offene Frage vollstandardisierte Fragebogen vorgelegt. Auf die erste und offene Frage, was ein Tabu sei, wurde mit Abstand am häufigsten Sexualität genannt, gefolgt von Inzest, Tod, AIDS, NS-Zeit und Toiletten- gewohnheiten. Neben diesen Mehrfachnennungen gab es jedoch eine Vielzahl von individuellen Antworten. Dieses Ergebnis bekräftigt den Eindruck, dass Tabus etwas höchst Individuelles sind, und dass man keinesfalls eine auch nur annähernd vollständige Liste von möglichen oder angenommenen Tabuthemen erstellen kann. Darüber hinaus verdeutlicht es, dass zwischen persönlichen und eher allgemeinen (gesellschaftlichen) Tabus durchaus ein Unterschied bestehen kann. Die starke Häufung beim Thema Sexualität belegt aber, dass es weitgehenden Konsens über die Annahme gibt, dass Sexualität in unserer Gesellschaft ein Tabu sei.

1.4.3 Gesundheitliche Beschwerden und Tabuthemen bei Jugendlichen (Kropiunigg, Madu & Weckenmann, 1998)

Kropiunigg, Madu und Weckenmann (1998) führten Studien zu Tabus, wie sie im Alltag auftreten und die familiären Interaktionen mitbestimmen, durch. Mit einem Tabu-Fragebogen und der standardisierten Beschwerdeliste von von Zerssen wurden 1600 Jugendliche in vier Ländern (Süd-Afrika, Griechenland, Bulgarien und Österreich) befragt.

Der Tabu-Fragebogen enthielt folgende mögliche Tabuthemen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im Artikel Hidden forces: Growing up with taboos präsentiert Kropiunigg die Ergebnisse der Untersuchung von 100 Jugendlichen im Alter von 14 bis 20 Jahren (85 Mädchen, 15 Burschen). Es zeigte sich, dass die Tabudichte die Anzahl beachteter Tabus einen direkten Einfluss auf die Zahl der berichteten psychischen und körperlichen Beschwerden hat. In der Altersverteilung ergab sich ein Tabustau , d.h. eine auffällige Häufung von Tabuthemen um das 14. Lebensjahr. Die vorherrschenden Tabuthemen waren einerseits sexuelle Ängste und Selbstmordgedanken, und andererseits kontroverse Inhalte wie aggressives Verhalten (Kropiunigg, 1998).

Die afrikanischen Ergebnisse der umfangreichen Studie sind im South African Journal of Education veröffentlicht. Die Stichprobe von 529 Jugendlichen im Alter von 14 bis 34 Jahren (314 Burschen, 189 Mädchen) nannte als häufigste Tabuthemen Homosexualität, Tattoos/ Piercings und Abtreibung. Die am häufigsten berichteten gesundheitlichen Beschwerden betrafen Schluckbeschwerden, Übelkeit sowie Druck oder Völlegefühl im Leib. Es zeigte sich eine signifikante positive Korrelation zwischen dem Ausmaß gesundheitlicher Beschwerden der StudentInnenen und der Anzahl von familiären Tabuthemen (Madu, Kropiunigg & Weckenmann, 2002).

Die österreichischen Ergebnisse wären für die vorliegende Arbeit von großem Interesse. Da die Studie von Ulrich Kropiunigg und die vorliegende Arbeit jedoch etwa zur gleichen Zeit fertiggestellt werden, sind weitere Vergleiche an dieser Stelle nicht möglich.

1.4.4 Tabuthemen im internationalen Vergleich (Gasch, 1986/87)

Nach Gasch (1986/87) ist der unterschiedliche Tabuisierungsgrad vom Thema selbst, aber auch von der sozialen Situation, dem Gesprächspartner, der Stimmungslage, etc. bestimmt. Daneben bestehen kulturelle Unterschiede. Nach Gaschs Ansicht ist die Erfassung des Tabuisierungsgrades von Themen nicht durch eine direkte Befragung ( Worüber sprechen Sie nicht? ) möglich. In einer von ihm durchgeführten Studie wurden die Probanden gebeten, freiwillig an einer (fingierten) Hauptstudie teilzunehmen, in der die Themen in ausführlichen persönlichen Einzelinterviews behandelt werden sollten. Die Befragten sollten unter Namensnennung (!) angeben, bei welchen Themen sie sich zur Verfügung stellen würden.

