Institutionelle Korruption in Argentinien

Wirtschaftliche Ursachen und Auswirkungen


Wissenschaftliche Studie, 2003

100 Seiten, Note: Gut


Leseprobe


Inhalt

Vorwort

Einleitung

I. Motive und Folgen von Korruption
1. Moralische Schranken
2. Rechtliche und soziale Sanktionen
2.1. Rechtliche Sanktionen
2.2. Soziale Sanktionen
3. Konsequenzen der Korruption
3.1. Abnahme des Unrechtsbewusstseins - Anstieg der Gewaltkriminalität
3.2. Wettbewerbsverzerrungen und Fehlallokationen
3.3. Auflösung der Entscheidungsprozesse
3.4. Untergrabung der staatlichen Legitimität
3.5. Rechtsunsicherheit und Korruption als Standortfaktor
3.6. Individualismus, Pessimismus und Selbstschutzmentalität

II. Historische Dimension der Korruption
1. Das koloniale Erbe
1.1. Mentalität der Eroberer
1.2. Katholische Tradition
1.3. Encomienda System
1.4. Schmuggel – das spanische Handelsmonopol und seine inneren Widersprüche
1.5. Kolonialverwaltung - Virreynato
1.6. Kolonialgesellschaft
2. Von der Unabhängigkeit zur Verfassung 1853
2.1. Buenos Aires vs. Landesinneres
2.2. Die Grossgrundbesitzer
2.3. „Martin Fierro“ und der Gauchomythos
2.4. Die Verfassung 1853 – Diskrepanz zwischen normativer Ordnung und Wirklichkeit:
3. Immigration und Agrarexportmodell 1880 – 1930
3.1. Beginn der Immigration - „Hacer la América“
3.2. Agrarexportmodell (1880 – 1930)
3.3. Die Krise des Jahres 1890
3.4. Konservative Ordnung
3.5. Entstehung des Radikalismus
3.6. Weltwirtschaftskrise
4. Importsubstitution und Peronismus
4.1. Importsubstitutionsmodell
4.2. Peronismus
5. Die Ära Meném 1991-1999 – Ursachen der Verfestigung der Korruption
5.1. Importöffnung – „Pizza und Champagner“
5.2. Liberalisierungs- und Strukturanpassungsprozesse-Allheilmittel gegen Korruption?
5.3. Vorgehensweise bei den Privatisierungen – Behandlung ausländischer Konzerne:
6. Argentinien ein Ausnahmefall?
6.1. Korruptionsbekämpfung

9. Literaturverzeichnis

Vorwort:

Nach einem Studienjahr an der Universidad de Belgrano in Buenos Aires im Jahr 1999, in dem ich mit den konkreten Auswirkungen der praktizierten Wirtschaftspolitk konfrontiert wurde, war es mit ein Anliegen, vor allem die monetären Zusammenhänge besser zu begreifen. Die Beschäftigung mit monetären Konjunkturtheorien führte letztendlich aber doch wieder hin zu politischen Entscheidungen und zur Analyse des Einflusses von Interessengruppen.

Im Rahmen eines eines Aufenthaltes im Juli 2002 durfte ich mit der Unterstützung von zahlreichen Personen rechnen – mein Dank gilt dabei vor allem den Verantwortlichen der Universidad de Belgrano, deren Institutionen ich benutzen durfte, sowie folgenden Personen im besonderen:

Dr. Alejandro Peyrou (Diputádo Nacionál)

Dr. Alfredo Sturzenegger (Universidad de La Plata)

Lic. Jorge Gaggero (Vorstandsmitglied der Bank der Provinz Buenos Aires) Dr. Rafael Ber (Argentine Research)

Dr. Orlando D´Adamo (Universidad de Belgrano) Viviana Paura (Banco Centrál de la Republica Argentina) Dr. Vicente Garnelo (Universidad de Belgrano)

Ing. Isreal Loterstzain (ISREX S.A.)

Gregorio Biagosch (Díputado de la Provincia de Tucumán) Juan Jorquera

Rodrigo Fuerth

Sergio Gandur (Fiscalidad del Estádo de Tucumán)

Mario Barcelona (Asesor del Fiscal del Estádo de Tucumán) Dr. Andreas Melán (Österreichische Botschaft Buenos Aires)

Einleitung

1. Problemstellung:

Der Staatsbankrott Argentiniens wird oft mit Verweis auf die reichen natürlichen Ressourcen und das Bildungsniveau des Landes als widersprüchlich und vermeidbar bezeichnet.

Das Ziel dieses Buches besteht darin, aufzuzeigen, dass strukturelle Bedingungen Wachstum zwar ermöglichen, wie gleichzeitig aber soziale und kulturelle Faktoren jede Möglichkeit wirtschaftlicher Entwicklung erweitern, begrenzen oder zunichte machen können. Am Fall Argentinien wird besonders deutlich, daß es nicht bestimmte Ressourcen sind, die das wirtschaftliche Schicksal eines Landes bestimmen, sondern auch die Art der Institutionen. Institutionen sind (nach Bruno Frey),„die Spielregeln, die das Verhalten einer Gesellschaft steuern, und die Organisationen, in denen sich solche Spielregeln repräsentieren“.

Wenn man davon ausgeht, dass es die Menschen sind, die das Wirtschaftsleben gestalten, erscheint, um die gegenwärtige Krise zu begreifen, eine Betrachtung des zivilkulturellen Erbes, d.h. die Einstellung der Bürgerinnen und Bürger zum politischen System einerseits sowie ihr Verhalten und Handeln in der Demokratie andererseits, notwendig. Auch ein Eingehen auf die kulturellen Wurzeln (Werte, Normen, Bräuche, Einstellungen), welche die Art, die Dinge zu sehen und zu tun (individuell und kollektiv) beeinflussen, soll eine bessere Erklärung ermöglichen.

Der sich konsequent durch die Geschichte ziehende Machtmissbrauch der Eliten auf der einen Seite sowie die Nichtbeachtung von Regeln durch die breite Bevölkerung andererseits, hat dazu geführt, dass für den gesellschaftliche Zustand Argentiniens der Begriff Anomie verwendet wurde, also ein Zustand sozialer Desorganisation, der auf das Fehlen klarer und verbindlicher Normen zurückgeht.1Im Falle Argentiniens scheint ein Konsens über Institutionen als Voraussetzung für strategische Entscheidungen nie zustande gekommen zu sein, was sich im Lauf der Geschichte in einem fehlenden langfristig orientierten entwicklungspolitischen Konzept, welches auch von breiten Bevölkerungsschichten akzeptiert wird, äusserte.