Durch diese Methodik erhalten die Ergebnisse eine größere Verhaltensrelevanz. Die Daten wurden an zwei Stichproben von Studenten an den Universitäten Wollongong/ Australien und Dortmund/ BRD erhoben. Die Untersuchung hielt die Situation (Forschungsinterview) konstant, den Gesprächspartner (kompetenter Psychologe) weitgehend konstant, vernachlässigte die Stimmungslage und variierte die Themen (25 Tabubereiche wie z.B. Sexualität, Tod, Geld, Tagträume, Stuhlgang, Aggressionen) sowie das kulturelle Umfeld (Australien und BRD). Die Ergebnisse umfassen den unterschiedlichen Tabuisierungsgrad der Themen im interkulturellen Vergleich in Bezug auf Alter und Geschlecht der Probanden, bzw. Alter und Geschlecht des Gesprächspartners.

Beim 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1987 nannte Gasch (1987; zitiert nach Behal-Thomsen, Lundquist-Mog & Mog, 1993) folgende zehn am meisten tabuisierten Themen in der BRD:

1. Toilettengewohnheiten
2. Sexualverhalten bei Erwachsenen
3. Sexualverhalten bei Kindern
4. Beschwörungen, Blamagen, Weinen
5. Politische Meinungen
6. Phantasien und Tagträume
7. aggressive Gedanken
8. Menstruation
9. Körperbild
10. Parapsychologie

Relativ zugänglich sind die Deutschen hingegen bei Fragen nach ihren guten und schlechten Eigenschaften sowie Erfolgen und Fehlschlägen, ferner wenn es um Körperhygiene, Ängste, die elterliche Familie und die eigene finanzielle Lage geht. Die Hemmschwelle gegenüber Themen wie Drogen, Tod, Religion und Schulerfahrungen ist nach der Studie von Gasch erstaunlicherweise ebenfalls nicht sehr hoch. Weiters konnte belegt werden, dass entgegen amerikanischen Untersuchungen zumindest hierzulande Frauen noch weniger gern über Tabuthemen reden als Männer (Behal-Thomsen et al., 1993).

2 Depressionen im Kindes- und Jugendalter

Für das Erwachsenenalter kann die Beschreibung depressiver Zustandsbilder sehr weit zurückverfolgt werden. So prägte bereits Hippocrates den Ausdruck der Melancholie (Schwarzgalligkeit) und schuf damit die erste klinische Beschreibung von Depression (Arieti & Bemporad, 1983). Die Frage, ob es Depressionen im Kindes- und Jugendalter überhaupt gibt, war lange Zeit Gegenstand kontroverser Diskussionen. Zudem blieb unklar, ob sich die Erscheinungsform einer Depression im Kindesalter von der des Erwachsenenalters unterscheidet (Essau & Petermann, 2000; Rossmann, 1991).

Es galt lange Zeit, dass Kinder nicht ausreichend kognitive Reife besäßen um depressiv zu sein. Die psychoanalytische Erklärung dafür bestand darin, dass im Kindesalter die Ausprägung des Über-Ich noch nicht ausreichend entwickelt sei, um diese klinische Symptomatik ausbilden zu können (Rossmann, 1991).

Weiters wurde angenommen, dass extreme Stimmungsschwankungen oder depressive Verstimmungen zur normalen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter gehören, und dass sie daher nicht als abweichend oder behandlungsbedürftig angesehen wurden (Essau & Petermann, 2000; Reicher, 1998).

Eine andere theoretische Position umfasste das Konzept der larvierten bzw. maskierten Depression sowie der depressiven Äquivalente . Hierbei wurde angenommen, dass die depressiven Zustandsbilder bei Kindern durch Symptome wie Verhaltensstörungen, Schulschwierigkeiten oder somatische Beschwerden verdeckt und maskiert werden (Glaser, 1968). Im deutschen Sprachraum wurde diese Theorie von Nissen (1971), einem Pionier der Depressionsforschung, vertreten.