Wenn in der Folge von den Ursachen und Konsequenzen von Korruption die Rede ist, so ist vorauszuschicken, dass die Problematik der Korruption oft dramatisiert und skandalisiert wird, ohne dass die Gründe genügend erörtert werden. Der Verweis auf Korruption dient als beliebte Universalkritik. Meist beschränken sich solche Aussagen auf bloßes Moralisieren oder Anklagen im Zusammenhang mit spektakulären Einzelfällen.

In dieser Arbeit soll anhand von Ansätzen der Neuen Politischen Ökonomie eine systematische Analyse jener Entwicklungen vorgenommen werden, die zum derzeitigen Zustand geführt haben. Dabei soll ein differenzierteres Bild der gegenwärtigen Lage und Entwicklungsoptionen Argentiniens vermittelt werden und insbesondere der Frage nachgegangen werden, welche Rolle die Akteure der Wirtschaftspolitik bei der Stabilisierung und Reorientierung von Wirtschaft und Politik spielen können, bzw. ob heute nicht eine grössere Vorsicht und Bescheidenheit bei der Einschätzung der Gestaltungsmöglichkeiten der Wirtschaftspolitik angebracht ist.2

Es soll der Frage nachgegangen werden, wie Korruption, definiert als:

„Moralischverwerfliches,unterMißbraucheinerMachtstellung(AutoritätoderVertrauen)auf persönlichen Gewinn gerichtetes Verhalten, das je nach Verbreitung und Duldung einen Verfall des gesellschaftlichen Lebens bewirken kann“(Brockhaus 2002)

sich durch die wirtschaftlichen Gegebenheiten in Argentinien ausgebildet hat, und welchen Einfluss dies wiederum auf die ökonomische Entwicklung hatte. Unter dem Aspekt des Missbrauchs von Macht soll untersucht werden, welche Interessen hinter den verschiedenen wirtschaftlichen Entwicklungsmodellen des Landes standen.

Das Beispiel Argentiniens führt besonders exemplarisch vor, wie es möglich ist, lange Zeit und in großem Stil über die eigenen Verhältnisse zu leben. Das Land hat, nicht zuletzt wegen des Glaubens an seinen natürlichen Reichtum, bereits in den vierziger Jahren damit begonnen, während des Peronismus den Weg in einen klientilistischen Wohlfahrtstaat einzuschlagen, und hielt an diesem populistischen Kurs auch dann noch fest, als die Aufzehrung des Kapitals sichtbar wurde. Die Frage nach dem Scheitern des liberalen Modells – und der Misserfolg aller vorhergehenden Versuche, das Land auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zu bringen, und warum eine solche verfehlte allgemeine Politik und Wirtschaftspolitik im besonderen so lange und über die Parteigrenzen hinweg verfolgt werden konnte, verweist zum einen darauf, daß Kontrollmechanismen und Korrekturmöglichkeiten im argentinischen politischen System nicht wirksam gewesen sind. Neben den Schwächen der Politiker und des Justizapparates scheint dies jedoch auch mit Defekten der Volkseele zusammenzuhängen:

Der Hang zum Weg des geringsten Widerstandes, die Bewunderung der Fähigkeit, andere übers Ohr zu hauen (Aguinis 2001 : 76), der fehlende Wille und die mangelnde Fähigkeit, allgemeine Einrichtungen und Funktionserfordernisse für das Land insgesamt bzw. für eine „normale“ bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft anzustreben und zu realisieren; die geringe Bereitschaft vorhandene Vermögen in produktive Investitionen umzusetzen; die dominante Orientiertung am schnellen Gewinn durch Finanztransaktionen und die fast völlige Verweigerung der Steuerzahlungspflicht lassen erkennen, dass die Probleme des Landes tiefer reichen als bis zur Wahl des richtigen wirtschaftspolitischen Rahmens. Korruption scheint nicht rein personenbezogen oder auf Parteien begrenzt zu sein, sondern im Kern institutionell angelegt, d.h. systemisch.

Die Bedeutung solch „weicher Faktoren“ ist schwierig zu bewerten. Sie zu missachten, ist aber gefährlich und führt zu falschen Schlussfolgerungen. Hätte man den (immer wieder gebrochenen) finanzpolitischen Versprechungen der argentinischen Politiker eher misstraut, den fehlenden Willen zu einer umfassenden Staats- und Justizreform sowie die Ausweitung der Korruptionsmentalität in der Ära Menem früher als Alarmzeichen gewertet, hätte man den jüngsten Entwicklungen vielleicht noch rechtzeitig gegensteuern können.

In diesem Buch soll anhand der ausgewählter Aspekte der Geschichte des Landes versucht werden aufzuzeigen, warum liberaldemokratische Wertvorstellungen (funktionierende Repräsentations- und Mediationsmechanismen, Gewaltenkontrolle, gesellschaftlicher und politischer Pluralismus etc.) nicht in der politischen Kultur des Landes verankert werden konnten und warum trotz reicher natürlicher Ressourcen die soziale und wirtschaftlichen Entwicklung stets durch politische Instabilität gebremst wurde.

Wenn behauptet wird, dass Argentinier traditionell Individualisten seien und sich an Verkehrsregeln und Gesetze nur halten, wenn es opportun erscheint (Waldmann 2002), so ist dieser Bezug auf den Nationalcharakter als Erklärung unbefriedigend, sondern vielmehr ein Beleg für die Notwendigkeit einer Erklärung. Es muss unter anderem eine Erklärung dafür gefunden werden, warum die angeblichen Besonderheiten des Nationalcharakters entstanden sind. Die Argentinier scheinen sich darin einig zu sein, daß sie ein ausgesprochen individualistisches, in mancherlei Hinsicht sogar mit anarchischen Zügen behaftetes Volk darstellen.3Der Frage, welche Züge des Nationalcharakters, die einer demokratischen Entwicklung nicht förderlich sind, besonders was das Verhältnis zu Autoritäten sowie die Formen der Machtausübung betrifft, durch die wirtschaftliche Entwicklung ausgebildet wurden, soll nachgegangen werden.