Kovacs und Beck (1977) waren allerdings der Ansicht, dass der Begriff larvierte Depression im Kindesalter irreführend und unnötig sei, da sich die eindeutige Diagnose durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Diagnosekriterien als schwierig erweist. Sie waren der Meinung, dass depressive Zustandsbilder bei Kindern existieren, allerdings in unterschiedlichen Manifestationsformen. Kinder sollen neben den Erwachsenensymptomen auch kindertypische Merkmale (z.B. Schulschwierigkeiten, Kopf- und Bauchschmerzen) einer Depression aufweisen.

Dieser Ansatz wird heute von den meisten Forschern vertreten. Die Depression wird als für das Kindes- und Jugendalter eigenständiges Störungsbild akzeptiert, das sich unter Berücksichtigung alters- und entwicklungsspezifischer Aspekte nicht wesentlich von dem des Erwachsenenalters unterscheidet (Kovacs, 1996; Rossmann, 1991).

Blöschl (1998a) stellt außer Frage, dass anhaltende depressive Verstimmungszustände klinischer wie subklinischer Natur eine massive Beeinträchtigung der Lebensqualität der betroffenen jungen Menschen mit sich bringen. Zugleich warnt sie davor, die offensichtlich ungünstigen Langzeitfolgen von depressiven Störungen, die sich erstmalig in den frühen Lebensperioden manifestieren, zu unterschätzen. Depressive Kinder und Jugendliche wachsen aus ihren Problemen nicht einfach heraus. Nach Reicher (1998) scheinen Narben zurückzubleiben, die in belastenden Lebenssituationen für das Wiederauftreten der Symptomatik verantwortlich sind. Aus praktischer wie auch aus theoretischer Sicht ergeben sich zahlreiche Fragen in Bezug auf die Entstehung, Erkennung, Behandlung und Prävention der kindlichen Depression. Trotz verstärkter Forschungsbemühungen bleiben noch immer viele Fragen unbeantwortet.

Die folgenden Kapitel widmen sich den entwicklungspsychologischen Besonderheiten depressiver Störungen bei Jugendlichen. Parallelen und Unterschiede der Störungsformen und Symptomatik im Vergleich von Kindern und Erwachsenen und Veränderungen der Symptomkonfigurationen in den einzelnen Phasen der Adoleszenz selbst werden besprochen. Neben der Diskussion des Komorbiditätsproblems werden Daten zur Epidemiologie und zum prognostischen Verlauf depressiver Störungen bei Jugendlichen zusammenfassend dargestellt. Weiters werden die diagnostischen Zugänge zur Erfassung depressiver Störungen von Kindern und Jugendlichen sowie psychologische und psychosoziale Erklärungsmodelle ausführlich behandelt.

2.1 Störungsformen und Symptomatik

2.1.1 Begriffsbestimmung

Die Begriffssphäre des Terminus Depression ist sehr unklar. Eine präzise Begriffsbestimmung ist durch die Vielfalt der Erscheinungsformen, die sich aufgrund der Multidimensionalität depressiver Zustandsbilder auf phänomenologischer und ätiologischer Ebene ergeben, schwierig. Der Begriff Depression findet auf Symptomebene, Syndromebene und auf nosologischer Ebene im Sinne einer Krankheitseinheit Verwendung. Unter Depression als Symptom wird eine traurige, freudlose oder unlustbetonte Verstimmung verstanden, die durchaus im Normalbereich auftreten kann. Darauf bezieht sich auch die übliche umgangssprachliche Verwendung des Begriffs. Die Stimmungsbeeinträchtigung stellt jedoch nur einen Aspekt jener depressiven Symptomatik dar, wie sie vom Kliniker beobachtet werden kann und wie sie vom Psychopathologen mit dem Begriff der Depression auf der Ebene eines psychopathologischen Syndroms beschrieben wird.