Dabei soll ein besseres Verständnis für die Beharrlichkeit informeller Strukturen und Institutionen, die in der Tradition der autoritären Herrschaftsformen wurzeln und sich prägend auf die formelle Struktur auswirken, erreicht werden. Es geht darum, diese Strukturen in ihrer Funktionalität zu begreifen und zu fragen, inwieweit sie die Chancen demokratischer Partizipation beeinflussen bzw. zu einer permanenten Aufgabenüberfrachtung des Staates geführt haben.

Zum gegenseitigen Mißtrauen der Argentinier vgl. Carballo de Cilley (1994). Danach sind 7 von 10 Argentiniern der Meinung, man müsse vor dem anderen auf der Hut sein.

Lanata (2002) nennt als typische argentinische Charakterzüge den Freundschaftskult, Egoismus, Angst vor Lächerlichkeit, Irrationalität, Verachtung der Gesetze, Ausrichtung auf den schnellen und leichten Gewinn, Unfähigkeit zu kollektiven Entscheidungen (Anm.: Ein Alltagsbeispiel dafür ist das Unverständnis für das im englischen als „queuing“ bekannte System der Benützung von Rolltreppen), Fahrlässigkeit/Nachlässigkeit und die Unwilligkeit, fremde Ratschläge zu akzeptieren.

I. Motive und Folgen von Korruption:

Was die Ursachen oder Motive der Korruption betrifft, ist davon auszugehen, dass Korruption ein Verhalten ist, das in der Regel demjenigen Vorteile verschafft, der sich ihrer bedient.

Damit eine Tätigkeit unterlassen wird, die persönliche Vorteile bringt, müssen zwei grundlegende Voraussetzungen gegeben sein:

a) eine starke moralische Grenze / Hemmschwelle, d.h. der einzelne muss stark davon überzeugt sein, dass sein Verhalten nicht richtig ist.
b) starke Angst vor rechtlichen oder sozialen Sanktionen die als Folge der Aufdeckung solcher Handlungen eintreten können.

Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, warum diese Konzepte in der gesellschaftlichen Realität Argentiniens nicht in der Lage sind, korrupte Handlungen zu vermeiden.

1. Moralische Schranken:

Der Korrupte glaubt in den wenigsten Fällen, dass sein Verhalten nicht richtig ist:

Diese Überzeugung hat ihre wichtigste Ursache darin, dass der durch Korruption Geschädigte in der Regel keine konkrete Person ist, sondern dass sich der Schaden auf die Allgemeinheit oder andere ähnlich abstrakte Konzepte (zukünftige Generationen...) verteilt. Die Tendenz zu korrupten Verhalten nimmt so in dem Maße zu, in dem es sich um schwer fassbare, allgemeine und abstrakte soziale Güter und Gebilde geht, für die sich niemand verantwortlich fühlt. Der Korrupte entwickelt so kein konkretes Schuldgefühl. Die Loyalität und praktizierte Solidarität der Argentinier gehört den fass- und überschaubaren sozialen Gebilden, nicht der abstrakten Größe „Staat“ (Waldmann 1996 : 74).

Korrupte Funktionäre sind überzeugt, dass sowohl ihre persönlichen Interessen wie die ihrer sozialen Gruppe mit denen der Gemeinschaft weitgehend übereinstimmen.

Unklare Definition der Delikte:

Die Vielzahl von Gesetzen und Erlässen, die ungeordnete, oft inkohärente Form der Gesetzgebung und das Fehlen von systematischen und aktualisierten Ausgaben der geltenden Gesetze haben ein enormes Chaos erzeugt. In dieser Situation ist es für den Durchschnittsbürger schwierig, sein Verhalten an der Rechtsordnung auszurichten, wie es die Verfassung eigentlich vorschreibt. Der beste Weg mit der Justiz umzugehen besteht demnach darin, sie zu meiden. Gibt es diese Möglichkeit nicht, besteht die zweitbeste Lösung darin, sich freizukaufen, und viele erfolgreiche Anwälte haben sich darauf spezialisiert, ihren Klienten dabei zu helfen, gerade dies zu tun (Hammergren 1998: 34).

Komplexe Zusammenhänge:

Eine Ursache der Korruption kann auch sein, dass die herrschende Schicht nicht mehr in der Lage ist, ein möglicherweise sehrkomplexesGeschehen zu durchschauen. Sie bedient sich der Hilfe von Fachexperten mit grosser Machtbefugnis, ohne dass dabei die Probleme einer ausreichenden Kontrolle bewältigt sind.4

Ein Beispiel für fehlendes Problembewusstsein bzw. unzureichende Fachkenntnis stellt die Reaktion des Kongresses dar, der am 23. 12. 2001 die Ankündigung des Kurzzeitpräsidenten Rodriguez Saa, den Schuldendienst einzustellen, mit heftigem Applaus begrüsste, als ob der Bankrott ein Verdienst wäre, obwohl diese Schulden grösstenteils von nationalen Investoren, vor allem Banken, Pensionskassen und Versicherungen gehalten werden (NZZ, 14. 08. 2001). So schreibt beispielweise die Tageszeitung „La Gaceta“ aus Tucuman: „Die Wirklichkeit ist nicht so, wie die politische Klasse glaubt, und dieser Orientierungsverlust ist das größte Hindernis um vorwärtszukommen“(La Gaceta, 28. 7. 2002).

Je klarer die Verhältnisse liegen, desto weniger kann Korruption greifen. Komplexe Verhältnisse sind ein Nährboden für Pseudowissen und sprachliche Verwirrung. Als Beispiel seien Aussagen von Wirtschaftsminister Cavallo angeführt, der den Argentiniern riet, sich nicht von den „Märkten“ verunsichern zu lassen:

„Wassind die Märkte? Das sind ein paar Jungs, die an einigen Tischen herumstehen und auf einen Computer schauen und die keine Zeit zum Denken haben, die sich für Genies halten und sich meistens irren. Es gibt da doch sehr kurzsichtige Leute, die nicht sehen, daß Argentinien kein teures Geld sucht. Aber denen werden wir eine Brille aufsetzen, damit sie besser sehen und auf Argentinien setzen“(NZZ 19. 04. 2002).

Dies muss zwangsläufig in einer Gesellschaft wie der argentinischen, in der die Mentalität „jeder hat das Recht zu reden“5stark ausgeprägt ist, zu Schwierigkeiten führen. So schreibt die Tageszeitung „La Nación“:

„Manchmalbringt der Versuch, zu viele Themen auf einmal auf den Tisch zu legen, nur die Zementierung des Status Quo und nährt falsche Illusionen“(La Nación 31.05.2002).

Damit wird deutlich, dass eine Grundlage von Korruption ein überlegenes Maß an Wissen, Intelligenz, Kenntnis, Macht, Beziehungen – eben Information – ist.

Die Tatsache, dass politischen Entscheidungsinstanzen sich mit einer Fülle von unterschiedlichen, nicht selten widersprüchlichen Forderungen konfrontiert sehen, die ihre Konfliktverarbeitungskompetenzen weit überfordern, kann als eine der Hauptursachen gesehen werden, weshalb stets nur punktuelle Übereinkünfte erreicht werden. Ein positiver, programmatischer Konsens kommt in keinem Fall zustande. Es entsteht der Eindruck, dass wissenschaftliche und politische Scheingefechte solange geführt werden, bis der Bürger restlos verwirrt ist. Dies führt letzlich dazu, dass über Probleme nur noch geredet, aber nicht mehr gehandelt wird. Die Parole heisst dann: Durchwursteln, unter angestrengter Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Folge ist der Verlust der grossen Perspektive (Herzog 1997).

Teils halten sich korrupte Funktionäre einfach für Partner von privaten Geschäftsleuten:

Die Einforderung oder der Erhalt von Schmiergeldern privater Geschäftsleute schädigt nach Ansicht der Funktionäre niemanden – nicht einmal die betroffenen Unternehmer, denen so ja erst Geschäfte ermöglicht werden (Käufe des Staates, Konzessionen ...). So sehen sie sich selbst als Partner, die niemandem schaden. Da es keinen unmittelbar und individuell Geschädigten gibt, muss fast immer mit mangelnder Schuldeinsicht gerechnet werden.

Ähnlich liegt der Fall, wenn die Norm, das Gesetz oder die Regelung gegen die verstossen wird, absurd oder widersprüchlich ist. In diesem Fall halten es die Funktionäre oft für das Beste, die Verletzung der Norm zu ermöglichen (gegen Abgeltung ihres persönlichen Risikos). Dies kann man als „nützliche Korruption“ bezeichnen, und ist eine Möglichkeit die Effizienz des gesamten Systems zu steigern. Die Gefahr hinter diesem Vorgehen besteht darin, dass das einzige Ziel solcher absurder Normen im „Verkauf“ ihrer Umgehung besteht. Man nennt dies in Argentinien auch: „Die Schwierigkeit schaffen um die Lösung zu verkaufen“ (Abos 1999 : 61).

Politiker und Funktionäre sehen sich selbst nicht als „Diener des Volkes“, sondern glauben im Gegenteil an ein spezielles Vorrecht zur Machtausübung:

Die Politiker sehen die Macht, die sie sich von den Bürgern per Wahl leihen, quasi als persönlichen Besitz, mit dem sie nach Gutdünken verfahren können (Carreras 2002: 362).

Dieser Anspruch kann unterschiedliche Gründe haben: Teil einer Elite zu sein, welche die einzig fähige zur Regierung ist, einzelne besonders erfolgreiche Wahlergebnisse etc.

Eine Begleiterscheinung dieses „Verdienstdenkens“ ist häufig die Ansicht, dass mit den zustehenden öffentlichen Mitteln nach Belieben umgegangen werden kann.

Ein Machtmissbrauch der politischen Entscheidungsträger ist umso weniger wahrscheinlich, je leichter die Bürger diesen unter einer demokratischen Verfassung durch Abwahl oder unter einer föderativen Verfassung durch Abwanderung in eine andere Gebietskörperschaft (voting by feet) ahnden können (Nowotny 2001 : 222). Beide Möglichkeiten stehen in Argentinien nur beschränkt zur Verfügung, zum einen wegen der subjektiv oder objektiv fehlenden Wahlalternativen, zum anderen durch die Größe des Landes.

Der Korrupte agiert nicht isoliert, sondern ist Teil einer oft grossen Gruppe und sein Handeln ist in der öffentlichen Verwaltung allgemein üblich:

Dabei dient die Korruption auf höherer Ebene vielfach der Rechtfertigung von eigenem regelwidrigem Verhalten. Dies entspricht einer weit verbreiten „Schuld haben die anderen“ – Mentalität. Der Untergeordnete erachtet sich in seinem korrupten Vorgehen für legitimiert, wenn der Vorgesetzte es toleriert oder selbst korrupt ist.

Zu den systembezogenen begünstigenden Faktoren zählen insbesonders die Vernachlässigung von Dienst- und Fachaufsicht, Missmanagement, die schwerverständlichen Vorschriften und Gesetze, fehlende Transparenz bei Entscheidungen, zu große Entscheidungsspielräume für einzelne Sachbearbeiter, fehlende Kontrollen und Aufgabenwahrnehmung in einer Hand.

Zu den personenbezogenen Faktoren der Korruption zählen persönliche Probleme (Drogen, Alkohol, Spielsucht), die Überforderung des Einzelnen mit den ihm gestellten Aufgabenbereich, wirtschaftliche Abhängigkeit etwa wegen Überschuldung, fehlende Identifikation mit der Behörde oder schlicht ein gewisser allgemeiner Frust.

Der Korrupte handelt in manchen Fällen aus Solidarität oder Angst:

Die Korruption wird so zu einem sich selbst verstärkenden Prozess, und die Zahl der Beteiligten steigt oft spontan an. Ein ehrlicher Politiker oder Funktionär erhöht in einem korrupten Umfeld die Wahrscheinlichkeit, seinen Posten oder seine Karriere zu gefährden.

Oft kann seine Weigerung zur Kooperation für andere ein Hindernis darstellen, indem sie die notwendigen Genehmigungsketten unterbricht. Aber auch eine rein passive Haltung kann als Kritik oder Bedrohung aufgefasst werden. In jedem Fall wird seine Stellung gegenüber Vorgesetzten und Mitarbeitern geschwächt.

Die Bedeutung der Tradition:

Der selbstverstärkende Charakter der Korruption wurde bereits erwähnt. Ein an die Realität hoher Korruption angepaßtes Normensystem gibt den Menschen Erwartungen vor, die sich dann wiederum als self fulfilling prophecy bewahrheiten.