Depressive Störungen im Sinne eines depressiven Syndroms stellen somit eine zusammengehörige psychopathologische Symptomenkonfiguration dar, die sich auf mehreren symptomatischen Ebenen manifestieren kann. Neben der zentralen affektiven Symptomatik einre niedergeschlagen-freudlosen Stimmungslage, die bei Kindern und Jugendlichen auch gereizte oder ängstliche Färbungen aufweisen kann finden sich charakteristische Störungszeichen auf drei Ebenen: auf der kognitiv-motivationalen Ebene (z.B. herabgesetztes Selbstwertgefühl, Interessensverlust, Konzentrationsstörungen), auf der Verhaltensebene (passiv-gehemmtes oder ängstlich-agitiertes Verhalten) und auf der somatischen Ebene (rasche Ermüdbarkeit, Schlaf- und Appetitstörungen). Über die beschriebenen Symptome hinaus treten bei schwerer Depression in erhöhtem Maße Selbstmordgedanken auf.

Wenn der Begriff Depression schließlich zur Bezeichnung einer nosologischen Einheit einer depressiven Störung verwendet wird, impliziert dies aber noch mehr als das bloße Auftreten eines depressiven Syndroms. Das Auftreten eines depressiven Syndroms ist zwar eine notwendige Bedingung, aber alleine noch kein hinreichender Beleg für das Vorliegen einer depressiven Störung. Die Definition einer depressiven Störung im nosologischen Sinn sollte darüber hinaus klare diagnostische und differentialdiagnostische Kriterien und Schwellenwerte für die Mindestdauer und Schwere der Beeinträchtigung enthalten. Weiters sollte Information über den unbehandelten Verlauf und über das Ansprechen auf therapeutische Bemühungen vorliegen. Im optimalen Fall sollten sich Personen, die von einer psychopathologischen Störung betroffen sind, auch anhand von biologischen und/oder psychologischen Variablen eindeutig von Patienten mit anderen Störungen sowie von klinisch unauffälligen Kontrollpersonen unterscheiden lassen (Reicher, 1998; Rossmann, 1991).

An dieser Stelle sei auch noch auf die begrifflichen Unterscheidungen primäre versus sekundäre Depression (reine Depression versus Depression im Kontext anderer Störungsbilder) sowie unipolare versus bipolare Form (rein depressive Phasen versus manisch-depressive Phasen) hingewiesen.

In der vorliegenden Arbeit werden der Begriff Depression bzw. die Bezeichnungen Depressivität , depressive Verstimmung und depressive Befindlichkeit nicht im Sinne eines psychiatrischen Krankheitsbildes, eines Syndroms, verstanden, sondern zur Beschreibung einer spezifisch gefärbten negativen Affektlage im subklinischen Bereich verwendet.

2.1.2 Klassifikation: Störungsformen

In den derzeit gängigen Klassifikationssystemen Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-IV (Saß, Wittchen & Zaudig, 1996) und Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt, 2000) wird bei Kindern und Jugendlichen grundsätzlich auf dieselben Kategorien Bezug genommen, die auch im Erwachsenenalter von Bedeutung sind. Depressive Störungen werden in beiden Klassifikationsansätzen den Affektiven Störungen zugeordnet. Es finden sich aber auch in anderen Kategorien Störungsbilder, in denen Depressionen eine relevante Rolle spielen.

Tabelle 1 und 2 geben einen Überblick über die DSM-IV- bzw. ICD-10-Kategorien, die für die Klassifikation depressiver Zustandsbilder von Bedeutung sind. Zusatzcodierungen können für den Schweregrad (leicht, mittelschwer, schwer) sowie für den Verlauf (teilremittiert, vollremittiert) vorgenommen werden.

Tab. 1: Klassifikation affektiver Zustandsbilder nach DSM-IV

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 2: Klassifikation depressiver Zustandsbilder nach ICD-10