Hierzu kommt verstärkend, daß viele nach Südamerika abgestellte Manager sehr schnell erkennen, daß die Korruption durchaus zu ihrem persönlichen Vorteil zu instrumentalisieren ist. Etwaige moralische Bedenken werden regelmäßig mit der Bemerkung zerstreut, „Korruption sei dort gang und gäbe und Teil der südländischen Mentalität“, was in den meisten Konzernzentralen auch kritiklos geglaubt wird.6 Vertreter von Firmen, bei welchen Korruption zur Geschäftsphilosophie gehört, gehen oft so subtil vor, dass der Bestochene in einer ersten Phase gar nicht zur Kenntnis nimmt, was eigentlich geschieht. Der langsame Bestechungsprozess führt schliesslich einerseits dazu, daß die Zielperson auf die umfangreichen Zuwendungen selber nicht mehr verzichten und damit ihren Lebensstandard nicht mehr senken will. Andererseits gerät der Bestochene ab einem gewissen Zeitpunkt in einen Zustand der Erpressbarkeit, aus der er nicht mehr herausfindet. Insbesondere diese Erpressbarkeit der Bestochenen führt zu der immer wieder festzustellenden Langfristigkeit von korrupten Beziehungen.

Ein Teil der durch die Korruption erhaltenen Mittel dient der Absicherung von Risiken:

Behörden dienen oft als Auffangbecken für arbeitslose Freunde oder Verwandte von Funktionären – eine Art Ersatz-Sozialversicherung in einem Land, in dem es keine risikostreuenden Mechanismen (Anspruch auf Arbeitslosengeld ...) gibt. In manchen Provinzen, etwa Chaco, Tucumán oder La Rioja sind bis zu 70 Prozent der Erwerbstätigen im öffentlichen Dienst beschäftigt. Ein Grossteil davon sind „noquis“7: Angestellte, die kaum arbeiten, aber am Monatsende pünktlich ihren Lohn abholen. So bezahlt der Staat Abwesenden, Verblichenen, Entlassenen und nie Existierenden Gehälter, Pensionen und Subventionen (NZZ 21. 03. 2002).

Objektive bzw. subjektive Unterbezahlung:

Die durch die Korruption erhaltenen Mittel dienen gleichsam als Kompensation für die niedrigen Löhne im öffentlichen Sektor.

Begründungen dafür können u.a. sein:

- eine besser bezahlte unternehmerische Tätigkeit musste unterbrochen oder aufgegeben werden.
- Durch Präsidenten- oder Ministerentscheid oder durch verlorene Wahlen besteht jederzeit die Möglichkeit, entlassen zu werden.

Diese und ähnliche Begründungen legen die Vermutung nahe, dass Korruption ein temporäres Phänomen sei. Viele Funktionäre bemühen sich zu versichern, dass sie sich erst dann ehrlich und ohne Eigennutz ihrer Aufgabe widmen können, wenn ihre finanzielle Zukunft abgesichert ist (Nino 1992 : 46). Weiters bemerkt Nino, dass viele staatliche Ämter und Funktionen geradezu absurd niedrig entlohnt sind, geradezu so als würde man davon ausgehen, dass sie bedeutungslos sind bzw. dass das wirkliche Einkommen der Funktionäre ein anderes ist.

Die Gefahr, im Aufdeckungsfall die Beschäftigung beim Staat zu verlieren, wirkt zudem bei niedrigen staatlichen Gehältern wenig abschreckend. Die Korruption kann jedoch, wie im Verlauf der Arbeit aufgezeigt werden soll, auch von einer moralischen oder kulturellen Einstellung her stammen. Deshalb kann schlechte Bezahlung in gewissem Mass zur Korruption beitragen, aber eine Erhöhung der Löhne von Staatsbediensteten garantiert nicht, dass sie verschwindet.

Die politische Laufbahn wird als Weg zur persönlichen Bereicherung und sozialem Aufstieg gesehen:

Auch innerhalb der Parteien erfolgt tendenziell eine Selektion zuungunsten moralischer Personen8.

Steigender Wettbewerbsdruck:

Hier spielt vor allem der Einfluss von Grossbetrieben eine Rolle, die primär von Grossaufträgen leben und Korruption als wichtige Methode innerhalb ihrer Geschäftstätigkeit anwenden.9Begünstigt wird deren Tätigkeit durch:

a) die bereits erwähnte Existenz von absurden und widersprüchlichen Normen (bzw. das gänzliche Fehlen von solchen), welche dem Funktionär einen grossen diskretionären Spielraum einräumt.
b) die grossen Machtbefugnisse der seitens der öffentlichen Hand für die entsprechende Abwicklung eingesetzten Personen (Bsp.: Privatisierungen unter Meném).

Wenn es andererseits einheimischen Unternehmen gelingt, eine unsichere Umwelt zu kreieren, vertreiben sie damit gleichzeitig Konkurrenten, speziell westliche Firmen, die ihnen dann freies Feld überlassen.

Politiker oder Funktionäre verwickeln sich nicht persönlich, sondern lassen Dinge geschehen

2. Rechtliche und soziale Sanktionen:

Ähnlich wie bei den moralischen Schranken, hat auch die Angst vor rechtlichen und sozialen Sanktionen keine allzugrosse Wirkung, was u.a. auf folgende Gründe zurückgeführt werden kann:

2.1. Rechtliche Sanktionen: Ineffizientes Rechtssystem:

Das Strafrecht ist gegenüber Fällen von Korruption ineffizient, sei es aufgrund unklarer Definitionen der Vergehen oder mangelnder Ausstattung, Professionalität10 und Courage oder aufgrund von Schwierigkeiten die notwendigen Beweise zu erbringen.

Die Kontrollinstanzen, wie Untersuchungsbeamte, Buchprüfer oder die Presse, deren Information Voraussetzung für die Entdeckung und Verfolgung von Korruption sind, erweisen sich als schwach.

Mitwirkung der Justiz:

Die Justiz ist nicht unabhängig sondern stark an die Exekutive gebunden und hat starken Verwaltungscharakter. Eine lange Tradition hat dazu geführt dass Macht Straflosigkeit (Impunidad) bedeutet und allenfalls Kleinkriminelle abgestraft werden. Die politische Klasse hat sich daran gewöhnt, nicht von der Polizei verfolgt zu werden Die faktische Rechtsverweigerung äußert sich in extremer Formalisierung, langer Verfahrensdauer, wirklichkeitsfremden Gesetzen und antiquierten Rechtstheorien.

In der argentinischen Justiz existiert gerade in den harten Testfällen für ihre Eigenständigkeit die Neigung, sich – bereitwillig bzw. offenkundig auf Instruktionen hin – der „Staatsraison“ unterzuordnen (Madlener 1996 : 9). Insgesamt hat sich in Argentinien ein Klima der Rechtsunsicherheit ausgebreitet, dessen Verfestigung sich im stetig schwindenden Ansehen der Justiz widerspiegelt. Diese Unsicherheit wird von der Korruption mit verursacht, die jene dann wiederum nährt. Subjektive „Rechtssicherheit“ entsteht in einem solchen Kontext durch die (vorsorgliche) Bereitschaft, sich sein „Recht“ zu erkaufen (Carreras 2002: 362).

Die öffentlichkeitswirksame strafrechtliche Verfolgung11 prominenter korrupter Personen erfüllt gerade dann ihren Zweck nicht, wenn diese ebenso medienwirksam wieder freigelassen werden. Dazu schreibt Waldmann:

„In der Tatsache, dass keine bedeutendere politische Figur, mag sie auch noch so eklatant gegen rechtliche oder moralische Normen verstossen haben, je definitiv aus dem Zirkel der einflussreichen politischen Meinungsmacher ausgeschlossen wurde, kommt die Bereitschaft, letztlich alles zu akzeptieren und zu verzeihen und damit das Fehlen fester internalisierter politischer Prinzipien zum Ausdruck“ (Waldmann 1996 : 64).

2.2. Soziale Sanktionen:

Korruptionsbekämpfung und – prävention setzt voraus, dass die Problematik im allgemeinen thematisiert und im speziellen als Gefährdung auch erkannt wird. Die Bekämpfung der Korruption kann keinesfalls nur eine Sache der Polizei und Justiz sein, sondern benötigt vor allem auch verantwortungsvolle Bürger. Eine Zivilgesellschaft, die der Korruption massiv ablehnend gegenübersteht, wäre ein fundamentaler Ausgangspunkt für einen Wechsel in der Mentalität.

Die apathische Haltung der Zivilgesellschaft und die daraus resultierenden fehlenden Sanktionen für korrupte Handlungen kann in Argentinien u.a. folgendermassen begründet werden:

Im Grunde glaubt auch die Gesellschaft nicht, dass es sich um ein Verbrechen handelt:

In fehlenden Sanktionen kommt die Tatsache zum Ausdruck, dass oft mehr Bewunderung als Kritik für müheloses Reichwerden und den ausschweifenden Lebensstil der Politiker vorhanden ist.12 Die Obrigkeit zu betrügen wird nicht als Vergehen betrachtet, sondern eher als Tugend, die von „vivezacriolla“ (etwa: Bauernschläue) zeugt. Wenn die Gesellschaft in der Überzeugung lebt, seit je her liege der Reichtum des Landes sozusagen vor der Tür und müsse nur angeeignet und verteilt werden, gilt es als naiv, seinen Lebensunterhalt mit redlicher Arbeit zu verdienen (Le monde diplomatique 15. 02. 2002).

Die Zivilgesellschaft wertet die Handlung als Verbrechen, hält sie aber für unvermeidbar oder ausserhalb ihrer Einflussphäre:

Dies Einstellung kommt beispielsweise in dem auf Präsident Menem angewandten Ausspruch:„Roba pero hace“(„Erraubt, aber er bewirkt etwas“) zum Ausdruck.

Hierin kommt auch zum Ausdruck, dass das Sanktionspotential in einer anonymen Gross- gesellschaft nicht wirkt, weil eine reziproke Überwachung unmöglich wird (Frey 1981 : 53). Im wesentlichen besteht das Problem darin, dass der Staat als fremdes enferntes Gebilde gesehen wird, sodass es unmöglich erscheint,konkrete Gegenhandlungenzu setzen.

Generell ist in Argentinien das Denken in zukünftigen, oft unrealistischen Alternativen, stark ausgeprägt, und geht zulasten von konkreten Handlungen oder der Änderung von aktuellen Missständen (siehe Kapitel „Unabhängigkeit“). Die Gesellschaft erschöpft sich in Diskussionen über immer dieselben Themen und Reformen, die nie verwirklicht werden (NZZ 24. 11. 01).

Diese Einstellung prägt auch das Verhältnis zur Politik im allgemeinen: Fast paradox wirkt der Kontrast zwischen der pauschalen Verdammung der politischen Klasse(„Que se vayan todos!“-„Weg mit ihnen allen!“ war der vorherrschende Ton bei den Demonstrationen Ende 2001) und der mehrheitlichen Unterstützung der Demokratie durch die Argentinier. Bei einer im Februar 2002 in Buenos Aires durchgeführten Umfrage sprachen sich 85 % der Befragten für die Demokratie als beste Regierungsform aus. Allerdings waren 74 % mit ihrem Funktionieren unzufrieden (Gaggero 2002).

Raul Scalabrini Ortiz schreibt: „Selbst die strengsten ethischen Normen scheinen hinter dem Imperativ der Freundschaft und der Dankbarkeit zurückzustehen. Es gibt eine Art Milde demjenigen gegenüber, der gegen Konventionen und Regeln verstösst, denn es scheint mehr Wert zu sein, eine grosszügige Ader zu haben, sich einem Gefühl hinzugeben, als sich streng rationalen Prinzipien zu unterwerfen“ (Romero 1965 : 201).

Ein Grund für die hohe Toleranzschwelle der Argentinier ist sicherlich in den Erfahrungen der letzten Militärdiktatur zu sehen. Die Politiker wissen, dass sie unentbehrlich sind, um ein Minimum an staatlicher Ordnung zu erhalten. Deshalb wird von den regierenden Politikern häufig die Gefahr der drohenden Anarchie beschworen.

Die Zivilgesellschaft reagiert nur dann, wenn sie ihre eigene wirtschaftliche Situation bedroht sieht:

Das ist der typische Fall einer klientilistischen Gesellschaft. Die willkürliche Verwendung öffentlicher Mittel wird akzeptiert, solange man selber in den Genuss eines Teils der Gelder kommt. So war die Ära Perón ein Beispiel dafür, wie sozialer Frieden mit einer populistischen Ausgabepolitik erkauft wurde. Erst wenn die negativen Auswirkungen der Korruption am eigenen Leib spürbar werden, schlägt die Stimmung um – oft wird dann der Korruption die Schuld an wirtschaftlichen Problemen gegeben, die ihren Ursprung woanders haben.