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im Bereich der Depressiven Störungen nach DSM-IV finden sich zwei Hauptformen, von denen die Major Depression ein schwereres Störungsbild, die dysthyme Störung ein leichteres, aber länger andauerndes Störungsbild darstellt. In der ICD-10 entsprechen diese Kategorien in etwa die Schwere Depressive Episode bzw. die Dysthymia . Bei wiederholtem Auftreten einer depressiven Episode spricht man von rezidivierenden Störungen. Anpassungsstörungen mit depressiver Symptomatik werden dann diagnostiziert, wenn klinisch bedeutsame emotionale Symptome die Reaktion auf identifizierbare psychosoziale Belastungsfaktoren darstellen. Von diesen monopolaren bzw. unipolaren Störungen können sogenannte bipolare Störungsformen unterschieden werden, in denen neben depressiven auch manische Stimmungsveränderungen auftreten. Speziell für das Kindes- und Jugendalter ist die ICD-10-Kategorie Kombinierte Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92) von Bedeutung, die durch eine Kombination von ausdauerndem aggressiven, dissozialen oder aufsässigen Verhalten mit deutlichen Symptomen von Depression, Angst oder anderen emotionalen Störungen charakterisiert ist. Die depressiven Symptome äußern sich in ausgeprägter Traurigkeit, Schuldgefühlen und Hoffnungslosigkeit; Schlafstörungen und Appetitverlust können ebenfalls vorhanden sein (Reicher, 1998).

2.1.3 Diagnostische Kriterien: Symptomatik

Der größte Teil der neuen Forschungsbeiträge zur Depression bei Kindern und Jugendlichen stammt aus dem angloamerikanischen Raum und beruht demzufolge auf DSM-IV. In der Folge werden die Symptomkriterien einer Major Depression bzw. einer dysthymen Störung nach diesem Klassifikationsansatz beschrieben, da sie die am häufigsten auftretenden depressiven Störungen im Kindes- und Jugendalter sind. Für Informationen zu Ausschluss- und Zusatzkriterien, die bei der Diagnosestellung zu beachten sind, wird auf die einschlägigen Manuale verwiesen.

Nach DSM-IV bestehen die Kernsymptome einer Major Depression in einer depressiven, niedergedrückten Stimmung sowie dem Verlust von Interesse und Freude; bei Kindern kann sich diese Stimmungsbeeinträchtigung auch in hoher Irritabilität und Gereiztheit äußern.

Diese Kernsymptome sollen mindestens über einen Zeitraum von zwei Wochen bestehen, wobei diese Symptome über fast jeden Tag die meiste Zeit über vorhanden sein müssen; darüber hinaus sollten mindestens vier Kriterien zutreffen, die sich auf Beeinträchtigungen des normalen Funktionierens beziehen, im somatisch-vegetativen Bereich (Ess- und Schlafstörungen), im kognitiven Bereich (Schuldgefühle, Konzentrations- und Selbstwertprobleme) sowie im Verhalten (agitiertes Verhalten, Verlangsamung). Sind nicht alle Kriterien einer Major Depression erfüllt, spricht man von einer sogenannten Minor Depression (Kessler et al., 1997; zitiert nach Reicher, 1998) oder von subsyndromaler depressiver Symptomatik (Judd, Akiskal & Paulus, 1997; zitiert nach Reicher, 1998).

Dysthyme Störungen sind ein vom Schweregrad leichteres, allerdings chronisches Störungsbild. Kernsymptom stellt nach DSM-IV eine Stimmungsbeeinträchtigung im Sinne von niedergedrückter, depressiver Stimmung bzw. bei Kindern und Jugendlichen auch reizbarer Stimmung über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr dar; zusätzlich sollten mindestens zwei Zusatzsymptome auftreten (Appetit-, Schlafstörungen, Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, geringes Selbstwertgefühl, Hoffnungslosigkeit). Während dieser Zeitperiode soll nicht mehr als zwei Monate lang Symptomfreiheit bestehen. Bei Kindern führt eine dysthyme Störung oft zu einer Beeinträchtigung der schulischen Leistungen und der sozialen Kontakte.

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Fin de l'extrait de 189 pages

Résumé des informations

Titre
Tabuthemen bei Jugendlichen
Sous-titre
Familiäre Kommunikation und Familienklima als mögliche Risikofaktoren für depressive Befindlichkeit
Université
University of Graz  (Institut für Psychologie / Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften)
Note
1,00
Auteur
Année
2003
Pages
189
N° de catalogue
V119712
ISBN (ebook)
9783640229598
ISBN (Livre)
9783640231065
Taille d'un fichier
1607 KB
Langue
allemand
Mots clés
Tabuthemen, Jugendlichen
Citation du texte
Dr. Mag. Eva-Katharina Zwittnig (Auteur), 2003, Tabuthemen bei Jugendlichen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119712

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