Zur Problematik eines frühzeitigen Gegensteuerns von Fehlentwicklungen durch die Zivilgesellschaft schreibt Frey:

„DurchBürgerinitiativenkanneinegrössere Transparenz staatlichen Handelns erreicht , die Regierung kontrolliert und Fehlentwicklungen bei konkreten Projekten verhindert werden. Die spontan entstehenden Initiativen können allerdings nur wenige, besonders leicht sichtbare und Emotionen ansprechende Probleme aufgreifen: Sie werden erst gebildet, wenn Personen unmittelbar betroffen sind und die Probleme direkt anstehen. Die Mitglieder von Bürgerinitiativen setzen sich vorwiegend aus Vertretern der oberen Mittelschicht zusammen. Oft fehlt den Beteiligten die für einen langfristigen Erfolg notwendige Ausdauer“ (Frey 1981 : 71).

3. Konsequenzen der Korruption:

Durch Korruption wird eine kulturelle Leistung rückgängig gemacht – die Versachlichung der Beziehungen. Da ein Markt umso eher ein Markt ist, je punktueller und unpersönlicher die zugrunde liegende Beziehung ist (Vontobel 2000 : 16) bedeutet dies auf die Wirtschaft übertragen, dass die Marktregeln von Angebot und Nachfrage teilweise ausser Kraft gesetzt werden, und andere Institutionen bzw. soziale Koordinationsmechanismen den Markt zu überlagern beginnen. Funktionierende Märkte setzen Vertrauen und Institutionen voraus – wo Zwang herrscht, braucht es keinen Markt; wenn das Vertrauen fehlt, ist Markt nicht möglich. Demokratie aber fördert eine Kultur des Vertrauens und der Kompromisse, sie schafft „soziales Kapital“, aus dem wiederum Wachstum entsteht.

Korruption steigert die Transaktionskosten und die Unsicherheit in einer Volkswirtschaft und führt in der Regel zu ineffizienten ökonomischen Ergebnissen. Sie verhindert langfristige aus- und inländische Investitionen, führt zu Verschwendung von Talenten durch Rent-Seeking Aktivitäten und verzerrt sektorale Prioritäten. Sie treibt die Firmen in die Schattenwirtschaft, untergräbt die staatliche Einnahmenerhebung und führt zu immer höheren Steuersätzen mit denen immer weniger Steuerzahler belastet werden. Dies wiederum verringert die staatliche Versorgung mit grundlegenden öffentlichen Gütern, einschliesslich des Rechtssystems.

Folgen der Korruption können im Überblick sein:

- Fehlleitung der Entwicklung (Fehlallokation von Ressourcen) in zentralen Sektoren (wie Telekommunikation, Gesundheit, Energie, Verkehr/ Transportsysteme, Verteidigung), indem Investitionen nicht dort getätigt werden, wo sie ökonomisch, sozial und politisch am nötigsten wären, sondern wo z.B. Beamte die höchsten Schmiergeldzahlungen erwarten können.
- Erhöhte Verschuldung, indem Entwicklungs-Investitionen nicht den erforderlichen volkswirschaflichen Nutzen bringen und damit die Schuldzinszahlungen oder Schuldenenrückzahlungen erschweren.
- Fehlende Steuer- und andere Staatseinnahmen für öffentliche Aufgaben durch korrupte Steuerbeamte und entsprechend tiefe Zahlungsmoral.
- Steuerflucht, indem Korruptionsgeld nicht versteuert wird.
- Qualitätsverminderung (z.B. durch Unterschreitung von Normen)
- Erhöhte Sicherheits-, Gesundheits- und Umweltrisiken (z.B. Bauliche Investitionen mit billigeren Materialien, um Korruptionsausgaben zu kompensieren, Nachlässigkeit bei Umweltauflagen)
- Abstossende Wirkung auf potentielle Investoren und Lähmung des Entwicklungsgeistes im eigenen Land.
- Vergrösserung des Wohlstandsgefälles (Stärkung kleiner Eliten, Erschwerung des Aufbaus von Mittelschichten).
- Erhöhung von Intransparenz, Erpressbarkeit und mafioser Praktiken.
- Demokratieverlust, da transparente Entscheide eine Voraussetzung für Demokratie sind und Wahlen durch Korruption verfälscht werden.
- Geschlechterdimension.- Stärkung derer, die bereits Macht haben (in der Regel die Männer) z.B. im Zugang zu Land, Eigentum, Ämtern und Machtpositionen.
- Schwächung des Rechtssystems und rechtsstaatlicher Kontrollen bis zur schieren Funktionsunfähigkeit von Regierungen.

3.1. Abnahme des Unrechtsbewusstseins - Anstieg der Gewaltkriminalität:

Wenn die Politiker von der Bevölkerung als korrupt angesehen werden, kann dies zu einem Nihilismus führen, dessen harmloseste Ausprägung darin besteht, dass man nicht mehr einsieht, wieso man sich noch anstrengen soll, wenn die grossen Vermögen auf unlautere Weise gemacht werden. Der Nachahmungstrieb fördert die Korruption weiter. Das stetige Abnehmen von Entscheidungsträgern und Vorbildern des Staates, der öffentlichen Verwaltung und Wirtschaft, die öffentlich für ethische Normen und Werte einstehen und nicht die Bereicherungsmentalität verkörpern nährt den Boden landesweiter Korruptionsstrukturen. Die beunruhigendere Ausprägung dieses Nihilismus ist dann Kriminalität und schliesslich ungehemmte Gewalt. In Argentinien lässt sich gegenwärtig die Entfaltung dieses Spektrums beobachten. Die wachsende Polarisierung der Gesellschaft führt zu einem massiven Anstieg der Kriminalität.

Die geringe Effizienz von Polizei und Justiz sowie das geringe Vertrauen, das die Bürger in Lateinamerika zu Recht beiden Institutionen entgegenbringen, sind Faktoren, die dasRisikokalkül potentieller Straftäterbeeinflussen und sich negativ auf die Kriminalitätsrate auswirken. Dies gilt vor allem bei geringen Aufklärungs- und Verurteilungsraten, wie sie für Lateinamerika typisch sind. In Argentinien lag beispielsweise die Aburteilungsrate in Bezug auf alle registrierten Verbrechen in den 90er Jahren unter 4% (Lederman 1999: 4/8).

Durch Korruption wird die Gesellschaft anfällig für organisierte Kriminalität. Korrumpierte Amtsträger bilden Brückenköpfe in Staat und Gesellschaft für diese gefährliche Form der Kriminalität.

So erlebt Argentinien jenseits der Wirtschafts- und Finanzkrise offenbar eine Krise der Werte, die zwar weniger sichtbar, aber doch höchst real ist. Es entsteht eine Mentalität, die keine Verpflichtungen mehr kennt. Alle Versuche eines Neuaufbaus auf einer Basis, die von Nicht- Erfüllung und dem Fehlen moralischer Prinzipien geprägt ist, scheinen zum Scheitern verurteilt.

[...]


1 Im Alltag äussert sich der argentinische Hang zur Regelwidrigkeit beispielsweise im Strassenverkehr (Nino 1992 : 37) und in der Steuerhinterziehung.

2 Die von Eugen von Böhm-Bawerk (1914) gestellte Frage „Macht oder ökonomisches Gesetz“, die zu einem zentralen Thema der Theorie der Wirtschaftspolitik geworden ist, ist heute wieder von besonderer Aktualität. Gegenüber ablaufpolitischen Massnahmen der „Feinsteuerung“ wird die Rolle der ordnungspolitischen Grundlagen betont. Dabei ist es wichtig, Wirtschaftpolitik nicht isoliert, sondern als Teil gesamtgesellschaftlicher Strukturen zu sehen.

3 Zur Sozialpsychologie des Argentiniers vgl. Herzfeld (1981). Dort ist u.a. von mangelndem Respekt vor den Gesetzen, der zweideutigen Haltung zur Disziplin (sie wird nur bei den anderen vermisst), der Neigung zur Spekulation, dem extremen Individualismus und dem großzügigen Umgang mit der Zeit, vor allem mit der Zeit der anderen, die Rede.

4 De la Rúa ernannte Domingo Cavallo 2001 „formal“ zum Wirtschaftsminister. Cavallo verlangte für einen Eintritt in die Regierung zur „Rettung“ der Wirtschaft des Landes allerdings eine „bedingungslose Übertragung der Macht“ (La Nación 19. 3. 2001). Kurz nach seinem Amtsantritt 2001 entschieden beide Kammern des Nationalkongresses, den Machtbereich des "Superministers" bei Verlängerungsmöglichkeit für zunächst ein Jahr durch spezielle Befugnisse zu erweitern, also ihm zu ermöglichen wirtschaftspolitische Maßnahmen zu ergreifen, ohne sie zuvor vom Parlament absegnen zu lassen.

5 Angesichts der Tatsache, dass viele Argentinier auf die Frage nach ihrer Meinung zu bestimmten Themen, auch ohne Kenntnis der Sachlage, ein Statement zum Besten geben, ist der scherzhafte Begriff „opinólogo“ (etwa: Jemand dessen Beruf es ist, eine Meinung zu präsentieren) entstanden. Auch im Medienbereich steht fast immer die Meinungsmache vor objektiver Berichterstattung.

6Bis 1996 waren Schmiergeldzahlungen in Deutschland als „nützliche Aufwendungen“ grundsätzlich steuerlich absetzbar. Geschützt durch das Steuergeheimnis duften die Steuerbehörden Hinweise auf Korruption nicht an die Staatsanwaltschaft melden. Die Rechtslage wurde mit folgenden Argumenten verteidigt: In vielen Ländern könne man anders als durch Bestechung überhaupt keine Geschäfte machen; deutsche Unternehmen dürften gegenüber ihren ausländischen Wettbewebern nicht benachteiligt werden; niemand könne unterscheiden, was ein illegitimes Schmiergeld und was eine berechtigte Provision oder Kommissionszahlung sei. Zwar wurde § 4 des deutschen Einkommensteuergesetztes 1996 geändert, allerdings können Schmiergeld- zahlungen, die nicht vor Gericht enden, weiterhin nahezu problemlos steuermildernd geltendgemacht werden.

7 Der Ausdruck entstand in Anlehnung an das traditionell am 30. jedes Monats in Argentinien servierte Teiggericht („vienen el treinta“).

8 Brennan und Buchanan (1985 : 60 ff.) stellten die These auf, dass die moralischen Dispositionen des Politikers für sein Entscheidungsverhalten irrelevant sind, da die äusseren Anreize gegenüber seinen intrinsischen Kosten zu dominierend sind.

9 Die Bestellung des ehemaligen östereichischen Bundeskanzlers Viktor Klima als Leiter von Volkswagen Argentinien wirft ein bezeichnendes Licht auf die von einem Manager in Argentinien geforderten Fähigkeiten. Allerdings sollte man bei Grossunternehmen zwei Fälle unterscheiden: Einerseits jene Unternehmer, die die Notwendigkeit von Bestechungen als unvermeidbar hinnehmen und bezahlen, um ihre Tätigkeit weiter ausüben zu können. Andererseits jene, die Bestechungen als Methode nutzen, um ihre betrieblichen Ineffizienzen zu verbergen, um die Konkurrenz auszuschalten und um Vorteile auf Kosten der Gesellschaft zu erhalten. Im ersten Fall wird in der Literatur auch von der „Ventilfunktion“ der Korruption bis hin zu konstruktiver / kontrollierbarer Korruption gesprochen. Das Hauptproblem besteht darin, dass es sich schwer vermeiden lässt, dass diese sich in den zweiten Fall umwandelt.

10 Besonders im Bereich der Steuerfahndung liegen technische Ungleichgewichte vor, die es internationalen Unternehmen ermöglichen, beispielsweise über Transferpreise die investigative Kapazität der Steuerbehörden zu überfordern.

11 So wurden im Jahr 2002 auf der Suche nach Sündenböcken in spektakulären Aktionen Banken durchsucht und Banquiers verhört. Sie werden pauschal „wirtschaftlicher Sabotage“ verdächtigt, gemäß einem Gesetz aus der Zeit der letzten Militärdikatatur (NZZ 21. 03. 2002).

12 Eine solche Einstellung beschreibt schon Charles Darwin nach einer Argentinienreise 1833: „Hier helfen die Einwohner dem Verbrecher zu fliehen, gerade so als hätte er gegen die Regierung und nicht gegen das Volk gehandelt“ (Lanata 2002 : 134).

Ende der Leseprobe aus 100 Seiten

Details

Titel
Institutionelle Korruption in Argentinien
Untertitel
Wirtschaftliche Ursachen und Auswirkungen
Hochschule
Johannes Kepler Universität Linz
Note
Gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
100
Katalognummer
V119909
ISBN (eBook)
9783640233502
ISBN (Buch)
9783640233298
Dateigröße
1706 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Institutionelle, Korruption, Argentinien
Arbeit zitieren
Martin Kolmhofer (Autor:in), 2003, Institutionelle Korruption in Argentinien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119909

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